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Beatrice Schweingruber

Frauen machen Mut

Am Schicksal wachsen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2019 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Garamond 11,5 pt

Herstellung: rgf/bf/1B

ISBN 978-3-8301-1813-8 EPUB

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Michèle Lerch

Ein Leben im Hier und Jetzt

Doris Pfyl

Vom Bauernhof auf den Laufsteg

Dolores Menegon

Von Riccardo zu Dolores

Kimberly (Kim) Ruzio

Auf dem Weg vom Keller ans Licht

Marianne Signer Schindler

Vertraue dir selber!

Madeleine Binzegger

Auf zu neuen Ufern – trotz Rollstuhl

Sibylle Ostertag

Zum Glück hat das Leben keinen Sinn

Edith Doswald

Die Wucht des Lebens

Dank

Vorwort

Liebe Leserin und lieber Leser,

im vorliegenden Buch »Frauen machen Mut« erzählen Frauen ihre sehr persönlichen Lebensgeschichten. Sie sind weder Stars noch bekannte Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik, sondern ganz »normale« Frauen, die alle unsere Freundinnen, Bekannten oder Nachbarinnen sein könnten. Was sie aber besonders macht, sind ihre aussergewöhnlichen und interessanten Lebenswege.

Als mir die Idee zu diesem Buch kam, war ich mir nicht sicher, ob ich jemanden dafür begeistern und zum Mitmachen motivieren könnte. Umso überraschter war ich über die positive Resonanz. Bis heute bin ich voller Dankbarkeit für die Bereitschaft und Offenheit meiner Gesprächspartnerinnen, ihre Geschichten und Lebenswege mit mir zu teilen. Zu diesem Schritt gehört sehr viel Mut.

Das Buch kann nur einen Teil von dem wiedergeben, was alles gesprochen wurde. Es sind lediglich Ausschnitte aus dem Leben der Erzählerinnen. Jede Geschichte ist anders, aber eines haben alle acht Frauen gemeinsam: Mit dem Erzählen ihrer Geschichte möchten sie Mut machen, nicht aufzugeben, sondern durchzuhalten und Schwierigkeiten anzupacken.

Jede einzelne Geschichte hat mich tief bewegt. Und ich hoffe, liebe Leserin und lieber Leser, dass es gelingt, auch Sie zu berühren. Möglicherweise entdecken Sie in den Geschichten sogar Parallelen zu Ihrem eigenen Leben.

Wäre eine Publikation dieser Interviews nicht möglich gewesen, so hätte ich diese wertvollen, emotionalen und sehr persönlichen Gespräche trotzdem nie vergessen. Die Frauen und die Gespräche mit ihnen bedeuten mir sehr viel.

Herzlichen Dank!

Zug im November 2018

Ein Leben im Hier und Jetzt

Michèle hatte keine Wahl. Sie musste das Schicksal annehmen, so wie es war. Nicht nur die schwere Erkrankung ihres geliebten Mannes, sondern auch ihres kleinen Sohnes. Wann sie gezwungen sein würde, ihre Liebsten loszulassen, wusste sie nicht. Deshalb gestaltete sie das Leben mit ihnen umso intensiver.

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Michèle Lerch

Medizinische Praxisassistentin MPA
13. Dezember 1963

EINE UNBESCHWERTE KINDHEIT

»Wie bist du aufgewachsen, Michèle?«

»Ich bin mitten in Zürich aufgewachsen, zusammen mit einem jüngeren Bruder und einer ebenfalls jüngeren Schwester. Unsere Eltern erfreuen sich immer noch recht guter Gesundheit, obwohl sie beide schon über 83 Jahre alt sind. Wir hatten immer ein inniges Verhältnis. Dieser Liebe im Elternhaus verdanke ich mein starkes Urvertrauen ins Leben.«

»Wie kam es zu deiner Berufswahl?«

»Nach der Sekundarschule musste ich mich entscheiden, welchen Beruf ich erlernen wollte. Kinder und Medizin interessierten mich schon immer, weshalb ich eine Schnupperlehre im Kinderspital Zürich absolvierte. Aber ich erkannte schnell, dass Kinderkrankenschwester nichts für mich war.

Meine Eltern und ein neutraler Berufsberater rieten mir, eine Lehre in einer Arztpraxis zu machen mit der Begründung, dass ich dort mit Erwachsenen und Kindern arbeiten könnte. Beide waren überzeugt, dass dieses Berufsbild meinen Fähigkeiten entgegenkomme.

Sie sollten recht behalten. Die Schnupperlehre begeisterte mich auf Anhieb. Lustigerweise hatte mir meine alte Grosstante vor Jahren vorausgesagt, das Städtchen Cham werde mir Glück bringen. Und tatsächlich fand ich eine Lehrstelle in Cham.«

»Was ist für dich das Besondere an diesem Beruf?«

»Mir gefällt definitiv der Umgang mit den verschiedensten Menschen, ob sie nun gesund oder krank sind. Und da ich von Herzen gern helfe und unterstütze, entspricht die Arbeit in einer Arztpraxis sehr meinen Bedürfnissen und Fähigkeiten. Ich hätte mir nie vorstellen können, den ganzen Tag auf einem Bürostuhl zu sitzen.«

»Offenbar hast du richtig entschieden, wenn du noch heute Spass an deiner Arbeit hast. Das ist nicht selbstverständlich.«

»Dessen bin ich mir mit grosser Dankbarkeit bewusst.«

LIEBESGLÜCK

Michèle erzählte, dass ihr diese Lehrstelle in doppeltem Sinne Glück gebracht hat. Nicht nur, dass sie die Arbeit liebte und auch nach abgeschlossener Lehre noch viele Jahre in derselben Praxis blieb. Sie lernte dort ausserdem ihre grosse Liebe kennen.

»Habt ihr euch in der Praxis das erste Mal gesehen?«

Michèle lachte. »Genau. Er war Patient bei uns.«

Nach einer kleinen Pause erzählte sie weiter.

»Wir haben eine wirklich wunderschöne Beziehung aufgebaut in diesen Jahren und waren sehr glücklich. Aber eines Tages tat mir mein zukünftiger Ehemann kund, er müsse mir etwas sagen. Er meinte, er könne die Beziehung mit mir nicht weiterführen. Das war schrecklich und überraschend für mich und ich wollte natürlich wissen warum. Wir hatten einen Altersunterschied von sieben Jahren, aber das war nie ein Thema für uns gewesen. Schliesslich gestand er mir, er habe den Bescheid erhalten, an Multipler Sklerose (MS) erkrankt zu sein.

Ich konnte es nicht fassen. Er hatte keinerlei Einschränkungen zu dieser Zeit und meines Wissens noch nie Schübe erleiden müssen. Für mich war er kerngesund und so schlug ich vor, diese niederschmetternde Diagnose zu vergessen und einfach weiterzuleben.«

»Hast du dir keine Sorgen gemacht?«

»Nein. Ich konnte mir das nicht vorstellen. Mein Partner krank? Unmöglich. Das konnte und das durfte nicht sein. Ich wollte mit ihm zusammen sein, weil ich ihn liebte. Als ich ihm klarmachte, mein Leben mit ihm verbringen zu wollen, war er natürlich erleichtert und einverstanden. Er wollte mich auch nicht verlieren. Für ihn war es wichtig, dass ich Bescheid wusste. Und so haben wir unsere Beziehung weitergeführt.

Ich hatte den Plan, ein Jahr in Genf in einer Arztpraxis zu arbeiten, um meine französischen Sprachkenntnisse zu vertiefen. Als ich mich auf eine offene Stelle meldete, bekam ich die Chance, mich dort vorzustellen. Doch diese Praxis war überhaupt nicht mein Stil, weshalb ich mich klar dagegen entschied. Nach Rücksprache mit meinen Eltern suchte ich eine Familie, um etwas gänzlich anderes zu tun. Ich wollte als Au-pair Mädchen arbeiten. So kam ich in eine Genfer Familie.«

»Wie lange warst du bei dieser Familie?«

»Fast ein Jahr. Das Ehepaar hatte nur ein einziges Kind, das ich zu hüten hatte. Die Mutter arbeitete den ganzen Tag ausser Haus. Ich hatte keinen Haushalt zu verrichten, sondern fokussierte mich ganz auf den Knaben. Der Kleine war mit der Zeit derart auf mich bezogen, dass er seinen Eltern bald nicht mehr die geringste Beachtung schenkte. Sie hatten einfach nichts mehr zu sagen. Für uns alle war es das Beste, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Ich brach den Aufenthalt ab und kehrte nach Hause zurück.

Zum Glück konnte ich sofort wieder bei meinem ehemaligen Chef in Cham einsteigen und mein Partner und ich bezogen unsere erste gemeinsame Wohnung. Er machte mir einen Heiratsantrag, den ich mit grösster Freude annahm. 1987 haben wir geheiratet. Wir waren überglücklich und genossen die Zeit.«

EINE SCHWERE KRANKHEIT, DIE DENNOCH NICHT ALLES ÄNDERT

»Wie ging es deinem Mann gesundheitlich? Hast du Anzeichen seiner MS-Erkrankung bemerkt?«

»Natürlich konnte ich diese schreckliche Diagnose nicht vergessen, aber sie war nur in meinem Hinterkopf präsent. Zu keiner Zeit hatte mein Mann irgendwelche Symptome. Er war ein aktiver Fastnächtler und zudem Schlagzeuger in einer Band. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass er krank sein sollte. Dieser Gedanke war unmöglich und unerträglich. Nein, ich konnte keine Anzeichen erkennen.

Und trotzdem musste er früher Auffälligkeiten gezeigt haben, sonst wäre kein Arzt auf diese Diagnose gekommen. Ein Professor in Zürich hatte ihm bereits ein Jahr vor unserer Hochzeit gesagt, er könnte an MS erkrankt sein. Der Befund war aber nie ganz eindeutig und wir haben schlichtweg nicht daran geglaubt.

Ein Jahr nach unserer Hochzeit, das war im Jahr 1988, erlitt er den ersten schweren Schub. Von einer Sekunde auf die andere war uns klar, dass er tatsächlich an Multipler Sklerose litt. Leider wurde er nach diesem Anfall von Sehstörungen geplagt, die sich noch verschlimmern sollten.

Im Abstand von einem Jahr erfolgte ein weiterer heftiger Schub, der ihm schwer zu schaffen machte.«

«Wie äussert sich so ein Schub?«

»Ganz unterschiedlich. Es gibt Menschen, die unter Lähmungsund Gefühlsstörungen leiden, muskulär wie auch neurologisch. Es sind Attacken, welche die bereits vorhandenen Symptome verstärken und verschlechtern.

Bei einigen Patienten sind beispielsweise nur die Beine, bei anderen nur die Arme betroffen. Bei meinem Mann betrafen die Beschwerden seine ganze rechte Seite, d. h., er hatte Schwierigkeiten mit seinem rechten Arm und Bein. Auch sein Sehnerv war arg beschädigt. Später war zusätzlich seine Stimme betroffen. Er konnte nur noch leise und langsam sprechen. Aber wir konnten uns noch unterhalten. Ich weiss von Fällen, bei denen die Betroffenen nur noch mit den Augen kommunizieren konnten. Mein Mann war bis zum Schluss fähig, sich auszudrücken.«

»Ist er vollständig erblindet?«

»Nicht vollständig, nein. Er hat alles verschwommen gesehen. Ein Buch lesen konnte er nicht mehr, weil die Schrift zu klein war. Deshalb habe ich ihm regelmässig Bücher und Zeitungen vorgelesen, Fernsehen schauen konnte er noch.

Interessant war, wie sein Gehör mit schwindender Sehkraft zunahm. Die Reaktionen des Körpers sind schon erstaunlich. Wir konnten kaum mehr zusammen fernsehen. Er stellte den Ton so leise, dass ich nichts mehr hörte. Wenn die Stimmen für meine Ohren perfekt waren, platzte ihm fast das Trommelfell. Sein Gehör hat die fehlende Sehkraft übernommen. Offenbar ist dieses Phänomen ganz natürlich. Menschen, die nicht gut sehen können, hören dafür besser.«

»Konnte er nach eurer Hochzeit noch ein ganz normales Leben führen?«

»Natürlich, er hat immer ganz normal gelebt. Aufgrund seiner Schübe hatte er mit gewissen Einschränkungen zu kämpfen. Seine rechte Hand konnte er fast nicht mehr bewegen, dementsprechend zittrig wurde seine Handschrift. Statt zu klagen, hat er mit der linken Hand geübt und geschrieben. Den Computer bediente er sehr speditiv1 mit ›links‹. Für ihn war die Umstellung auf links ganz selbstverständlich. Er wollte so lange wie möglich eigenständig bleiben.«

»Hat er fremde Hilfe beansprucht?«

»Gewiss war er auf Hilfe angewiesen, und zwar zunehmend mit dem Voranschreiten seiner Krankheit. Er fuhr zum Beispiel jedes Jahr im Dezember in eine Art Reha nach Walenstadt Berg. Dort wurde versucht, mit Spezialtherapien, wie beispielsweise Maltherapie, die Patienten auch psychisch zu unterstützen. Eine schlechte Psyche oder Stress wirken sich sehr negativ auf die Krankheit aus und können Schübe auslösen.«

»Wie oft kamen die Schübe?«

»Das war schon sehr unterschiedlich. Vielleicht hatte er einen oder zwei Schübe pro Jahr zu überstehen.«

Michèle wurde für einen Moment still. Sie hielt die Augen gesenkt und war am Überlegen. Ich liess ihr Zeit.

»Ist es möglich, nach überstandenem Schub wieder an das ursprüngliche Niveau anzuknüpfen?«

»Das ist möglich. Genauso gut möglich ist das Gegenteil. Bei meinem Mann war es leider so, dass nach jedem überstandenen Schub eine deutliche Verschlechterung zurückgeblieben ist. Das kann dir niemand voraussagen.«

»Diese Situation muss für dich belastend gewesen sein. Du warst ja blutjung, als du mit der Tatsache konfrontiert wurdest, mit einem MS-kranken Mann verheiratet zu sein.«

»Natürlich war das hart. Ganz genau erinnere ich mich nicht an meine Gefühle. Ich sagte mir immer wieder, dass ich diesen Mann von ganzem Herzen liebte. Er war bis zum Schluss so aufgestellt und positiv. Ich hörte ihn fast nie klagen. Er war auch nie verbittert, zu keiner Zeit. Und damit hat er mir natürlich sehr geholfen, ohne sich dessen bewusst zu sein.«

»War es euch möglich, noch gemeinsam Sachen zu erleben und zu unternehmen?«

»Wir haben gemeinsam Ferien gemacht und sind noch zusammen gereist. 1992 äusserte er den Wunsch, Amerika zu bereisen. Damals konnte er bereits nicht mehr richtig gehen und war für längere Strecken auf den Rollstuhl angewiesen.

Trotzdem war es eine wundervolle und unvergessliche Reise. Ein guter Freund hat ein Auto gemietet und ist auch gefahren. Während der ganzen Reise hat er uns begleitet. Insgesamt waren wir fünf Wochen zusammen unterwegs. Trotz der Einschränkung meines Mannes haben wir sehr viel gesehen und erlebt. Er hat alles mitgemacht, war fröhlich und hat nie geklagt. Alles ist bestens gelaufen.

Kaum zurück in der Schweiz erlitt er dann allerdings einen ganz heftigen Schub. Vielleicht war die Reise doch etwas zu anstrengend für ihn gewesen. Ich weiss bis heute nicht, woran es lag.

Nach diesem schweren Schub blieb ein starkes Hinken zurück und auch sein rechter Arm machte ihm vermehrt zu schaffen. Das war der Moment, als er seine Arbeit als Drucker reduzieren musste, bis er schlussendlich gezwungen war, sie ganz aufzugeben. Es ging einfach nicht mehr. Obwohl es sehr zermürbend war, immer weniger tun zu können, blieb er stets positiv. Er versuchte immer, das Beste aus seiner Situation herauszuholen. Und das ist ihm gelungen. Das hat er geschafft. Ich war immer so stolz auf ihn!«

Michèle lächelte wehmütig.

»Er nahm auch immer an Gruppenaufenthalten teil, die von der MS-Gesellschaft organisiert wurden. Einmal hat er einen anderen Patienten kennengelernt, dem es offenbar miserabel ging. Als mein Mann nach Hause kam, sagte er mir, ich wisse ja, was ich zu tun hätte, sofern es ihm selber einmal derart schlecht gegen würde.

Ich wusste, was er meinte, und hätte ihm seinen Wunsch auf alle Fälle erfüllt. Das habe ich ihm fest versprochen, darauf hat er gezählt und daran hätte ich mich gehalten.«

Ich spürte, dass Michèle nicht erklären wollte, was sie hätte tun müssen. Deshalb wartete ich einfach ab, bis sie weitersprach.

»Das war unser Geheimnis und so soll es auch bleiben«, meinte sie nach einer langen Pause.

DAS LANG ERSEHNTE WUNSCHKIND

Dann erzählte Michèle, dass ihr Mann nach der Hochzeit den Wunsch nach Kindern geäussert hatte. Zunächst war sie skeptisch, hatte Bedenken, dass MS vererbbar sein könnte. Doch nach einer Klärung der Situation im Spital erhielt sie den positiven Bescheid, einem Kinderwunsch stehe nichts im Wege. So beschlossen die beiden, einem eigenen Kind das Leben zu schenken.

»Unser Wunsch nach einem Kind wurde nicht so schnell erfüllt wie erhofft. Ich wurde nicht schwanger. Schliesslich sagten wir uns, wenn der liebe Gott nicht wolle, dass wir Kinder haben, so würden wir es akzeptieren. Und wie das Leben so spielt – dann bin ich schwanger geworden.«

»Wie lange nach eurer Hochzeit war das?«

»Das war genau sechs Jahre später. Ich hatte eine einfache und schöne Schwangerschaft. Diese Zeit war für uns beide einzigartig und wundervoll, obwohl mein Mann damals schon häufig im Rollstuhl sitzen musste. Zu Hause stützte er sich an den Wänden ab, aber ausserhalb war er auf den Rollstuhl angewiesen. Er benötigte die Spitex2 zum Anziehen und für seine Morgentoilette. Noch vor der Geburt unseres Kindes bauten wir einen Treppenlift in unserem Zuhause ein. Das war eine grosse Erleichterung für uns beide.

Nach einer strengen Geburt kam 1993 unser Sohn Pascal zur Welt und wir waren unendlich glücklich! Natürlich war ich, als ich im Wochenbett lag, in Sorge um meinen Mann, der nicht ohne Hilfe leben konnte. Er brauchte für die Essenszubereitung und beim Essen Unterstützung. Die Spitex half nur am Morgen – den Rest des Tages konnte er unmöglich alleine bewältigen.«

»Wie hast du das Problem gelöst?«

»Gottlob habe ich eine wunderbare Freundin, die immer für mich da war, bis heute. Sie bot mir an, meinen Mann während meines Spitalaufenthalts bei sich aufzunehmen und für ihn zu sorgen. Dankbar nahm ich dieses grosszügige Angebot an.«

»Das ist tatsächlich echte Freundschaft.«

»Ja, meine Freundin und ihr Mann haben mich unglaublich unterstützt. Leider sind sie zwischenzeitlich geschieden. Mit ihrem Mann habe ich keinen Kontakt mehr, aber uns Frauen verbindet eine schöne Freundschaft. Ich bin ihr sehr dankbar, auch heute noch.«

»Wie war es für deinen Partner, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen? Hilfe annehmen ist nicht immer einfach.«

»Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, wie er auf das Angebot reagierte. Jedenfalls liess er sich darauf ein und verbrachte eine gute Zeit.«

»Und danach wart ihr also zu dritt.«

»Ja. Und wir waren überglücklich. Dass Pascal das Trinken an der Brust kategorisch verweigerte, nahmen wir einfach nur zur Kenntnis. Das konnte vorkommen und war ganz normal. Alles verlief bestens und dem Verlassen des Spitals stand nichts im Wege. Ich freute mich sehr, Pascal seinem stolzen Vater in die Arme legen zu dürfen. Bevor wir gehen konnten, wurde der Kleine der obligaten Austrittskontrolle unterzogen. Danach teilte mir der Arzt mit, er habe Geräusche auf dem Herzen oder der Lunge wahrgenommen. Diese Geräusche müssten genauer abgeklärt werden. Bei der Untersuchung wurde dann festgestellt, dass das Herz von Pascal viel zu gross war.«

EIN WEITERER SCHICKSALSSCHLAG

»Als mir der Arzt diese Mitteilung machte, war der Krankenwagen bereits unterwegs, um Pascal ins Kinderspital Zürich zu fahren«, erzählte Michèle weiter. »Das war Horror pur! Mein Mann war bei unseren Freunden, unfähig, einzugreifen und zu helfen. Mein Vater kam sofort und begleitete Pascal bis zum Krankenwagen. Mitfahren durfte er nicht, es hatte keinen Platz im Fahrzeug. Und ich weinte und weinte ohne Unterlass und wollte mich nicht von meinem Kind trennen. Ich war meinem Vater sehr dankbar, dass er die Initiative ergriff und für mich handelte.«

Michèle schluckte schwer und erzählte weiter.

»Auch für meinen Mann war das eine schreckliche Zeit, weil er keine Unterstützung geben konnte. Ich selbst wurde aus dem Spital entlassen, nachdem sie den Kleinen abgeholt hatten, und ging zu meinen Eltern. Man hatte mir eine Telefonnummer von der Kinderklinik gegeben, damit ich mich jederzeit nach Pascals Gesundheitszustand und dem weiteren Vorgehen erkundigen konnte. Auch mein Frauenarzt setzte sich für mich ein und gab mir Rückmeldungen zu seinem Befinden. Pascals Zustand war stabil, aber er musste weiter untersucht werden.

Am nächsten Tag erhielt ich einen Termin, um mit den behandelnden Ärzten zu sprechen. Unsere Freunde fuhren mit meinem Mann und mir zu dieser Besprechung, damit wir beide alles aus erster Hand hören konnten. Die Ärzte informierten uns, dass Pascal unter einem viel zu grossen Herz leide.«

»Was bedeutet es, wenn das Herz zu gross ist?«

»Die Transposition war bei ihm verkehrt herum, d. h., dass die grosse Herzkammer die Lunge versorgte und die kleine den ganzen Körper.«

»Die Kapazität der kleinen Kammer reichte also nicht aus, den ganzen Körper mit Blut zu versorgen?«

»Genau«, bestätigte Michèle meine Vermutung. »Bei dieser Diagnose ist bereits innerhalb der ersten Lebenswochen eine Operation erforderlich. Nach diesem traurigen Bescheid durften wir Pascal noch eine Woche nach Hause nehmen, er wurde medikamentös behandelt und unterstützt. Im Alter von zwei Wochen erfolgte dann die erste Herzoperation. Du kannst dir vorstellen, wie es uns beiden ging.

Selbstverständlich besuchte ich ihn täglich im Spital. Am Abend ging ich immer wieder heim, weil ich noch meinen Mann zu versorgen hatte.«

»War dein Mann noch bei euren Freunden?«

»Wir beide wohnten dort. Sie wollten nicht, dass wir unsere Nächte in einer leeren Wohnung verbrachten. Ich hatte eine Matratze neben seinem Bett und schlief dort. So konnten wir alle vier zusammen sein und uns gegenseitig helfen und trösten. Manchmal fuhr ich alleine nach Zürich, manchmal begleiteten mich die Freunde zusammen mit meinem Mann. Wir blieben eine Woche bei ihnen. So treue und selbstlose Freunde findet man selten.«

Wieder hielt Michèle kurz inne, räusperte sich und erzählte dann weiter, dass die Operation am 1. Dezember 1993 stattgefunden hatte. Pascal überstand den schweren Eingriff gottlob gut und Michèle durfte ihren Kleinen zu Weihnachten heim nehmen. Die kleine Familie feierte erstmals gemeinsam das Fest der Liebe.

An Silvester kam der nächste Tiefschlag.

Nach der Operation, die ja gut verlaufen war, nahmen die behandelnden Ärzte dem Kleinen den Tubus raus. Einen Tag später musste er wieder eingesetzt werden, was zu einer Reizung in der Luftröhre führte. Michèle wurde gewarnt, dass diese Reizung im schlimmsten Fall einen Infekt auslösen könnte, der sich in Form eines Hustens äussern würde. Und genau das geschah.

»Pascal fing an zu husten und konnte kaum mehr trinken. So suchte ich seine Kinderärztin in Cham auf. Sie empfahl mir, mich sofort melden, sollte sich sein Zustand verschlimmern. Allerdings sei sie am folgenden Tag nicht mehr in der Praxis, aber für uns trotzdem per Handy erreichbar.

Weil ich sie nicht in ihrer Freizeit stören wollte, rief ich eine andere Kinderärztin an, als es Pascal immer schlechter ging. Ich bekam einen Termin und erklärte ihr, dass ich meinen Sohn nicht beruhigen könne und überzeugt sei, dass ihm etwas Ernsthaftes fehle, obwohl er kein Fieber hatte.

Die Reaktion der Ärztin war unglaublich. Sie meinte, ich müsse mich beruhigen, meine Nervosität übertrage sich auf meinen Sohn und sie empfahl mir, selber Baldriantropfen zu nehmen. Der Rest gebe sich von alleine!

Ich weinte vor lauter Verzweiflung. Wieder zu Hause rief ich ›meine‹ Kinderärztin an, Freizeit hin oder her. Ich wusste, dass es meinem Kind schlecht ging! Eine halbe Stunde später konnte ich sie bereits in ihrer Praxis treffen. Sie untersuchte ihn und diagnostizierte eine Lungenentzündung.

Also sofort zurück ins Kinderspital. Und die andere Ärztin hatte mir geraten, Baldrian zu schlucken … Mit den richtigen Medikamenten ging es Pascal schnell besser. Er beruhigte sich, ohne dass ich Valium eingenommen hatte!!!

Pascal musste allerdings weitere zwei Wochen im Spital verbringen, bis ich ihn definitiv wieder nach Hause nehmen durfte. Neben der Sorge um meinen Sohn befürchtete ich, dass mein Mann nach dieser enormen Belastung und Aufregung einen MS-Schub erleiden könnte. So sollte es kommen.«

ERNEUTER TIEFSCHLAG

Im folgenden Sommer verbrachte Michèles Mann ein paar Wochen in einem Reha-Zentrum. Da er Mühe mit seiner Blase bekundete, wurde ihm ein Katheter eingesetzt. Dabei muss irgendetwas schiefgelaufen sein, denn er wollte nämlich von einer Minute auf die andere nach Hause. Unbedingt! Einen Tag nach seiner Rückkehr musste er notfallmässig mit dem Krankenwagen ins Kantonsspital transportiert werden. Er litt an einer Blasenvergiftung. Wie es zu dieser Vergiftung kam, ist bis heute unklar.

Zusätzlich erlitt er einen schweren Schub. Michèle nahm ihn mit nach Hause und pflegte ihn. Von diesem Schub konnte er sich nie mehr erholen und wurde dadurch zu einem Pflegefall. Er konnte wohl noch im Rollstuhl sitzen, sich selber fortbewegen war jedoch unmöglich geworden.

»Wie hast du das hingekriegt? Du musstest doch auch an die frische Luft mit deinem kleinen Sohn.«

»Mein Mann sass im Rollstuhl und hatte den Kleinen im Snugli3 vor der Brust. Pascal hat nie besser geschlafen als an der Brust seines Vaters. So konnten wir uns täglich an der frischen Luft bewegen, was uns allen drei gut tat. Unsere Spaziergänge wurden zu einem richtigen Ritual.

Vater und Sohn hatten ausserdem ein Ritual am Abend. Der Kleine durfte immer neben ihm in meinem Bett einschlafen. Erst wenn er tief schlief, trug ich ihn in sein eigenes Bett. Das haben die beiden bis zum Schluss so gehalten.

Du siehst, unser Familienleben fand zwangsläufig im Schlafzimmer statt. Meine beiden Männer hatten eine sehr enge Beziehung miteinander. Mit zunehmendem Alter tat Pascal immer mehr für seinen Papi. Als beispielsweise das Trinken aus der Schnabeltasse für meinen Mann schwierig wurde, brachte ihm Pascal seine Schoppenflasche4. So funktionierte das Trinken bestens für beide.«

AKZEPTANZ DES UNVERÄNDERBAREN

Pascal durfte eine längere gute Phase erleben. Er war fröhlich, machte Fortschritte und unterschied sich in seiner Entwicklung nicht von anderen Kindern. Im zweiten Lebensjahr verschlechterte sich sein Zustand jedoch zusehends und die Ärzte informierten Michèle, dass ihm eine zweite Operation bevorstand.

»Hast du dich je gefragt, wie alt Pascal werden würde?«

»Darüber habe ich mir wirklich keine Gedanken gemacht. Ich habe immer gehofft, dass er möglichst lange bei uns ist. Niemand konnte voraussagen, wie lange er zu leben hatte. Wir lebten in ständiger Ungewissheit. Mein Mann litt sehr unter dieser Frage, ob Pascal das Erwachsenenalter erleben durfte oder nicht. Um selber zu überleben und Pascal eine wirkliche Stütze zu sein, mussten wir lernen, jeden Tag so zu nehmen, wie er eben war. So haben wir gelebt – wir haben es gelernt.«

»Glaubst du, dass jeder Mensch lernen kann, den Tag so anzunehmen, wie er kommt?«

»Ich weiss es nicht. Einige würden vielleicht daran zerbrechen. Aber die meisten Menschen in Notlagen erhalten von irgendwoher die nötige Kraft und Zuversicht, um zu überleben und die Situation anzunehmen und anzupacken. Wir konnten tatsächlich jeden Tag zusammen geniessen, wenn es Pascal einigermassen gut ging. Er war so fröhlich und pflegeleicht. Wenn uns vom Spital ein nächster Schritt empfohlen wurde, haben wir ihn gemacht. Wir gingen durch sämtliche Kontrollen, stellten uns sämtlichen Gesprächen und ergriffen alle notwendigen Massnahmen. Uns blieb gar nichts anderes übrig. Was sollten wir sonst tun? Wir mussten positiv bleiben, schon wegen Pascal. Wir haben uns keine Fragen für die Zukunft gestellt. Wir haben die Dinge einfach so genommen, wie sie kamen.«

»Warst du nicht unendlich traurig?«

»Natürlich war ich traurig, das ist absolut menschlich und normal. Im Kinderspital habe ich aber immer wieder Kinder gesehen, die viel kränker wirkten als Pascal. Er hat so viel gelacht. Er war auch in seinen Bewegungen nicht eingeschränkt wie andere Kinder. Er entwickelte sich prächtig, und den Herzfehler hast du ihm nicht angesehen. Er war nicht anders als gesunde Kinder in seinem Alter. Das hat mir sicher viel geholfen.«

»Du hast vorher gesagt, dass Pascals erstes Lebensjahr recht gut verlief. Wie war denn sein zweites?«

Michèle überlegte. »Pascal hatte zwei relativ gute Jahre, wobei das zweite schwieriger war. Im November feierte er seinen zweiten Geburtstag. Die dritte grosse Operation war für September des folgenden Jahres geplant. Leider ergaben sich bei einer Untersuchung unerwartet Komplikationen mit dem Herzkatheter, sodass sofort operiert werden musste.

Drei Wochen danach durfte Pascal wieder nach Hause. Ich hatte ihn wieder täglich im Spital besucht, während sich die Spitex um meinen Mann kümmerte. Zudem war eine Haushaltshilfe vor Ort und auch beide Familien unterstützten uns nach besten Kräften.«

»Hast du dir manchmal die Frage gestellt, weshalb es gerade dich so hart getroffen hat?«

»Nein, das nicht. Aber ich habe mich gefragt, weshalb es uns, uns als Familie erwischt hat. Eine Antwort darauf ist schwierig. Ich habe natürlich verschiedenste Meinungen dazu gehört. Ich selber denke, dass es uns getroffen hat, weil wir fähig waren, unser Schicksal anzunehmen und damit umzugehen. Es war einfach so. Ich konnte nichts an der Situation ändern.«

DIE KRAFT VON VISIONEN UND TRÄUMEN

»Bist du gläubig?«

»Nein, nicht im eigentlichen Sinne. Ich halte mich immer an Licht, an Kerzenlicht und Wärme. Ich gehe nicht in die Kirche, um von jemandem im Himmel Hilfe zu erbitten. Ich gehe in die Kirche, um eine Kerze anzuzünden und daraus Kraft zu schöpfen. Auch heute noch helfen mir Kerzen, wenn es mir nicht gut geht.«

»Was hat dir noch geholfen?«

»Neben den Kerzen habe ich mir manchmal vorgestellt, die Kraft käme von oben. Mit Glauben haben diese Gedanken nichts zu tun. Ich würde eher von einer Vision sprechen. Ich sehe eine Person vor meinem geistigen Auge, und diese Person gibt mir Kraft und Zuversicht.«

»Kennst du diese Person? Ist sie real?«

»Nein, überhaupt nicht. Ich sehe sie nur in meinem Kopf, aber so klar, dass ich sie dir beschreiben kann. Diese Person passt auf mich auf, und Pascal ist bei ihr geborgen und glücklich.

Mein Sohn hat mir vor seinem Tod gezeigt, wohin er gehen würde. Ich habe sogar davon geträumt. Ich habe geträumt, dass Pascal zusammen mit mir auf ein grosses wunderschönes Holztor zugeht. An diesem Tor hängt ein goldener Schlüssel. Pascal sagt zu mir: ›Mami, ich zeige dir jetzt, wohin ich unbedingt gehen möchte. Bitte lass mich gehen.‹

Nur er war in der Lage, mit dem goldenen Schlüssel das Tor aufzuschliessen. Er öffnete die Tür und wurde von der Person empfangen, die ich mir als Beistand und Unterstützung vorstelle. Ich habe diese Person in aller Deutlichkeit gesehen. Auf der anderen Seite des Tores waren viele Menschen versammelt, die alle nur Windeln trugen. Die Erwachsenen hatten Tücher um ihre Hüften gewickelt, ihre Oberkörper waren nackt. All diese Menschen waren auf einer wunderschönen blühenden Wiese versammelt; sie waren ausnahmslos fröhlich, lachten und sangen. Und es war angenehm warm. Ich spürte diese Wärme. In diesem Moment schloss Pascal das Tor hinter sich und ich erwachte.

Sofort machte ich mich auf den Weg ins Kinderspital. Und dann wich ich nicht von Pascals Bett, bis er die Augen für immer schloss. Ich wusste, dass er an diesem Tag sterben würde. Und so war es.«

Michèle verstummte und wir sahen uns mit tränennassen Augen an. Nach einer Weile nahm ich den Faden wieder auf und fragte Michèle, ob dieser Traum in irgendeiner Form tröstend für sie war, Pascal auf der anderen Seite des Tores glücklich und im Kreis liebevoller Menschen zu wissen.

»Ja, schon. Obwohl die Realität sehr hart zu ertragen war. Bevor er für immer seine Augen schloss, ging es ihm nicht wirklich gut. Als ich nach dem Traum zu ihm in die Klinik kam, fiel sein Blutdruck zusammen und er wurde reanimiert. Er bekam Medikamente, auf die er reagierte. Als er wieder ansprechbar war, erzählte ich ihm, dass seine Grossmami jeden Moment eintreffen würde. In diesem Moment fiel sein Blutdruck erneut zusammen und auch das Medikament blieb wirkungslos. Als ihn der Arzt wiederbeleben wollte, hielt ich ihn davon ab. Ich wollte Pascal in Ruhe sterben lassen. Der Arzt stand voll hinter meinem Entscheid und erst dann schlief unser Sohn entspannt für immer ein. Und erst dann habe ich geschrien und geweint.«

DAS LEBEN OHNE PASCAL

Wir sassen still am Tisch. Michèle räusperte sich.

»Mein Mann wünschte sich nach dem Tod von Pascal ein weiteres Kind. Ich hatte aber zu viel Angst vor diesem Schritt«, meinte sie. »Ich hatte Angst davor, nochmals ein krankes Kind zu verlieren. Obwohl mir die Ärzte immer wieder versicherten, Pascal hätte an keinem genetisch bedingten Herzfehler gelitten, wagte ich keine zweite Schwangerschaft.

Wir hätten gerne Pflegekinder aufgenommen, was aber wegen der Krankheit meines Mannes nicht möglich war. So entschieden wir, Tageskinder bei uns aufzunehmen und zu betreuen.«

»Ein eigenes Kind zu verlieren und für andere da zu sein, erfordert eine enorme Stärke. Haben euch die Kleinen nicht ständig an Pascal erinnert?«

»Auf der einen Seite schon. Auf der anderen Seite war die Kinderbetreuung für uns beide eine sehr gute Lösung und eine Ablenkung. Die Kleinen haben viel Freude in unser Heim gebracht. Mir war klar, dass ich nicht ins Berufsleben zurückkehren konnte, weil ich mich um meinen Mann kümmern wollte. Es war mein grösstes Anliegen, immer für ihn da zu sein, wohlverstanden zusammen mit der grossartigen Unterstützung der Spitex.

Insgesamt hatten wir sechs Tageskinder in unserer Obhut. Die ersten Kinder, die wir betreuen durften, waren zwei Knaben im Alter von drei und vier Jahren. Das dritte, das zu uns fand, war ein dreimonatiges Mädchen und das vierte ein einmonatiges Baby. Wir waren also sehr beschäftigt.«

Michèle strahlte und ihre blauen Augen funkelten vor Freude.

»Und es war so schön und beglückend zu sehen, wie mein Mann die Kinder genoss. Er war schon immer ein Kindernarr. Und Kinder sind phänomenal. Unsere Tageskinder wussten ganz genau, was für meinen Mann möglich war und was nicht. Vormittags waren wir oft zusammen draussen, mein Mann sass natürlich im Rollstuhl. Den Nachmittag verbrachte er meistens im Bett, weil er sich ausruhen musste. Sie respektierten uns beide, aber das Sagen hatte eindeutig er. Natürlich suchten sie unsere Grenzen. Aber das ist ganz natürlich, Grenzen auszuloten gehört zur normalen Entwicklung eines Kindes, unabhängig davon, ob jemand im Rollstuhl sitzt und krank ist.

Für sie war es völlig normal, dass unser Familienleben im Schlafzimmer stattfand. Mein Bett war für die Kinder das Spielparadies geworden. Ebenso selbstverständlich war für sie, dass nicht am Esstisch, sondern am Spitaltisch am Bett gegessen wurde, wenigstens solange sie klein waren.

Da mein Mann sitzend nicht schlucken konnte, fütterte ich ihn, während er im Bett lag. In dieser Zeit spielten die Kinder eine halbe Stunde allein im dritten Zimmer. Auch das akzeptierten sie immer anstandslos. So funktionierte unser Leben mit den Tageskindern bestens.«

»Wie hast du diese Zeit in Erinnerung?«

»Sehr positiv. Das war eine sehr gute Zeit für uns. Die Kinder halfen mir, den Tod von Pascal zu überwinden. Ich wurde gebraucht und hatte eine Aufgabe zu erfüllen, die mir viel bedeutete. Ich konnte mit den Kleinen wieder lachen.«

LOSLASSEN, AUCH WENN ES WEHTUT

»Ihr hattet noch glückliche Jahre zusammen.«