Begegnungen auf Zypern

Für Regina

die Zypern fast so sehr liebt wie ich

ULF HÄUSLER

BEGEGNUNGEN AUF ZYPERN

Roman

Irgendwo auf der Welt

fragt sich ein Strand traurig,

warum ich nicht auf ihm liege.

Unbekannt

Inhalt

Prolog

Teil I

1. – 9. Kapitel

Teil II

10. – 18. Kapitel

Teil III

19. – 22. Kapitel

Teil IV

23. – 30. Kapitel

Teil V

31 – 35. Kapitel

Teil VI

36. – 42. Kapitel

Teil VII

43 – 49. Kapitel

Teil VIII

50. – 54. Kapitel

Epilog

Über den Autor

Prolog

Wir, Gina und ich, haben ein bevorzugtes Reiseland, nämlich die schöne Insel Zypern im östlichen Mittelmeer. Ursprünglich glaubten wir mal, Mallorca für unser Herz entdeckt zu haben, aber als wir das zweite Mal dorthin wollten, dieses Mal zusätzlich mit unserer jüngeren Tochter, hatte uns der Vermieter der im Jahr zuvor gebuchten Ferienwohnung kurzfristig abgesagt. Zypern war die Alternative geworden und es gefiel uns da so gut, dass wir dort sogar ein kleines Feriendomizil erwarben.

Gina, die Künstlerin ist, liebt die Insel genauso sehr wie ich, aber sie hält es oft nicht allzu lange aus, weil sie sich bisweilen auch mal langweilt – es fehlen ihr Farben, Leinwand, Staffelei und vor allem hat sie dort keinen Brennofen für ihre keramischen Objekte – die ‚Werkstoffe‘ mitzunehmen, ist einfach zu aufwendig. Und so kam es schon mal bisweilen vor, dass ich ein paar Wochen länger blieb und dann alleine war.

Wir pflegten regelmäßig an einen bestimmten Strand zum Schwimmen zu fahren und weil es in der Bucht – sie steht unter Naturschutz, da sie ein Brutgebiet für Schildkröten ist – keinen Schatten und vor allem weit und breit weder eine Taverne noch einen Kiosk gibt, wo man etwas zum Essen oder zum Trinken kaufen kann, war der Strand in aller Regel sehr einsam. Auf die ca. 2 km lange Bucht verteilten sich meist nur wir und ein weiteres Paar. So brauchte man keine Badehose – es war stets eine reine Idylle. Und, auch das hatten wir bald herausgefunden, jenes Paar, mitunter war es auch eine ganze Familie, lief ebenfalls im Evas- und Adamskostüm herum.

An einem Vormittag – ich war wieder allein am Strand gewesen, hatte ich mich gerade angezogen, als die Frau, nun auch mit Shorts, Top und Sandalen bekleidet, an mir vorbei schlenderte. Sie war geschätzt etwa 10 – 15 Jahre älter als ich, also vermutlich um die 80 Jahre alt, eine große, schlanke, immer noch blendend aussehende Erscheinung, tief dunkelrote Haare mit ein paar Silberfäden durchwebt und so grünen Augen, wie ich sie vorher bewusst noch nie wahrgenommen hatte – sie musste mal eine wahre Schönheit gewesen sein. Ich rief ihr nach Landessitte ein freundliches ‚Hello‘ zu, dass sie nicht minder freundlich erwiderte und dann gingen wir gemeinsam in Richtung unserer Autos und fingen an, uns auf dem Weg ein wenig zu unterhalten.

Sie hatte offenkundig an meinem Akzent bemerkt, dass ich weder Zypriot noch Engländer war und fragte mich auf einmal in perfektem Deutsch, wo ich denn herkomme.

Es stellte sich heraus, dass sie eine gebürtige Deutsche und mit einem Zyprioten verheiratet war, drei inzwischen erwachsene Kinder und vier Enkelkinder hatte, hier lange als Tierärztin gearbeitet hatte und ihr Mann Wein anbaute, Ziegen- und Schafherden besaß und noch eine Käserei betrieb.

Sie fuhr mit einem uralten Land Rover Discovery vor mir her. Da ich noch nach wenigen km Fahrt eine Tasse Kaffee brauchte und so in einer Taverne Station machte, war sie bald mit ihrem Auto entschwunden.

In den nächsten Wochen unterhielten wir uns ziemlich oft, ich erfuhr so nicht nur ihre, sondern die Lebensgeschichten ihrer ganzen Familie. Und da ich ja inzwischen als Hobby die Schriftstellerei entdeckt habe, fragte ich sie, ob ich über ihre Lebensgeschichte ein Buch schreiben dürfte. Es war das erste Mal, dass sie mich ausgesprochen skeptisch anschaute. „Muss das sein?“

Da wir uns inzwischen natürlich längst einander vorgestellt hatten, sie hieß Alwine Dorossakis-Luitpold und wurde Ali genannt und wir uns – auch nach Landessitte inzwischen mit Vornamen anredeten, erwiderte ich ihr:

„Ali, es muss nicht sein, aber es sollte sein. Wenn Du so willst, würde das ja eine Art Biografie von Euch werden und Deine Kinder und Enkel freuen sich vielleicht mal in zwanzig Jahren, etwas von ihrer Mutter und Oma zu lesen?“

„Wieviel Bücher hast Du schon geschrieben?“ war ihre Frage daraufhin.

„Exakt fünf Stück.“

„Und kannst Du von den Honoraren leben?“

Ich lachte sie an:

„Ehrliche Antwort? Es würde nicht mal reichen, um mich jeden Tag satt zu machen. Meine Schreiberei ist eigentlich nur Spaß an der Freude.“

Ali lachte jetzt auch.

„Dann tu was Du nicht lassen kannst. Unter einer Bedingung.“

„Die wäre?“

„Ich bekomme das Machwerk vorher zum Lesen. Und wenn es mir nicht gefällt, darf ich es redigieren. Oder Dir notfalls die Veröffentlichung verbieten. Aber wahrscheinlich liest es ja eh kaum einer. Außer uns.“

TEIL I

1. Kapitel

Alwine Luitpold ging ganz langsam zu ihrem Vespa-Roller. Hinter ihr lag ihre alte Penne, auf der sie nun ganze neun Jahre lang die Schulbank gedrückt hatte.

Vor neun Jahren war sie mit ihren Eltern auf das kleine Dorf gezogen, ihre Eltern wollten damals weg aus der Großstadt, sie hatten die Nase voll vom Lärm, der schlechten Luft, der ganzen Hektik. Und da ihr Vater, damals gerade 60 Jahre alt geworden, aus dem Vorstand des riesigen Konzerns, für den er ein Leben lang gearbeitet hatte, ausgeschieden war, meinten die zwei Alten es sich leisten zu können, dem Trubel Frankfurts zu entfliehen. Jahre vorher hatten sie sich in dem Dörfchen im Odenwald ein Grundstück gekauft und ein wirklich tolles Haus darauf gebaut, das zunächst nur an den Wochenenden genutzt wurde.

Alwine musste ein wenig vor sich hinlächeln, als sie an damals dachte – wie hatte sie den Eltern die Ohren vollgejammert, aufs Land ziehen zu sollen und ihre ganzen Freundinnen zurückzulassen. Dass sie die ohnehin verloren hätte, weil nahezu alle Kinder nach den 4 Jahren Grundschule ganz unterschiedliche Schulen besuchen würden, wollte sie auf gar keinen Fall wahrhaben. Aber alles Heulen, Jammern und Lamentieren hatte nichts genutzt. Die Eltern, gegen die sie sich sonst immer prima mit ihrem hübschen Köpfchen hatte durchsetzen können, waren dieses Mal hart geblieben. Und nach ein paar Monaten hatte sie Frankfurt längst vergessen und sie fand es auf der Gesamtschule in ihrer Gemeinde im Odenwald auf einmal viel schöner. Ihr Vater hatte damals einen Beratervertrag seines Konzerns erhalten und war so 2 – 3-mal in der Woche in die Stadt gefahren, aber sie hatte nur zweimal mitgewollt, danach war das Thema Frankfurt für sie abgehakt.

Am Montag hatte die Abiturfeier stattgefunden. Insgesamt waren sie fünfundzwanzig, die das Abitur abgelegt hatten – nur zwei hatten es nicht geschafft. Alwine hatte während der neun Jahre auf der höheren Schule nie die geringsten Schwierigkeiten gehabt, nur in der Pubertätszeit war sie ein wenig abgerutscht – ihr Notendurchschnitt war von 1,2 auf 2 gefallen. Dafür hatte sie es damals als völlig uncool empfunden, ihre Eltern mit Mama und Papa anzureden – ab sofort sagte sie Mom und Dad. Dabei war es dann geblieben.

Die Eltern hatten damals kein bisschen mit ihr geschimpft und die schlechteren Noten brav geschluckt. Vielleicht, weil der Vater ihr am Montag gebeichtet hatte, dass er immer ein miserabler Schüler gewesen war und mit seinem Abi-Durchschnitt heute nicht mal eine Lehrstelle bekommen würde, geschweige denn einen Studienplatz. Und ihre Mutter hatte auch ‚nur‘ eine Zwei im Abi gehabt, sie dagegen hatte es tatsächlich auf einen Schnitt von 1,1 gebracht. Was sie als ganz hilfreich empfand, weil sie doch unbedingt Tiermedizin studieren wollte.

Jetzt lag alles, was mit Schule zu tun hatte, hinter ihr und sie freute sich schon richtig aufs Studium. Als sie vor ihrer Vespa stand, nahm sie die paar Sportsachen, die sie heute noch geholt hatte und fing an sie zu verstauen. Gerade als sie ihren Helm aufsetzen wollte, kam Jens Kerger angeschlendert, einer ihrer nun ehemaligen Klassenkameraden.

„Kommste mit auf nen Cappuccino, schöne Queen?“

„Du die Zeiten mit der Queen sind vorbei. Ist das klar? Ich heiße Alwine, darfst mich aber Ali nennen.“

Sie lächelte ihn dabei richtig süß an.

Queen hatten die Jungs in ihrer Klasse sie genannt, nachdem sich herumgesprochen hatte, dass sie mit keinem von denen ‚was anfangen‘ wollte. Und das, was die von ihr wollten, schon mal gar nicht. Klar, auch sie hatte damals mit 15, 16 Jahren ein bisschen herumgeknutscht, aber die ‚Kerle‘ wollten immer mehr – letztlich wollten sie mit ihr ins Bett und das wollte sie auf gar keinen Fall. Und da sie da bei allen Jungs eisern blieb, gleich ob sie aus ihrer Klasse oder auch aus Klassen darüber waren, hatte sie sich den Spitznamen „Queen“ eingehandelt. Ob man da Queen Victoria oder Elizabeth vor Augen hatte, war ihr nie klar geworden, aber es hatte sie auch nicht ernsthaft interessiert. Ihrer besten Freundin Irmi war es aus gleichem Grund ähnlich ergangen, nur hatte man sie ‚Bremse‘ genannt.

Sie war wohl Queen genannt worden, weil sie nicht nur über ein Gardemaß von 1,84 m verfügte, sondern geradezu blendend schön, d.h. mit einer hinreißenden Figur gesegnet war: Obenrum eher zart, unterwärts ein hübsch gerundeter Po, ein flacher Bauch, endlos lange wohlgeformte Beine, die kastanienbraunen, leicht gekräuselten Haare mit ihrem rötlichen Schimmer waren von der Mutter und vom Vater der bräunliche Teint ererbt. Von 365 Tagen im Jahr trug sie die Haare aber nur höchstens zehn Tage lang offen, meist wurden sie in einem Pferdeschwanz gebändigt. Die Nase war eine höchst gelungene Mischung von denen der Eltern, sie war kaum merkbar gebogen und darunter ein Mund, der Männer fast magisch anzog – man wollte ihn nur zu gerne küssen. Unter der hohen Stirn leuchteten ihre dunkelgrünen, manchmal wie Smaragde schimmernden Augen – sie sollten angeblich von ihrem Urgroßvater mütterlicherseits abstammen. Was für sie plausibel war, weil ein altes Ölgemälde von ihm, das im elterlichen Esszimmer hing, tatsächlich einen gut aussehenden Mann mit eben solchen Augen zeigte. Zwar arg dunkelgrün, wie Alwine immer fand, aber das war wohl Dreck – das Gemälde gehörte eigentlich gereinigt.

„Also kommste nun mit auf nen Cappuccino oder nicht. Und sei nicht gleich wieder sauer, Ali.“

„Bin ja gar nicht sauer, Jens. Und – na ja, bist schon ganz ok soweit. Nur das mit der Queen hör ich eben nicht mehr so gern.“

„Weißt doch aber, warum Du den Spitznamen bekommen hast?“

„Klar, weiß ich das, bin ja nicht doof. Aber dass nicht einmal Du verstehen kannst, dass ich das damals nicht wollte, was Ihr hormongesteuerten Halbstarken alles mit uns Mädels so vorhattet, versteh ich wirklich nicht.“

„Prima Thema. Ich erklär Dir‘s gleich in der ‚Freiheit‘.“

„Du Jens, so genau will ich das gar nicht wissen.“

In der ‚Freiheit‘ angekommen, wurde Jens begrüßt und Alwine sogar umarmt.

„Oh wie schön Fräulein Luitpold. Wir gratulieren zum bestandenen Abitur. Und Ihnen darf man auch gratulieren?“ meinte sie zu Jens gewandt und ohne eine Antwort abzuwarten fuhr die Wirtin gleich fort: „Und wie geht’s den verehrten Eltern?“

„Prima, die sind schon in den Urlaub vorgefahren und ich fahre nächste Woche hinterher.“

„Was darf’s denn sein?“

Jens passte das nicht so sehr.

„Wie schön Fräulein Luitpold“ säuselte er der Wirtin nach, als sie bestellt hatten, sodass Alwine laut auflachte.

„Mensch, sei nicht so empfindlich. Ich kann doch nichts dafür, dass meine Eltern hier oft einkehren und so gut bekannt sind bei der Wirtin.“

„Na ja, Du bist ja auch was Besseres. Der Vater Professor, Doktor und Vorstand von einer AG, die Mami Ex-Apothekerin und Künstlerin, die schöne Tochter mit Einser-Abi. Da kann ich kaum mithalten.“

„Weißt Du, dass Du richtig doof bist gerade und eigentlich nur voll nervst? Mach mal so weiter - noch ein paar Minuten und Du kannst Deinen Cappuccino alleine trinken.“

Als beide ihre Getränke vor sich stehen hatten, Jens einen Cappuccino, Alwine einen doppelten Espresso, raunte sie ihm zu:

„Komm schon, nun sei mal nicht mehr sauer. Und schließlich kommst Du ja auch aus einem ganz passablen Stall. Oder ist Sparkassenchef in der Kreisstadt etwa nichts? Und Deine Ma – ist die nicht Abteilungsleiterin bei Raiffeisen? Also schämen musst Du Dich nun wirklich nicht.“

„Tu ich ja auch gar nicht, nur bin ich halt nicht gerne fünftes Rad am Wagen. Also Ersatzreifen, der nie gebraucht wird. Und so.“

„Und was ‚und so‘?

„Ach lass mal. Aber darf ich Dich mal was fragen?“

„Klar, fragen darfst Du immer. Aber ob Du auch ´ne Antwort kriegst – also das kommt ganz drauf an.“

„Wirst Du nun Model? Ich hab da so was gehört, dass man Dir ein tolles Angebot gemacht hätte. So als eine zweite Claudia Schiffer. Muss aber zugeben – Du wärst nicht nur jünger, sondern auch um den Faktor 10 besser. Und dass Du sehr viel hübscher bist, weißt Du ja ohnehin.“

"Also ich fang mal von hinten an mit Deinen erlauchten Ausführungen. Weißt Du, mir ist ja klar, dass man nicht gerade die Augen zumachen muss, wenn man mich sieht. Aber kannst Du Dir auch vorstellen, dass ich das manchmal schlicht zum Kotzen finde? Dass man immer nur das Äußere sieht, dass keiner mich wirklich mal als junge Frau sieht, das bisschen Persönlichkeit wahrnimmt, das ich ja wohl auch schon habe, dass…“

„Ha, ha, Du meintest wohl ‚Fräulein und nicht ‚Frau‘.“

„Blödmann, musst Du schon wieder darauf anspielen, dass ich mit keinem von Euch ins Bett wollte?“

„Nö. Das sollte keine Anspielung sein, sondern eine Feststellung – dass nämlich das schönste und obendrein auch noch wohl schlaueste Mädchen im Umkreis von ich denke mal wahrscheinlich mehreren 100 km aus eigenem Wollen noch Jungfrau ist.“

„Ach Jens, erstens ginge Dich das nichts an, zweitens – weil Du’s bist – ich will das auch noch bleiben. Und zwar bis ich den Mann finde, den ich so liebe, dass ich ihn heiraten könnte. Und von dem ich dann auch einen ganzen Stall voller Kinder haben möchte. Endlich kapiert? Und nun zur Model-Karriere. Ja, es stimmt, dass man mir ein Angebot gemacht hat. Und aus lauter Neugier bin ich sogar hingegangen. Aber die Karriere fand schon während der Vorstellung ihr Ende. Und ich hatte es auch vorher nur meiner Mutter gesagt. Denn mein alter Herr wäre vermutlich an die Decke gegangen. Meine Mom hat mich in den Arm genommen und gemeint, es wäre ihr lieber, es würde nichts daraus werden. Na ja, und wie gesagt, ich war schneller wieder draußen, als ich drin war.“

„Warum das?“

„Es war ein sogenanntes Fotoshooting. Der Fotograf war auch ganz angetan. Also eigentlich war er sogar begeistert von mir. Dann sollte ich mich ausziehen. Begründen tat er das damit, dass man als Model auch mal für Unterwäsche gebucht würde. Das hab ich noch gemacht. War mir aber ziemlich unangenehm, weil ich keine BHs mag und auch keinen anhatte. War also ein bisschen verkrampft mit Arme vorhalten und so. Aber als er dann noch verlangte, ich solle auch meinen Slip ausziehen, reichte es mir. Hab ihm gesagt, für Aktfotos sei ich weder geeignet noch zu haben. Er meinte dann nur ganz trocken, so ein wenig fügsam müsste ein angehendes Model schon sein. Und je fügsamer, desto schneller würde man auf dem Cover der Vogue landen. Na ja, das war’s dann. Ich hab mich nämlich wieder angezogen, hab ihn gefragt, ob er denn wisse, wie man Vogue schreibt und als ich ging habe ich ihm noch zugerufen, dass ich ihn für einen Perverser halten würde. Er hat mir dann noch irgendwas von verklemmter Zicke erwidert. Na und da bin ich dann so ein bisschen ausfallend geworden und hab ihm im Rausgehen zugerufen, er könne seinen Schwanz wieder einziehen oder sich’s selbst besorgen. Und das mit Stinkefinger. Schade eigentlich – ich glaube jetzt schickt der mir nicht mal die Probeaufnahmen. So, das war meine Model-Karriere.“

Jens schüttete sich aus vor Lachen.

„Oh Ali, dem hast Du‘s aber gegeben. Und wahrscheinlich den ganzen Tag versaut.“

„Hoffentlich noch weitere vier Wochen. Anscheinend hat er mit seiner Masche bei den meisten Mädels Erfolg. Und er lebt ja davon, die an Agenturen zu vermitteln. Aber wenn mal vier Wochen lang alle so wie ich reagieren würden, würde dem schnell die Puste ausgehen. Finanziell, meine ich. Und im Übrigen – was heißt hier Vogue – die meisten Karrieren enden in irgendwelchen Modekatalogen – so richtig groß raus kommen nur die Wenigsten. Ich glaube, ich würde da das große Geld eher im Zahlenlotto gewinnen, denn als Model. Weißt Du, ich freu mich viel mehr auf mein Studium.“

„Immer noch Tiermedizin?“

„Klar doch.“

„Und dann hier bei uns?“

„Auf jeden Fall lieber hier auf dem Dorf, als in der Stadt, um da Frauchens Fiffi oder Hänschens Kanarienvogel oder das kleine Meerschweinchen zu kurieren, das Klein-Anna mit Schokolade gefüttert hatte.“

„Das klingt gut. Weißt Du, ich hoffe doch immer noch, dass wir Zwei mal zusammenkommen. Klingt jetzt irgendwie doof, aber ich muss es Dir einfach beichten. Ich hatte mich nämlich in Dich verliebt, als ich Dich das erste Mal damals in der 5. Klasse gesehen hatte.“

„Sag nicht so etwas, Jens. Ich mag Dich zwar und ich mag Dich sogar sehr – aber das weißt Du ja. Mindestens, seit wir vor zwei Jahren auf der Klassenfahrt waren und ausgerissen sind und im Silbersee gebadet haben. Und das ohne Badeklamotten. Und als wir danach so ein bisschen rumgeknutscht haben und uns ein wenig gestreichelt haben – ja, das war schon sehr schön. Und ich hab es Dir immer hoch angerechnet, dass Du nie darüber rumgequatscht hast. Aber weißt Du, bei mir war es mehr Neugier, mehr nicht. Und ich wünsche mir, dass wir auch gute Freunde bleiben. Aber lieben tu ich Dich nicht, bitte sei mir nicht böse.

„Ach Ali, ich kann und werde Dir nie böse sein. Könnte ich gar nicht. Du warst schließlich das erste Mädchen, das mich da am See nur mit ihren Händen soweit gekriegt hatte, dass es bei mir schön wurde. Schade, dass es nicht mehr werden kann mit uns. Aber ich muss es ja akzeptieren. Liebe kann man nicht erzwingen. Aber darf ich Dir noch eine Frage dazu stellen?“

„Klar, raus damit.“

„Liegt es auch daran, dass wir nur gleich lang geraten sind? Und hast Du deshalb High Heels auf dem Abi-Ball angehabt, um größer zu sein als ich?“

„Jens Du bist ein Schäfchen, aber ein liebes. Blödmann –damit hat das überhaupt nichts zu tun. Und wenn ich mal Pech habe, verliebe ich mich in einen Mann der einen halben Kopf kleiner ist als ich. Na und?“

„Klingt blöd, weiß ich ja. Aber irgendwie beruhigt mich das jetzt. Sehen wir uns morgen, wenn wir die letzte Klassenfahrt antreten?“

„Nein Jens, das wollte ich Dir unbedingt noch sagen. Deshalb bin ich eigentlich nur mit hergekommen. Ich hab keine Lust auf die Fahrt, keine Lust auf das Gequatsche und Getratsche, das dann wieder losgeht und keine Lust auf die Saufereien und dass dann wieder Rumknutschen angesagt ist. Die Zeit ist für mich einfach vorbei. Ich werde morgen meine Siebensachen zusammenpacken und dann meinen Eltern nach Zypern nachfliegen.“

„Ok, ich sag den anderen nur, dass Deine Eltern Dich ‚vorgeladen‘ haben.“

„Bist doch ein lieber Kerl, Jens. Hallo Frau Mertens – ich möchte gern zahlen!“

Die Wirtin kam sogleich und strahlte dieses Mal nicht nur Alwine, sondern auch Jens richtig an.

„Heute geht alles aufs Haus. Hab ja nicht alle Tage zwei Muli bei mir zu Gast.“

„Oh vielen Dank, Frau Mertens. Aber was meinen Sie mit ‘Muli‘?“

„Habt Ihr denn kein Latein gehabt?“ fragte sie zurück.

„Doch, klar. Kommt von Mulus, das heißt Esel. Aber das können Sie doch wohl kaum gemeint haben.“

„Doch, genau das meinte ich. Ist aber keine Beleidigung. Als ich damals Abitur machte, nannte man einen frisch gebackenen Abiturienten ‚Mulus‘, was wohl bedeutete, dass man zwar schon kräftig arbeiten kann, aber sonst noch ziemlich unentwickelt ist und man legte den Status erst mit dem Eintritt ins Berufsleben ab. Aber ich geb’s zu - manchmal habe ich den Eindruck, dass viele Menschen Esel bleiben.“

Sie mussten alle drei jetzt lachen und als Alwine und Jens die Gaststätte verließen, meinte sie zu ihm:

„Mach‘s gut kleiner großer Mulus, muss jetzt los. Bis bald mal.“

„Mach‘s besser Ali, grüß Deine Eltern.“

2. Kapitel

Natürlich war es wieder verdammt knapp geworden, bis sie endlich am Flughafen in Frankfurt ankam. Was eigentlich kein Wunder war, weil sie vor Tau und Tag hatte aufstehen müssen. Alwine wohnte ja nach wie vor bei ihren Eltern im Odenwald und für eine Oberstufenschülerin war das ja eigentlich auch das Normalste von der Welt. Aber Sehnsucht hatte sie schon, bald ihre eigenen vier Wände zu haben. Obwohl – richtig notwendig war das nicht, zumal sie das Hotel Mama als recht angenehm empfand und sie – das musste sie zugeben – tolle Eltern hatte, die ihr (fast) jede Freiheit ließen, die sie sich meinte herausnehmen zu müssen. Als sie vor drei Wochen das Thema angesprochen hatte, schienen die gar nicht so abgeneigt zu sein, ihrem Wunsch zu entsprechen. Auch wenn klar war, dass sie ganz sicher nicht wie die Eltern auf dem Dorf wohnen wollte. Aber sie wollte unbedingt als Studentin mehr als nur eine Bude.

Doch heute hatte sie andere Sorgen, denn ihre Mom und ihr Dad hatten sich gleich nach der Abi Feier mal wieder ‚dünne‘ gemacht, wie sie es nannte, d.h. sie hatten ihre Koffer gepackt und waren in ihr Ferienhaus nach Zypern geflogen. Und sie wollte nun nachfliegen, schließlich hatte sie sich das nach den stressreichen Wochen vor dem Abi verdient. Das hatte sogar der strenge, aber meistens nur so tuende, Dad gemeint.

Ihr Dad hatte vor neun Jahren, als er aus dem Vorstand seines Konzerns ausgeschieden war, die schicke Zweitwohnung in einem Vorort Frankfurts aufgegeben – der Einfachheit halber hatte er das 3-Familienhaus seinerzeit einfach gekauft und saniert – jetzt waren alle drei Wohnungen vermietet.

Mit einer eigenen Wohnung in der Stadt würde sie sich dann endlich ‚abnabeln‘. Andererseits fand sie es zu Hause bei den Eltern aber auch recht schön und auf dem Dorf erst recht.

Doch heute empfand sie die damalige Entscheidung der Eltern als ausgesprochen doof: Früher fuhren sie 20 Minuten, heute brauchten sie fast eineinhalb Stunden bis zum Airport. Und der Fahrer vom Airport-Shuttle, in den sie in ihrer Gemeinde geklettert war, war nun noch zu allem Überfluss voll in den einsetzenden Berufsverkehr gekommen.

Als die Eltern ihr Monate vorher den Flug bei Lufthansa gebucht hatten – dass sie ihr Abi bestehen würde stand da schon fest, nur der Notenschnitt schwankte noch zwischen 1,4 und 1,1 – hatten sie um 9 Uhr die Maschine nach München gebucht, dort sollte 2 Stunden später der Anschluss nach Larnaca starten. Da sie aber die Klassenfahrt auf keinen Fall mitmachen wollte, gedachte sie ihre Eltern zu überraschen und hatte den Flug heimlich umgebucht. Und hatte nun ‚den Salat‘: Eine Woche früher gab es die 9-Uhr-Maschine nicht und sie musste wohl oder übel die um 8 Uhr nehmen. Für den vom Vater gebuchten Flug eine Woche später hatte der ihr sogar noch eine kleine Überraschung in Aussicht gestellt, die würde nun wohl ausfallen.

Statt um 6 Uhr am Flughafen anzukommen, war es 6.30 geworden. Ihren Koffer wurde Alwine zwar schnell los, aber bei der Sicherheitskontrolle staute es sich. Um 7.20 war sie endlich an der Reihe. Und war an einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes geraten, der seinen ersten Diensttag absolvierte und all seine erlernten Vorschriften ganz besonders genau nahm. Alwine durfte ihre Schuhe ausziehen, musste ihren Rucksack auspacken – jedes einzelne Teil wurde aufs sorgfältigste begutachtet, vor allem das Eau de Toilette und ihr Deo-Fläschchen wurden äußerst kritisch beäugt. Man reichte ihr ein Plastiktütchen und es folgte ein etwa 3-minütiger Vortrag – gefühlt waren es mindestens 15 Minuten - dass Flüssigkeiten in eben einem solchen Beutel zu verwahren seien.

Ihr Flug war inzwischen längst aufgerufen – eigentlich wartete Alwine nur noch darauf, dass sie namentlich per Lautsprecher gebeten würde, sich bitte umgehend zum Abflug an das Gate XYZ zu begeben. ‚Die sind ja meistens nicht so sehr pünktlich‘ sprach sie sich selbst Mut zu.

Als sie nach etwa 15 Minuten Fußmarsch fast im Schweinsgalopp die endlosen Fußwege im Gebäude absolviert hatte, kam sie gerade noch rechtzeitig, um als Letzte die Gangway ins Flugzeug zu betreten. Und oh Wunder – sie wurde gleich von der Chef-Stewardess abgefangen – weil sie die Letzte war?

„Fräulein Luitpold?“

„Ja, was ist?“

„Wir haben für Sie einen Platz in der Business-Class vorgesehen. Ist Ihnen das recht?“

„Ja aber…“

Weiter kam Alwine nicht, denn die Stewardess strahlte Sie an: „Wir haben die Bitte um Upgrade von Dr. Franz, unsern Vorstandsvorsitzenden übermittelt bekommen.“

„Na, dann gerne.“ antwortete Alwine und dachte sofort folgerichtig, dass das wohl Dads Überraschung war. Aber vielleicht auch nicht? Denn woher sollten die wissen, dass sie jetzt früher flog?

Nach etwa 45 Minuten setzte die Maschine in München zur Landung an - sie waren überpünktlich. Und da sie jetzt ja 2 Stunden Zeit hatte, beschloss sie, ihre Eltern anzurufen. Auf Zypern war es ja schon nach 10 Uhr, da müssten sie längst aufgestanden sein.

„Moin, moin Mom – habt Ihr schon ausgeschlafen?“ sprach sie in ihr Telefon und ohne die Antwort abzuwarten fuhr sie fort:

„Rate mal, wo ich bin.“

„Na irgendwo mit Deinen Leutchen unterwegs. Macht’s Spaß?“

„Nö, ich hatte keine Lust. Bin gerade auf dem Flughafen in München. Und in einer guten Stunde fliege ich weiter. Und weißt Du auch wohin? Zu Euch. Holt Ihr mich um viertel fünf in Larnaca ab? Erzähl Euch dann alles.“

„Klar, Kindchen, ich freu mich ja so, dass Du schon früher kommst. Bis nachher dann. Und pass gut auf Dich auf.“

„Tschüs Mom, drück den Dad. Und wenn er sich wundert, sag ihm, es ist von mir.“

Bevor sie auflegt hört sie ihre Mutter noch lachen.

Nachdem Alwine sich noch einen Espresso und einen Orangensaft einverleibt hatte, schlenderte sie langsam zum Gate. Leicht genervt wie meistens in fremder Umgebung, weil sie vor allem von den Männern so angestarrt wurde. Am Gate angelangt, nahm sie ihren E-Book-Reader und las den vor wenigen Tagen heruntergeladenen Roman weiter, den sie bereits begonnen hatte. „Der lange Weg“ hieß das Ding - sie hatte ihn gekauft, weil er zum Teil in Zypern spielte. Zwar hatte sie nach wenigen Seiten schon gemerkt, dass das Buch wohl keine ‚Literatur‘ war, aber immerhin ganz passable Unterhaltung. Alwine war richtig ‚weggetaucht‘ in ihrem Buch, als sie ziemlich störend einen Aufruf vernahm, natürlich zweisprachig.

„Frau Luitpold wird gebeten sich umgehend zum Abfluggate H 6 zu begeben. Frau Luitpold bitte.“

‚Was soll das denn‘ dachte sie und ging vorne zum Schalter, wo eine hübsche LH-Blondine eifrig ihren Computer studierte.

„Ich wurde gerade aufgerufen. Was ist denn los?“

„Frau Luitpold?“

„Ja?“

„Darf ich ihre Bordkarte sehen?“

„Wie, ist mit der etwas nicht in Ordnung?“ erwiderte Alwine, ihr ihren Boarding-Pass reichend.

Die junge LH-Bedienstete zerriss vor ihren Augen die Bordkarte und begann dann ihren Computer zu bearbeiten. Alwine stutzte – irgendwie kam ihr das Gesicht bekannt vor.

Und dann fiel es ihr ein: War das nicht die Helga, ihre Klassenkameradin, die mit der mittleren Reife abgegangen war?

„Bitte schön Frau Luitpold hier ist Ihre neue Bordkarte.“

Mit einem schnellen Blick hatte Alwine bereits erspäht, dass aus dem ‚M‘ auf ihrer Karte nun ein ‚C‘ geworden war – sie war erneut in die Business-Class upgegraded worden.

„Helga, Du kannst ruhig ‚Du‘ zu mir sagen. Du bist doch die Helga Hartmann aus dem Odenwald?“

„Mensch – Alwine Luitpold! Das mir das nicht gleich aufgefallen ist! Aber ich heiße jetzt Keßler – bin inzwischen verheiratet mit einem Ingenieur von Siemens. Und einen kleinen Jungen habe ich auch schon. Ist ja toll, Alwine, dass wir uns hier begegnen. Wie kommst Du denn hierher, was machst Du inzwischen?“

Alwine erzählte kurz vom Ende ihrer Schulzeit, dass sie Tierärztin werden wolle und auf dem Weg zu ihren Eltern sei. Und Helga sprudelte dann los, dass sie bei der LH eine Ausbildung als Bürokauffrau begonnen hatte - sie musste dazu nach München umsiedeln - dort ihren Mann kennengelernt und sich dann aber zum Bodendienst beworben hatte, weil sie da mehr mit Menschen zusammen kam.

Natürlich war Helga zwischendurch ziemlich abgelenkt, denn es gab noch eine ganze Reihe von Passagieren, die ihr Fragen stellten, aber ein wenig schwatzen zwischendurch konnten die zwei jungen Frauen schon noch. Sie erkundigte sich noch nach einigen ehemaligen Schulfreundinnen, aber der einzige Junge, nach dem Helga sie fragte, war Jens Kerger. Was Alwine mit einem innerlichen Lächeln zur Kenntnis nahm.

Und dann war die Zeit schon um, der Einstieg begann. Alwine war als Businessfliegerin mit bei den Ersten.

Man hatte sie in die erste Reihe ans Fenster platziert, der Zwischenplatz blieb frei und an den Gang setzte sich ein blendend aussehender mindestens 1,90 m lang geratener Zypriot, Alwine schätzte ihn auf etwa 24 bis 25 Jahre. ‚Der könnte glatt ein männliches Star-Model sein.‘ dachte sie, als er sie einerseits sehr freundlich, andererseits auch ein wenig frech und herausfordernd anlächelte. Aber das war sie ja gewöhnt.

Sie vertiefte sich wieder in ihren E-Book-Reader.

Zwanzig Minuten später war das Boarding abgeschlossen, sie rollten zur Startbahn und ihr Flieger hob pünktlich ab.

Alwine schielte ein ganz klein wenig und sehr vorsichtig zu ihrem schönen Nachbarn und musste plötzlich ziemlich grinsen. Der war nämlich, als die Maschine abhob, leichenblass geworden, umkrampfte mit den Händen seine Armlehnen, und zitterte am ganzen Körper – nicht stark, aber doch deutlich sichtbar. Alwine schaute nun ganz aufmerksam zu ihm rüber: ‚Flugangst‘ dachte sie. Und lächelte ihn freundlich an. Aber der arme Kerl war so mit seiner Angst beschäftigt, dass er gar nicht zu ihr rüber schaute. Erst als sie ihre Reiseflughöhe erreicht hatten und die Triebwerke eingefahren waren, fing er sich an zu entspannen. Und lächelte zu ihr hinüber. Sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass sie den Mann inzwischen fast schon fixiert hatte. Sie meinte ihr Verhalten irgendwie rechtfertigen zu müssen.

„Haben Sie Flugangst?“ fragte sie ihn und das auch noch auf Deutsch! Sie merkte es aber sofort und wollte gerade auf Englisch ihre Frage wiederholen, als sie feststellen musste, dass sie die Vokabel gar nicht präsent hatte, aber ehe sie anfangen konnte, stotternd eine Umschreibung für das Wort zu suchen, antwortete er schon in fast akzentfreiem Deutsch:

„Leider ja. Und das nicht zu knapp. Aber ich bekomme sie einfach nicht weg. Aber wenn so ein Flieger erst mal oben ist, geht es einigermaßen.“

„Da gibt es aber angeblich doch Kurse dagegen, habe ich mal gelesen.“

„Hab ich schon versucht, nützt aber nichts. Obwohl man sich mit mir viel Mühe gab.“

„Und wieso nicht?“

„Weil…“ und dann brach er ab.

„Entschuldigung, ich wollte nicht indiskret sein.“

„Schon gut. Aber wir sehen uns ja eh nie wieder - also mein Bruder ist mit einem Jet beim Start tödlich verunglückt, weil beide Triebwerke ausfielen. Und seitdem hab ich eben bei jedem Start Angst.“

„Oh das tut mir leid. Ich glaube, das würde mir ähnlich gehen.“

„Vielleicht. Es war mein Zwillingsbruder und wir haben uns unheimlich gut verstanden und ergänzt. Aber seit der Zeit ist halt alles ein wenig anders. Leider. Aber, warum erzähl ich Ihnen das eigentlich alles?“

„Weil ich ein Kapuzinermönch mit einem langen Bart bin und Sie gerade beichten?“

Alwine hatte es geschafft: Seine Angst war weg und er lachte sie jetzt ziemlich frech und übermütig an.

„Oh – da würde ich sofort in den Orden eintreten wollen. Wenn Sie dann der Abt des Ordens wären…“

Sie lachten jetzt beide.

„Wieso können Sie so gut Deutsch? Ich dachte, Sie seien ein waschechter Zypriot.“

„Bin ich auch. Aber ich studiere in Deutschland.“

„Und was und wo?“

„Betriebswirtschaft an der Uni in Stuttgart und das mit technischer Orientierung und dann noch aus Spaß an der Freude Landwirtschaft in Stuttgart-Hohenheim.“

„Wow – und das schaffen Sie Beides?“

„Also den Bachelor in Landwirtschaft habe ich gerade abgeschlossen, den in BWL auch und im nächsten Jahr will ich dann noch den Master in BWL haben.“

„Also alles, um mal richtig Kohle zu machen?“

„Sie meinen, um ordentlich zu verdienen? Nein. BWL muss ich studieren, weil ich mal das Unternehmen meines Vaters weiterführen soll und Landwirtschaft hab ich gemacht, weil das meine große Leidenschaft ist. Aber was machen Sie denn so?“

„Ich fahre zu meinen Eltern in den Urlaub.“

„Das kann ja aber wohl schwerlich Ihr Lebensziel sein. Also ich rate mal – Sie machen irgendetwas mit Mode oder mit Design. Oder was in Textilwirtschaft. Oder sind Sie etwa ein Model? Wenn letzteres, bitte ich um Nachsicht – aber für Mode interessiere ich mich eher weniger und so bekomme ich auch Models nie zu sehen.“

„Gar nicht so schlecht geraten, aber doch total daneben. Ein Angebot, Model zu werden hatte ich mal, aber das war mir dann alles doch zu hohl. Ich habe in der letzten Woche mein Abitur gemacht und will Tiermedizin studieren.“

„Sie werden mir immer unheimlicher. Meist sind besonders hübsche und gutaussehende Mädchen und junge Frauen ganz anders orientiert, mehr so in den Tag hinein, wie man das, glaube ich, bei Ihnen nennt.“

„Sehen Sie, so kann man sich täuschen. Aber was mich noch sehr interessiert: Fliegen eigentlich alle zypriotischen Studenten in der Business-Class?“

Jetzt lachte ihr Nachbar richtig los.

„Oh je – wohl eher nein. Außer, wenn Papa es bezahlt, weil er reichlich Kleingeld hat. Und Gegenfrage: Fliegen alle deutschen Abiturientinnen Business-Class zu ihren Eltern in den Urlaub?“

„Da gilt die gleiche Antwort – eher nein, außer wenn Papa es bezahlt, weil er seine unendlich vielen Meilen, die er im Beruf gesammelt hat, zum Teil der Tochter anlässlich des Abiturs schenkt.“

Alwine hatte noch nie einen so schönen Flug erlebt – sie fand ihren Sitznachbarn unheimlich sympathisch, ja liebenswert. Und sie hatte ein ganz klein wenig das Gefühl, dass sie sich in den richtig verlieben könnte. Oder war das schon passiert?

Auf jeden Fall war der Flug viel zu schnell vergangen. Und als sie sich am Gepäckband verabschiedeten, nahm der Kerl sie doch einfach in die Arme, drückte sie auch noch richtig an sich und küsste sie rechts und links auf die puterrot werdenden Backen.

„Wissen Sie, schöne Unbekannte, das ist zypriotische Herzlichkeit – schade, dass wir uns nicht wiedersehen werden.“

Alwine war so verdattert, dass sie nur

„Tschüs schöner Zypriot.“

stammeln konnte und das noch mit hochrotem Kopf, über den sie sich wahnsinnig ärgerte, und ihm noch schnell nachrief:

„Vielleicht doch!“

Aber ob er das noch gehört hatte, wusste sie nicht. ‚Wie ein kleines Schulmädchen‘ dachte sie, gar nicht realisierend, dass sie das noch vor eine Woche gewesen war. ‚Und warum hab ich ihn nicht nach seinem Namen gefragt und seiner Telefon-Nummer‘ – das dachte sie auch noch. Und meinte, ganz viel falsch gemacht zu haben.

Alwine war so in Gedanken vertieft, dass sie auf gar nichts achtete und so auch ihren Vater nicht wahrnahm, als der ihr über die Absperrung hin zuwinkte. Zumal da eine ganze Menge Leute standen und winkten.

Erst als sie schon ganz nahe am Trennungsgitter stand, bemerkte sie ihn, weil er ihr zurief:

„Hallo Ali, hallo kleine Mula – wo bist Du den mit Deinen Gedanken?“

Alwine wachte jetzt quasi auf und lachte ihren Vater an:

„Wollte mal sehen, ob Du Deine Tochter noch erkennst.“ Die Erklärung war ihr spontan als Ausrede für ihr absonderliches Verhalten eigefallen.

„Und das mit der Mula mag ich gar nicht. Noch ein Mal, Dad, und ich spreche Dich mit ‚ehrwürdiger Greis‘ an. Weißt ja, dass Immanuel Kant die Anrede zum 60. Geburtstag zuteilwurde. Und Du bist da schließlich schon drüber. Und da Du in meinen Augen kein bisschen ehrwürdig aussiehst, müsste ich das Attribut weglassen.“

„Oh meine Kleine, dann lassen wir’s mal lieber bei Ali und Dad. Ok? Wie war der Flug?“

„Prima. Zumal ich beide Male Business reisen durfte. Hast Du da was gedreht?“

„Na so ein ganz klein wenig. Franz von der LH hat mir geholfen, meine Bonusmeilen etwas zu reduzieren. Hatte schon Sorge, dass es mit der Business-Class nicht klappen würde, weil Du doch umgebucht hast. Aber wenn so ein Name bei denen erst mal drin ist im System, scheint ja doch alles zu funktionieren. Hast Du sehr gelitten?“

„Bleib mal stehen, Dad.“

Sie umarmte ihn und ergänzte:

„Ach Dad, Du bist doch der Beste“ und drückte ihren nur wenig kleineren Vater innig an sich. Wobei sie gleich hinzufügte:

„Kommst gleich nach der Mom.“

Sie strahlten sich jetzt beide an.

„Los komm, Deine Mutter wartet schon. Sie ist nicht mitgekommen, weil sie schon das Abendessen vorbereiten wollte.“

„Hoffentlich nicht so veganes Zeugs? Ich hab nämlich Hunger.“

„Lass Dich überraschen. Schlimmstenfalls – ganz hinten im Kühlschrank liegt noch eine halbe Schleiersbacher Rindersalami.“