Capitani, Sabrina Das Buch der Gifte

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© Piper Verlag GmbH, München 2019
© Sabrina Capitani 2006
Covergestaltung: Favoritbüro, München
Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

 

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1

Paris 1393

Plötzlich war der Sommer da, und wie so oft war er vor dem Frühling gekommen. Wie eine Katze, die sich auf eine ahnungslose Maus stürzt, hatte uns die neue Wärme angesprungen, war unversehens auf uns herabgefallen aus einem eben noch eisigen Winterhimmel.

Man hätte auf die Warnung der Vögel hören können, die in der Dämmerung vor dem Morgen ein betriebsames Gelärm aufgenommen hatten. Irgendwann in einer der vergangenen Nächte hatten sie sich vor meinem Fenster verabredet, tiriliert und gepfiffen, dass kein Christenmensch in Ruhe schlafen konnte. Dann aber, wenn man aufzustehen hatte, widerwillig in die schlechte Welt hinaus musste, dann waren die Störenfriede still. Ich war wohl zu sehr in meine eigenen Sorgen vergraben, um die Zeichen zu erkennen.

Die Seine, die doch gestern noch aus geschmolzenem Blei gewesen war, sprühte weiße Funken. Und da, im Gras, leuchteten Hunderte gelb gezahnter Kleckse. Wo waren die nur hergekommen?

Büsche und Bäume wenigstens wussten, was sich gehört, und zeigten sich unbelaubt. Die Gemüsebeete in den Gärten waren kahl. Erwartungsvolle Furchen wiesen zum Fluss. An den knorrigen, silbergrauen Fingerspitzen unserer Feigenbäume saßen winzige grüne Nägel. Auch den Feigen war nicht genug Zeit geblieben, sich angemessen zu kleiden.

Das abgeschabte Mäntelchen mit dem Besatz aus Eichhörnchenfell, das ich für den Gang zum Notar angezogen hatte, war viel zu warm. Doch ich wagte nicht, es auszuziehen, weil das Kleid darunter in einem noch erbärmlicheren Zustand war: so durchgewetzt, dass hinterwärts und an den Ellenbogen das Unterkleid durchschien.

Kam der Sommer immer so plötzlich? Ich hatte schon lange dem Wechsel der Jahreszeiten keine Beachtung mehr geschenkt. Vor ein paar Tagen noch war der Boden gefroren gewesen, der einzige Segen, den meiner Ansicht nach der Winter bringt. Das plötzliche Tauwetter hatte die Nebenstraßen in Morast verwandelt und unangenehme Gerüche geweckt. Nun stanken alle Ingredienzen der Gosse um die Wette, Kot und Urin, verschimmelte Nahrungsreste, sauer, faulig, bitter, eklig süß. Ich drückte im Laufen ein Lavendelbeutelchen an meine Nase. Im Verlauf des Frühjahrs gewöhnt man sich an den Gestank.

Wie unterscheidet sich der Müll in Paris von dem in anderen Städten? Wir fabrizieren weniger davon? Falsch. Wir fabrizieren mehr davon? Auch falsch. Ich will es euch sagen: In anderen Städten, namentlich im Süden, sammeln die Leute den Abfall neben ihren Häusern, an den Hausmauern, und ziehen Zwiebeln darauf. Hier wirft man alles in hohem Bogen auf die Mitte der Straße. Eine elegante Lösung für das Problem. Arme Fußgänger wie ich können auf diese Weise auf den leicht angehobenen Seiten der Straße gehen. Außerdem treten die Pferde und fahren die Fuhrwerke den Unrat breit; hinterher kann niemand mehr sagen, von wem was stammt. Es gibt nämlich eine königliche Verordnung, nach der jedermann verpflichtet ist, seinen Müll in angemessenen Abständen vor die Tore zu bringen.

Natürlich richtet sich kaum jemand danach. Manchmal wird es so schlimm, dass der gnädige König – wenn er dann gerade mal wieder bei Sinnen ist – eine neue Verordnung erlässt, die ebenso missachtet wird wie alle vorigen.

Umsichtig setzte ich die Füße. Es ging schließlich nicht an, dass ich mir mein letztes gutes Paar Schuhe verdarb. Ein Herr von Rang kam mir entgegen und wedelte schon von Weitem mit seinem silbernen Stock. Ja, ja, ich weiß schon. Rasch sprang ich in einen Hauseingang, um ihm die Trittsteine zu lassen.

»Gare! gare! gare!« Ein unheilvoller Ruf, dem stets der Inhalt einer Nachtvase folgt. Noch etwas, das Frankreich auszeichnet vor allen Völkern: Nur Barbaren haben für die nächtlichen Bedürfnisse »Töpfe« oder »Eimer«, wir dagegen haben die vase de nuit. Der Inhalt ist in allen Fällen unerfreulich, und dank meiner Höflichkeit hatte ihn der hohe Herr abbekommen und nicht ich. In besserer Stimmung machte ich mich davon.

Mein Weg führte mich parallel zum Seineufer über die Place de Grève, einen Ort von düsterem Ruf, der heute aber so blank und aufgeräumt war wie ein beliebiger Tuchmarkt, vorbei am Turm der Kirche St. Jacques, die das Quartier beherrschte mit ihrem hohen, wuchtigen Glockenturm, aus steinernen Flötenrohren zusammengesetzt und mit Zierrat so überladen, dass er an ein groteskes Spielzeug erinnerte. Die verwinkelten Bürgerhäuser mit ihren Bögen und spitzwinkligen Dächern drängten sich so dicht wie die Menge bei einer Hinrichtung. Frauen standen in den Hauseingängen und schwatzten, warfen den Unrat hinaus auf bewährte Weise, spazierten zum Markt, Körbe am Arm, Kinder am Rockzipfel. Eines von ihnen schnitt eine Grimasse – ich streckte ihm die Zunge heraus und schielte.

Die Grande Rue St. Martin ist eine der gepflasterten Straßen.

Es gibt sogar Rinnen für den Abfall, die aber bei jedem Regen verstopfen. Hier stehen die Häuser der Noblen und Wohlhabenden, die »Hôtels« und »Palais«. Mit sinkendem Mut betrat ich das Haus des Notars Armand de Béraude. Eine breite Treppe aus gelbem Sandstein führte nach oben zur Kanzlei. Die Tür zum Sekretariat stand angelehnt, und ich trat ein.

Vor mir öffnete sich ein weiter, holzgetäfelter Raum, rötliches Kirschholz, Teppiche auf dem Boden, die Wandbehänge stammten sicher aus flandrischen Manufakturen. Die Inhalte kannte ich auswendig: ländliche Szenen von blumenbekränzten Schäfern und glücklichen Schafen, grazilen Gänsemägden, einem Fuhrmann (wie ein Adliger gekleidet mit Wams und weißen Ärmeln) und seinem wohlgenährten Gaul. Eine Justitia, streng und vertrauenswürdig zugleich, breitete die Hände aus. War sie wirklich blind, oder sehe ich da das Tuch ein wenig verrutscht, die eine Hand ein wenig schwerer vom Geld? Nein, das muss meine schlimme Fantasie sein.

Schon oft war ich vor diesen Wandbehängen auf und ab geschritten, wenn es Monsieur de Béraude gefallen hatte, mich warten zu lassen. Mein Fall war für ihn nicht besonders interessant, und die Tochter von jemand, der nicht mehr da war, die Frau eines toten Kollegen war wohl im Augenblick des Ablebens dieser Bezugsperson zu einem Nichts geschrumpft. Der wertvolle Herkunftsstempel, die Signatur, ist abgefallen. Die Frau eines Toten ist selber tot. So ist das.

Glaubt mir, ich war nicht immer so bitter: Mein Name ist Christine de Pizan, nach meinem Vater Thomas von Pizan, dem Hofastrologen bei König Karl V., den sie »den Weisen« nannten. Ich hatte das Glück einer schönen und sorglosen Kindheit bei Hofe und auf den Gütern meines Vaters. Und ich hatte das noch viel größere Glück, dass er mich zusammen mit meinen beiden Brüdern erzog. Sehr zum Missfallen meiner Mutter, die gern gesehen hätte, dass ich mich mehr mit dem Weben und Sticken befasste, der »Beschäftigung mit Hanf«, wie sie es nannte. Dafür habe ich wenig Talent. Stattdessen lernte ich Latein, Griechisch und Hebräisch, Italienisch, etwas Deutsch und ein paar Brocken Englisch, die allerdings aus Mangel an Übung verfallen sind. Darüber hinaus lehrte mich mein Vater Algebra und Philosophie. Es waren im Vergleich zu seinem gewaltigen Wissen sicher nur Krümel, die ich auffing, aber immerhin.

Und dann begann unser Unglück: Erst starb der gute König, dann kam ein Kind auf den Thron. Es regierten seine vier Onkel Burgund, Anjou, Bourbon und der Herzog von Berry. Sie bereicherten sich rücksichtslos; es kam zu Aufständen und viel Blutvergießen. Ich erinnere mich noch an die Angst, die ich als Kind ausstand, als sich der brüllende Mob auf der Straße zusammenrottete, alle Waffen schwingend, deren er habhaft werden konnte: Äxte, Messer, Sensen, Bratspieße und einige Bogen, die man unter den Betten versteckt gehalten hatte. Wir standen oben am Fenster des Turms, die Türen unten vorsorglich verriegelt und mit Mobiliar von innen verbarrikadiert. Ich heulte, einer meiner Brüder machte aus dem Fenster eine provozierende Geste. Mein Vater zerrte ihn am Kragen zurück und versetzte ihm die erste Maulschelle seines Lebens. »Was fällt dir ein? Willst du ihre Wut auf uns lenken? Die zerreißen dich und uns in tausend Stücke, in der Stimmung, in der sie jetzt sind!«

»Aber das sind doch unsere Nachbarn! Die kennen uns!«

»Dummer Junge! Hör mir zu: Eine solche Menge ist wie ein böses Tier, es schäumt und beißt und kennt niemanden auf der Welt, weder einen König noch Freunde oder Nachbarn. Wer eine solche Meute sieht, der soll sich im nächstbesten Loch verkriechen und nicht noch die Blicke auf sich ziehen! Hast du das verstanden!«

Mein Bruder nickte überrascht, und ich hörte auf zu flennen. Es ging gegen die Obrigkeit und gegen die Juden. Steuern wurden vorübergehend zurückgenommen, nur um später doppelt zu drücken – als das Volk sich ausgetobt hatte und die Kraft des Augenblicks verloren war. In all diesem Durcheinander erinnerte sich natürlich niemand mehr an Doktor Thomas de Pizan, dem Konkurrenten ohnehin nachsagten, den König durch sein Versagen umgebracht zu haben. Erst als es zu spät war, geruhte der junge König, ihn einmal mit zweihundert Goldfranken zu beschenken. Dann starb mein Vater.

In der Zwischenzeit hatte ich geheiratet. Etienne Castel war königlicher Sekretär. Wir lebten alle von seinem Einkommen und wohnten im Tour Barbeau an der Seine, einem Turm, den der alte König noch meinem Vater zum Geschenk gemacht hatte.

Etienne war … freundlich, liebenswert, angenehm? Lauter Ersatzworte, lassen wir sie stehen. Wir wurden einander vorgestellt, und ich wurde gefragt, ob ich ihn heiraten wollte, nicht dazu gezwungen. Und ob ich wollte! Etienne war klug und von sanfter Natur, und sein Anblick gefiel mir. Mehr will ich nicht sagen. Er wurde mir genommen. Er starb auf einer Reise, fern von mir, und ich habe geschworen, niemals wieder einen anderen zu nehmen. Ich werde Witwe bleiben, weil er gegenwärtig sein wird, solange ich in Gedanken nicht von ihm lasse, und weil ich nicht glaube, dass man zweimal in einem Leben solches Glück haben kann. Ich werde ihm treu bleiben.

Und nun der Grund meines Hierseins. Ich stehe einem Haushalt von Frauen vor, meiner Mutter, meiner Tante Marie und meiner dreizehnjährigen Tochter Céline – und meinem Sohn Jean, elf Jahre alt und noch nicht ganz ein Mann. Dann sind da noch die Magd Héloise und gelegentlich Elias, ihr Mann – der nicht zählt, weil er als Söldner häufiger fort ist als anwesend. Meine beiden Brüder sind zurück nach Italien gegangen, um von den dortigen Besitzungen unseres Vaters zu leben. Ich sage nichts gegen sie. Ich vermisse sie sehr. Uns blieb nichts zum Leben, denn wenn man Witwe ist, wenden sich die Verhältnisse gegen einen. Es gibt durchaus Vermögen, aber wir kommen nicht heran. Drei Güter außerhalb von Paris besitzen wir – so steht es geschrieben –, doch die dort eingesetzten Vögte veruntreuen das Geld, davon bin ich überzeugt. Ihre Berichte strotzen von Ungeziefer, Missernten, faulen Bauern, Ausbrüchen von Pest und plündernden Briganten. Seit mein Mann tot ist, werfen die vormals reichen Güter nichts mehr ab, seltsam, nicht wahr? Es gibt Schuldner Etiennes, ja sogar meines Vaters, aber sie zahlen nicht. Und es steht …

»Witwe Castel!«, begrüßte mich mit Verspätung einer der sechs Gehilfen des Notars. Er stand an seinem Pult, seine Feder hielt in der Bewegung inne, und ihr Kratzen wurde unterbrochen. Er hob den Kopf. »Noch einen Augenblick. Der Herr Notar wird Euch gleich empfangen.« Einer der anderen kicherte näselnd. Jeder von ihnen wusste, dass mich der Herr Notar würde warten lassen, bis mir die Fußknöchel auf Melonengröße anschwollen, und dabei hoffen, dass ich von selber ginge. Aber so leicht würde ich es ihnen nicht machen. Ich bin die Tochter von Thomas de Pizan und die Witwe von Etienne Castel, dem königlichen Sekretär – doch ich bin mehr als die Tochter oder Frau von jemandem: Ich bin Christine de Pizan, eine Person von Mut und Verstand. Ich bin durchaus am Leben und lasse mich nicht ungestraft um das bringen, was mir gehört.

Nein, ich werde nicht gehen, und ich werde nicht nachgeben.

So redete ich mir selber zu. Und nahm mein Studium der Wandbehänge wieder auf. Es fällt mir schwer, nicht zu klagen, wenn sich doch – wohin man schaut – alles zum Schlechteren wendet. Der König zum Beispiel: Gerade hatte er sich und das Land aus den Fängen der habgierigen Onkel befreit, hatte sie fein abgesetzt und an ihrer Stelle die alten Berater seines Vaters zurückgeholt, da hatte er plötzlich einen Anfall von geistiger Verwirrung, den ersten von vielen, die noch folgen sollten. In einem Wäldchen bei Le Mans trat hinter einem Baum ein mit Fellen bekleideter Köhler hervor und schrie etwas, und der König erschrak derart, dass er anfing, mit dem Schwert um sich zu schlagen. Und weil die Ritter selbstverständlich nicht mit Waffen auf ihren Herrn losgehen konnten, erschlug er vier von ihnen und verletzte viele mehr, ehe er überwältigt werden konnte. Nach ein paar Wochen schien er wieder gesund, doch ich habe Sorge, dass er nach seiner Mutter kommt, und dann werden in kürzester Zeit die Onkel wieder am Ruder sein.

Die schönen und kunstvollen Szenen an den Wänden der Schreibstube taten ihre Wirkung. Obwohl ich weiß, dass sie keineswegs der Wahrheit entsprechen, beruhigten sie mich doch jedes Mal. Zwei andere Klienten erschienen, ein Prälat in viel zu modischen Kleidern, mit Gold behängt und übermäßig spitzen Schuhen unter dem Talar. Danach trat eine Dame auf in rosenfarbenem Seidenkleid, durch dessen Mittelschlitz man eine gute Aussicht hatte auf das weiße, reich bestickte Unterkleid. Ihre Haare waren geflochten und zu Schnecken über den Ohren gerollt und der Hennin so hoch, dass sie nur gesenkten Hauptes den Raum betreten konnte. Beide rümpften die Nase beim Anblick meines abgetragenen Staats. Für sie war Armut wie ein schlechter Geruch, irgendwie peinlich. Sie schauten kurz hin und sofort wieder weg.

Für sie brachte man Schemel. Sie kannten sich wohl, denn sie nahmen beieinander Platz und tuschelten, ohne mich anzuschauen. Der ihnen am nächsten stehende Schreiber machte eine halblaute Bemerkung. »Witwe Castel«, schnappte ich auf und wieder das gehässig näselnde Lachen.

Sehr bald wurde die Dame eingelassen und gleich nach ihr der Pfaffe. Eine gehörige Zeit verging. Der Notar erschien in der Tür und verabschiedete sich von der einen wie dem anderen mit vielen Verbeugungen und dröhnenden Höflichkeiten. Beide rauschten an mir vorbei. Ich war wieder die Einzige, die auf die Aufmerksamkeit des Magisters wartete. Es war still im Skriptorium bis auf das Kratzen von sechs Federn und das gelegentliche hektische Schaben der Klinge, wenn einer sich verschrieben hatte. Man hörte die Schreiber konzentriert atmen und den Sand durch das Stundenglas rieseln.

Ich war zum Fenster gegangen und vergnügte mich damit, die Nachen auf der Seine zu zählen. Die Sonne rückte vor auf ihrer Bahn um die Erde. Ich wurde schläfrig und ließ den Mantel sinken, den ich wie eine Stola vor meine abgeschabte Kehrseite gehalten hatte. Wie freundlich von mir: Jetzt hatte ich dem durch die Nase lachenden Gehilfen wieder Grund zur Heiterkeit geboten. Endlich ließ der Notar mich bitten.

»Guten Tag, Monsieur de Béraude. Ich hoffe, das Leben und alle Heiligen sind gut zu Euch. Ihr habt es gewiss verdient«, sagte ich beim Eintreten. Der Notar stand nicht auf, um mich zu begrüßen, sondern wies nur knapp auf einen Sessel, der ihm gegenüber vor seinem Schreibtisch stand. Es wurde mir auch keine Erfrischung angeboten, obwohl er mich an die drei Stunden hatte warten lassen.

»Was für eine fantasievolle Begrüßung, Madame Castel. Ich danke Euch für Eure guten Wünsche. Und Ihr – doch hoffentlich keine Klagen?« (»Lass mich zufrieden, ich will nichts hören«, hieß das.)

»Aber nein, meine Kinder kleiden sich in Goldbrokat und spielen mit Perlen Tennis; wir leben von Rahm und Honig, es ist nur so, lieber Herr Notar, dass ich eine hässliche Eigenschaft habe: einen gewissen Hang zur Rechthaberei. Ich möchte, was von Rechts wegen mir gehört.«

Das fleischige Gesicht des Notars überzog sich mit einer leichten Röte.

»Das ausstehende Gehalt meines Mannes. Habt Ihr mir nicht vor … drei Jahren gesagt, es sei eine Kleinigkeit?«

»Nun, Witwe Castel, Ihr seid doch eine informierte und belesene Frau. Da wisst Ihr nur zu gut, wie sich die politischen Verhältnisse gewandelt haben. Was kann ich dafür, wenn der König nicht in der Lage ist, Dokumente zu unterzeichnen? Ihr müsst Geduld haben.« Der alte Fuchs hatte rein gar nichts unternommen seit meinem letzten Anlauf, hingegen eine Menge Gebühren kassiert für angebliche Schriftstücke und Zeitaufwand. Immerhin machte er mir keine unzüchtigen Anträge wie der vorige Vertreter seiner Zunft: »Wenn Ihr doch nur etwas entgegenkommender wärt, dann könnte ich Euch sicher helfen …«

»Monsieur: Die Stellung meines Mannes und seine Ansprüche – das habt Ihr mir selbst gesagt – sind ja unbestritten. Und die Auszahlungsdokumente muss der König nicht selbst unterzeichnen. Es stünde ja alles still, wenn so eine Lappalie von ihm abhinge. Habt doch bitte die Güte und versucht es über den Schatzmeister. Und macht ihm bitte die Peinlichkeit meiner Lage bewusst. Es kann doch nicht angehen, dass man die Kinder und Witwe eines so verdienten Mannes im Elend verkommen lässt.«

Der Notar hantierte an der Goldkette auf seiner Brust und fuhr dann mit den Händen in den Papieren vor ihm auf dem Tisch herum.

»Ja sicher, Madame, ich will gern alle Wege versuchen. Aber was ist mit meinem Honorar?«

Aha, das ist es: Er will mehr für sich herausschlagen.

»Monsieur! Ich habe Euch bereits reichlich entlohnt und dafür bisher nicht das geringste Ergebnis gesehen!« Ich war unklugerweise aufgesprungen und zeigte meinen Ärger. Ach, warum kann ich mich nicht beherrschen!

»Madame: Mäßigt Euch bitte!«, sagte der alte Schuft mit ernster Miene. »Ich tue für Euch, was ich kann. Aber ich habe Auslagen bei Gericht. Ich muss die Personen, mit denen zu verhandeln ist … ähm … entschädigen. Ich musste Papiere erwerben, da Ihr ja leider keine vorweisen konntet …«

Ich ließ mich wieder auf den Schemel sinken. Jetzt hieß es Kröten schlucken.

»Verzeiht, Monsieur de Béraude, meine übergroßen Sorgen haben mich für einen Augenblick mein gutes Benehmen vergessen lassen.«

Er grinste und machte eine wegwischende Bewegung mit der beringten Hand. Von dem Erlös jedes dieser Ringe könnte meine Familie ein Jahr lang essen und sich kleiden. Ich hätte ihn erwürgen mögen. Stattdessen überwand ich mich zur Freundlichkeit um meiner Kinder willen und schmeichelte ihm:

»Verehrter Magister Béraude. Diese Angelegenheit kann einem Großen der Rechtswissenschaften, der in Bologna studiert hat, doch keine Schwierigkeiten machen. Es ist nur eine Winzigkeit bei Euren Verbindungen eine reine Formalität. Der Fall ist ganz klar. Und ich brauche das Geld! Ich bin zu Euch gekommen wegen Eures Rufes als Anwalt der Bedrängten.«

Er zuckte mit keiner Wimper.

»Gold, Madame!« Ich hatte doch keins.

»Also gut, Béraude, wir machen Euren Lohn von Eurer Geschicklichkeit abhängig«, sagte ich durch zusammengebissene Zähne. »Ihr braucht nicht weiter zu drängen: Ich habe kein Geld und auch nichts mehr zu verkaufen. Ich biete Euch statt dessen ein Monatsgehalt meines Mannes, wenn Ihr mir das ganze ausstehende Geld beschafft. Zusätzlich zu der Summe, die Ihr bereits bekommen habt.«

Ein zufriedenes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Das Monatseinkommen eines königlichen Sekretärs ist keine Kleinigkeit, wenn es denn ausgezahlt wird. Mit überraschender Flinkheit stand der Notar auf, riss die Tür zum Vorraum auf und schrie: »Robert, zu mir!«

Man hörte es poltern, dann das Rascheln von zusammengerafften Blättern und eilige Schritte auf dem hölzernen Boden. Einer der Schreiber erschien, ein dünner, langer Kerl mit hüpfendem Adamsapfel, dessen Kopf wirkte, als sei er nur an einer Schnur befestigt – wie ein kahler Nestling.

»Robert – schreibe …« Der Schreiber stellte sich an ein kleines Pult zur rechten Hand des Notars und verfasste nach Diktat einen Schuldschein.

»Wenn Madame so freundlich sein wollen, hier bitte.« Ich unterschrieb, was blieb mir übrig? Glatte Erpressung. Aber wenn es denn helfen würde, die Sache zu beschleunigen – sei’s drum. Ich ging zur Tür und kämpfte damit, nicht allzu geprügelt dreinzuschauen. Würde war schließlich alles, was ich noch besaß.

»Madame Castel!«, rief mir der alte Fuchs hinterher. »Wollt Ihr bitte davon Abstand nehmen, mich hier aufzusuchen. Wenn sich etwas ergibt, werde ich einen Boten schicken.«

Ich lachte. Waren meine Besuche immerhin lästig? Dann würde ich sie öfter wiederholen. Vielleicht sollte ich meine Kinder mitbringen, oder besser noch: einen brüllenden Säugling ausleihen.

Im Treppenhaus streckte und reckte ich mich – jedoch ganz vorsichtig. Ich hörte Säume knacken. In meinem Beutel waren ein paar Weißpfennige. Mutter hatte mir einen kleinen Rindenkorb in die Hand gedrückt und mich beauftragt, zum Geflügelmarkt vor der Notre Dame zu gehen. Pont Notre Dame, eine von drei diesseitigen Brücken, flussabwärts die Pont au Changeurs, die Brücke der Geldwechsler und Wucherer, noch weiter unten, als letzter der drei alten Übergänge, nicht für die Öffentlichkeit, die Pont aux Meuniers, die Müllerbrücke, unter der sich dicht an dicht die Wasserräder drehten. Für Boote gab es dort nur zwei seitliche Durchlässe. Jede Elle Fluss wurde genutzt. Einige Häuserreihen flussabwärts gegenüber der Ile de la Cité hatten die Schlächter ihr Revier. Dort war die Seine von Tierblut gefärbt. Sich windende Bündel schwarzer Aale hingen an ausgeweideten Kadavern, die in der trägen Strömung trieben, und fraßen sich satt. Knochen schimmerten weiß vom Grund herauf.

Ich lehnte mich über die Brüstung zwischen zwei Brückenhäusern. Ja, es musste wohl Frühling sein. Aufgeregte Grüppchen von prächtigen Enterichen verfolgten unscheinbare Weibchen. Weiße Möwen vom Meer durchschnitten die Luft mit ihren scharfen Schreien. Gemächlich ruderte ein Schwanenpärchen in den Schatten der Pont Notre Dame. War es denn möglich, dass innerhalb der wenigen Stunden, die ich wartend beim Notar verbracht hatte, die Bäume bereits grüner geworden waren? Ja, wirklich, es kam mir so vor. Die Sonne schien so heiter, die Passanten freundlicher, die Kleider schöner und farbiger, und ich hatte ganz sicher den alten Fuchs mit der Aussicht auf Gewinn zu neuen Taten angestachelt. Alles würde gut werden.

Ile de la Cité, der älteste Teil von Paris. Ludwig der Heilige hatte sich hier ein schönes Schloss gebaut, doch als Schloss hatte es ausgedient. Ich kannte es gut von innen, war sozusagen Dauerbesucher: Inzwischen war es nämlich Justizpalast und Conciergerie. Die Könige haben es gemieden, nachdem sie feststellten, dass sie bei Volkserhebungen hier allzu sehr auf dem Präsentierteller saßen. Ich tauchte ein ins Gewühl vor der Kathedrale. Nach dem Warten in der muffigen Kanzlei erschien es mir wie ein Bad im Leben. Ich spürte, wie Körper an mich drängten und mich streiften mit ihrer Hitze, wie unterschiedlich sie rochen, mancher nach Duftöl, mancher nach Schweiß und mancher nach Knoblauch. Mochte die Kleidung doch durchaus andere Bestallungen in der Hierarchie des materiellen Glücks verraten, so trieb auf diesen Gesichtern gleichwohl die ganze Palette der Gefühle und menschlichen Zustände an mir vorbei. Alle diese Blicke, Berührungen und Düfte sagten mir, dass ich nicht allein, sondern Teil eines liebenden, weinenden, lachenden Ganzen war. Die Tatsache, dass andere ähnliche Sorgen hatten wie ich, ließen meine eigenen nicht ganz so gewaltig erscheinen.

Genüsslich ließ ich mich treiben. Krämer mit ihren Bauchläden boten gefärbte Lederbörsen, bunte Tücher, Bänder, Schleifen feil, Nützliches für den Haushalt: Messer, Hornlöffel in allen Größen, glänzende Suppenkellen, zierliche Zahnstocher (angeblich aus Silber). Sie stellten sich den Leuten in den Weg und schrien ihre Waren aus. Vor einem Tablett blieb ich stehen. Da gab es billigen Schmuck aus gefärbter Wolle und polierten Metallresten, glasierten Tonperlen und Glas, sehr gefällig hergestellt. Besonders ein Stück hatte meine Aufmerksamkeit erregt: ein smaragdgrünes Halsband, sechsfach geflochten mit einem Stück roten Glases in der Mitte. Es würde Céline gut stehen zu ihrem feinen, dunklen Haar.

Aber nein, nicht einmal das konnte ich jetzt kaufen. Mit Nachdruck schüttelte ich den Kopf und setzte meinen Weg fort, ohne dem Verkäufer auch nur ins Gesicht zu schauen. Er würde doch nur auf mich einreden, und wir konnten uns derlei Tand nicht leisten. Nein – entschieden … jein … Ich sah Célines schmales Gesicht vor mir, wie sie strahlen würde. Sie war schließlich dreizehn, und in dem Alter möchte man den jungen Männern gefallen. Ich drehte auf dem Absatz um und rappelte mit meinem Hintermann hart aneinander: »Entschuldigung, Monsieur!«

»So passt doch auf!«

Ich drängelte mich zurück, kämpfte gegen den Strom, bis ich die Stelle erreichte, wo der Schmuckkrämer gestanden hatte. Er war fort! Seinen Platz hatten schon zwei andere eingenommen, der eine bot Bürstenwaren feil, der andere Kaninchenfelle.

»Wo ist er hin, der mit dem billigen Schmuck – Schmuck aus Wolle und Glas, wo ist er?«

Sie schüttelten den Kopf. Ich rief und suchte aber so verzweifelt, es schien mir plötzlich, als ob mein Glück abhinge von diesem verflixten Halsband, dass mir schließlich jemand zurief über die Köpfe der Passanten: »Dort entlang, Madame! Zur Misère!«

Ich winkte zum Dank und schob mich mit erneuerter Energie durch die Menge, was mir nicht wenige Püffe und Tritte eintrug. Endlich öffnete sich die Gasse auf den Platz vor dem Justizpalast, und ich bekam wieder Luft. Ich schaute mich um. Und da sah ich gerade das Tablett mit den glitzernden Dingen im Torbogen verschwinden!

»Halt«, rief ich und rannte los. »Halt, du da mit dem Schmuck!« Gott sei Dank, sie hatte mich gehört. Sie drehte sich um und blieb stehen. Es war nämlich gar kein Händler, sondern eine junge Frau, nicht viel älter als meine Céline. Ein Mädchen mit einer störrischen schwarzen Mähne und Augen wie schwarzen Oliven, eine vom fahrenden Volk.

»Ich wusste, du kommst wiedärr«, begrüßte sie mich feixend, als ich herangeschnauft kam.

»Warum bist du dann nicht stehen geblieben? Fang nur nicht diesen Wahrsagerunsinn mit mir an«, warnte ich sie. »Ich habe kein Geld, das du mir entlocken könntest. Ich will nur einen Schmuck für meine Tochter – sie ist ein wenig jünger als du. Aber er darf nicht teuer sein.«

Flink hielt die Kleine einzelne Stücke ins Licht und ließ das Glas aufblitzen. »Is nich teier und särrr scheen! Sonst wärst du mir ja nicht nachgerannt«, sagte sie selbstbewusst. Ich erstand das »scheene Schtick« für einen Weißpfennig und ließ es in meinem Beutel verschwinden. Mutter würde schimpfen, aber ich war froh.

Dann kämpfte ich mich ein zweites Mal durch die Rue de Triperies, die Eingeweidegasse, vorbei an den offenen Garküchen, bei denen man bis in die Küchen schauen und leider auch riechen kann. Der Geruch von altem, zu oft verwendetem Fett und saurem Wein schlug mir entgegen, und ich machte, dass ich weiterkam.

Auf dem Markt schlenderte ich an den Ständen vorbei. Gänse streckten ihre langen Hälse durch die weiten Öffnungen der Käfige aus Rohr und trompeteten misstönend. Lebende Hühner, büschelweise an den Beinen aufgehängt, protestierten matt gegen die Behandlung, Küken pfiffen leise und waren nur wegen ihrer Masse zu hören; gemästete Enten hockten träge, die Nickhaut halb über die Augen gezogen. Eier aller Größen und Farben gab es, Pyramiden von weißen Hühner- und braunen Enteneiern, Graskörbchen voller gescheckter Wachteleier, frisch aus dem Nest gestohlen neben bereits gestopften Braten und Singvogelpasteten – diese Angebote überstiegen den Inhalt meiner Börse. Mein Magen knurrte laut, und ich legte verlegen die Hand auf den Leib.

Mutter hatte mir aufgetragen, etwas Fleischabfall für Suppe zu besorgen. Ich suchte mir für meinen Angriff den hintersten, kleinsten und am wenigsten besuchten Stand. Da hockte eine missmutige Alte auf einem Schemel und hatte nur geringe und wenig ansprechende Ware vor sich in einem Korb. Ein paar schmutzige, von der Mauser arg gerupfte Hühner ließen ihre Hälse über den Rand hängen wie welke Blumen. »Da! Das ist alles, was die Lumpen mir gelassen haben«, schimpfte sie.

»Lumpen?«, fragte ich verstört. »Sind die Kompanien wieder unterwegs?« Seit vierzig Jahren hatte das Land stets die Wahl zwischen Krieg, unter dem nur begrenzte Gebiete zu leiden hatten, oder Frieden, währenddessen die arbeitslosen Kompanien das ganze Land gleichermaßen ausplünderten.

»Unsinn! Meine Söhne! Sie fressen wie die Fürsten, jeden Tag Fleisch, und lassen mich arbeiten gehen. Aber warte nur, bald krieg ich eine Schwiegertochter, die ich dann rumkommandieren kann, die für mich arbeitet, verstehst du?« Sie blinzelte mich schlau an.

»Du hast es ja gut vor, Mütterchen«, antwortete ich. »Wäre es nicht besser, freundlich zu sein zu einer Schwiegertochter und deine Söhne zur Arbeit anzuhalten?«

»Warum denn das?«

»Ich meine, Frauen müssten doch zusammenhalten. Warum junge Frauen schlecht behandeln, damit sie später böse alte Frauen werden?«

Sie kniff den ohnehin strichförmigen Mund zusammen.

»Seit wann halten Frauen zusammen? Was ist das für ein neumodischer Unsinn? Junge Frauen gehorchen ihren Männern und ihren Schwiegermüttern. So war es immer schon. Erst eine alte Frau darf den Mund aufmachen, was hat man schließlich sonst im Alter?«

Mir lag noch so einiges auf der Zunge, ich ließ es aber gut sein. Christine, sagte ich mir, dies ist der falsche Platz für deine Bekehrungsversuche, kauf lieber etwas zu essen.

»Großmutter«, sagte ich, »verkauft mir etwas Gutes für die Suppe. Aber kein ganzes Huhn, das kann ich mir nicht leisten.«

»Ich nehme doch kein Huhn aus für dich!«

»Ein ausgenommenes und gerupftes Huhn würdest du aber besser verkaufen, da sähe man nicht, dass sie die Mauser hatten.« Ich bückte mich, hob den Flügel eines ausnehmend räudigen Exemplars hoch, ließ ihn wieder fallen – das Huhn leistete keine Gegenwehr – und wischte mir angeekelt die Hand am Rock ab. »Sie sehen wirklich nicht gut aus, deine Hühner. Bei einem nackten Vogel ist das gleich.«

Erst schimpfte sie eine Weile, dann handelten wir. Sie war zäh, aber ich war in Not, denn ich hatte schon das Halsband für Céline erstanden. Der Hunger förderte meine Beredsamkeit. Am Ende nahm sie mir ihre fünf Hühner aus und legte noch Beine, Köpfe, Hälse und Flügel obendrauf, für vier Pfennige. Mutter müsste stolz auf mich sein, Handeln ist mir eigentlich zuwider. Ich verstaute alles in meinem Rindenkörbchen. Die Alte bedachte mich mit einem letzten bösen Blick und machte sich daran, die Vögel von ihrem unansehnlichen Federkleid zu befreien. Sie sahen nackt wirklich viel ansprechender aus.

»Du solltest doch lieber nett zu deiner Schwiegertochter sein«, riet ich ihr zum Schluss, »falls du je eine bekommen solltest. Sie ist doch diejenige, die dir im Alter zur Seite steht und für dich sorgen soll.«

»Wenn sie’s nicht tut, schlägt ihr mein Sohn die Zähne ein«, gab die Alte liebreizend zurück. Zwecklos!

Was für ein altes Ekel, dachte ich. Ihre belle-fille sollte ihr in die Suppe pinkeln! Auf dem Rückweg erstand ich noch einen Bund junger Pastinaken und ein paar verschrumpelte, süßlich riechende vorjährige Zwiebeln. Beim Gedanken an die Suppe lief mir das Wasser im Mund zusammen. Mir war nach einem Festessen. Und da war doch tatsächlich an der Brücke ein Honigverkäufer. Es mussten die ersten Waben der Saison sein – oder kam er aus dem Süden?

»Aus dem Süden, aus dem Süden, Gnädigste«, versicherte er. »Dort ist alles schon in voller Blüte. Das ist Thymianhonig aus dem Languedoc, Berghonig, kräftigend und aromatisch, der beste, den es gibt.«

Er wedelte mit einem Fächer aus Stroh. Die ersten Fliegen waren auch schon da. Begehrlich sah ich auf die gelb schimmernden, Seligkeit verheißenden, klebrigen Wabenstücke. Ich roch die göttliche Ambra, ich schmeckte es, herb-köstlich, ein wahres Frühlingsfest. Ich spürte schon seine süße Zähigkeit am Gaumen, diesen Duft, dieses Aroma nach blühenden Bergwiesen, die leichte Bitterkeit des Wachses …

»Wie viel?«, fragte ich. Irgendwie klang es, als setzte ich ihm ein Messer an die Kehle.

»Wie viel hast du denn noch im Beutel?« Er grinste siegessicher.

»Einen Weißpfennig und kein Kupferstück mehr.«

»Nun – normalerweise kostet eine Wabe zwei Silberstücke!«

»Da müsste sie schon in einem goldenen Pokal serviert werden! Straßenräuber! Schuft! Gieriges Subjekt!«

Er lachte. »Schon gut, schon gut. Ich sehe, der Appetit macht dich rasend und sehr attraktiv. Ich beuge mich. Du bekommst drei Waben für einen Pfennig.«

»Fünf!«

»Vier!«

»Her damit!«

Allerdings wie sie transportieren? Ich konnte den Honig schlecht zu den Hühnerinnereien geben.

»Hier, Schönste, ich schenke dir noch das Töpfchen aus gehärtetem Leder dazu. Empfiehl mich weiter und denk an mich, wenn du vom Honig naschst! Wo der herkommt, ist noch mehr!« Er grinste mich unverschämt an, nahm regelrecht Maß mit seinen Blicken und zwinkerte! Ja, hatte er den Witwenschleier nicht gesehen? Und mein Alter! Ich bin schon neunundzwanzig Jahre alt, ein uraltes Weib!

Etwas fassungslos gab ich ihm den Pfennig und ging davon wie eine Schlafwandlerin. Ich wusste tatsächlich nicht, ob ich mehr empört oder geschmeichelt sein sollte. Ob ich wirklich noch attraktiv war?

2

Es hätte ein guter Abend werden können, einer von den leisen, zurückhaltenden, wie ein höflicher alter Herr, der sich nicht aufdrängt und die Luft nicht mit Klagen und Schelten erfüllt – ein freundlicher alter Abend, der keine besonderen Freuden bereithält, außer der Abwesenheit von neuem Kummer und zusätzlichen Sorgen, ein Abend, an dem das Herz aufatmen kann und die Welt den Mund hält.

Als ich zu Hause ankam, nahm mir Mutter den Korb aus der Hand.

»Süßigkeiten!«, sagte sie streng, als sie den Honigtopf erblickte. »Christine, manchmal bist du wie ein Kind!« Sie schüttelte den Kopf, dabei wusste ich, dass sie das meiste davon vertilgen würde.

»Wir haben kein Salz mehr. Du müsstest noch«, sie inspizierte den Korb, »zwei Pfennige haben. Geh zu Berthe und kauf Salz.«

»Schick Héloise«, gab ich zurück.

»Héloise hat genug zu tun. Wir haben den ganzen Nachmittag Brot gebacken!«

»Jean hätte gehen können.«

»Jean lernt.«

»Céline!«

»Céline hat Näharbeit mehr als genug.«

Ich wäre, auch wenn ich das Geld noch gehabt hätte, nur äußerst ungern zu Berthe gegangen.

»Also gut. Ich gehe schon.«

Unser Turm war Teil der alten Stadtmauer von Philippe Auguste. In Notzeiten konnte er mittels einer schweren Eisenkette mit der Ile St. Louis verbunden werden, um den Fluss zu kontrollieren. Im Schatten der Mauer drängten sich Häuser, Werkstätten und Läden. Nebenan hatte ein Genueser Kaufmann im Obergeschoss seine Wohnung und unten sein Kontor.

Er handelte mit Gewürzen, Stoffen und mit allerhand hübschen Dingen für Haus und Eitelkeit, je nachdem, was seine Schiffe ihm von ihren Reisen brachten.

Die Tür stand offen. Ich nahm einen tiefen Atemzug, straffte meinen Rücken, reckte den Kopf und ging hinein. Berthe verhandelte mit einer wohlhabenden Bürgerin über ein Stück gelbes Tuch. Sie zog den Stoff rumpelnd vom Ballen und hielt ihn der Käuferin hin.

»Es würde Euch hervorragend stehen. Gelb lässt Euren Teint leuchten, es bringt Eure feine Haut recht gut zur Geltung. Und dann, wenn ich Euch raten darf«, sie zog eine kleinere Rolle aus dem Regal hinter sich, »ein grünes Brusttuch aus Lyonnaiser Taft, so zart wie eine Spinnwebe, verdeckt nichts! Und Ihr habt doch so eine schöne Büste!«

Die Zusammenstellung war fürchterlich, und die Dame würde in Gelb aussehen wie ausgespien. Ein feines Lächeln kam mir ganz von selbst auf die Lippen. Pfui!, schimpfte ich mich. Bist du etwa missgünstig? Ein kleines Stoßgebet um Vergebung murmelnd strich ich durch den Laden, berührte einen Teppich, hob einen schönen Wandteller hoch, während Berthe mich aus den Augenwinkeln beobachtete.

»Lass das stehen«, rief sie mir zu. »Du kannst es doch nicht bezahlen!« Und zu ihrer Kundin: »Ich weiß nicht, warum Leute alles in die Hände nehmen müssen, wenn sie doch kein Geld haben! Nachher wirft sie es noch herunter und kann es nicht mal ersetzen!«

Die Antwort der Kundin hörte ich nicht. Mir sauste das Blut in den Ohren vor Zorn. Wie konnte sie mich nur so blamieren! War ich eine Bettlerin? Eine Diebin? Berthe und ich kannten uns seit zwanzig Jahren! Ich setzte den Teller ab, als wäre er glühend heiß.

»Vorsicht! Der ist zerbrechlich!«, musste sie rufen. Berthe war klein, dürr und ungefähr so liebenswert wie sieben Jahre Pech. Sie hatte einen nicht zu bändigenden Mopp von schwarzem Haar auf ihrem Kopf, von dem ständig Strähnen aus der Haube rutschten, sodass sie eine Stunde nach dem Frisieren aussah wie die Medusa mit ihrem Schlangenhaupt.

Ihre Mundwinkel zeigten nach unten, und trotz des Wohllebens hatten sich rechts und links der Nase tiefe Furchen permanenter Übellaunigkeit eingegraben. Die einzige Freude ihres Daseins war ihr Sohn Aldo, an dem niemand sonst etwas Erfreuliches zu finden wusste: ein dicklicher Jüngling mit einem Hinterteil wie eine Kiste und einem Gesicht wie eine traurige Kuh. Er war schon sechzehn oder siebzehn Jahre alt, längst erwachsen. Dennoch spielte er im Geschäft nur eine untergeordnete Rolle.

Die feine Dame hatte ihre Entscheidung getroffen: Gelb und Grün. Hör nicht auf Berthe – du wirst aussehen wie Pickel auf Spinat, hätte ich sie gern gewarnt, doch hätte sie auf mich gehört?

»Aldo! Trag der Gnädigen den Stoff nach Hause, mein Schatz.«

Der Schatz erhob sich von dem Schemel im hinteren Teil des Ladens, wo er Datteln gegessen und in einem schön bebilderten Buch geblättert hatte. Schweigend ließ er sich die Ballen aufladen. Schweigend, mit einem Nicken und freundlichem Blick aus seinen feuchten, braunen Augen schlurfte er an mir vorbei.

Die Medusa wandte sich mir zu.

»Kein Kredit mehr!«

»Habe ich darum gebeten?«

»Du wirst gleich darum bitten.«

Wie unangenehm es ist, wenn solche Leute recht haben! Ich hatte ja die zwei Pfennige für Honig und das Halsband ausgegeben. Daher ging ich zum Angriff über.

»Gib mir nur ein Säckchen Salz, Berthe, sei so gut.«

»Aha.« Sie hielt die Hand auf.

»Jetzt stell dich nicht so an. Wenn dein Mann da wäre, er würde es mir geben. Schließlich habe ich unsere letzten fünfhundert Goldstücke in sein Schiff investiert! Ich habe also sehr wohl Kredit bei euch!«

Berthe drehte mir den Rücken zu und gab vor, bunte Bänder zu sortieren.

»Kein Geld, kein Salz. Bettelpack! Es wird immer dreister. Ihr wohnt in einem herrschaftlichen Turm – verkauft den doch und zieht aufs Land, wo Leute wie ihr hingehören. Verdient gefälligst Geld, anstatt einfach weiterzuleben, als wären noch goldene Zeiten. Unverschämtheit so was! Nase hoch tragen, aber mit blanker Kehrseite!« So schimpfte sie vor sich hin, ohne mich anzusehen.

Ich hatte große Lust, ihr eins von ihren Ausstellungsstücken über den Schädel zu ziehen, aber dann hätte ich es ja ersetzen müssen.

Zu meinem Glück kam der »Genueser« herein, Massimo, der aus Genua stammte. So ungeheuer fettgefüllt waren seine Glieder, dass er beim Laufen die Beine umeinander herum bewegen musste, was seinem Gang etwas Schaukelndes verlieh. Aber er war großzügig und immer höflich, ganz gleich, ob man Pfeffer und Zimt oder nur getrocknete Saubohnen kaufte.

»Herr im Himmel, ich danke dir«, flüsterte ich. »Ich will auch nie wieder missgünstig sein.«

»Oh, guten Tag, Christine! Geht es dir gut?« Er strahlte mich an; ich weiß, dass er eine Schwäche für mich hat.

»Danke, alles in Ordnung, Monsieur Massimo. Wie gehen die Geschäfte?«

»Bestens, und …« Er beugte sich etwas zu mir herüber, so weit, wie es sein Gewicht erlaubte. Er schwitzte, das Gesicht glänzte speckig. »Ich habe Nachricht von unserem Schiff! Aus Catania, wo es angelegt, Wein und Weizen aufgenommen hat, den sie mit Vorteil in der Levante verkaufen werden. Sie wollten nach Zypern wegen dem Kupfer und nach Beirut, um Spezereien, Weihrauch, Purpurissimum und Lapislazuli aufzunehmen. Der Kapitän eines Schiffes, das sich auf der Rückreise nach Genua befand, hat einen Brief mitgebracht. Ich habe ihn eben erhalten!«

»Dann müsste unser Schiff …« Es machte mir Freude, dass er es als »unser« Schiff bezeichnete, obwohl meine Einlage von fünfhundert Talern doch relativ gering gewesen war. »… jetzt schon auf dem Heimweg sein! Vielleicht schon wieder in der Adria?«

»Unser Schiff! Unser Schiff«, schnaufte Berthe. »Ihr gehören gerade mal ein Fass Pökelfleisch und eine Handvoll Nägel.«

Massimo strahlte mich an: »Nimm es nicht krumm! Meine Berthe, die muss halt immer nörgeln. Sonst ist sie nicht froh.« Er tätschelte sie liebevoll.

»Mein Salz, bitte?«, erinnerte ich.

Berthe schaute giftig, während sie unter dem wohlwollenden Blick des fetten Massimo Salz in einen Sack füllte. Die runde Holzschippe machte ein feucht-kratzendes Geräusch, als Berthe sie heftig in die Tonne stieß. Im Beisein ihres Mannes wagte sie nicht, so mit mir umzuspringen, wie sie es tat, wenn wir allein waren. Ihre einzige kleine Rache war, dass sie mir klumpiges, graues Salinensalz gab statt feines weißes, die Blüte der bretonischen Salzgärten.

Ich nahm ihr den Sack aus der Hand.

»Danke, Nachbarin! Schreib es an, auf meinen Anteil am Schiff«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. »Wiedersehen, Berthe. Bonne journée, Massimo!«

Vielleicht hat sie ja recht, dachte ich bei mir, während ich auf unseren Turm zuging. Mit einem Tritt vertrieb ich ein Schwein, das sich vorm Eingang suhlte. Es grunzte und ließ sich kaum stören, bewegte den Wanst nur ein winziges Stück beiseite. Wenn nur meine Seele ebenso gepanzert wäre wie diese Schweineschwarte!

Jemand von uns sollte arbeiten, Geld verdienen. Wir können nicht ewig so weitermachen: aufbrauchen, was man uns hinterlassen hat, und nach allen Seiten das Unheil nur in Schach halten. Jean ist noch zu jung. Und er wird auch lieber eine eigene Familie gründen, als Mutter, Schwester, Großmutter und Tante durchzufüttern. Es wäre eine zu schwere Last für ihn. Aber womit könnte ich Geld verdienen? Ich bin keine Händlerin und katastrophal im Umgang mit Geld. Ein Handwerk habe ich nicht gelernt – halt, doch, eines habe ich gelernt und kann es gut: Ich kann schreiben.

Meine Mutter empfing mich mit Klagen.

»Was?« Sie schaute in den Sack und nahm einen rosa-weißlichen Klumpen heraus, so groß wie ein Daumennagel. »Grobes Salz? Was hast du dir da wieder aufschwatzen lassen. Das ist für Vieh!«

»Es kann im Mörser zerkleinert werden und ist viel billiger als feines Salz. Du willst doch immer, dass ich sparsam bin, Mutter!«

Sie ließ den Sack fallen und stemmte die Arme in die Seiten.

»Ach was! Sparsam! Wärest du nicht so egoistisch und würdest wieder heiraten, dann könnten wir alle sorglos leben. Wenn schon nicht meinetwegen, dann tu es wenigstens für deine Kinder! Du bist jung. Dein Mann ist jetzt vier Jahre im Grab! Irgendwann ist es doch mal gut mit der Treue!«

Ich nahm den Sack auf und trug ihn wortlos in die Küche. Im dämmrigen Licht, das durch die hohen Fenster fiel, sah ich Héloise am Herd sitzen und Gemüse putzen. Aus dem Kessel über dem Feuer duftete es bereits nahrhaft nach Huhn, Kornbrei und Zwiebeln. Jean lümmelte am Tisch, einen Zinnbecher neben sich. Er war ein hübscher Bursche, kam ganz nach Etienne. Meine schönste Gänsefeder hatte er sich von meinem Pult genommen, piekste und quälte damit einen bedauernswerten Hirschkäfer, den er mit der Spitze der Feder zwang, im Kreis auf dem Tisch herumzuirren. Als Jean mich sah, stülpte er den Becher über sein Spielzeug. Fast hätte er dabei das Tier in zwei Teile getrennt. Unwillkürlich musste ich den Becher anschauen. Was dieses Tier empfinden mochte, im Dunkeln und gezwungen, immer im Kreis herumzulaufen?

»Was hast du gesagt, mein Schatz?«

»Maman, ich kann unmöglich länger diese Tunika tragen.«

»Warum? Was ist falsch an ihr? Sie passt doch. Sie ist noch gar nicht durchgetragen, fast wie neu!«

Hitzig hieb er mit der flachen Hand auf den Tisch. Er hat leider mein Temperament geerbt. Der Becher sprang hoch, fiel um, und der Käfer suchte eilig das Weite. An der Tischkante hielt er inne und ließ seine Fühler über dem Abgrund spielen. Ob so ein Tier sich etwas dachte? Hatte es die Wahl zu springen oder ein Gefangener zu bleiben? Mit einer entsetzlich beiläufigen Gebärde schnippte Jean ihn wieder in den Becher.

»Tuniken sind für Kinder! Erst heute haben sie mich beim Spielen nicht mitmachen lassen, weil sie gesagt haben, ich sei noch ein Kind!«

»Ich nehme an, es ging um Kartenspielen, und das habe ich dir ohnehin verboten.«

Sein blasses Gesicht überzog sich mit einer fleckigen Röte.

»Ich ertrage das nicht mehr! Du machst mich zum Gespött der Domschule. Bald werde ich auf die Universität gehen! – Aber nicht in diesem absolut lächerlichen Kittel!« Er zog sich die Tunika über den Kopf und warf sie auf die Erde. So stand er in der Küche, mit seinem mageren, weißen Oberkörper. Ich bückte mich, hob das Hemd auf und warf es ihm zu.

»Jean! Benimm dich nicht wie ein Bauer, wenn du ein Magister werden willst! Bedecke dich!« Er schmollte. »Ich tue, was ich kann, aber du weißt genau, wie bedrängt unsere Lage ist – warte: Komm mal her!« Er zog sich widerwillig die Tunika über und kam zu mir in den Lichtstrahl des hohen Fensters. Jetzt sah ich erst sein blaues Auge und die blutigen Schrammen am Kinn.

»Was ist denn das? Was hast du getan?« Ich griff mir sein Kinn mit fester Hand und schaute mir den Schaden an.

»Ich habe mich geschlagen«, verkündete er stolz. Er war also in eine Rauferei mit anderen Jungen verwickelt gewesen. Soso. Das war das erste Mal. Er wurde tatsächlich erwachsen. Ich ließ sein Kinn los.

»Sie haben behauptet, mein Vater sei ein Niemand gewesen und Großvater habe den König umgebracht.«

»Was für ein kindischer, boshafter Unfug. Es hätte genügt, ihnen das zu antworten.«

Feurig: »Niemand beleidigt meine Familie!«

Mein armer Sohn. Er wusste nicht, wie ich tagtäglich beleidigt wurde und es sanftmütig ertrug – oder, ich will nicht lügen, wenigstens mit Fassung. Jean reichte mir schon bis über den Kopf; ich musste leicht zu ihm aufschauen.

»Ja, das müsste gehen. Du bist jetzt fast so groß, wie dein Vater war. Wir werden dir seine Kleider ändern. Dann hast du ein richtiges, feines Wams.«

Ein erneuter Wutanfall: »Vaters Kleider sind altmodisch!« Er setzte sich auf die Bank, drehte uns allen den Rücken zu und verschränkte die Arme. Nun brütete er! Ich musste lachen. Was für ein Theater! Das musste er von seinem Großvater haben, von Etienne jedenfalls nicht. Der blieb immer kühl, immer ruhig. Schlimmstenfalls sagte er stundenlang gar nichts, das war dann kaum zu ertragen und die schmerzlichste Strafe für mich. In meiner Familie dagegen benahmen sich alle wie große Tragöden. Jede kleinste Gelegenheit zum Streit wurde bis zur Neige ausgespielt, jedes Gefühl in seinen tiefsten Tiefen ergründet, herausgezerrt und zur Schau gestellt. Große Gesten, große Worte! Keine Gelegenheit wurde je vergeudet, Posen einzunehmen, so wie Spieler ihren Platz. Eine Misshelligkeit musste erst gefüttert und gemästet werden, bis sie zum Schicksalhaften anschwoll, und dann, wenn alle von Vorwürfen, Schreien und Tränen ermattet waren, folgten die allerherrlichsten Versöhnungen.

»Jean, wenn du wüsstest, wie du mich an deinen Großvater Pizan erinnerst!«

Er drehte sich um, unsicher, beschloss dann aber, es für etwas Gutes zu nehmen. Auch darin ähnelte er meinem Vater: Er suchte sich immer die bestmögliche Sicht der Dinge, während meine Mutter grundsätzlich pessimistisch war. Sie sagte, dann würde man nicht enttäuscht und manchmal angenehm überrascht. Sie zum Beispiel nahm jede Bemerkung sicherheitshalber erst einmal krumm. Korrigieren kann man sich dann immer noch.

»Jean, sei vernünftig. Ich kann dir keine neuen Kleider kaufen. Es steht völlig außer Frage. Wir werden dir Etiennes Wams wenden und kürzen. Seine Beinkleider müssten dir passen.«

»Ich will Zackenärmel und bunte Strümpfe à la miparti.

Und ein Barett, wie es die Studenten tragen.«

»Dann sei nett zu deiner Schwester. Die kann am besten nähen von uns allen.«

»Céline! Würdest du? Du musst einfach! Ich kann mich doch nicht so blamieren.«

Céline stand da, selbst im geänderten Kleid, und nickte nur.