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Ute Fellcht

MEYER & MEIER

EISKALTE AUGEN

Kriminalroman

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© 2019 by R. G. Fischer Verlag

Herstellung: rgf/bf/2A

ISBN 978-3-8301-9650-1 EPUB

www.rgfischer-verlag.de

Ich widme dieses Buch meinen Eltern,
die mich immer mit viel Liebe, Herz und Verstand
durch das Leben begleitet haben
.

Inhalt

Eiskalte Augen

Über den Autor

ER kommt im Nebel auf mich zu, die Pistole im Anschlag. Ich versuche verzweifelt wegzulaufen, aber er holt mich ein, reißt an meinen Haaren und wirft mich zu Boden. »Jetzt bist du dran«, flüstert er heiser und hält seine Waffe an meine Schläfe. Diese Augen, diese eiskalten, fast wie gefrorenes Eis wirkenden Augen blicken mich unbarmherzig an. Ich fange an wie verrückt zu schreien und wache schweißgebadet aus meinem Alptraum auf.

Seit ich in diesem Haus wohne, habe ich schon diese Alpträume und kann sie mir nicht erklären. Es sind immer die gleichen Bilder, die in meinem Kopf wie ein Film ablaufen, langsam werde ich noch verrückt. Meine beiden Söhne behaupten, ich schaue zu viele Krimis, aber ich habe eine merkwürdige Vorahnung, irgendetwas wird noch passieren und ich fürchte, es wird nichts Gutes sein.

Ich heiße übrigens Sandy Meyer, bin achtundvierzig Jahre alt, wohne am Stadtrand von Berlin in einem schönen Haus mit Garten und habe mir dort einen Kosmetiksalon mit Fußpflege eingerichtet. Das Haus habe ich von meiner verstorbenen Tante Elfriede geerbt. Also, eigentlich bin ich ganz normal, wenn man von den Alpträumen einmal absieht. Hätte ich allerdings zu diesem Zeitpunkt gewusst, wie dieser Tag noch enden würde, dann wäre ich auf jeden Fall im Bett geblieben, aber das Schicksal hatte andere Pläne mit mir.

Betty, meine Angestellte und Freundin kommt jeden Morgen pünktlich um neun Uhr, bis dahin muss ich geduscht, angezogen und halbwegs menschlich aussehen. Ich will das alles gerade in die Tat umsetzen, da klingelt mein Telefon auf dem Nachttisch und ich fahre erschreckt zusammen. »Verdammt Sandy, nun reiß dich mal zusammen«, sage ich laut zu mir und greife entschlossen zum Hörer.

»Salon Meyer, was kann ich für Sie tun?«

»Guten Morgen, Frau Meyer! Hier ist Berg, Lothar Berg aus dem Buchladen ›Schrift und Bild‹. Sie haben bei mir ein Fachbuch über Gartenbau für Ihren Sohn bestellt. Das Buch wäre jetzt hier und wenn es Ihnen recht ist, dann bringt mein Lehrling es Ihnen heute noch vorbei.«

»Oh, wunderbar Herr Berg! Ich freue mich. Am besten er kommt so gegen dreizehn Uhr, dann haben wir eine kleine Mittagspause.«

»Abgemacht, Frau Meyer! Pünktlich um dreizehn Uhr haben Sie das Buch. Einen schönen Tag noch.«

»Danke gleichfalls, Herr Berg!«

Fast gleichzeitig beenden wir das Gespräch.

»Das ist ja großartig«, denke ich. Jetzt stehe ich wenigstens nicht ohne Geschenk da, wenn Christian, mein jüngster Sohn, seinen Geburtstag hat. Er wird zweiundzwanzig und will eine Grillparty bei mir im Garten feiern, die garantiert feuchtfröhlich und extrem laut wird. Na egal, ich freue mich trotzdem, und ganz langsam wird die böse Erinnerung an den Traum von der Vorfreude auf die Party verdrängt.

Nachdem ich endlich geduscht und angezogen bin, gehe ich die alte knarrende Holztreppe hinunter, komme in die Küche und stelle die Kaffeemaschine an, damit ich mit Betty vor Arbeitsbeginn noch in Ruhe eine Tasse trinken kann. Danach kontrolliere ich wie jeden Morgen die Behandlungskabinen. Die beiden Räume sind identisch, cremeweiße Wandfliesen und braun marmorierte Fußbodenfliesen harmonieren perfekt miteinander, ein Behandlungsstuhl, ein Waschbecken, ein Fenster und ein großes Regal in jedem Zimmer. Grünpflanzen auf den Fensterbrettern vervollständigen die angenehme Atmosphäre. Meine Arbeit macht mir Freude und die Zufriedenheit der Kunden ist auch die meine.

Ich bin gerade fertig mit meinem Rundgang, die große Standuhr im Flur schlägt neun mal, da wird die Eingangstür aufgeschlossen, die Türglocke läutet zweimal und Betty stürmt herein.

»Mensch Sandy, ich brauche erst mal schnell einen Kaffee!« Mit ihrem Fuß stößt sie die Tür zu und lässt sich völlig außer Atem in den nächsten Sessel fallen.

»Hey, was ist denn mit dir los?« Verdutzt schaue ich sie an und fange fast an zu lachen, der Anblick ist aber auch sehr merkwürdig! Der türkisfarbene Trainingsanzug ist schmutzig, genau wie die lila Turnschuhe, aber die Krönung sind ihre kurzen, roten Haare, in denen Blätter, Zweige und Tannennadeln stecken, wie in einem Vogelnest. »In welchen Busch bist du denn gefallen? Für eine seriöse Fußpflegerin ist das Outfit aber mangelhaft.«

»Ha, ha, sehr witzig, Sandy. Danke«, knurrt Betty.

Ich hebe entschuldigend die Hände. »Hey, sorry, war nur Spaß. Ich hole uns erst mal den Kaffee und du erzählst, was passiert ist, okay?« Ich komme mit zwei dampfenden Bechern Kaffee aus der Küche, stelle sie auf den Tisch, setze mich Betty gegenüber in den anderen Sessel und schaue sie erwartungsvoll an.

»Das glaubst du mir sowieso nicht, Sandy!« Betty holt tief Luft. »Pass auf: Ich bin wie immer mit meinem Fahrrad von zu Hause losgefahren, nur heute etwas früher, weil ich noch beim Friedhof vorbeifahren wollte, um Blumen auf das Grab meiner Mutter zu legen, sie hätte doch heute Geburtstag gehabt.«

Ich nicke zustimmend.

»Ja also, es war noch sehr früh, als ich dort ankam«, nervös nimmt sie einen großen Schluck Kaffee. »Ich dachte, ich wäre dort allein, kein Mensch war zu sehen, aber das war ein Irrtum, denn als ich vom Grab wieder Richtung Ausgang ging, muss ich, wie du ja weißt, an der Gruft der Familie von Rotenstein vorbei. Die ist immer verschlossen.«

Ich nicke. »Ja, es hängt sogar ein Schloss an der Gittertür.«

»Genau Sandy, und an diesem Schloss machte sich ein Typ zu schaffen. Der wollte dort einbrechen und ich habe ihn überrascht. Ich rief also: ›Hey, was machen Sie da?‹ Da drehte er sich um und hatte ein Messer in der Hand, er sagte kein Wort, sondern kam direkt auf mich zu. Dadurch geriet ich so in Panik, dass ich stolperte und rückwärts in eine Hecke fiel. Ich schrie auf und dachte: ›Gleich bist du tot, Betty!‹ Aber mit einem Mal war er weg, einfach weg, wie vom Erdboden verschluckt. Gott sei Dank hat mich Herr Faber, der Friedhofsgärtner, schreien hören und kam gleich angelaufen, deshalb war der Typ wahrscheinlich so schnell verschwunden.«

»Meine Güte Betty!« Ich schaue sie völlig entsetzt an, bei der Story braucht man keinen Kaffee, sondern einen doppelten Schnaps. »Ist dir auch wirklich nichts passiert?« Ich schaue sie besorgt an. »Oder bist du irgendwo verletzt? Ich kann jederzeit einen Arzt rufen, wenn du möchtest und du musst heute nicht arbeiten, nimm dir ruhig frei.«

»Nein danke, das ist wirklich nicht nötig.« Betty winkt beruhigend ab. »Ich glaube, die Arbeit wird mir helfen auf andere Gedanken zu kommen.«

Ich sehe sie zweifelnd an. »Bist du sicher?«

»Sandy, reg dich nicht auf, ehrlich, mit mir ist alles in Ordnung, nur meine Nerven sind angeschlagen, deshalb wäre ein kleiner Schnaps gar nicht so schlecht.« Sie lächelt mich etwas gequält an. »Oder was meinst du, Chefin?«

»Ja sicher!« Ich lächle zurück. »Aber wirklich nur einen kleinen, sonst sind wir beide blau, bevor die erste Kundin kommt.«

Wir trinken einen kleinen Cognac, dann erzählt sie weiter: »Also, ich habe diesen Typ nicht erkannt, er hatte ein Kapuzen-Shirt an und das Gesicht war ziemlich verdeckt, so dass ich nicht viel sehen konnte. Er hatte nur so unheimliche Augen und um ehrlich zu sein, durch meine Angst vor dem Messer habe ich nicht viel mitbekommen. Herr Faber hat ihn übrigens nicht gesehen, aber gleich bei der Polizei angerufen und sie schicken heute noch zwei Beamte vorbei, die den Tathergang ermitteln und mich als Zeugin befragen wollen.«

Ich nicke. »Ja, das ist wichtig, hoffentlich erwischen sie dann diesen Verbrecher. Meine Güte Betty, weißt du überhaupt, wie viel Glück du hattest, das hätte auch anders ausgehen können.« »Ja Sandy, ich weiß! Ich hatte halt einen guten Schutzengel.«

In diesem Moment schlägt die große alte Standuhr im Flur zehn Mal. Ich stehe auf. »So, Betty! Du ziehst dich in Ruhe um und ich kümmere mich um die erste Kundin. Einverstanden?« »Ja, danke Sandy.« Betty steht auch auf und umarmt mich kurz. »Jetzt geht es mir schon viel besser.«

Ich habe gerade die Cognacgläser und Kaffeebecher in die Küche gebracht und Betty ist im Bad verschwunden, da kommt schon die erste Kundin und bis zur Mittagspause haben wir beide keine Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen.

Pünktlich um dreizehn Uhr kommt der Lehrling von Herrn Berg, ein sehr mürrischer junger Mann. Er bringt mir das Buch, nimmt sein Trinkgeld entgegen und verschwindet wieder. Das Buch ist in braunes Packpapier eingewickelt und ordentlich verklebt, worüber ich mich wundere, normalerweise ist ein Buch doch nur in eine Klarsichtfolie verpackt. Das macht mich neugierig, zumal ich auch sehen will, ob Herr Berg mir das richtige Buch geschickt hat, also entferne ich vorsichtig das Packpapier und staune nicht schlecht. Das Buch ist zwar das richtige, aber ein an mich adressierter Umschlag fällt heraus mit dem Vermerk: »Bitte gut aufbewahren, sehr wichtig!«

Ich bin ratlos. Warum schickt mir Herr Berg so einen Brief, noch dazu so geheimnisvoll? Ich drehte den Umschlag unschlüssig hin und her.

»Hast du einen neuen Verehrer, der dir Liebesbriefe schreibt, Sandy?«

Das konnte ich mir ja denken, wenn Betty etwas liebt, dann mich zu verkuppeln.

»Du hast dich zu früh gefreut, aber komm mal her.« Ich winke sie zu mir. Nach dem ich ihr alles erklärt habe, schaut Betty mich irritiert an.

»Was soll denn der Blödsinn?«

Ich zucke mit den Schultern. »Keine Ahnung!«

»Mach doch den Umschlag mal auf und wir schauen, was drin ist, Sandy.«

»Na gut!« Ich öffne den Umschlag und halte eine vergilbte alte Karte in der Hand. Vorsichtig lege ich sie auf den Tisch und wir beugen uns beide neugierig darüber.

»Wow, eine Schatzkarte!«, ruft Betty.

»Na, ich weiß nicht«, grübelnd zeige ich auf einige Striche. »Diese Linien hier sehen eher nach einem Tunnel oder etwas Ähnlichem aus, aber was soll ich bloß damit?« Kopfschüttelnd lege ich die Karte wieder in den Umschlag und stecke ihn in meine Kitteltasche. »Morgen fahre ich zum Buchgeschäft und werde Herrn Berg zur Rede stellen.«

»Ja, mach das, Sandy. Und ich bekomme wie es aussieht gerade Besuch.« Betty zeigt zum Fenster. Zwei Männer, die sehr nach Kripo aussehen, kommen auf den Salon zu. Der eine ist etwas unscheinbar in Uniform, aber der andere – wow, was für ein Mann! Groß, schlank und durchtrainiert. Dunkle Haare, die sich im Nacken etwas wellen. Das Gesicht sehr männlich, markant. Er hat schwarze Jeans und einen Parka an, rechts neben ihm läuft noch ein zweiter Begleiter. Ein riesiger schwarzer Hund, fast schon ein Wolf.

»Mensch Sandy, ich falle gleich in Ohnmacht. Was für ein Typ!«

»Ja, sieht ganz nett aus, aber der Hund ist süß.«

Betty erwacht aus ihrer Verzückung und starrt mich fassungslos an. »Da kommt ein Kerl daher, für den würden die Frauen alles tun und du findest seinen Riesenköter süß?«

Ich zucke mit den Schultern. »Ja, warum denn nicht? Ich liebe Hunde.«

Betty schüttelt entnervt ihren Kopf. »Dir ist nicht mehr zu helfen!«

Ich bin schlau genug ihr nicht zu sagen, dass mir der Mann sehr wohl gefällt, denn wenn sie das wüsste, würde sie gar keine Ruhe mehr geben. Wir werden aber um weitere Diskussionen gebracht, weil die Türglocke zweimal läutet und die Herren von der Polizei eintreten.

»Guten Tag, mein Name ist Hauser, Polizeiinspektion 1, und das ist Kriminalhauptkommissar Meier.« Der Mann in Uniform zeigt auf seinen Kollegen, der uns kurz zunickt, ansonsten aber das Reden erst mal Herrn Hauser überlässt. Betty raunt mir zu: »Mensch, der heißt auch Meyer«, worauf hin sie ein strafender Blick aus grauen Augen schnell verstummen lässt. Ach, das hat dieser Kripo-Typ also gleich mitbekommen. »Bei dem muss man vorsichtig sein«, denke ich bei mir.

»Ja, also …«, umständlich holt Herr Hauser ein Notizbuch und einen Bleistift aus seiner Uniformjacke. »Wer von den Damen heißt denn nun Sommer und ist auf dem örtlichen Friedhof überfallen worden?«

»Das bin ich!« Betty tritt einen Schritt vor.

»Ach so, so«, murmelt Herr Hauser in seinen Schnauzbart, »dann erzählen Sie doch mal.«

In der Zwischenzeit hat sich dieser »Herr Meier« schon gemütlich in einen Sessel gelümmelt, die Beine lang ausgestreckt, sein Hund liegt neben ihm mit dem Kopf auf seinen Pfoten. Ein Bild für die Götter.

»Sie können sich auch gerne für die Befragung hinsetzen, wie Ihr Kollege«, meine ich etwas säuerlich.

»Äh, ja gerne«, umständlich lässt sich Herr Hauser auf einem Sessel nieder. »Ein frischer Kaffee wäre auch nicht schlecht, Frau Meyer!«

Ich schaue verdutzt diesen merkwürdigen Kripomenschen an und ganz kurz blitzt so etwas wie Belustigung in seinen grauen Augen auf. Das war ja die Höhe! Für was hält der mich? Empört rausche ich in die Küche und überlasse die arme Betty der Befragung.

Der Kaffee ist fertig und ich habe mich wieder beruhigt, also nehme ich noch eine Packung Butterkekse aus dem Schrank und gehe mit dem voll beladenen Tablett wieder nach nebenan. Herr Hauser springt diensteifrig auf und hilft mir beim Tischdecken, was ich als sehr nett empfinde. Betty tut mir allerdings leid! Sie sieht schon sehr mitgenommen aus.

»Frau Sommer, bitte denken Sie nach, jede Kleinigkeit ist wichtig«, eindringlich sieht Herr Meier die arme Betty an.

»Es tut mir leid, es ging alles so schnell und ich hatte solche Angst«, hilflos zuckt Betty mit den Schultern. »Ich kann Ihnen keine bessere Beschreibung des Mannes geben, nur seine schrecklich kalten Augen, die werde ich nicht vergessen.«

»Warum ist die ganze Sache überhaupt ein Fall für die Kripo?«, mische ich mich ein.

Der Kommissar schaut mich ernst an. »Wir verzeichnen schon seit Wochen viele Einbrüche auf Friedhöfen in der gesamten Umgebung. Es werden immer die Gruften aufgebrochen und verwüstet und es gab im Zusammenhang damit leider auch schon einen Toten, übel mit einem Messer zugerichtet.«

»Oh, mein Gott!« Ich sehe entsetzt zu Betty, die im Gesicht kalkweiß wird.

»Leider konnte bisher kein einziger Zeuge brauchbare Hinweise liefern«, Herr Meier seufzt, »wir treten momentan auf der Stelle.«

Die beiden Herren trinken ihren Kaffee aus und stehen auf. »Hier ist meine Karte, für den Fall, dass Ihnen noch etwas einfällt.« Herr Meier reicht Betty die Karte und gibt ihr die Hand. »Bitte machen Sie sich keine Sorgen, wir tun alles, um diesen Verbrecher zu schnappen. Frau Meyer!« Er wendet sich mir gerade in dem Moment zu, in dem ich heimlich dem Hund einen Butterkeks vor die Nase halte. »Das ist ein Polizeihund und kein Schoßhündchen, bitte unterlassen Sie das«, knurrt er mich an.

»Aber er ist doch so süß und liebt meine Kekse«, wage ich einzuwenden. Ein vernichtender Blick aus grauen Augen trifft mich und den Hund, der den Keks schon aufgefressen hat und leise mit seinem Schwanz auf den Boden klopft. »Falk, bei Fuß!« Der Hund steht sofort neben ihm und gemeinsam gehen sie zur Tür. Verlegen verabschiedet sich auch Herr Hauser von uns und eilt seinem Kollegen hinterher.

An der Tür dreht sich Herr Meier noch einmal um. »Übrigens, der Kaffee war gar nicht so schlecht.« Er nickt uns kurz zu und verschwindet.

»Na, so ein unmöglicher Mensch!«, schimpfe ich vor mich hin.

»Du hättest halt seinen Hund nicht füttern sollen, Sandy.«

»Ach was, wegen einem Keks stirbt der nicht gleich«, knurre ich leicht gereizt.

»Das wohl gerade nicht, aber es ging ja auch um das Prinzip«, meint Betty diplomatisch.

»Pah, Prinzip hin oder her, auf jeden Fall fand ich den Hund sympathischer als seinen Herrn! So, pass mal auf, Betty. Du rufst jetzt gleich deinen Horst an, er soll dich abholen und ihr geht irgendwo schön essen, damit du nach diesem Horror auf andere Gedanken kommst. Ich schaffe die Arbeit auch alleine, du hast heute schon genug mitgemacht.«

»Meinst du wirklich, Sandy?«

»Ja, das meine ich, außerdem mache ich heute auch beizeiten Feierabend. Ich will ein bisschen früher in den Stall zu Alibaba.«

»Na, das ist ein Wort!« Betty strahlt und verschwindet Richtung Telefon, um ihren Horst anzurufen, ich bereite alles für die nächste Kundin vor und so vergeht dieser ereignisreiche Arbeitstag.

Die große Standuhr schlägt vier Mal und die letzte Kundin ist gegangen, auch Betty ist schon lange weg, jetzt kann ich Feierabend machen. Ich ziehe mich um, nehme die Autoschlüssel vom Schreibtisch und gehe zur Tür, da fällt mein Blick auf ein kleines weißes Kärtchen auf dem Boden. Es ist die Visitenkarte von Kommissar Meier. Betty hat sie scheinbar in der ganzen Aufregung verloren. Ich stecke sie in meine Jackentasche, mit der Absicht, sie Betty morgen wiederzugeben. Ich kann ja nicht ahnen, dass ich die Karte heute noch brauchen werde.

Ich fahre wie jeden Abend mit meinem Jeep fünfzehn Kilometer zum Reitstall. Das Stallgebäude, die Koppeln und Weiden gehören zu einem Bauernhof, dort habe ich mein Pferd Alibaba untergebracht. Alibaba ist ein bildschöner neunjähriger Araberwallach. Ich besitze ihn seit fünf Jahren und er ist mein ganzer Stolz. Als ich am Stall vorfahre, hörte ich ihn schon wiehern. Ich parke meinen Wagen, steige aus und hole aus dem Kofferraum einen Beutel Möhren, die liebt Alibaba besonders.

Ein schlaksiger junger Mann mit vielen Sommersprossen im Gesicht kommt mir entgegen, er ist hier Stallbursche und das mit Leib und Seele. Er lächelt, als er auf mich zukommt. »Hallo, Frau Meyer. Alibaba hat Sie schon längst gehört.«

»Hallo, Ben.« Ich lächle auch. »Ja, mein vierbeiniger Freund ist ein treuer Kerl, deshalb will ich ihn auch nicht so lange warten lassen.«

Ben wünscht mir noch viel Spaß und geht dann wieder an seine Arbeit.

Ich liebe lange Ausritte in die Natur, sie sind das Schönste, was es gibt, dabei kann man herrlich den ganzen Alltagsstress vergessen und das will ich heute auch. Ich hole Alibaba aus dem Stall und nach dem Putzen und Satteln reite ich los. Es ist ein herrlicher Frühlingsabend, schon angenehm warm und lange hell. Alibaba ist gut drauf und schnaubt zufrieden.

Wir sind fast zwei Stunden unterwegs und machen uns langsam auf den Rückweg zum Stall. Ich will noch durch das kleine Wäldchen, weil man dort über ein paar Baumstämme springen kann, die quer über dem Reitweg liegen. Das macht uns beiden immer viel Spaß. Alibaba weiß schon, wo ich hin will und schreitet kräftig aus. Beim Wäldchen angekommen, lasse ich ihn antraben und gehe kurz darauf in leichten Galopp über. Die ersten beiden Hindernisse liegen schnell hinter uns, jetzt kommt die Gerade, dann die Kurve und gleich danach der nächste Sprung, aber als wir um die Kurve kommen, macht Alibaba plötzlich einen Satz zur Seite und scheut so sehr, dass ich Mühe habe im Sattel zu bleiben. Es dauert eine Weile, bis ich ihn wieder einigermaßen unter Kontrolle habe. Was ist denn bloß los?

Ich schaue mich um und das Grauen packt mich. Neben dem Reitweg stehen drei große Eichen und an einer von ihnen hängt ein menschlicher Körper. Oh mein Gott, wie schrecklich! Mir wird ganz schlecht, aber ich muss erst mal das Pferd von hier wegbringen.

Alibaba tänzelt immer noch wie wild und schnaubt aufgeregt. Ich reite ein Stück weiter, steige ab und binde ihn an einem Baum fest, von hier aus kann er die Leiche nicht mehr sehen. Ich spreche beruhigend auf ihn ein und langsam kommt er zur Ruhe. Mit zitternden Händen hole ich mein Handy aus der Jackentasche, um die Polizei anzurufen, dabei fällt die Visitenkarte von Kommissar Meier heraus. Die habe ich total vergessen, aber umso besser, bei einem Toten ist er doch zuständig. Ich wähle die Nummer und warte. Mir kommt es wie eine Ewigkeit vor, bis am anderen Ende der Leitung eine Männerstimme ertönt: »Meier hier, wer stört?«

»Hier ist auch Meyer! Sie wissen schon, aus dem Kosmetiksalon. Sie müssen sofort kommen, ich habe eine Leiche gefunden!«

»Ach, haben Sie eine Kundin mit Keksen zu Tode gefüttert?«

Ich kann direkt hören, wie er dabei grinst. »Sie kommen sich wohl sehr witzig vor!« Ich koche vor Wut. »Bewegen Sie Ihren Hintern gefälligst hier raus zum Wald und schneiden Sie den armen Kerl vom Baum ab!« Meine Stimme muss wohl anders als sonst geklungen haben, weil es einen kurzen Moment still wird. »Herr Meier, sind Sie noch dran?«

»Sie meinen das wohl wirklich ernst!« Mit einem Schlag verliert seine Stimme die Fröhlichkeit und er wird sachlich. »Wo genau sind Sie?«

Ich beschreibe ihm genau den Weg und füge noch hinzu: »Aber lassen Sie bitte an ihren Fahrzeugen die Sirenen und Blaulichter aus, mein Pferd dreht sonst durch.«

»Ach, ein Pferd!«, seine Stimme klingt erstaunt. »Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, was Sie um die Uhrzeit im Wald so treiben, aber bei Ihnen scheint man ja vor keiner Überraschung sicher zu sein.«

Ich verkneife mir eine unfreundliche Bemerkung und schalte das Handy einfach aus, soll er doch denken, was er will.

Es dauert eine ganze Weile, dann kommen sie anmarschiert. Herr Meier mit Hund vorneweg und fünf weitere Leute im Gänsemarsch hinterher. Ihre Autos haben sie auf dem nahegelegenen Waldparkplatz abgestellt. Ich gehe ihnen entgegen und gemeinsam laufen wir zu den drei großen Eichen. Die Männer begeben sich gleich an die Arbeit, machten Fotos und schneiden den armen Kerl vom Baum. Vorsichtig legen sie ihn auf den Boden und der Gerichtsmediziner untersucht sofort den Toten.

Ich stehe etwas abseits, um niemanden zu stören, aber irgendwie kommt mir der Tote bekannt vor. In der Zwischenzeit haben die Leute von der Spurensicherung den Tatort mit rot-weißem Absperrband gesichert und zusammen mit Herrn Meier suchen sie die Umgebung nach Spuren und Beweisen ab. Ich will schon zurück zu meinem Pferd gehen, weil ich mir ein bisschen unnütz vorkomme, da winkt mich Herr Meier zu sich heran.

»Ich weiß, es ist ziemlich viel verlangt, aber könnten Sie mal einen Blick auf den Toten werfen? Vielleicht erkennen Sie ihn, uns ist er völlig unbekannt und er hat auch keine Papiere bei sich.«

Zögernd komme ich näher und erstarrte vor Schreck. Der Mann ist übel zugerichtet, aber ich erkenne ihn trotzdem. »Das ist Herr Berg, der Besitzer vom Buchladen ›Schrift und Bild‹ aus der Tristanstraße 9. Ich habe heute Morgen noch mit ihm telefoniert. Oh mein Gott, wer macht denn so etwas?« Schaudernd wende ich mich ab. »Das verstehe ich nicht«, traurig schaue ich Herrn Meier an. »Er war so ein netter, älterer Herr, immer hilfsbereit und freundlich. Das hat er wirklich nicht verdient. Es tut mir sehr leid!«

Der Kommissar blickt mich mitfühlend an. »Sie müssten morgen zum Revier kommen, damit wir Ihre Angaben zu Protokoll nehmen können.«

»Ja, selbstverständlich. Ich kann morgen früh um acht Uhr dort sein.« »Sehr gut, warten Sie. Ich begleite Sie noch zu Ihrem Pferd.«

Wir gehen gemeinsam zu Alibaba, der uns schon erwartungsvoll entgegen blickt. Er steht ganz ruhig, nur seine Ohren spielen und in der untergehenden Sonne glänzt sein Fell wie flüssiges Kupfer.

»Hey, das ist ja eine richtige Schönheit!« Herr Meier blickt bewundernd mein Pferd an. »Ein herrlicher Fuchs!«

»Oh ja, und das weiß er ganz genau!« Lächelnd klopfe ich Alibaba den Hals. »Er hat übrigens noch einen Bewunderer, schauen Sie mal.« Ich zeigte auf seinen Hund, der schwanzwedelnd zu meinem Pferd aufblickt.

»Ja, Falk liebt Pferde, sein vorheriger Besitzer hatte auch ein Pferd, aber leider kam der Mann bei einem Einsatz ums Leben. Er war auch Polizist.«

»Das ist traurig, aber bei Ihnen hat er es sicher auch nicht schlecht.« Ich krame in meiner Jackentasche. »Hier Falk, ein bisschen was zu knabbern für dich.«

»Was, schon wieder Kekse?« Der Kommissar verzieht sein Gesicht. »Frau Meyer, ich habe es Ihnen doch schon gesagt!«

Ich unterbreche ihn schnell: »Keine Panik, das sind nur Pellets, gepresstes Grünzeug für Pferde, völlig harmlos, aber Hunde mögen so etwas auch.« Ich halte dem Hund die Pellets vor die Nase, er schnüffelt kurz und verschlingt sie auf der Stelle. »Na, was habe ich gesagt!« Triumphierend schaue ich sein Herrchen an.

»Frau Meyer, Sie sind unverbesserlich!« Ein leichtes Lächeln ist in seinem Gesicht. »Das war jetzt aber das letzte Mal und nun machen Sie, dass Sie nach Hause kommen, es wird schon dunkel.«

»Oh keine Sorge, ich habe ein schnelles Pferd.« Ich steige auf und sehe den Kommissar noch einmal beschwörend an. »Bitte finden Sie schnell diesen Verbrecher, der das dem armen Herrn Berg angetan hat.«

Er nickt mir zu. »Wir kümmern uns darum, dass verspreche ich Ihnen.«

Ich hebe die Hand noch mal zum Gruß und schnalze kurz mit der Zunge, aber Alibaba braucht keinen Ansporn. Er will auch nach Hause. Er springt los und fällt sofort in Galopp, innerhalb kürzester Zeit sind wir aus dem Blickfeld des Kommissars verschwunden. Wir passieren den Waldrand und vor uns liegt freies Feld, so dass ich Alibaba die Zügel freigeben kann. Er streckt sich und geht sofort in Renngalopp über und bevor die völlige Dunkelheit hereinbricht, sind wir wieder am Stall angekommen, wo uns ein besorgter Ben schon entgegen kommt.

»Mensch Frau Meyer, Sie waren heute aber lange unterwegs. Ich habe mir schon Sorgen gemacht«, sein sonst so fröhliches Gesicht sieht kummervoll aus.

»Das ist ganz lieb von dir, aber mit uns beiden ist alles in Ordnung.« Ich steige vom Pferd und lege ihm beruhigend meine Hand auf die Schulter. »Du wirst staunen, was wir beide heute erlebt haben, komm, wir bringen Alibaba in den Stall und ich erzähle dir alles.«

Wir putzen beide das Pferd, säubern die Hufe und dabei berichte ich Ben den Vorfall. Es tut mir gut, noch mal über die Erlebnisse zu sprechen.

Bens Augen werden bei meiner Erzählung immer größer. »Wow, so was passiert mir nie!«

»Na, ich hätte auch gut darauf verzichten können«, sage ich zum Abschluss und schiebe den Boxenriegel zu. »So, Alibaba ist versorgt und ich fahre jetzt nach Hause in der Hoffnung, ein bisschen Schlaf zu finden. Morgen früh um acht muss ich schließlich auf dem Polizeirevier erscheinen.«

Wir verabschieden uns vor dem Stall noch einmal voneinander, dann steige ich in meinen Wagen und fahre nach Hause.

In dieser Nacht finde ich natürlich keinen Schlaf, immer wieder taucht in meinen Träumen der erhängte Herr Berg auf. Ich stehe völlig übernächtigt und entnervt am nächsten Morgen um fünf Uhr auf. Eine kalte Dusche und ein extra starker Kaffee wecken langsam meine Lebensgeister, aber als ich in den Spiegel schaue, erschrecke ich vor mir selbst, dunkle Augenringe und bleiche Haut starren mich an. »Mensch Sandy, siehst du Scheiße aus«, murmele ich vor mich hin, »da hilft nur eine extra Portion Make-up.« Als ich mich einigermaßen renoviert habe, setze ich mich mit der dritten Tasse Kaffee an meinen Schreibtisch und gehe meine Liste für den heutigen Tag durch. Freitag, der 10. Mai: Polizeirevier acht Uhr, anschließend Kunden bis fünfzehn Uhr, danach Wochenendeinkauf und abends zum Pferd. Dieser geordnete Tagesablauf soll sich allerdings sehr schnell drastisch ändern.

Das Polizeirevier ist in einer halben Stunde mit dem Auto zu erreichen, also fahre ich um sieben Uhr dreißig von zu Hause los. Ich muss auf dem Weg dorthin auch durch die Tristanstraße fahren. Die Straße, in der das Buchgeschäft des verstorbenen Herrn Berg liegt, doch als ich an dem Geschäft vorbeifahre, stutze ich. Da stimmt etwas nicht. Die Ladentür steht weit offen, aber es ist kein Licht im Geschäft zu sehen, dabei weiß ich, dass man auch bei schönstem Sonnenschein immer die Beleuchtung im Inneren des Ladens einschalten muss. Die beiden großen Linden vor dem Haus haben Schuld daran. Sie lassen kein Sonnenlicht durch, deshalb hat Herr Berg mehrere wunderschöne Tiffany-Lampen im Laden installiert, um, wie er sagte, eine bessere Atmosphäre zu schaffen. Das war ihm auch sehr gut gelungen.

Ich wende den Wagen, suche mir einen freien Parkplatz und steige aus. Ich will mir das mal aus der Nähe ansehen. Eine innere Stimme treibt mich dazu, den Laden zu betreten.

Ich betätige den Schalter, der gleich rechts neben der Eingangstür ist, und bin erleichtert, als das Licht angeht, aber auf dieses vollständige Chaos bin ich überhaupt nicht vorbereitet. Alles ist verwüstet, Bücher sind aus den Regalen gerissen, teilweise zerrissen, dazwischen liegen Glasscherben von einigen Tischleuchten. Die drei weißen Kaffeehaustische und die passenden Stühle dazu sind umgeworfen, es herrscht ein heilloses Durcheinander. Die Tür zum angrenzenden Büro und Lager steht auch weit offen, dort herrscht dasselbe Bild. Ein eigentümlicher, süßlicher Geruch kommt mir von dort entgegen. Ich gehe zaghaft etwas weiter in den Raum hinein und pralle entsetzt zurück.

Zwei leere, tote Augen starren mich an! Ich kann einen Schrei nicht unterdrücken. An ein Eckregal gelehnt sitzt der Lehrling von Herrn Berg auf dem Fußboden, mit durchgeschnittener Kehle und um ihn herum ist eine große Blutlache. »Oh mein Gott, nur raus hier«, ist mein erster Gedanke.

Ich stolpere rückwärts, falle hin und rappel mich wieder auf, dann stürze ich zur Eingangstür und bin endlich draußen. In Panik renne ich zu meinem Wagen, schließe ihn mit zitternden Händen auf, steige ein und verriegle gleich danach die Türen. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich reglos im Wagen gesessen habe, als plötzlich mein Handy klingelt. Ich nehme den Anruf entgegen, obwohl mir die Nummer unbekannt ist und da ich noch ziemlich unter Schock stehe, flüstere ich nur ein schwaches » Hallo«.

»Frau Meyer, sind Sie das?«, ertönt eine verärgerte Männerstimme. »Verdammt noch mal, wo stecken Sie denn, wir hatten um acht Uhr einen Termin und ich musste mir erst ihre Handynummer von Frau Sommer geben lassen.«

Ach herrje, der Kommissar. Den habe ich total vergessen. »Sie müssen schnell kommen, in die Tristanstraße 9, es ist etwas Fürchterliches passiert.« Meine Stimme klingt ziemlich kläglich.

»Moment mal, da ist doch der Buchladen des Toten, was zum Teufel machen Sie dort?«, knurrt er mich an.

»Ich befürchte, Sie werden nicht erfreut sein, aber hier gibt es noch einen Toten«, sage ich kleinlaut.

Sekundenlang ist Ruhe am anderen Ende der Leitung. »Hallo, Herr Meier?«

»Das darf ja wohl nicht wahr sein!« In seiner Stimme liegt unterdrückte Wut, aber auch Erstaunen und fast so etwas wie Besorgnis. »Wo sind Sie jetzt gerade?«

»Im Auto!«

»Dann bleiben Sie dort, wir werden gleich bei Ihnen sein.«

Ich muss nicht lange warten, nach fünfzehn Minuten biegen vier Wagen mit Blaulicht in die Tristanstraße ein und halten vor dem Buchgeschäft. Herr Meier hat mich natürlich sofort entdeckt, gibt seinen Leuten noch einige Anweisungen und kommt dann zu mir. Ich entriegle hastig die Tür, weil er ziemlich wütend aussieht.

Der Kommissar reißt auch gleich die Fahrertür meines Wagens auf und schnauzt mich an: »Was zum Teufel machen Sie hier, ich habe mich doch wohl klar ausgedrückt, um acht Uhr auf dem Polizeirevier!«

Bei diesen scharfen Worten steigt auch in mir die Wut hoch. »Schreien Sie mich gefälligst nicht so an, das können Sie von mir aus mit Ihren Leuten machen und außerdem, Herr Meier, kümmern Sie sich lieber um die zahlreichen Leichen, die sich in Ihrem Bezirk so ansammeln.«

»Ja, schon merkwürdig! Die Leichen, über die Sie ständig stolpern, Frau Meyer!«

»Was soll das denn heißen? Bin ich vielleicht jetzt der Mörder?« Ich funkle ihn empört an.

»Sie werden es kaum glauben, dieser Gedanke spukte sogar schon einmal durch meinen Kopf, aber …«, er fängt plötzlich an zu grinsen, »nur ganz kurz.«

Das ist doch wohl eine Frechheit! Ich hole gerade tief Luft, um meinen Ärger los zu werden, da gibt er mir ganz überraschend einen leichten Kuss auf den Mund, lächelt und meint: »Sehen Sie, jetzt ist wieder Farbe in ihrem Gesicht.« Mit diesen Worten dreht er sich um und geht mit raschen Schritten zum Buchladen, spricht kurz mit dem Beamten vor der Tür und verschwindet dann im Inneren des Geschäftes.

Ich blicke ihm sprachlos hinterher, meine Gedanken wirbeln durcheinander und haben momentan sehr wenig mit einem Toten zu tun, eher mit diesem verdächtig gut aussehenden Kommissar. Ich werde aus ihm nicht schlau, also bleibe ich im Wagen sitzen und warte das weitere Geschehen ab.

In der Zwischenzeit haben sich schon einige Schaulustige vor dem Buchladen eingefunden und der Beamte draußen vor der Tür hat Mühe, diese neugierigen Leute vom Tatort fernzuhalten. Ach herrje, ich versuche mich ganz klein im Auto zu machen, aber es nützt nichts, sie hat mich schon entdeckt. Frau Schulz, eine nervige Nachbarin und Kundin von mir, steuert entschlossen auf mich zu. Dass diese Dame unter den Schaulustigen steht, ist im Grunde genommen für ihre Verhältnisse ganz normal. Sie wohnt noch nicht lange hier, aber ich kenne keine andere Frau, die dermaßen neugierig ist.

Ich lasse das Wagenfenster herunter und lächle gezwungen, weil ich weiß, dass ich die nächste halbe Stunde nicht viel zu Wort kommen werde und richtig, schon geht es los. »Frau Meyer, schön, dass ich Sie hier treffe, nun sagen Sie mal, dieser Einbruch hier in unserer Gegend, einfach skandalös, na ja, wer weiß, mit welchem Gesindel die Leute alles verkehren und dieser unfreundliche Beamte dort hinten«, theatralisch zeigt sie zum Buchgeschäft, »wollte mir auch keine Auskunft geben.«

Ich verkneife mir ein Grinsen, das geschah ihr recht.

»Ich brauche übrigens noch einen Termin bei Ihnen, am besten so schnell wie möglich, ich habe am Dienstag ein Date, na, Sie wissen schon!« Frau Schulz kichert albern und fährt sich mit ihrer frisch manikürten Hand durch ihr frisch gefärbtes und frisiertes Haar. Sie ist eine schlanke, für ihre fünfundfünfzig Jahre noch sehr gut aussehende Frau, immer modisch gekleidet, Single und auf der Jagd nach jüngeren Männern.

Das alles ist mir eigentlich momentan völlig egal, wenn sie bloß nicht ein so nervtötendes Wesen hätte, aber ich werde nicht verschont, es geht gleich weiter.

»Frau Meyer, sagen Sie mal, hat ihr Ältester eine neue Freundin? Die war doch vorher blond, oder?«

Ich will gerade zähneknirschend etwas erwidern, da bekommt Frau Schulz einen verzückten Blick, fährt sich mit ihrer Zunge über die grellrot geschminkten Lippen und wirft sich in Positur. Aha, etwas Männliches kommt in ihr Blickfeld. Ich drehe den Kopf und ziehe leicht irritiert meine Augenbrauen hoch. Der Kommissar kommt geradewegs auf uns zu. Na, das kann ja heiter werden.

Der gute Herr Meier macht allerdings einen schweren Fehler, in dem er meiner Nachbarin nur kurz zunickt und mich auffordert, unter vier Augen mit ihm zu sprechen. Frau Schulz kann eines gar nicht vertragen, wenn nämlich ein Mann sie übersieht. Sie baut sich vor dem Kommissar auf, klimpert mit den Wimpern und wirft ihm einen verheißungsvollen Blick zu. »Frau Meyer«, flötet sie, »bitte stellen Sie mir doch mal diesen überaus ansehnlichen Herrn vor.«

Der Kommissar schaut verblüfft erst Frau Schulz und dann mich an, zieht unwillig die Augenbrauen zusammen und gibt ihr sichtlich ungern die Hand. Ich beeile mich mit der Vorstellung. »Herr Hauptkommissar Meier, das ist Frau Schulz, meine Nachbarin.«

»Sehr angenehm«, murmelt er, lässt aber sofort ihre Hand los und geht zwei Schritte zurück.

Sehr irritiert, dass sie nicht den erwarteten Erfolg bei ihm hatte, schaut sie erst ihn und dann mich an. »Ein Kommissar, das ist ja sehr interessant«, doch bei diesen Worten hat sie mit einem Mal so einen kalten Blick in den Augen, dass ich erschrecke. Das dauert nur Sekunden, dann schaut sie wieder ganz normal.

»Ich hoffe, Sie können Ihren derzeitigen Fall schnell abschließen, damit Sie wieder mehr Zeit für die angenehmen Dinge des Lebens haben, Herr Kommissar.« Sie sieht ihn herausfordernd an, aber Herr Meier ignoriert diese Andeutung und knurrt nur ein undeutliches »Mal sehen«.

Frau Schulz versucht es noch mal. »Sie heißen also auch Meier, das habe ich doch richtig verstanden, welch ein lustiger Zufall, dass Sie beide so heißen, nicht wahr?«

Ein kurzes Aufblitzen seiner grauen Augen und ein gefährliches Lächeln erhellen plötzlich die Züge des Kommissars. Ich ahne nichts Gutes, doch bevor ich noch etwas sagen kann, öffnet er meine Autotür, zieht mich aus dem Wagen und küsst mich.

Ich bin so überrascht, dass ich zu keiner Gegenwehr fähig bin, danach legt er den Arm um mich und sagt doch tatsächlich: »Frau Schulz, Ihnen können wir es doch anvertrauen, es ist kein Zufall, wir sind frisch verheiratet!«

Mein Gesicht brennt und sieht garantiert rot wie eine Tomate aus. Ich bringe allerdings keinen Ton heraus, es ist mir zu peinlich, allerdings weiß ich jetzt, warum einige Menschen zu Mördern werden. Ich habe momentan auch solch merkwürdige Gedanken.