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GESTALTUNG UND SATZ:

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1. Auflage 2019

ISBN 978-3-946112-35-8

Johannes Chwalek

GESPRÄCHE
AM TEETISCH

Roman

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Meiner Tochter Olivia Schilke

INHALT

Die Misshandlung meiner Schwester

Tagebuchaufzeichnungen

Gespräche am Teetisch

Das Frühlingsfest

Mein biologischer Vater muss zum Gespräch mit dem Rektor

Nachtrag

Die Misshandlung meiner Schwester

Die Misshandlung meiner Schwester veränderte mein Denken. Nicht sofort natürlich, nicht während ihrer Schreie, die durch das Einfamilienhaus gellten, aber seine Mauern nicht durchdrangen, dass vielleicht Hilfe von außen gekommen wäre. Ich war zehn Jahre alt und stand im Erdgeschoss, von wo ich nach oben in den ersten Stock lauschte, zusammen mit meinen beiden jüngeren Halbgeschwistern, den Kindern der Schlägerin, die nicht geschlagen wurden. Im Einfamilienhaus, in dem ich gezwungen war zu leben – warum war das so? – spielte sich ab, was aus Märchen bekannt ist: Die Stiefmutter prügelte meine vier älteren Geschwister und mich, aber nicht ihre eigenen Kinder. Zur prügelnden Stiefmutter gehörte ein Vater, der wegsah und nicht wahrhaben wollte, was in seinem Haus geschah, während er seiner Arbeit nachging in einer anderen Stadt, wohin die Schreie seiner geprügelten Kinder niemals dringen konnten. So war die Situation in jenem Einfamilienhaus in einer pfälzischen Kleinstadt um das Jahr 1970 herum. Wahrscheinlich hatten die beiden – mein biologischer Vater und die Stiefmutter – eine stillschweigende Verabredung getroffen: geprügelt wird, wenn der Mann auf der Arbeit ist. Sobald die Stiefmutter auch in Gegenwart ihres Mannes handgreiflich wurde, durfte sie über Ohrfeigen nicht hinausgehen, sonst schritt ihr Ehemann ein mit Worten wie: „Marion, jetzt ist aber Schluss!“, oder so etwas in der Art. Die Stiefmutter hörte dann auf, sie wusste, dass der nächste Werktag morgen oder übermorgen war, an dem sie ihren Gewaltausbrüchen hinter schallsicheren Einfamilienhaus-Mauern wieder freien Lauf lassen konnte.

Das Prügel-Einleitungsritual zur Misshandlung meiner Schwester Gerlinde hörte sich so an: «Du kannst alles lesen, Mutti», klang ihre wimmernde Stimme.

«Nein, ich will nur lesen, was du gestern Abend geschrieben hast», entgegnete die Stiefmutter.

«Nein, du kannst alles lesen», wiederholte Gerlinde sinnlos.

Einen Moment trat Stille ein. Die Stiefmutter überflog die handschriftlichen Tagebuch-Zeilen meiner Schwester – die sie natürlich vorher schon ausspioniert hatte, als Gerlinde noch in der Schule gewesen war. Aber sie wollte sich den Anschein von Rechtmäßigkeit geben und tat deshalb so, als lese sie das, was Gerlinde geschrieben hatte, zum ersten Mal. Auch ihr Empörungsausruf vor der Misshandlung war noch gespielt und hörte sich ungefähr an wie: «Was, du bist nicht einmal bereit, dem Papa Bratkartoffeln zu machen!»

Dann schlug sie meine Schwester nieder, griff mit beiden Händen in ihre Haare und riss sie auf und ab, hin und her, prügelte wieder auf sie ein und riss wieder an den Haaren. Ich wusste es so genau, weil ich selbst schon oft genug dieses Schicksal geteilt hatte.

Die gellenden Schreie Gerlindes, die nicht aufhören wollten, legten sich wie Riesenschlangen um mich und drückten zu; jeden einzelnen meiner Muskeln, bis ich vollkommen erstarrt war; es war ein Fluch zu leben.

Am Abend in der Küche hielt die Schlägerin vor meinem biologischen Vater und meiner Schwester ihre Rechtfertigungsrede. Natürlich sprach sie nicht von Misshandlung, sondern von Bestrafung – notwendiger Bestrafung, die sich Gerlinde allein zuzuschreiben hätte, weil sie doch tatsächlich die Unverfrorenheit besessen habe, in ihr Tagebuch zu schreiben, dass sie dem Vater keine Bratkartoffeln bereiten, sondern lieber einen Fernsehfilm schauen wollte. Bei so viel Undankbarkeit höre sich doch wirklich alles auf.

Mein biologischer Vater sah seine Tochter an – ich will nicht ausschließen, dass ihm die Zerstörung an ihr aufgefallen war, weil er nicht nur gebildeter, sondern in gewissem Sinne feinsinniger war als seine Ehefrau. Aber diese Eigenschaften veranlassten ihn zu keinerlei Protest ihr gegenüber. Er begnügte sich mit der Floskel, dass Gerlinde „so etwas“ doch nicht tun dürfe. Dann schickte er sie ins Bett und hoffte, dass es nun wieder gut war und er seine Ruhe hatte. Wieder nahm er die Misshandlung eines seiner Kinder aus seiner ersten Ehe hin. Wieder riskierte er ein nächstes Mal, wenn er seiner Arbeit nachging in einer anderen Stadt, wohin die Schreie seiner geprügelten Kinder niemals dringen konnten.

An diesem Abend lag ich im Bett lange wach. Noch am vergangenen Sonntag hatte mein biologischer Vater am Mittagstisch ein bekanntes Wort zitiert, das er Voltaire zuschrieb: „Ich bin absolut nicht Ihrer Meinung, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie Ihre Meinung sagen können!“

Was war das? Was bedeutete das? Hatte die Zitation dieses Satzes irgendeinen Sinn? Offensichtlich nicht in seinem eigenen Haus. Offensichtlich nicht für uns Kinder seiner verstorbenen ersten Frau. Für uns galten andere Gesetze. Die Gesetze der Demütigung und Brutalität an den Wochentagen. Und die der Heuchelei und des Geschwätzes am Wochenende. Und trotzdem: Ein Zusammenhang musste bestehen! Wie war er herauszufinden?

Noch etwas beschäftigte mich fieberhaft, während ich am Abend dieses erneuten Misshandlungstages, diesmal an Gerlinde, im Bett lag. In den Nachrichten war in jener Zeit von dem russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn die Rede. Er wurde vom sowjetischen Geheimdienst verfolgt wegen seiner Bücher. Mein biologischer Vater ereiferte sich gerne darüber und schimpfte auf „die Russen“ und „die Kommunisten“. Seine Frau sagte nichts dazu, sie wäre dazu nicht imstande gewesen, aber sie war der Meinung, dass ihr Mann recht hatte und „die Russen“ und „die Kommunisten“ böse Menschen wären …

Ich lag im Bett und schrieb im Geist die Begriffe auf, die mir durch den Kopf gingen:

Tagebuchschreiben, geschlagen werden

Große Reden halten

Alexander Solschenizyn

In ein Tagebuch gehörte, was man erlebte oder erleben musste. Und was man darüber dachte. War das nicht großartig: schreiben zu können, was ich erlebte oder erleben musste sowie was ich darüber empfand und dachte? Konnte ich die Riesenschlangen, die jederzeit zum erstickenden Zudrücken bereit waren, zum ersten Mal vielleicht auch nur ein klein wenig abwehren?

An diesem Abend beschloss ich, ein Tagebuch zu führen. Aber keines, von dem ich Angst haben musste, dass es die Stiefmutter ausspionierte, sondern eines im Geist. Ein frischer Windzug streichelte mich. Sollte ich nicht sofort damit beginnen? Ich glaube, das war der Moment, in dem ich einschlief.

Am nächsten Morgen hörte ich im Bett das Auto meines biologischen Vaters aus der Einfahrt fahren. Nun begann wieder die gefährliche Zeit. Bis zum Abend gegen achtzehn Uhr dreißig, wenn das Motorengeräusch des in die Einfahrt biegenden Autos zu hören war, stand ich unter Angstspannung, dass ich etwas falsch machen und der Stiefmutter einen Anlass geben könnte, zu ihrem Opfer zu werden. Es passierte von einer Sekunde zur anderen: Eine Tasse fiel mir aus der Hand, irgendetwas hatte ich vergessen, gegen irgendetwas stieß ich, oder ein falsches Wort entschlüpfte mir – und die Katastrophe, angeschrien, verflucht und geprügelt zu werden, brach über mich herein. Insgeheim wusste ich längst, dass die Ursache jeden Anlasses ich selbst war, meine bloße Existenz – aber warum das so war, wusste ich nicht. Warum war das so?

Eine erwünschte werktägliche Frist bildete der Schulvormittag, an dem ich der Stiefmutter entzogen war, aber danach dehnten sich die Nachmittagsstunden in den Mauern des Einfamilienhauses umso länger. Schon wenn die sechste Unterrichtsstunde anbrach, beschlich mich ein beklemmendes Gefühl, die Riesenschlangen wurden lebendig und grinsten mich an. Innerlich schrie ich ihnen entgegen:

Ich schreibe euch auf! Ich beschreibe euch genau! Alles wird zu lesen sein über euch! Alles!

Schwer ging mein Atem, aber niemand im Klassensaal durfte es merken.

Auf der Rückfahrt vom Gymnasium in die Kleinstadt blickte ich nur schweigsam vor mich hin. Auf der Hinfahrt erlebten mich die Kameraden anders. Einem von ihnen fiel dies einmal auf, er fragte mich nach dem Grund, aber ich druckste herum und konnte es ihm nicht sagen. In der Grundschule hatte ich einem Mitschüler einmal bekannt, dass ich lieber in der Schule als zu Hause sei. Er machte große Augen und verlangte eine Erklärung. Da verließ mich der Mut – oder ich fand nicht die Worte, die nötig gewesen wären. Ich sagte, dass ich so viel arbeiten müsse zu Hause, deshalb sei ich lieber in der Schule.

Der Bus hielt an der Kirche St. Galderic in der Altstadt, gegenüber befand sich das Haus meiner Großeltern, wo ich mein Fahrrad abgestellt hatte. Meine Großmutter wartete immer schon am Tor und ließ mich in den Hof treten.

Ich will hierbleiben, schrieb ich in mein Tagebuch im Geist, ich will nicht dorthin! Aber ich grüßte nur meine Großmutter und schob mein Fahrrad aus dem Tor auf die Straße.

An einem Sommertag sagte die Stiefmutter: «Ich muss wegfahren und bin erst am Abend zurück. Heute kommt ein Brief von deiner Schule», sie sah mich geringschätzig an, «den legst du in die Garage unter die Werkzeugkiste. Hast du verstanden?»

«Ja.»

«Was sollst du mit dem Brief machen?»

«In die Garage unter die Werkzeugkiste legen.»

«Vergiss es nicht, sonst gnade dir Gott!»

«Ich vergesse es nicht.»

Die Formulierung „sonst gnade dir Gott!“ verwendete sie oft. Was sie zu bedeuten hatte, wusste ich nicht genau, aber dass sie als Drohung aufzufassen sei, war mir klar.

Vor der Stiefmutter kam mein biologischer Vater von der Arbeit zurück und fragte mich in der Küche nach der Post. Ich berichtete ihm vom Brief in der Garage unter der Werkzeugkiste.

«In der Garage unter der Werkzeugkiste?», fragte er.

«Die Mutti hat gesagt, ich soll ihn dorthin bringen.»

Er sah mich einen Moment an und meinte dann: «Das wird der Brief von der Schule sein … wegen deiner Versetzung … hol ihn mal.»

Ich lief und holte den Brief. Er öffnete ihn, las und sagte: «Nicht versetzt. Das tut mir leid. Aber wenn man immer nur geschimpft wird, kann man ja auch nicht lernen.»

Mit diesem Verständnis hatte ich nicht gerechnet. Ich erwiderte nur schüchtern: «Ja.» Aber in einer entfernten Region meines Gehirns machte sich die Frage bemerkbar, warum er mich in diesem Zustand beließ, wo ich immer nur geschimpft wurde.

Er blickte mich wieder an und sagte den zweiten Satz, der mich verblüffte: «Du kommst in ein Internat. Am Samstag ist der Vorstellungs- und Anmeldetag.»

Ein Internat? Weg aus dem Einfamilienhaus mit der Stiefmutter und dem biologischen Vater? Mein Instinkt signalisierte mir, dass dies großartig wäre, dass mir nichts Besseres passieren konnte!

«Wo ist das Internat?», fragte ich.

«In B., ich wollte dich zuerst nach H. geben, aber da ist es zu teuer.»

Durch das Küchenfenster sahen wir, wie die Stiefmutter, die zwischenzeitlich eingetroffen war, mit verdutztem Gesichtsausdruck aus der Garagentür kam und zu uns hinüberblickte.

Am Samstag fuhr ich mit meinem biologischen Vater zum Internat nach B. Es war ein Gebäude wie ein Schloss, umgeben von einem großen Garten, einem Sandballplatz mit zwei Toren und großen Bäumen. Wir stiegen eine steinerne Treppe zum Hauptportal mit zwei mächtigen Holztüren hoch, standen in einem Zwischenraum und wurden von zwei Schülern, die linker Hand in einem Pfortenzimmer saßen, durch ein Schiebefenster begrüßt. Sie teilten uns mit, dass wir zur Anmeldung in den zweiten Stock hochzugehen hätten, wo wir eine Beschilderung sähen.

Im Treppenhaus sagte ich verwundert: «So große Treppen!»

«Hier wohnen auch viele Schüler.»

Der Satz freute mich. Vielleicht könnte ich einer dieser vielen Schüler sein, weg von der Stiefmutter, weg vom biologischen Vater, weg vom Einfamilienhaus in der pfälzischen Kleinstadt! Einer unter vielen! Genauso behandelt wie alle anderen! Unbeachtet in der Menge! Einfach nur ein Kind! Wenn es doch so käme!

Ein Hinweisschild lotste uns auf den rechten Gang, wo wir eine Schlange Wartender erblickten: Väter, Mütter und Buben in meinem Alter. Wir stellten uns hinten an, aber es dauerte nicht lange, bis wir nicht mehr die Letzten waren. Die Erwachsenen schauten aneinander vorbei und wenn sie etwas sagten, klang es generös und überlegen. Auch die Buben bei den Erwachsenen schauten sich nur aus kurzen Seitenblicken an und wenn sie ihren Vätern oder Müttern etwas antworten sollten, taten sie es so leise, dass die Väter oder Mütter manchmal nachfragen mussten, weil sie es nicht verstanden hatten. Die Tür, auf die wir alle starrten, ging im Abstand von ungefähr fünf Minuten auf, Väter und Mütter traten mit ihren Söhnen heraus; die meisten machten einen zufriedenen Eindruck. Wir rückten vor und konnten bald das kleine metallene Schild lesen, das an die Tür geschraubt war und in zwei Zeilen bekannt gab: Karlheinz Gerbner/Rektor.

Linker Hand sah ich durch ein Fensterglas in der Tür auf einen großen Schlafsaal. Zwei lange Bettreihen mit Nachttischen standen an den beiden Längsseiten der Wände und waren durch einen Mittelgang voneinander getrennt, der von einem grauen Teppichläufer bedeckt wurde. Zwei Säulen auf der rechten Bettseite stützten die hohe Decke.

Die Decken im Internat sind sehr hoch, überlegte ich, unten im Foyer, im Treppenhaus, hier im Gang, im Schlafsaal … Plötzlich fiel mir der Satz ein: Viel Luft zum Atmen. Könnte eines dieser Betten vielleicht bald mir gehören?

«Komm, wir sind dran», sagte mein biologischer Vater.

Der Rektor saß hinter seinem Schreibtisch, ein wohlbeleibter Mann in dunkler Kleidung und mit einem kleinen weißen Kragenteil am Hals, den ich betrachtete. Er schaute mich mit unbewegtem Gesicht an. Mit meinem biologischen Vater sprach er ruhig einige Sätze und fragte mich wohl auch etwas, um mich einmal reden zu hören. Durfte ich der Szene entnehmen, dass das Internat auf mich wartete, sobald das neue Schuljahr nach den Sommerferien beginnen würde?

«In Ordnung», sagte mein biologischer Vater, sobald wir das Rektor-Zimmer wieder verlassen und den Gang bis zum Treppenhaus erreicht hatten, «im neuen Schuljahr bist du hier!»

Eine Tür ging in mir auf. Die Riesenschlangen fielen zu Boden und krochen nur noch neben mir her. Aber das war schon eine unerwartet große Erleichterung! Und welches Freudige würde mich hier noch erwarten, sobald die Sommerferien vorüber wären! In mein Tagebuch im Geist schrieb ich:

Die Sommerferien sollen vorbei sein! Jetzt! Sofort! Auf der Stelle!

Im Einfamilienhaus in der pfälzischen Kleinstadt spürte ich einen anderen Blick der Stiefmutter auf mich gerichtet: einen zufriedenen. Mit ungewohnter Energie versah sie meine Wäschestücke mit Namensschildchen, wie es auf einem Faltblatt des Internats für Neuankömmlinge gefordert wurde. Sie sprach sogar mit mir in normalem Tonfall, wie ich die Wäsche zu handhaben hätte, die gebrauchte in den Wäschesack und die Sonntagssachen nur sonntags tragen. Ich nickte, sagte ja und war froh, dass ich von ihr wegkam.

An einem Sonntagvormittag füllte mein biologischer Vater ein Formular für das Internat aus. Die Stiefmutter sah ihm über die Schulter und fragte: «Was willst du schreiben bei Grund des Internatsaufenthaltes

«Ich wollte schreiben, dass du krank bist.»

«Nein, ich bin nicht krank!»

«Nein, das bist du nicht.»

«Also schreib etwas anderes!»

«Schon gut, ich schreibe etwas anderes.»

«Also, was schreibst du jetzt?», blieb die Stiefmutter hartnäckig.

Mein biologischer Vater überlegte kurz. «Ich schreibe, dass wir ihn christlich erziehen lassen wollen.»

Damit war die Stiefmutter einverstanden, vergewisserte sich aber noch, dass ihr Ehemann tatsächlich die Antwort des christlichen Erziehungswunsches ins Formular eintrug. Auch im katholischen Internat in B. musste diese Antwort plausibel erscheinen.

Ich dachte an meine Rubriken im Tagebuch im Geist:

Tagebuch schreiben, geschlagen werden

Große Reden halten

Alexander Solschenizyn

Wohin gehörte das Verhalten der Stiefmutter? Wohin gehörte das Verhalten meines biologischen Vaters? Was die Stiefmutter betraf, wusste ich es nicht, ich verstand nur, dass Geschriebenes eine Macht bedeutete, welche die Stiefmutter in Hass oder Angst versetzen konnte. Was meinen biologischen Vater betraf, spürte ich ebenfalls Unsicherheit. Dass er so schnell eingeknickt war – „Schon gut, ich schreibe etwas anderes“ – gehörte vielleicht ins Gegenteil von „Große Reden halten“. Meine Gedanken verwirrten sich. Sollte ich zu jeder Kategorie auch das Gegenteil mitdenken?

Große Reden halten – Ein Feigling sein

Tagebuch schreiben, geschlagen werden –

Tagebuch schreiben, nicht geschlagen werden

Alexander Solschenizyn –?

Zu Alexander Solschenizyn fiel mir kein Gegenteil ein. Trotzdem stand der Name für etwas, das ich herausbekommen wollte. Nicht im Allgemeinen, sondern in Bezug auf das Einfamilienhaus in der pfälzischen Kleinstadt im Jahr 1970, in dem ich noch gezwungen war zu leben. Aber am 27. August sollte ich von dort wegkommen und ins Internat gebracht werden! Der 27. August 1970 war ein Donnerstag. Ein gepriesener Tag!

Ich wusste, dass die Schüler im Internat um sechs Uhr fünfzig geweckt wurden. Jeden Morgen wachte ich um diese Uhrzeit auf, sah auf meine Armbanduhr, die mir die Großeltern zur Kommunion geschenkt hatten, und sprang aus dem Bett, als wäre ich nicht mehr hier, sondern schon dort.

Während der Autofahrt mit der Stiefmutter, meinem biologischen Vater und den beiden jüngeren Halbgeschwistern Ulrike und Karl zum Internat in B. schwieg ich fast immer und beschränkte meine Redeanteile auf kurze Antworten – oft nur ja und nein, nach Fragen der Erwachsenen. Das war nichts Besonderes und fiel deshalb auch nicht auf; die Erwachsenen hielten mein vorrangiges Schweigen für den mir gemäßen Zustand. Was mich betraf, schwang ein inneres Jubeln mit, dass der Tag gekommen war, an dem ich befreit wurde von den Herrschern im Einfamilienhaus in der pfälzischen Kleinstadt; wenigstens für die Schulwochen, die den größten Teil des Jahres ausmachten. An die Ferien und vierzehntägigen Heimfahrwochenenden mochte ich jetzt nicht denken!

Die Leiterin der Unterstufe, Frau Heckl, begrüßte uns und meinte, dass sie uns nun alles zeige und überall hinführe, wo Schriftliches zu erledigen sei. Als erstes sollten wir sie zum Schlafsaalgang begleiten, damit mein Bett bezogen und mein Schrank eingeräumt werden könne. Auf dem Weg durchs Treppenhaus fragte sie, ob ich ein Gesangbuch der Diözese M. habe, was nicht der Fall war. Die pfälzische Kleinstadt gehört zur Diözese L.

«Das braucht er aber», sagte Frau Heckl und unterbreitete sogleich einen Vorschlag: «Wenn wir fertig sind mit allem, können Sie noch in die Stadt fahren und im Schreibwarenladen eines kaufen. Bis zum Abendessen um halb sieben bleibt ja noch genügend Zeit.»

Wir waren zum Schlafsaal gekommen, es handelte sich um den letzten auf dem Gang. Vor einigen Wochen hatte ich durch das Glas der Tür auf die beiden Reihen von jeweils sieben Betten geschaut, neben denen Nachttische standen, und gehofft, dass eines davon bald meine Schlafstätte sein möge. Nun war es tatsächlich eingetreten! Die glückliche Wendung meines Schicksals machte mich unternehmungslustig. Irgendetwas musste ich äußern, das bei der Stiefmutter und dem biologischen Vater eine Irritation auslösen würde; irgendetwas Harmloses, fröhlich und unbekümmert gesprochen! Ich überlegte und versank in Gedanken, als Frau Heckl sagte, wir seien ja nun beschäftigt und sie lasse uns eine Weile allein. Sie sah auf die Uhr.

«In einer halben Stunde treffen wir uns wieder hier am Schlafsaal, gehen dann noch zum Studiersaal zum Pulteinräumen und müssen anschließend bei Herrn Rektor Gerbner und unserer Wirtschafterin Frau Schmolke vorsprechen, einverstanden?»

«Ja», sagte mein biologischer Vater. Die Stiefmutter nickte nur kurz. Sie wartete, bis Frau Heckl weg war und entschied dann, dass mein biologischer Vater mit mir und ihren beiden Kindern in die Stadt fahren solle, um das Gesangbuch zu kaufen, in dieser Zeit wolle sie das Bett beziehen und den Schrank einräumen, „damit es schneller geht“. Den roten Faden dieser Aussage kannte ich: Zu viel Aufmerksamkeit für mich versetzte sie in nervöse und gereizte Unruhe. Sie akzeptierte den unerlässlichen Zeitaufwand, um mich aus ihren Augen zu bringen und ins Internat zu verfrachten, aber darüber hinaus durfte es nicht gehen, sonst schritt sie ein. Ich wartete nur darauf, um ihr eine kleine Spitze zurückzugeben. Es sollte mit dem Tagebuch zu tun haben. Das bloße Wort: Ich will ein Tagebuch schreiben würde sie als Ungehörigkeit empfinden, weil sie wusste, dass ich die Misshandlung Gerlindes wegen ihres Tagebucheintrags mit angehört hatte. Wie konnte ich es nun noch wagen, selbst ein Tagebuch schreiben zu wollen! Hatte ich den Respekt, besser gesagt, die Angst vor ihr verloren? Wollte ich gar noch etwas über sie schreiben und festhalten; vielleicht eine „Unverfrorenheit“ wie meine Schwester, vielleicht noch etwas Schlimmeres …, alles aufschreiben, was ich mit ihr erlebt hatte?

Nur zu sagen Ich will ein Tagebuch schreiben genügte mir nicht. Irgendeinen Anlass dafür brauchte ich. Ich würde abwarten oder müsste mir, falls sich kein Anlass ergäbe, einen Anlass konstruieren!

Das Gesangbuch der Diözese M. war im Schreibwarenladen in B. rasch erstanden. Als wir in den Wagen einsteigen wollten, verlangte Ulrike den Beifahrersitz, auf dem ich auf der Hinfahrt gesessen hatte. Ich geriet in ein kleines Gerangel mit ihr darüber, als mein biologischer Vater Ulrike anschrie, dass ich für sechs Jahre aus dem Haus ginge und niemand sich darum kümmere. Rasch verschwand Ulrike auf dem Rücksitz, schweigend fuhren wir zurück zum Internat. Die innere Wallung meines biologischen Vaters hielt noch eine Weile an. Auf dem Schlafsaalgang wagte er es, seiner Frau zu sagen: «Ich habe gesehen, dass andere Kinder Obst in ihren Schränken liegen haben, das hat Jeannot gar nicht …»

«Dann gib ihm halt Geld, dass er sich morgen welches kaufen kann!», fauchte ihn seine Frau an.

«Schon gut … Ja, das mache ich», sagte mein biologischer Vater im Tonfall sofortiger Unterwerfung.

«Ich habe das Bett bezogen, den Schrank eingeräumt, alles ordentlich hingelegt», sagte die Stiefmutter mit gereiztem Blick auf mich und ihren Ehemann. Anscheinend wollte sie einen Zusammenhang herstellen zwischen diesen Tätigkeiten und der Tatsache, dass ich im Unterschied zu den anderen Internatsschülern kein Obst im Schrank liegen hatte – dergestalt, dass niemand von ihr verlangen könne, an Obst für mich zu denken, wenn sie stattdessen mein Bett beziehe und meinen Schrank einräume.

«Ja, vielen Dank», erwiderte mein biologischer Vater und sah mich herausfordernd an.

«Vielen Dank», sagte auch ich.

Frau Heckl tauchte wieder auf und fragte, ob alles in Ordnung sei, was sie natürlich bejaht bekam.

«Dann gehen wir jetzt runter in den Studiersaal, um das Pult einzuräumen.»