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Über dieses E-Book

Das Leben der 33-jährigen Anja gerät total aus den Fugen, als ihr chronisch bekiffter Lover Andy sie verlässt. Was für ein glücklicher Zufall, dass Anjas Exfreund Jan einen Trip nach Spanien plant. Anja ergreift die Chance und begleitet ihn. Bereits vor der spanischen Grenze beginnt es zwischen den beiden heftig zu knistern und dank der unwiderstehlichen Romantik eines Lavendelfelds landet Anja erneut in Jans Schlafsack. Aber als wäre das nicht schon kompliziert genug, steht plötzlich Andy vor der Tür. Anja ist hin- und hergerissen. Jan oder Andy? Oder besser keiner von beiden?

Impressum

dp Verlag

Überarbeitete Neuausgabe März 2019

Copyright © 2020 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH
Made in Stuttgart with ♥
Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-689-2

Copyright © 2019, dp Verlag
Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2019 bei dp Verlag erschienenen Titels Hasta la Pista (ISBN: 978-3-96087-086-9).

Covergestaltung: Rose & Chili Design
unter Verwendung von Motiven von
depositphotos.com: © OlgaYakovenko
shutterstock.com: © Zularizal, © NadzeyaShanchuk

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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dp Verlag

Vorwort

Geierkollegen, Stalkingnachbarn, Parfümeriefachverkäuferinnen – die große Krise hat viele fiese Gesichter. Aber nicht jede Lady will sich mit den Fratzen des Alltags abfinden. Manch eine träumt davon, noch einmal bei „0“ anzufangen. In einem wunderbaren Land, in dem die Orangebäume duften und in dem die große Chance nur darauf wartet, dass man sie am Schopf packt – und die einzig wahre, große Liebe natürlich sowieso. Diese Lady sollte schleunigst Ballast abwerfen, ihr Leben in einem Koffer verstauen, in ein Wohnmobil springen und losdüsen. Oder ihren Frust zumindest mit dieser Geschichte durchbooten. Haut rein, Schwestern. Wenn ihr euren Humor bewahrt, hängt ihr die Geier, Stalker und Parfümeriefachverkäuferinnen einfach ab.

Eure Sophia Monti

Kapitel 1

Miese Zeiten fuer Pandabären

„…“

Wie ein Blasebalg pumpte ich mich über die Luftröhre und die Bronchien bis zum letzten Lungenbläschen mit Rauch voll. Wennschon, dennschon. Doch leider schüttelte mich bereits im nächsten Moment ein fieser Hustenanfall und trieb mir die Tränen in die Augen.

„Na, na, na“, krächzte meine Freundin Tine und klopfte mir beherzt auf den Rücken. „Wir sollten besser aufhören zu rauchen. Ich höre mich schon an wie Ivan Rebroff. Und du wie eine Dampflok mit TBC.“

„Ach was“, japste ich nach Luft. „Wir fangen doch gerade erst an damit, da können wir nicht schon wieder aufhören.“ Ich schnappte mir die Schachtel und zündete mir einen weiteren Glimmstängel an. „Los, weiter geht’s. Kneifen gilt nicht. Du hast gesagt, dass du das mit mir durchziehst. Und ohne Kippen geht’s nun mal nicht.“

Das mit den Zigaretten hatte ich gestern in einem Frauenmagazin gelesen. Na ja, nicht ganz so. Genau genommen hatte da gestanden: Das beste Mittel gegen böse Geister aus Gegenwart und Vergangenheit ist das Ausräuchern. Leider wurde mir beim Geruch von Räucherstäbchen schlecht. Also mussten wir Andys Geist mit Zigarettenrauch vertreiben. Jedenfalls hatte ich meiner besten Freundin Tine erklärt, dass ich ohne die Räucheraktion aus dem Erdgeschoss springen würde. Und da sie nach gefühlten dreihundertsiebenundzwanzig Jahren glücklicherweise immer noch an mir hing und mir außerdem Roy Blacks Ende ersparen wollte, hatte sie der Räuchernummer zugestimmt. Als überzeugter Nichtraucherin schlugen ihr die Zigaretten allerdings mächtig auf den Magen. Ganz grün um die Nase war die Arme schon. Aber von einer Busenfreundin konnte man in Extremsituationen schon mal vollen Einsatz erwarten. Auch, wenn’s ihr den Magen aushebelte.

„Weißt du was?“, fragte ich, um sie abzulenken. „Ich glaube, wir müssen einfach mehr Bewegung in die ganze Sache bringen. So im Sitzen reicht das Räuchern einfach nicht.“ Also kletterte ich auf den Küchentisch.

„Anja, komm sofort runter da“, rief Rebroff-Tine erschrocken.

Ich schüttelte den Kopf. „Nö. Komm du rauf. Alleine kann ich nicht Sirtaki tanzen.“

„Sirtaki?“

Ich nickte energisch. „Sicher. Was willst du denn sonst auf einem Küchentisch tanzen? Pogo?“

Tine seufzte erneut schwer. „Muss das wirklich sein?“, fragte sie gequält.

Ich sah sie nur mit Tränen in den Augen an und nickte, da kletterte sie tatsächlich mit wackeligen Knien zu mir auf den noch wackeligeren Tisch.

Dankbar sah ich sie an. Meine gute Tine. Die quadratisch, praktisch, gute Rechtsanwältin. Die für mich sämtliche Prinzipien über Bord warf und auf einem Küchentisch herumhoppelte. Ich atmete tief ein und aus. Zum Glück gab es auf der Welt jemanden, der mich so sehr liebte, dass er sich für mich komplett zum Affen machte. Ein schöner Gedanke.

„Los geht’s“, krächzte ich und drückte auf den Play-Knopf meiner Fernbedienung.

Ein schmalziger Schlager aus der Mottenkiste meiner Mutter tönte uns entgegen. In Extremsituationen halfen mir die fies frisierten Sängerinnen und Sänger aus den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts manchmal besser als Schopenhauer und Konsorten. Kein Mensch wusste von dieser überaus peinlichen Marotte, nur Tine. Es war ein echter Liebesbeweis, dass sie sich das Zeug jetzt nicht nur gemeinsam mit mir anhörte, sondern sogar mit mir dazu Sirtaki auf dem Küchentisch tanzte. Was wären wir alle ohne beste Freundin? Nur etwas, das die Katze macht. Doch trotz dieses tröstlichen Gedankens, halfen mir die Schlager im Moment herzlich wenig weiter. Und während Tine mit gequältem Gesicht ungelenk die Beine hob, blieben meine auf der Tischplatte. Die Sängerin dudelte gerade herzzerreißend etwas davon, dass jeder Schmerz einmal zu Ende ging. Schwachsinn! Das blieb für immer so! Für alle Zeiten blieb ich ein Häuflein Elend. Weil Andy ein Schwein war. Ein Schwein, das ich liebte. Auf der Stelle kullerten die kurzfristig versiegten Tränen von Neuem.

Tine ließ die Beine schnell wieder auf dem Tisch und nahm mich dafür fest in den Arm. „Och, Anja, Süße, nicht.“

Ich würgte heulend hervor: „Mach den Mist bloß aus. Schnell!“ Denn nun behauptete die Schmalzsängerin sogar noch, dass man an Liebeskummer nicht sterben konnte.

„Und ob man daran stirbt. So fühlt es sich jedenfalls an“, jammerte ich. In der Tat wusste ich nicht, ob meine Lunge vor oder nach meinem Herz explodieren würde. Die Lunge wegen der Zigaretten, das Herz wegen meinem Ex-Schwein. Der hing jetzt garantiert nicht mit seinem Busenfreund heulend in seiner Küche und räucherte mich aus. Das war schon deshalb nicht möglich, weil Andy im Krankenhaus lag. Aber auch dort war Ausräuchern nicht notwendig, er war mich längst losgeworden. Schon vor Wochen. Und ich hatte es nicht einmal bemerkt. Bis vorgestern. Da war sein Betrug aufgeflogen.

Nachmittags hatte er mich vor Selbstmitleid zerfließend aus dem Krankenhaus angerufen, weil er sich das Bein gebrochen hatte. Beim Klettern. Dabei war der Kerl so sportlich wie ein Lehnsessel. Außerdem war er vom vielen Kiffen zwanzig Stunden am Tag derart tiefenentspannt, dass er gar nicht auf die wahnwitzige Idee kam, irgendwelche Wände hochzuklettern.

Deshalb hatte ich die Geschichte zuerst auch nicht geglaubt, sondern erst einmal eine Runde herzhaft gelacht. Das fand er irgendwie gar nicht witzig. Ziemlich sauer hatte er darauf bestanden, sich im Mainzer Klinikum zu befinden, wo es stinklangweilig war und wo er dringend seinen iPod benötigte, der bei mir in einer Ecke herumlag. Mit schlechtem Gewissen, weil mein Geliebter schwer verletzt in einem zugigen, verkeimten Krankenhaus vor sich hin litt, während ich mich über ihn lustig machte, hatte ich bei der Arbeit alles stehen und liegen lassen und meinem Chef eine wirre Geschichte von lebensgefährlichen Unfällen in der Familie aufgetischt. Dann war ich heimgedüst, hatte mich aufgehübscht, den iPod geschnappt und war mit Blümchen und Schokolade zu Andy ins Krankenhaus geflogen.

Als ich ankam, war der gerade bei einer Untersuchung. Und so empfing mich in seinem Zimmer nur sein Bettnachbar, ein leutseliger Rotzbremsenträger, der mich offensichtlich für Andys Schwester hielt. Das passierte häufig, weil wir beide schulterlange schwarze Ringellocken hatten.

Noch bevor ich „Piep“ sagen konnte, hatte sich der Kerl mit dem Bröselbesen lang und breit über Andys sexy Freundin ausgelassen. Seiner Aussage nach eine „kesse Blondine. Zuckersüß und rattenscharf. Mit einem Gesicht wie aus diesen japanischen Comics.“ Mir war auf der Stelle schlecht geworden. Schockiert hatte ich mich auf einen Besucherstuhl fallen lassen und den rotzbremsigen Schwärmereien gelauscht. Jedes Wort fühlte sich an wie ein Messer. Auch wenn ich nicht die kleine Meerjungfrau und der Schnauzer kein Prinz war.

Nach ein paar Minuten war ich zerfleischt genug. Ich hatte Blumen und Schokolade in einen Mülleimer, den iPod auf Andys Bett gedonnert und war aus dem Zimmer gerannt. Eine Stunde später begann das Dauerklingeln auf meinem Handy. Die ersten zwanzig Anrufe hatte ich einfach weggedrückt. Dann hatte mein Bedürfnis, Klarheit zu haben, gesiegt. Und die bekam ich auch. Die erstaunliche Quintessenz des wirren Geständnisses war: Andy war eben nur ein Mann – und Gloria eine Frau.

Und ich? Was war ich? Während ich das Handy umklammert hielt, lauschte ich der ganzen, lächerlich langweiligen Geschichte: Gloria – so ein affiger Name – war Parfümeriefachverkäuferin und bei einem von Andys Konzerten aufgetaucht. Und weil sie nicht nur von Stinkbomben, sondern auch von Musik wahnsinnig viel Ahnung hatte, hatte sie nach dem Konzert auf Andy gewartet. Für ihn hatte das Ganze allerdings rein gar nichts zu bedeuten.

Es war ein Witz. Für ihn bedeutete es nichts, dass für mich wegen einer aufgebrezelten Verkäuferin die Welt unterging. Ich konnte es nicht fassen. Dabei waren wir schon ein ganzes Jahr zusammen. Ein Jahr für den Mülleimer. Kennengelernt hatten wir uns bei einem Benefizkonzert in der Alten Oper. Ich arbeitete damals schon für das MEM, das Merchandising Event Magazine, einem Szenemagazin in Frankfurts Mitte, und sollte einen Artikel über das Who’s who des Abends schreiben. Andy war einer der Roadies. Ansonsten war er dauerbekiffter Endlosstudent und Drummer in einer schwülstigen Poser-Band mit dem bekloppten Namen ,Hannahs Lunchtime‘. Diese Band tourte seit Jahren mit mäßigem Erfolg durch die grässlichen Kaffs der hessischen Bergstraße. Doch da die hiesigen Teenies sich auf demselben THC-Pegel wie die Band bewegten, kamen die laschen Poser einigermaßen gut an. Offensichtlich.

Auf meinem wackeligen Küchentisch ballte ich nun die Fäuste. Eine Parfümeriefachverkäuferin mit Erbsenhirn und Puppenkleidergröße inklusive Mangagesicht hatte mir den Kerl ausgespannt!

So ein Elend.

Andy.

Keiner roch so gut wie er. Das war das Schlimmste. Ich war nämlich hyperolfaktorisch. Meine Nase war derart empfindlich, dass ich nur die wenigsten Menschen überhaupt riechen konnte. Und dann rannte ich in diesen erfolglosen Drummerroadie rein – und roch, trotz der ihn ständig umgebenden Cannabiswolke, nur noch ihn. Das Gemeinste war, dass Manga-Gloria ihn jetzt so lange in Parfüm tunken würde, dass sein wunderbarer Geruch zum Teufel ging. Aber war er da wirklich richtig oder sollte ich ihn nicht doch noch an den Ohren aus seiner selbst gebastelten Hölle ziehen? War er das wert, nur weil er gut roch?

„Anja? Kannst du bitte vom Tisch runterklettern? Du machst mir mit deinem Gestarre und Gejammere Angst“, bat Tine nun.

Ach, Tine. Meine Beste. Die hatte ich bei meiner Rolle rückwärts ganz vergessen. Tränenverschleiert starrte ich sie an und nickte. Meine Schlagerfuzzis hatten ebenso wie Sirtaki und Glimmstängel auf ganzer Linie versagt. Das heulende Elend zerrte erbarmungslos an meinen Eingeweiden. Tine half mir wie einer Achtzigjährigen vom Tisch, dirigierte mich energisch ins Wohnzimmer aufs Sofa und legte mir dort eine Schachtel Mozartkugeln in den Schoß.

„Da. Iss.“

„Danke“, schluchzte ich, konnte mich aber nicht dazu durchringen, in die Zucker-Fett-Bombe zu beißen, obwohl ich sie sonst heiß und innig liebte. Aber die Glimmstängel waren mir genau wie Tine auf den Magen geschlagen. Na toll. Lunge kaputt, Magen kaputt, Herz kaputt. Genau genommen fühlte sich Letzteres an wie eine Knetgummimasse, auf die sich ein Elefant gesetzt hatte.

„Mein Herz ist ein Knetgummipfannkuchen. Ganz platt“, würgte ich hervor.

„Aha.“

„Ja“, jammerte ich weiter. „Und jetzt, in diesem Moment, fühlt es sich so an, als ob viele kleine Gnome daran herumdrücken, reißen und beißen, um es wieder in seine alte Form zu quetschen. Oder eben ganz zu zerstückeln.“

„Jaja.“ Tine nickte verständnisvoll.

Ich warf ihr einen wütenden Blick zu. Was verstand sie schon von Gnomen und Elefanten? „Jetzt tu doch nicht so, als ob du wüsstest, wie es mir geht“, jaulte ich. „Du hast keine Ahnung von Liebeskummer.“

„Also bitte“, beschwerte sie sich empört. „Letztes Jahr? Alex? Schon vergessen?“

„Ach so, ja natürlich. Tschuldigung“, murmelte ich kleinlaut. In meinem Jammer-Dasein hatte ich ganz vergessen, dass meine liebe Tine sich nicht nur mit Liebeskummer auskannte – sondern sogar eine Expertin auf dem Gebiet war. In der Tat hatte es Ewigkeiten gedauert, bis Tine ihren letzten Griff ins Klo verkraftet hatte. Das war ihr nur mit endlosen Sachertortenschlachten gelungen, aus denen sie erst mit zehn Kilo mehr auf den Hüften als Siegerin hervorgegangen war. Bei ihr war das kein Problem, weil sie vor dem Liebesfiasko viel zu dünn gewesen war – und ihre jetzigen Kurven phänomenal zu ihr passten. Sie hatte auch vor ihrem jüngsten Beziehungsdebakel schon wie die junge, ziemlich untergewichtige Grace Kelly für Arme ausgesehen. Jetzt raubte sie so ziemlich jedem Kerl schlichtweg den Atem. Dumm war nur, dass trotzdem keiner bei ihr landen konnte. Tine verlangte von ihrem nächsten Lover nämlich etwas fast Unmögliches: Er sollte auf Goethes Pfaden wandeln und vor allem wahr und gut sein; das Schöne war ihr gar nicht so wichtig. Leider gabelte man so ein Ausbund an gutem, freundlichem und aufrichtigem Charakter nun mal nicht an jeder Straßenecke auf. Und deshalb war und blieb sie bis auf Weiteres Single.

Genau wie ich. Allerdings konnte ich zehn Kilo mehr auf den Hüften nicht so gut vertragen. Meine waren schon rund genug. Deshalb wollte ich auch nicht noch mehr mit meinem Gewicht kämpfen. Ich wollte … Andy. Erneut kullerten mir die Tränen übers Gesicht. Ob die superdünne Gloria mit dem Mangagesicht jetzt wohl bei ihm war? Im Krankenhaus? Die Eifersucht nagte und kaute an mir herum wie ein halb verhungerter Wolf an einem verwesenden Gnu.

In dieses Elend hinein klingelte das Telefon. „Lass es klingeln“, schluchzte ich. Doch Tine war schon unterwegs. „Bei Rembrand … Ach, Jan, wie nett. Nein, im Moment ist es nicht so günstig. Sie ist, äh, in der Badewanne …“ Tine warf mir einen fragenden Blick zu.

Ich überlegte kurz. Sollte ich mit Jan sprechen? Warum nicht. Er war schließlich auch mein Ex. Wenn auch schon seit fünf Jahren. Wir hatten uns damals nach einer ebenfalls fünfjährigen Beziehung im gegenseitigen Einvernehmen sehr erwachsen getrennt. Übersetzt hieß das, dass wir praktischerweise beide gleichzeitig jemanden gefunden hatten, der besser zu uns passte. Deshalb konnten wir Freunde bleiben. Und wenn es hin und wieder bei einem von uns zu kribbeln begann, steckte der andere gerade in einer Beziehung. So blieben wir weiterhin die platonischsten aller platonischen Freunde. Und das für alle Zeiten.

Unser Muster griff auch jetzt wieder. Ich war Dank der Parfümschlampe zwar wieder Single, aber Jan steckte seit über einem halben Jahr in einer ziemlich heftigen Nummer fest, aus der er nicht so schnell wieder herauskam. Marcella hieß seine glutäugige Aktuelle. Eine sensationell schöne Italienerin mit Sinuskurventemperament und riesiger Familie, die Jan bereits als Zuwachs absorbiert hatte. Seitdem er sich auf diese Weise auffressen ließ, hatte ich ihn kaum noch gesehen. Beim letzten Treffen hatte er mir gestanden, dass Marcella vor Eifersucht auf mich regelrecht platzte. Sie nahm Jan und mir die platonische Freundschaft keinen Millimeter ab. Diese Schönheitskönigin war auf mich eifersüchtig. Ein schöner Gedanke, der unendlich guttat. Gerade jetzt, wo ich mit dicker Knollennase, zugeschwollenen Augen und aufgeschwemmtem Gesicht wie eine Mischung aus Käsekuchen und Clownsgesicht aussah. Es gab jemanden auf der Welt, der mich als Bedrohung ansah. Das richtete mich auf der Stelle etwas auf.

Also krächzte ich in Tines Richtung: „Gib her.“ Ich schnappte den Telefonhörer, den sie mir mit hochgezogenen Augenbrauen vor die Nase hielt, und fragte krächzend: „Jan, wie geht’s?“

„Gut. Du bist aber schnell aus der Badewanne aufgetaucht“, stellte er fest. „Wieso hörst du dich denn an wie ein Papagei?“

„Ich, äh, war gerade fertig mit Baden. Und da, äh, habe ich so laut gesungen, dass ich jetzt keine Stimme mehr habe“, krächzte ich weiter.

„Ach so. Sag mal, Anja, hast du nächste Woche abends irgendwann ein Stündchen Zeit für mich? Ich würde gerne etwas mit dir besprechen.“

„Was denn?“

„Das sage ich dir, wenn wir uns treffen. Oder gönnt dir dein Star-Drummer keine Auszeit?“

„Ach der“, höhnte ich. „Der gönnt sich gerade was ganz anderes: Minderjährige XS-Tussis mit Erbsenhirn zum Beispiel.“

Nach einer kurzen Pause meinte Jan: „Autsch, das hört sich aber nicht gut an. Habt ihr euch getrennt?“

Jetzt machte ich meinerseits eine Pause und schnaufte tief durch. Hatten wir uns getrennt? Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Konnte und würde ich Andy seine Erbse verzeihen? Was war, wenn sein Bein verheilt war und er angekrochen kam? Ich atmete tief durch, hustete kurz den letzten Zigarettenqualm aus meinen Lungen und hauchte damit auch den letzten Rest des bösen Geistes aus: „Ja. Getrennt. Aus. Schluss. Ende.“

Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken, so gnadenlos und endgültig hörte sich das an. Tine riss erstaunt und gleichzeitig begeistert die Augen auf. Gleich würden sie ihr aus dem Kopf fallen. Sie strahlte wie ein Honigkuchenpferd und klatschte wie eine Dreijährige vor dem Weihnachtsbaum in die Hände.

Doch Jan bekam von alldem nichts mit. Er schnaubte kurz, dann meinte er: „Okay. Dann hast du ja sicher einen Abend Zeit für mich. Wie wäre es gleich morgen?“

„Ja, passt. Aber warum hast du es denn so eilig und machst es so spannend? Hast du was ausgefressen und musst schnell untertauchen?“

Jan gackerte eine Zeit lang ebenso begeistert wie albern vor sich hin. Das kannte ich gar nicht von ihm! Doch bevor ich weiter nachhaken konnte, erklärte er: „So etwas in der Art. Alle Details gibt es morgen. Sagen wir um acht in der Orion-Bar?“

„Au ja“, seufzte ich. „Da war ich lange nicht.“

„Kein Wunder. Schließlich konnte sich dein Student die Drinks dort nicht leisten. Anja? Sei froh, dass du den los bist. Früher oder später hätte er dir sicher eine Geschlechtskrankheit angehängt.“

„Du meinst, so wie du damals den Genitalherpes?“, fragte ich zuckersüß.

Nach einer kurzen Pause erklärte er: „Ich muss jetzt Schluss machen. Also bis morgen.“

Zufrieden und nachdenklich legte ich ebenfalls auf und schenkte Tine ein halbherziges Grinsen. „Noch einer, der jetzt dringend Schluss mit mir machen musste. Aber wir treffen uns trotzdem morgen Abend.“

„Na, siehst du, so ist es richtig: Vergiss den bekifften Versager. Geh aus. Stürz dich ins Vergnügen.“

Ich winkte verächtlich ab. „Aber doch nicht mit Jan.“

 

***

 

Die nächste Morgenstund hatte Ratten im Mund. „Nie wieder Glimmstängel“, krächzte ich meinem teigig grauen Spiegelbild im Bad entgegen. Was stank hier eigentlich so? Ich schnupperte. Der Geruch kam eindeutig von der Toilette. Hatte Tine gestern etwa nicht gespült? Ich lief zum Klo und schnüffelte rund um die Brille. Puh. Was war das denn? Ich kniete mich auf den Boden und schaute hinter die Keramik. Da! Ein Leck. Wie gut, dass ich eine so feine Nase und das Leck sofort entdeckt hatte. Bei einem normal Riechenden hätte es sicher irgendwann eine riesige Schweinerei gegeben.

Also griff ich seufzend zum Telefonhörer und rief meine schmallippige und humorfreie Vermieterin Cordula Simmel alias Fräulein Rottenmeier an. Erwartungsgemäß war sie wenig bis überhaupt nicht begeistert von der auf sie zukommenden Handwerkerrechnung, versprach aber, sich zeitnah um die Reparatur zu kümmern und einen Handwerker zu schicken.

Einigermaßen gefasst machte ich mich auf den Weg zur Arbeit. Hoffentlich hielt sich heute der Zickenkrieg im Rahmen. In der Redaktion arbeiteten meiner Meinung nach einfach zu viele zu gut ausgebildete, aber zu schlecht ausgewählte Frauen auf einen Haufen. Schlecht ausgewählt deshalb, weil jede einzelne von ihnen Haare auf den Zähnen und das dringende Bedürfnis nach einer schwindelerregenden Karriere hatte. Unser Chef, Klaus Fink, suchte sich genau diesen Typ Frau immer wieder aus.

„Was wir brauchen, sind Kämpferinnen“, blubberte er ein ums andere Mal, wenn wir ihn bei der Neubesetzung einer Stelle um mehr Freundlichkeit und weniger Biss anflehten. Dies lehnte Fink jedoch kategorisch ab. „Wir sind das kulturelle Szenemagazin Frankfurts. Und das wollen wir auch bleiben. Mit Freundlichkeit funktioniert das nicht. Mit Biss schon.“

Also wurde gebissen. Tagtäglich. Und gnadenlos. Blöderweise war ich im Grunde meines Herzens eher der trottelig-freundliche Typ. Ich wachte morgens schon mal auf, nachdem ich von saftigen Bergwiesen voller Gänseblümchen, Häschen und Murmeltieren geträumt hatte. Das war sicher irgendein nicht verarbeitetes Kindheitstrauma. Ein Psychiater hätte mir auf der Stelle ein bedenklich kindliches Gemüt bescheinigt. Auf jeden Fall war ich so harmlos wie ein Pandabär. Gab man mir genug zu Futtern und hielt man mir Stress vom Hals, war für mich die Welt ein wunderbarer Ort.

Mein Dilemma bestand deshalb darin, dass ich als Pandabär dazu gezwungen war, über die Schlechtigkeit der Welt zu schreiben. Denn es wollte kein Schwein etwas Positives in der Zeitung lesen. Die Menschen lechzten nach Katastrophen. Und mein Job war es, darüber zu berichten. Ganz toll.

Leider war mir so überhaupt nicht klar, wie ich aus der Nummer herauskommen sollte. Eine Umschulung hätte Jahre gedauert – und ich wusste auch gar nicht recht, was ich statt Schreiben tun sollte. Denn im Grunde machte es mir einen Riesenspaß! Also hatte ich mich vor einem guten Jahr zu einer ganz anderen Taktik entschieden: Ich wollte versuchen, mir ein dickeres Fell zuzulegen. Dann konnte ich mich durchbeißen, in meinem ungeliebten Job Karriere machen – und als Chefin endlich darüber entscheiden, nicht länger ausschließlich über Katastrophen zu berichten.

Meiner Meinung nach war das ein toller Plan. Und er schien sogar aufzugehen. Denn ab übernächsten Ersten hatte mein Chef mir die Position der stellvertretenden Chefredakteurin in Aussicht gestellt. Unsere aktuelle hatte sich nämlich schwängern lassen und würde mit den tobenden Hormonen im Leib nicht viel länger in unserem Haifischbecken überleben können. Gestern hatte sie drei Stunden lang geheult, weil eine der Obermobberinnen in der Redaktion ihre Tasse zerbrochen hatte.

„Das war Absicht“, hatte die arme Schwangere geschluchzt. Natürlich war das Absicht, hätte ich ihr gerne zugestimmt. Genauso wie es Absicht war, dass du jetzt heulst.

Viel länger würde sie nicht durchhalten. Höchstens noch ein paar Wochen. Deshalb wetzten alle eifrig die Messer – doch nur meine Stunde würde schlagen.

Ich träumte bereits von aus dem Leben gegriffenen Porträts interessanter Persönlichkeiten vor Ort und Hoffnung verbreitenden Sozialreportagen, ganz nebenbei natürlich auch von einer Gehaltserhöhung sowie von Ruhm und Ehre. Doch an diesem Tag konnte ich all das in meinem defekten Klo hinunterspülen. Schon beim Betreten der Redaktion registrierte ich unzählige schadenfrohe Blicke. Freuten die sich etwa über meine grünliche Gesichtsfarbe und die verquollenen, überschminkten Augen?

In meinem Büro klärte Fink die Situation persönlich: „Frau Rembrand, Sie haben doch die eSports-PR-Artikel geschrieben?“, empfing er mich mit zornumwölkter Stirn.

„Ja, wieso?“

„Weil der erste heute bereits erschienen ist“, antwortete mein Chef mit nur schlecht unterdrückter Wut.

„Und?“ Ich verstand nach wie vor nur Bahnhof.

„Ich hatte doch ausdrücklich darum gebeten, mir die Artikel vor Abdruck vorzulegen. Jetzt haben wir den Salat.“

Ich schaute ihn ratlos an.

„Fehler! Im Artikel sind inhaltliche und formale Fehler. Und zwar keine Kleinigkeiten“, brüllte Fink plötzlich in gewaltiger Lautstärke. „Der Kunde will jetzt nicht nur nicht bezahlen, er fordert Schadenersatz.“

Nun wurde ich unter meiner grünen Gesichtsfarbe blass. „Aber wieso? Ich meine, ich habe doch alles gründlich recherchiert“, stammelte ich. „Und den Artikel auf dem normalen Weg zur Gegenprüfung an Frau Maier weitergeleitet. Damit die ihn dann in die Korrektur gibt – und anschließend zu Ihnen schickt. Vor Abdruck selbstverständlich.“ Cover my ass as usual, setzte ich in Gedanken hinzu.

Doch Fink beugte sich zu mir und fragte leise: „Und warum weiß Frau Maier davon nichts?“

Ich starrte ihn mit offenem Mund fassungslos an. „Aber das muss sie“, würgte ich schließlich hervor. „Ich habe ihr die Texte gestern Nachmittag persönlich vorbeigebracht und sie um das übliche Prozedere gebeten.“ Allerdings hatte ich vergessen, mir das schriftlich quittieren zu lassen. Ein Fehler. Ein böser, böser Fehler. Einer, auf den die fiese Maier seit Wochen gewartet hatte.

„Nun, da sagt Frau Maier etwas anderes“, erklärte Fink da auch schon erwartungsgemäß. „Sie meinte, Sie hätten derzeit offensichtlich private Schwierigkeiten. Den ganzen Tag über hätten Sie unkonzentriert und zerstreut gewirkt. Frau Maier meinte außerdem, sie habe sich selber darüber gewundert, dass Sie die Texte direkt in den Druck gegeben hätten. Frau Rembrand, Frau Rembrand …“

Er griff sich mit beiden Händen an den Kopf und raufte sich die wenigen noch vorhandenen farblosen Haare. Dann schüttelte er den Kopf. „Sie sind eine unserer Besten. Und natürlich sind wir alle nur Menschen. Aber das … hätte Ihnen nicht passieren dürfen. Es tut mir leid. Aber als stellvertretende Chefredakteurin kann ich Sie nun nicht mehr vorschlagen.“

Alles für die Katz. Aus der Traum von Ruhm, Ehre und einer besseren Welt für Pandabären. Während ich versuchte, meine Schnappatmung unter Kontrolle zu bekommen, klopfte er mir auf die Schulter. „Nehmen Sie sich doch ein, zwei Tage frei und ordnen Sie Ihr Privatleben. Danach legen Sie wieder hundertprozentig los, ja?“ Er seufzte schwer, schüttelte noch einmal den Kopf und ließ mich in meinem Büro stehen.

Mein Blick wanderte durch die Milchglasscheibe nach nebenan. Dort stand das erfolgreiche Mobbing-Triumvirat: die Maier, die Mendel und die Böhm. Sie winkten mir feixend und bestens gelaunt zu. Die Aasgeier! Sie hatten hinterrücks den Job-Ast abgesägt, auf dem ich bisher einigermaßen komfortabel gesessen und mit den Beinen gebaumelt hatte. Wer von ihnen den Job wohl wollte? Ich tippte auf die Maier selbst, die im Rennen um die Beförderung bisher keine Chancen gehabt hatte. Das hatte sich nun geändert. Wenn ich mich nicht täuschte oder mir schnell einen noch fieseren Gegenschlag einfallen ließ, war sie in wenigen Wochen meine direkte Chefin. Und dann gute Nacht. Eine zerbrochene Tasse wäre da mein kleinstes Problem. Es war nämlich glasklar, was sie wollte: nichts weniger als meinen Kopf auf einem silbernen Tablett. Denn sie konnte mich ebenso wenig leiden, wie ihre Kumpaninnen.

Was meine liebe Tine an mir so schätzte – meine „Begabung, die Welt in einem positiven Licht zu sehen“, wie sie es ausdrückte – war für Maier, Mendel, Böhm einfach nur ein rotes Tuch. Oder anders gesagt: Ich stand ihnen mit meiner Einstellung massiv im Weg. Sie wollten Blut sehen. Und zwar in Farbe und in Massen. Und dann wollten sie ausführlich darüber berichten. Ganz ohne, dass jemand wie ich ihnen mit moralischen Bedenken kam.

Deshalb war zwar zu erwarten gewesen, dass die Hyänen in meiner Redaktion mich bei der erstbesten Gelegenheit in die Pfanne hauten. Dennoch machte es mir nun schwer zu schaffen.

Völlig erschlagen schleppte ich mich, um Schadensbegrenzung bemüht, durch den Tag und endlich nach Hause in meine Wohnung. Das Einzige, was mich noch aufrecht hielt, war der Gedanke, dass es kaum noch schlimmer kommen konnte. Ein Irrtum.

„Was ist denn hier los?“, fragte ich fassungslos, als ich vor meiner Wohnungstür stand, die sperrangelweit offen stand. Ich warf einen Blick in meinen Flur und fand dort die halbe Nachbarschaft zu einem Kaffeekränzchen versammelt.

„Ach, Frau Rembrand, da sind Sie ja endlich.“ Unser Hausdrache Schossnowski, wie üblich in eine Schweißwolke und einen grässlichen Acrylpullover gehüllt, walzte freudestrahlend auf mich zu. „Frau Simmel hat mich gebeten, den Handwerker in Ihre Wohnung zu lassen.“

„Aber das geht doch nicht“, stammelte ich entsetzt. „Das kann sie doch nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden!“

„Doch, sicher kann sie das.“ Die Schossnowski rieb sich strahlend die Hände. „Wenn ein Rohr kaputt geht, besteht doch die Gefahr einer Überschwemmung! Das Risiko konnte Frau Simmel nicht eingehen. Außerdem haben Sie selbst doch heute Morgen darum gebeten, dass ein Handwerker kommt.“

„Aber ich habe nicht darum gebeten, dass Sie in meine Wohnung einbrechen – und diese Leute hier gleich mitbringen!“

„Also bitte, jetzt hör sich das einer an“, begann der Drache da lautstark zu zetern. Sämtliche schwarzen Borsten auf ihrem unrasierten Kinn bebten vor Empörung. Und natürlich scharte sich auf der Stelle ihr dankbares Publikum um sie: ihr ebenso debiler wie notgeiler Lebensabschnittsgefährte, der fettleibige Frührentner Jansen, die beiden verschüchterten Rentnerinnen aus dem Souterrain, die aussahen wie die Kessler-Zwillinge, sowie die aufdringliche Klatschbase Kowiak, die gerade ihren schätzungsweise dreihundertsiebenundzwanzigsten Säugling in einem versifften Tragetuch umgeschnallt hatte und nach saurer Milch müffelte.

Ich hielt dezent die Luft an, um nicht vor Übelkeit zu brechen. Hyperolfaktorisch zu sein, hatte eindeutig seine Nachteile. Dann blickte ich niedergeschlagen in die Runde. Was, zum Teufel, hatte ich getan, um nach dem schlimmsten Arbeitstag meines Lebens diese Horde wild gewordener, miefender Spießer zu verdienen? So viel übles Karma konnte ein einzelner Mensch auch in hundert Leben nicht angesammelt haben!

Also fragte ich, um Aufklärung bemüht: „Was machen Sie denn eigentlich alle hier?“

„Zustände aufklären, die bei Ihnen herrschen“, erklärte die Schossnowski bartwackelnd weiter. „Wenn wir Ungeziefer und Schlimmeres hier im Haus haben, müssen wir schließlich wissen, woher sie kommen.“

„Genau“, nickte Jansen eifrig. „In dem Müll hier gedeiht ja alles.“

„Bitte?“, fragte ich mit weit aufgerissenen Augen und blickte gehetzt in meinem Flur auf und ab. „Wieso Müll? Welcher Müll denn?“ War vor unserem Haus ein Mülllaster verunglückt und hatte aufgrund einer Fehlzündung eine ganze Ladung Abfall in meine Wohnung katapultiert? Wundern würde es mich nicht. Das Maß an Katastrophen war offensichtlich nie voll. Allerdings sah ich in meiner Wohnung keine Spur von dem Müllwagenunfall.

Doch die Bärtige war unerbittlich. „Welcher Müll?!“ Sie schüttelte pikiert den Kopf, dann meinte sie hochnäsig: „Sie hören von Frau Simmel. Morgen kommt auf Ihre Kosten zudem der Kammerjäger und geht durchs Haus. Kommen Sie, meine Lieben“, wandte sie sich an den geifernden Mob. „Überlassen wir Frau Rembrand der vor ihr liegenden Putzarbeit.“

Stumm verfolgte ich den Auszug aus Ägypten. Meine Nachbarn schienen sich nur mit Mühe davon abhalten zu können, mich anzuspucken. Oder anzuzünden. Völlig erledigt warf ich hinter dem letzten Schaulustigen die Wohnungstür zu und lehnte mich dagegen. Was lief hier eigentlich für ein Film? Vorsichtig tappte ich durch die Wohnung. Die war zwar nicht gerade porentief rein, aber die Ungezieferhorden sowie die Müllberge suchte ich vergeblich. Nur der Aschenbecher in der Küche quoll über. Aber der rechtfertigte keinen Kammerjäger. Ich beschloss, dass der ganze alberne Auftritt der empörten Rentnerhorden auf nichts anderes, als unerträgliche Langeweile zurückzuführen war. Schnell entsorgte ich mit zugehaltener Nase die Nikotinbomben im Mülleimer und ließ mich dann auf mein Sofa plumpsen.

Überall hatte die Nachbarschaftsmafia herumgeschnüffelt, während ich nicht da war. Sogar die Schranktüren in meinem Büroschrank standen offen. Das war definitiv der mieseste Tag in meinem Leben. Und mich richtete als einziges der Gedanke auf, dass er jetzt nicht noch schlechter werden konnte.

 

***

 

„Du machst was?“, fragte ich entsetzt.

„Ich hau ab. Für ein Jahr“, wiederholte Jan in der Orion-Bar ebenso glücklich wie geduldig.

„Ja, aber wie? Ich meine, warum?“

Er seufzte wohlig, mit einem dicken Grinsen im Gesicht und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. „Ich habe mir einen ziemlich klapprigen, aber sehr charmanten Bully gekauft. Baujahr 1973. Ich habe schon seit ein paar Monaten daran herumgebastelt. Jetzt müsste er die Fahrt quer durch Spanien eigentlich durchhalten.“

So plötzlich, dass ich zusammenzuckte, beugte er sich zu mir und raunte: „Anja, das wird wunderbar. Stell dir das einmal vor: Ich halte, wann ich halten will. Fahre, wohin ich will. Wenn ich müde bin, hau ich mich hinten auf meine Matratze. Sogar einen Campingkocher habe ich eingebaut. Und – das ist das Beste – einen Wasserkanister samt Schlauch. Damit kann ich sogar duschen!“

„Duschen. Und das in Spanien. Der helle Wahnsinn.“

„Der helle Wahnsinn“, wiederholte er flüsternd mit glänzenden Augen. Ich lächelte ihn verständnisvoll an. Spanien war unser gemeinsames Traumland. Vor ziemlich genau zehn Jahren hatten wir uns sogar dort kennengelernt: in einer Sprachschule in Salamanca. Ich musste damals dringend meine Spanischkenntnisse aufpolieren, um mit den vielen Muttersprachlern an der Uni mithalten zu können, mit denen ich gemeinsam Romanistik im Nebenfach studierte. Jan war mit seinem internationalen Wirtschaftsingenieursstudium mit spanischem Schwerpunkt beschäftigt. Bei ihm standen in Kürze einige wichtige Prüfungen an. Also hatten ihn seine Eltern in den Semesterferien ebenfalls nach Salamanca geschickt. Kennengelernt hatten wir uns damals bei einer Fiesta der Sprachschule, bei der wir uns beide zu Tode langweilten: Massen von Strebern und Holländern buhlten wahlweise um die Gunst der eingebildeten Sprachlehrer oder sternhagelvollen Schwedinnen. Notgedrungen hatten Jan und ich uns zusammengesetzt, um besser lästern zu können.

Es war der Auftakt einer großen Liebe, die fünf Jahre lang hielt. Danach war die Luft raus. Er stürzte sich in seinen langweiligen Bürojob und verknallte sich klischeemäßig in seine Sekretärin.

Freunde konnten wir glücklicherweise trotzdem bleiben. Schließlich hatte ich damals bereits seit ein paar Wochen etwas mit einem Redakteur laufen. Wir waren also quitt. Eine gute Voraussetzung für eine platonische Freundschaft. Und wenn sie in den Jahren danach einmal von Jans oder meiner Seite aus nicht mehr ganz so platonisch gemeint war, hielt uns einer meiner gerade aktuellen Freunde oder eine neue Sekretärin von Dummheiten ab.

Trotzdem hatte ich gerade jetzt sehr lebhaft den Abend vor Augen, an dem wir uns zum ersten Mal geküsst hatten.

Ich räusperte mich und fragte vorsichtig: „Ich nehme an, du fährst auch nach Salamanca?“

Jan zwinkerte mir zu. „Sicher. Aber ich habe keine Ahnung, ob zu Beginn oder Ende des Jahres.“

„Aha. Aber … geht das denn alles so einfach? Ich meine, mit deinem Job?“

„Alles geklärt“, winkte Jan grinsend ab. „Ich nehme ein Sabbatical. Mein Chef ist einverstanden. Wenn ich zurückkomme, geht es nämlich richtig los: Wir planen, einen Konkurrenten zu schlucken. Momentan ist noch nichts spruchreif. Deshalb ist jetzt die richtige Zeit für eine längere Pause. Natürlich sind die in der Firma nicht gerade begeistert. Aber ich komme ja rechtzeitig wieder – und lege dann richtig los. Aber vorher … Oh, Anja, ich kann dir gar nicht sagen, wie ich mich freue.“ Er griff nach meinen Händen. Ich starrte sprachlos auf unsere vier Pfoten.

Er schwärmte weiter: „Stell dir das doch mal vor: Ein ganzes Jahr lang Spanien! Niemand wartet auf mich, keine Pläne, nur Möglichkeiten. Das wird der reine Wahnsinn.“

Ich nickte. Der reine Wahnsinn. Beziehungsweise der unfaire Wahnsinn. Während mir mein mickriges kleines Leben um die Ohren flog, ließ der Mistkerl es sich richtig gut gehen. Im tollsten Land der Welt.

„Und wann geht’s los?“

„In zehn Tagen.“ Er ließ meine Hände los, verschränkte sie erneut hinter dem Kopf und lehnte sich mit einem breiten Grinsen bequem zurück.

„Schon“, sagte ich gedankenverloren. „Und was sagt Marcella?“

„Na ja.“ Er warf mir einen kurzen Seitenblick zu und druckste herum. „Die ist natürlich alles andere als begeistert. Zumal wir in diesem Jahr bereits drei Wochen Urlaub genommen haben – und sie in ihrer Unternehmensberatung nur die üblichen dreißig Tage bekommt. Aber während ihres Resturlaubs will sie mich natürlich besuchen kommen. Wo auch immer ich dann stecken werde.“

Jetzt sagte ich gar nichts mehr. Some guys have all the luck. Und andere wohnten mit der NSA unter einem Dach, wurden im beruflichen Haifischbecken zerfleischt und von ihrem Freund wegen eines japanischen Magermodels verlassen. Wo blieb da die Gerechtigkeit?

Anscheinend waren mir meine Gedanken allzu deutlich vom Gesicht abzulesen, denn Jan wechselte auf der Stelle das Thema und zog stattdessen den restlichen Abend über Andy her. Über dessen alberne Vorliebe für Hosen mit Schlag, seine Faulheit im Bett – ich hatte mich bei Jan hin und wieder darüber beklagt. Wozu hat man schließlich Freunde? –, über seine schlechte Angewohnheit, sich schon vor dem Frühstück Joints zu drehen und so weiter.

Als Jan und ich uns verabschiedeten, hatte er mich fast davon überzeugt, dass ich mich auf Knien bei Manga-Gloria bedanken sollte.