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Ilja Seifert

Sterben wie im Märchen

Ethik zwischen Embryos und Einäscherung

Essays aus zehn Jahren

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Bibliografische Information
der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-8422-4667-6 (Print)

ISBN 978-3-8422-8383-1 (EPUB)

Alle Rechte vorbehalten

© Ilja Seifert 2019

© für das Nachwort: Peter Porsch 2019

© für den Beitrag »Der Praena-Text«: Viola Schubert-Lehnhardt 2019

© für diese Ausgabe: Karin Fischer Verlag GmbH 2019

Gesamtgestaltung: yen-ka

Umschlagmotiv und -idee von © Cornelia Seifert 2019

Portraitfoto von © Alexander Zimmermann 2019

Hergestellt in Deutschland

Inhalt

Geleitwort

Die Welt steht auf der Kippe …

Kein Gentest ohne umfassende Aufklärung

Ethik und Verantwortung

Sterben wie im Märchen

Nachteilsausgleichsgesetz

UN-Konvention

Organspenden

Teilhabe ermöglichen statt Heime zu füllen

Adoption keine zweite Wahl

Kultur für alle Herausforderung – auch für Die Linke

Menschen mit Behinderungen in der Entwicklungszusammenarbeit

Teilhabe ermöglichen, auch wenn man pflegebedürftig ist!

Ein falsches Ziel

Gute Arbeit – unbehindert

Assistenzpflege in Krankenhäusern und Vorsorgeeinrichtungen

Große Lebensfreude, enorme Lebenskraft

»Social Freezing« – »Selbstbestimmung« à la Kapital

Es geht um Menschenrechte, nicht um soziale Kosmetik

Warum ich mir weder Eiswasser über den Kopf schütte noch für die ALS-Forschung spende

»Euthanasie« – ein guter Tod?

Unterschiedliche Fähigkeiten und Voraussetzungen – gleiche Rechte (und Pflichten)

Frühe Denkschrift, spätes Gedenken

»Lieber tot als behindert«?

Menschenkette mit Euro-Schlüssel

Klassenbefreiung gegen Minderheitenschutz?

Lebensrecht ist nie »verhandelbar«

Viola Schuber-Lehnhardt: Der Praena-Test. Möglichkeiten und Problemstellungen vorgeburtlicher Diagnostik

Nachwort von Peter Porsch

Geleitwort

Ethik gilt gelegentlich als Hobbyraum für Philosophen und sonntags für Kirchenfürsten. Ich gehöre weder der einen noch der anderen Zunft an. Trotzdem wage ich es, mich zu ethischen Themen zu äußern. Überschreite ich damit meine Kompetenzen? Manchmal höre ich auch: »Der Beginn und das Ende menschlichen Lebens sowie alle gesundheitlichen Probleme dazwischen gehören in ärztliche Hand.« Und obwohl ich keine medizinische Ausbildung genoß, äußere ich mich seit Jahrzehnten auch öffentlich zu diesen Themen. Bin ich größenwahnsinnig? »Euthanasie war zwar etwas Schlimmes, aber das ist Vergangenheit.« Ich aber warne immer wieder vor der Gefahr, daß rein betriebswirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken und der Wahnglaube an den »perfekten Menschen« erneut zu Internierung und ggf. auch Vernichtung von Menschen führen kann, deren Leben als »unwert« abqualifiziert wird. Bin ich ein schwarzsehender Panikmacher?

Hier versammle ich etliche Essays und – leicht überarbeitete – Bundestagsreden aus den letzten zehn Jahren, mit denen ich mich der öffentlichen Debatte stelle. Sie läuft ja seit Jahren. Manchmal heißt sie »Sterbehilfe«, manchmal »Stammzellenforschung«, ein andermal »Bioethik« oder »Pränatal- bzw. Präimplantationsdiagnostik«. Sie heißt auch »Organtransplantation« oder »Menschenrecht auf Teilhabe«. Dann auch wieder »Euthanasie«. Immer aber geht es um das Menschenbild, von dem wir unsere Gesellschaftskonzeption ableiten. Es geht also um das Große und Ganze.

Obwohl verschiedene Personen dieselben oder sehr ähnliche Wortfarben verwenden – Menschenbild, Freiheit, Selbstbestimmung, Teilhabe, Inklusion, Werte usw. –, ist doch unübersehbar, daß sie damit sehr unterschiedliche Bilder malen. Ich also zeichne aus der Perspektive eines politisch engagierten, männlichen Rollstuhlfahrers, der inzwischen in Rente ist und Angst davor hat, ins Heim zu müssen, sobald das Ersparte aufgebraucht ist. Weil individuelle Ansprüche auf gesellschaftliche Teilhabeermöglichung durch persönliche Assistenz zwar auf manchen Papieren postuliert, in der Verwaltungspraxis aber gern unterlaufen werden. Weil es »eben so ist«. Weil es eben »leider nicht anders geht«. Derartige Sprüche übertünchen die neoliberalen Gewinnversprechungen privater (oder auch gemeinnützlicher) Heimbetreiber nur bläßlich. In viel kräftigeren Farben werden Heilsversprechen von »ewiger Gesundheit« oder »modernen Senioren-›Residenzen‹« in den Wind gemalt. All das mit der karitativen Attitüde, doch niemandem »zur Last fallen« zu müssen.

Diese Sammlung ist eine Einladung zur (weiteren) Diskussion. Einige Essays reflektieren bestimmte Entwicklungen der Argumentation in den letzten Jahren. Andere nehmen aktuelle Ereignisse – zum Beispiel Gesetzesvorhaben – zum Anlaß für weiterreichende Konzepte. Viola Lehnhardt-Schubert bietet ein erstes Angebot zu weiterführenden Debatten. Ich danke ihr dafür ebenso herzlich wie Peter Porsch, der mit seinem Nachwort laut und öffentlich darüber nachdenkt, wie er – und mit ihm Sie/Ihr, die Leser*innen – mit meinen Vorschlägen umgehen könnte. Er begreift die Widersprüchlichkeit meiner Postulate und der Alltagswahrnehmung als produktive Herausforderung. Für sich. Für mich. Für alle. Und damit meinen wir jede und jeden.

Die (wissenschaftliche) Entwicklung schreitet voran. Stillstand wäre unmenschlich. In China – so meldeten Agenturen vor wenigen Monaten – wären Zwillinge geboren worden, die immun gegen Aids seien. Ein Wissenschaftler habe – mehr oder weniger auf eigene Faust – genetisch in die Keimbahnen der Mädchen eingegriffen. Die Fachwelt schien einen Moment lang innezuhalten. Ein (weiteres) Tabu ist gebrochen. Wollen wir das? Unabhängig davon, ob sich die Verheißung bewahrheitet, steht die Frage im Raum: Können wir – die Menschheit, kleiner geht es nicht – derartiges wirklich wollen? Und wenn nicht: Können wir es überhaupt verhindern? Wenn ja: Wie? Sind wir – die Menschen – tatsächlich vernunftbegabt genug, nicht jeden Weg zu gehen? Sind ethische Grenzen haltbar genug, dem Machbarkeitswahn wirkungsvoll zu widerstehen? Ich weiß es nicht. Oder bin ich ein Fortschrittsverhinderer, wenn ich vor Möglichkeiten warne? Wenn ich an das Verantwortungsbewußtsein appelliere? Bin ich vielleicht ein hoffnungsloser Illusionist? Einer, der nur verlieren kann? Ein unverbesserlicher Pessimist? Einer, der Chancen ausschlägt, weil er nur Risiken sieht?

Ich möchte aber ein Optimist bleiben. Ich möchte mich meines Lebens freuen können. Jeden Tag und bis zum letzten. Ich möchte diese Glücksgefühle, diese Zukunftsgewißheit für alle. Und für jede*n Einzelne*n. Ich möchte Zukunft gestalten können. Mit anderen. Mit Euch. Es geht mir nicht darum, Risiken zu verabsolutieren oder gar Widersprüche »abzuschaffen«. Nein. Ich betrachte Widersprüche nach wie vor als Triebkräfte von Entwicklung. Sie sind also etwas Positives. Aber ich will meinen Traum, der Vernunft dominierende Geltung zu verschaffen, näher kommen.

Berlin, im Februar 2019
Ilja Seifert

Die Welt steht auf der Kippe,

Ist nah dem Untergang.

Der Tod winkt mit der Hippe,

Kaum einem wird es bang.

Verzweifelt mein Versuch,

Zu retten diese Welt.

Mit einem schmalen Buch,

Das wenig nur enthält.

Und doch kann ich’s nicht lassen,

Zu hoffen immerdar.

Will nicht die Menschen hassen.

Für mich ist eben klar:

Ich stütze mit der Hippe

Die Welt, daß sie nicht kippe.

Kein Gentest ohne umfassende Aufklärung

Es ist einige Jahre her, da starb in meinem Wahlkreis eine Frau an der Huntington-Krankheit. Das ist wahrlich kein schöner Tod. Ihr Sohn, der damals Anfang zwanzig war, hatte eine gute Schulausbildung hinter sich, eine Wunsch-Lehre absolviert und fing an zu arbeiten. Weil seine Mutter an dieser Krankheit gestorben war, ließ er sich auf die Huntington-Krankheit testen. Da die entsprechende Disposition monogenetisch diagnostizierbar ist, erscheint das einfach. Solche Tests wurden damals ohne große Vorbereitung und ohne große Aufklärung durchgeführt. Der Test fiel positiv aus. Dies stürzte diesen Mann ins Unglück: Er empfand diese Diagnose als »sein Todesurteil«, wie er es bezeichnete.

Positive Diagnose = negative Reaktion?

Niemand weiß, wann diese Krankheit ausbricht. Man weiß nur, daß sie – mit hoher Wahrscheinlichkeit – ausbricht. Und man weiß, daß sie zum Tode führt. Zu einem – wie gesagt – sehr qualvollen Tod.

Wie reagierte der junge Mann? Er hörte auf zu arbeiten. Tröstete sich mit Drogen. Er verlor seine Familie, fiel ins Bodenlose. Was will ich damit sagen? Es reicht nicht, solche Tests anzubieten, man muß auch darüber aufklären, wie man mit einem positiven Testergebnis umgehen kann. Heute haben wir eine Gelegenheit, darüber zu reden.

Die Debatte ist – wie sich zeigte – von hoher Ernsthaftigkeit geprägt. Wir müssen also bedenken, daß es nicht nur um die Aufklärung derjenigen geht, die einen solchen Test machen wollen. Es geht auch um die Aufklärung der Angehörigen; es liegt ja auf der Hand, daß die Verwandten immer mit betroffen sind. Ich meine aber, wir brauchen darüber hinaus eine breite gesellschaftliche Aufklärung – im Vorfeld –, was die Ergebnisse solcher Tests sein können und wie wir damit umgehen sollen.

Ich nenne noch ein Beispiel: Selbst wenn sich eine junge Frau darüber aufklären läßt, was ein Gentest auf die Anlage für Brustkrebs aussagen kann und wie sie mit dem Fall, daß der Test positiv ausfällt, umgehen kann, bleibt die Frage, wie sich ihr Partner und die ganze Familie verhalten. Wie gehen sie damit um, wenn sie nicht mit aufgeklärt wurden? Und was tun Kolleginnen und Kollegen, wenn sie davon erfahren? Da können Dinge zerbrechen, die nicht kaputtgehen müßten.

Aufklärung schon in der Schule

Wenn wir also nicht eine breite öffentliche Aufklärung darüber haben, was solche Tests aussagen können – wie lange kann es dauern, bis die Vorhersagen eintreffen, falls sie überhaupt eintreffen, und mit welcher Härte treffen sie ein? –, dann richten wir mehr Schaden an, als wir Nutzen stiften können. Ich will noch eines hinzufügen: Wenn wir Aufklärung betreiben, müssen wir auch ernsthaft darüber reden, was es eigentlich bedeutet, mit einer genetischen Krankheit oder der daraus folgenden Behinderung zu leben.

Wir müssen klarmachen, daß eine erbliche Krankheit zwar nicht wünschenswert ist, aber auch nicht das Todesurteil bedeutet. Wenn man von einer erblichen Krankheit betroffen ist, müssen schließlich Generationen vor einem ebenfalls damit gelebt haben. Wir müssen klarmachen, daß man auch mit solchen Krankheiten und den daraus folgenden Beeinträchtigungen und Behinderungen gut am familiären und gesellschaftlichen Leben teilhaben, jede Menge Freude empfinden und daß man auch unter diesen Vorzeichen ein erfülltes Leben führen kann. Wenn die Aufklärung nicht in dieser Form erfolgt, wird jeder Betroffene stigmatisiert sein. Das wäre eine Form von Selektion. Das wollen wir auf keinen Fall. Man muß auf die finstere Nazizeit hinweisen, in der mit Genetik furchtbare Verbrechen begründet wurden.

Wenn wir in der breiten Öffentlichkeit – zum Beispiel in den Schulen – keine allgemeine Diskussion über Gentests führen, werden wir, wenn es um den konkreten Gentest und die individuelle Aufklärung geht, Schiffbruch erleiden. Dann werden positive Diagnosen weiterhin zu negativen – ja, sogar zu selbstzerstörerischen – Reaktionen führen.

(Mai 2007)

Ethik und Verantwortung

Unser Alltag ist von praktischen Entscheidungen geprägt. Es geht dabei vorrangig um sehr materielle Dinge, um Essen und Trinken, um Kleidung, um angenehmes Wohnen, um Arbeit, um Partnerschaften. Hinzukommen Reisen, Kultur, für manche mehr Sport, für andere mehr Geselligkeit. Wenn gesetzgeberische Maßnahmen zur Sprache kommen, stehen eher materielle Auswirkungen im Mittelpunkt, die für jede und jeden sofort oder demnächst spürbare Veränderungen bringen. Breite philosophische Debatten sind eher selten. Heute haben wir wieder eine solche.

Konkrete Ethik ist auch im Alltag relevat

Der Bundestag setzte im Jahre 2000 eine erste Enquête-Kommission ein – ich war deren Mitglied –, die sich mit »Recht und Ethik der modernen Medizin« befaßte. Große Zeitungen füllten ihre Feuilletons mit umfangreichen Essays namhafter Autorinnen und Autoren, in denen Ethik, Stammzellen, Embryonen, Nidation und nicht zuletzt Menschenwürde zu den Schlüsselworten zählen.

Gestandene Feministinnen und junge Frauen sahen die gewonnene Freiheit in Gefahr, über ihren Bauch selbst zu bestimmen. Die organisierte Behindertenbewegung rang sich zu einmütigen Erklärungen gegen jegliche Selektionsmechanismen durch. Und selbst wenn ich irgendwo zu politischen Diskussionen oder geselligen Vereinsfeiern eingeladen wurde, mußte ich gewärtig sein, danach gefragt zu werden, wie ein sich aufgeklärt dünkender Sozialist damit zurechtkommt, in fundamentalen Fragen – zum Beispiel des Beginns menschlichen Lebens – in einem Atemzug mit katholischen Bischöfen genannt zu werden. Kurz und gut: Philosophie, konkrete Ethik scheint viele Menschen im Alltag tatsächlich zu interessieren.

Heute steht nun im Bundestag wieder die Frage an, ob ich mich für oder gegen die Forschung an und mit menschlichen embryonalen Stammzellen ausspreche. Scheinbar läßt sich das relativ leicht beantworten: Ich sage klar: Nein. Ich bin dagegen.

Bereits 2002 war klar: Die Auswirkungen der Entscheidung werden sich erst in Zukunft mit aller Deutlichkeit zeigen.

Es war eine Richtungsentscheidung. Genau deshalb rangen ja Protagonistinnen und Protagonisten beider Seiten mit so großem Engagement für ihre Positionen. Man mußte sich bei der Entscheidung mit ethischen, medizinischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Aspekten auseinandersetzen.

Meine Sachkenntnis auf diesen fünf Feldern ist ziemlich unterschiedlich ausgeprägt. Dennoch will ich versuchen, diesem Anspruch wenigstens ansatzweise zu entsprechen:

Entwickelt sich ein Embryo als Mensch oder zum Menschen?

1.) Ethische Aspekte der Forschung an und mit humanen embryonalen Stammzellen

Dieser Aspekt ist ausschlaggebend für meine ablehnende Haltung. Habe ich nun eine alltagstaugliche Ethik? Ist mein/unser Alltag ethiktauglich? Sind ethische Maßstäbe überhaupt geeignet, praktische Fragen beantworten zu helfen? Führen ethische Erwägungen zwangsläufig zu Fundamentalismen, wenn ich sie zur Grundlage praktischpolitischer Entscheidungen nehme? Machen sie kompromißunfähig oder geben sie im Kompromißgewirr orientierenden Halt? Wenn ich die Menschenwürde als unveräußerliches Gut ansehe – und ich tue das –, dann darf (und will!) ich keine Abstufungen vor- beziehungsweise hinnehmen. Sobald nämlich die Würde an bestimmte Kriterien (Eigenschaften) gebunden wird, sind der Willkür Tür und Tor geöffnet.

Wer solche Kriterien (Eigenschaften) sucht, kommt zu Selbstbewußtsein und/oder bestimmten Fristen (Phasen der Entwicklung) u. ä. Daß sich Selbst-bewußt-Sein erst im Laufe der Entwicklung ausprägt, liegt auf der Hand. Aber woher nimmt jemand die Sicherheit, ab wann es »genügend« ausgebildet sei, um den vollen Würdeschutz zu rechtfertigen? Ist das nach der Habilitation? Vor einer mittelschweren Alzheimer-Erkrankung? Mit drei Jahren? Drei Monaten? Mit Beginn oder Ende der Schulausbildung? Nach der Einnistung des Embryos in die Gebärmutter? Wie ist es während des Tiefschlafs oder unter Narkose? Es finden sich ziemlich absurd klingende Kriterien. Ob – und ggf. ab wann – ein Embryo im Mutterleib Selbstbewußtsein hat, weiß ich nicht. Erst recht läßt sich vermuten, daß eine befruchtete Eizelle in der Petrischale – also außerhalb des Leibes einer Frau – noch nicht über Bewußt-Sein seiner/ihrer selbst verfügt. Umstritten ist, ob die befruchtete Eizelle – der/das Embryo – sich als Mensch oder zum Menschen entwickelt, wenn man sie (ihn; es) nur läßt. Die unterschiedliche Beantwortung dieser Frage hat weitreichende Konsequenzen. Ich sehe eine Entwicklung als Mensch. Deshalb ist es am wenigsten willkürlich, vom frühestmöglichen Zeitpunkt an den vollen Würdeanspruch zu verteidigen. In bezug auf bestimmte Fristen, in denen sich ein Embryo zum Menschen entwickele, gibt es sehr unterschiedliche Auffassungen. Manche setzen die Grenze erst Wochen nach der Geburt. Andere bei der Geburt. Wieder andere bei der Einnistung in die Plazenta. Wieder andere im achten oder sechzehnten Zellstadium. Etliche bei der Kernverschmelzung von Ei- und Samenzelle. Gemeint ist der Moment, in dem erstmalig ein doppelter Chromosomensatz vorliegt. Diesen Punkt definiert auch das Embryonenschutzgesetz als den Beginn menschlichen Lebens.

Es gibt durchaus auch Argumente, die dafür sprächen, schon das sogenannte Vorkernstadium, also auch den Zeitraum zwischen dem Eindringen der Samenzelle und der Kernverschmelzung, als diesen Punkt zu nehmen. Nicht verschwiegen werden soll, daß es sogar noch weiter vorverlagerte Ansätze gibt, also solche, die bereits die Ei- und die Samenzelle (die Gameten selbst) als Beginn des menschlichen Lebens ansehen.

Wir müssen uns also entscheiden, ob eine bestimmte Art menschlicher Zellen – eben die Embryonen – Würdeund Lebensschutz brauchen, ob er ihnen automatisch zukommt oder ob sie als irgendeine Art menschlicher Zellen unter vielen zu betrachten sind. Haben Embryonen einen anderen Status als Hautzellen (zum Beispiel Haare) oder Blut? Auch letztere sind zweifellos Teil menschlichen Lebens. Ein gewisses Maß an Willkür ist – ob man will oder nicht – in Entscheidungssituationen immer im Spiel. Ein ethischer Maßstab kann da hilfreich sein. Ich meine, Embryonen kommt der Würdeschutz des Grundgesetzes von Anfang an zu.

»Verzweckung« kostet Menschenwürde

2.) Medizinische Aspekte

Verhießen wurde, mit Hilfe embryonaler Stammzellforschung schwere, bisher unheilbare Erbkrankheiten lindern oder gar heilen zu können. Wer würde das nicht wollen?! Eine Garantie gab jedoch niemand. Inzwischen redet kaum noch jemand ernsthaft davon.

Aber: Wenn mit embryonalen Stammzellen geforscht wird, fehlen in der Zwischenzeit die Ressourcen (finanzielle Mittel, wissenschaftliche Kapazitäten, Labor- und Medizintechnik usw.), die dafür gebraucht/benutzt/verwendet werden, an anderer Stelle.

Beispielsweise in der Forschung, die sich damit befaßt, die Lebensbedingungen für diejenigen zu verbessern, die mit diesen Krankheiten leben. Auch bei anderen, ethisch wesentlich unproblematischeren Gesundheitsforschungen. Gesundes Forschen hilft heilen. Und: mit Unheilbarem besser zu leben. Ich halte das für erfolgversprechender, als das Heil in forscher Gesundung zu erwarten.

Ob Stammzellen aus Embryonen »gewonnen« werden, was ja heißt, befruchtete, voll entwicklungsfähige menschliche Eizellen zu zerstören, oder ob Stammzellen aus dem Restblut der Nabelschnur oder gar aus dem Gewebe erwachsener Frauen und Männer isoliert werden, macht einen fundamentalen ethischen Unterschied.

Forschung mit und an Stammzellen muß den »umprogrammierten « Zellen irgendwann einmal die Möglichkeit der Entwicklung geben. Es muß ausprobiert werden, ob sie tatsächlich Organgewebe – langfristig vielleicht sogar ein Herz, eine Leber, Haut oder welches Organ auch immer – werden. Und man muß – irgendwann, bei irgendwem – dieses Gewebe ausprobieren. Sicher fänden sich Frauen und/oder Männer, die – aus welchen Motiven auch immer – bereit wären, sich solchen Experimenten zu unterziehen. Was aber geschieht danach? In jedem Falle beginnen diese Organe zu leben. Sie werden Teil des konkreten Menschen. Egal, wie lange das funktioniert. In jedem Falle gehen die Organe biologische (Stoff-)Wechselwirkungen ein. Selbst im Falle des Mißlingens, des Todes also, weiß niemand, was bei deren Verwesung passiert. Und falls es gutgehen sollte: Menschen pflanzen sich fort. Welche Auswirkungen haben künstlich erzeugte Organe auf die Nachkommen der Empfängerinnen und Empfänger?

Das ist dann nicht mehr eine Frage, die einzelne betrifft, das betrifft dann die Menschheit als Gattung. Was da einmal in die Welt gesetzt ist, kann niemand mehr rückgängig machen. Das lebt einfach.

Aber: Ich will auch medizinischen Fortschritt. Forschung – auch Stammzellforschung – ist ein Weg dahin. Ohne Risiken geht das nicht. Während die Befürchtungen zwar benennbar, nicht aber sicher sind, verhält es sich bei der Herkunft der verschiedenen Stammzellformen anders. Embryonale Stammzellen können nur dadurch »gewonnen « werden, daß ein Embryo, dem meines Erachtens voller Würdeschutz zukommt, zerstört – also getötet – wird.