Largo, Remo Lernen geht anders

Mehr über unsere Autoren und Bücher: www.piper.de

 

Remo H. Largo Lernen geht anders
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 

© edition Körber-Stiftung, Hamburg 2010
Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten|glcons.de
unter Verwendung eines Fotos von: Flynn Larsen/Getty Images
www.edition-koerber-stiftung.de

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Widmung

 

Für Eva, Kathrin und Johanna

Motto

 

Seit Jahrhunderten umkreisen wir das Kind

mit unterschiedlichsten Vorstellungen,

beim Kind selbst sind wir immer noch nicht angekommen.

Bildung und Erziehung im Umbruch

Was erhoffen wir uns für unsere Kinder? Wir wünschen uns, dass sie in Geborgenheit und Sicherheit zu sozial kompetenten Menschen heranwachsen, dass sie sich neugierig und selbstständig ihre Welt erschließen dürfen und dass sie all ihre Fähigkeiten entwickeln können, die ihnen helfen werden, einen Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Es ist die Aufgabe von Bildung und Erziehung, das Kind in die Sitten und Wertvorstellungen seiner Lebensgemeinschaft einzuführen, es in seiner Entwicklung zu fördern und ihm eine Ausbildung zu ermöglichen, die ein existenzielles Auskommen gewährleistet. Ihr Ziel ist die soziale, kulturelle und berufliche Integration. Häufig wird die Erziehung ausschließlich der Familie zugeschrieben, während die Schule für die Bildung verantwortlich gemacht wird. Doch Bildung und Erziehung sind nicht voneinander zu trennen. Eltern erziehen ihre Kinder nicht nur, sie tragen auch zu ihrer Bildung bei. Und Schule bildet nicht nur, sie erzieht ihre Schüler auch. Seit einigen Jahren schon stehen Bildung und Erziehung gleichermaßen in Familie und Schule auf dem Prüfstand.

Die Verunsicherung ist groß: Eltern suchen Hilfe bei zahllosen Ratgebern und Kursangeboten. Wer keinen Elternkurs besuchen will, wird von manchen Eltern schief angesehen und muss sich gar rechtfertigen. Eltern der Mittel- und Oberschicht investieren in ihre Kinder wie nie zuvor. So steht die Frühförderung auf der elterlichen Agenda ganz oben: Sie nehmen mit ihrem Kind an Kursen für Baby-Signing teil und schicken es ins Frühenglisch.

Auch in der Schule ist die Besorgnis groß. Die Resultate der PISA-Studien haben bei Bildungspolitikern und Bildungswissenschaftlern wie auch in der Bevölkerung große Zweifel am bestehenden System geweckt. Die Studien zeigten unter anderem auf, wie sehr Kinder aus bildungsfernen Familien in unserem Bildungssystem benachteiligt werden. In der Öffentlichkeit und in der Politik wird kaum eine Debatte so heftig geführt wie die über die Vor- und Nachteile von Gesamtschule und gegliederter Schule. Die gesellschaftliche Verunsicherung erzwang hektische und überstürzte Bildungsreformen, die wiederum zu übertriebenen Leistungsanforderungen bei den Kindern sowie großem Druck bei Eltern und Lehrern geführt haben. So werden die Kinder schon mit dem Schulein- tritt auf ein erfolgreiches Überstehen der Selektion für das Turbogymnasium gedrillt. Deutschlands Eltern geben jährlich mehr als eine Milliarde Euro für privaten Nachhilfeunterricht aus (Dohmen 2008). Die vorzeitige schulische Auslese schafft nicht nur einen enormen Leistungsdruck, er benachteiligt auch viele Kinder. Die Lehrer leiden unter einem überladenen Lehrplan und kämpfen mehr und mehr mit erzieherischen Schwierigkeiten.

Die Auswirkungen des zunehmenden Drucks auf Kinder und Jugendliche sind unübersehbar: Psychosomatische Erkrankungen wie Schlafstörungen, Magersucht und Depressionen nehmen zu. Rund 400 000 deutsche Kinder mit der Diagnose ADHS werden mit Ritalin ruhiggestellt. Jugendliche begehen überdurchschnittlich häufig Suizid. Der Alkohol- und Drogenkonsum steigt beängstigend. Psychische und physische Gewalt gehört in vielen Schulen zum Alltag. Autorasen und Amoklaufen werden zu neuen Bedrohungen. Immer mehr Schüler fühlen sich in der Schule sozial ausgegrenzt, immer mehr verweigern die Schule. Zu viele Hauptschüler verlassen die Schule ohne Abschluss oder Lehrstelle.

Es gibt zahlreiche Gründe für die Zunahme der Belastungen, unter denen Kinder und Erwachsene gleichermaßen leiden. Einer der wichtigsten ist zweifelsohne, dass Bildung und Erziehung in einer engen Wechselbeziehung mit den sich verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen stehen. Bis in die 1970er Jahre hinein bestand hier über Generationen hinweg eine gewisse Kontinuität, welche die Stabilität in Familie und Schule gewährleistete. Eltern erzogen ihre Kinder so, wie sie selber und schon ihre Großeltern erzogen worden waren, und auch der Schulstoff ihrer Kinder war ihnen aus der eigenen Schulzeit weitestgehend vertraut. In der Gesellschaft bestand ein breiter Konsens über den Bildungskanon unserer Schulen, der im Wesentlichen vom Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts geprägt worden war und – darauf war man besonders stolz – bis zu den alten Griechen zurückreichte und große Anteile des europäischen Kulturgutes umfasste.

Seit 1970 haben Gesellschaft, Kultur und Wirtschaft einen Wandel durchgemacht, den wir in seinem ganzen Ausmaßnoch nicht richtig begreifen, den wir jedoch spüren und der uns beunruhigt. Es ist keine Übertreibung, wenn dieser Wandel zumindest in einigen Aspekten als Zäsur in der Menschheitsgeschichte bezeichnet wird. Und es ist wenig erstaunlich, dass Familie und Schule, gewissermaßen die Vorzimmer der Gesellschaft, davon zutiefst betroffen sind.

Wie sich die Familie verändert

Familie.jpg

Familie vor 80 Jahren …[1]

 

heute.jpg

… und heute[2]

 

Die Familie betrachten wir als die Kernzelle unserer Gesellschaft. Über Jahrtausende hinweg bildeten mehrere Erwachsene und viele Kinder eine Lebensgemeinschaft. Eine solche Großfamilie halten 80 Prozent der jungen Erwachsenen auch heutzutage noch für erstrebenswert (Shell Jugend-Studie 2006). Für die meisten wird sie jedoch eine Wunschvorstellung bleiben: Innerhalb von nur drei Generationen sind wir ein Volk von Kleinfamilien geworden. Durchschnittlich 1,4 Kinder zählt heute eine Familie in den deutschsprachigen Ländern. Ein schwaches Drittel der Eltern hat ein einziges Kind, ein gutes Drittel zwei Kinder, und ein letztes Drittel – überwiegend Migrationsfamilien – bekommt mehr als zwei Kinder. Die Kleinfamilie wird zusätzlich geschwächt durch eine Scheidungsrate von über 40 Prozent. Immer mehr Kinder werden von alleinerziehenden Eltern großgezogen. Mit der Entwicklung von der Groß- zur Kleinfamilie und weiter zur Scheidungs- und Patchworkfamilie sind die Anforderungen an Betreuung und Erziehung der Kinder deutlich gestiegen.

In der bisherigen Menschheitsgeschichte bedeuteten Kinder Schicksal. Oftmals kamen zu viele auf die Welt, nicht selten stellten sie eine große Belastung für die Eltern dar. Dank der modernen Familienplanung sind heute bis zu 80 Prozent der Kinder Wunschkinder. Sich für ein Kind zu entscheiden bedeutet für die Eltern, zwischen Familie, beruflicher Karriere und materiellem Wohlstand abwägen zu müssen. Haben sie ein Kind, dann wollen sie auch alles richtig machen. Überspitzt gesagt: Das Kind soll ein Erfolg werden. Damit wird es namentlich in der Mittel- und Oberschicht oft zum Projekt; das erwünschte Resultat soll ein hochbegabtes Kind sein. Eine durchschnittliche Begabung, so scheint es, genügt manchen Eltern nicht mehr.

In den letzten 40 Jahren haben sich nicht nur die Familienstrukturen grundlegend verändert, sondern auch das Rollenverständnis von Frau und Mann und damit ebenso das von Mutter und Vater. Simone de Beauvoir (2000) sprach in den 50er Jahren von der Mutterschaft als Fessel der Frau, und es war die Einführung der Pille in den 1970er Jahren, die die Frau von dieser Fessel befreite. Bis in die 1970er Jahre waren die meisten Frauen weitgehend von ihrem Ehemann abhängig, spätestens wenn sie das zweite oder dritte Kind erwarteten, denn eine Scheidung hätte sie wirtschaftlich an den Rand des Ruins getrieben und sozial stigmatisiert. Heute können die Frauen selbst bestimmen, ob sie Kinder haben wollen oder nicht. Gleichzeitig haben sie ihren traditionellen Bildungsrückstand gegenüber den Männern wettgemacht und die Männer bereits teilweise überholt, was auch in einem verbesserten Selbstbewusstsein zum Ausdruck kommt. 70 Prozent der 16- bis 29-Jährigen schätzen Frauen als genauso selbstbewusst ein wie Männer, bei den über 60-Jährigen sind es lediglich 29 Prozent (Allensbach 2006). Die Emanzipation nicht nur einiger weniger Frauen, sondern des ganzen weiblichen Geschlechts ist ein weiteres, in der Menschheitsgeschichte wohl einmaliges Phänomen.

Der Mythos, dass nur die Mutter für die gesunde Persönlichkeitsentwicklung ihrer Kinder sorgen könne, ist erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und wurde vor allem von Männern gefördert. In den Jahrhunderten zuvor ist die Mutter in der Kinderbetreuung immer unterstützt worden, sie hätte es unter den oft sehr schwierigen Lebensbedingungen gar nicht geschafft, mehrere Kinder allein großzuziehen. Sie musste zudem auf vielfältigste Weise zum Überleben der Familie beitragen. Das historische Modell ist die arbeitende Mutter, die historische Ausnahme die Reduktion auf die fürsorgliche Alleinbetreuerin. Der gesellschaftliche Anspruch, dass Eltern für die alleinige Betreuung ihrer Kinder zuständig sind, konnte in den letzten Jahren immer weniger eingelöst werden, weil sich immer mehr Mütter beruflich engagieren. Die emanzipierte und gut ausgebildete Frau steht heute vor Fragen, die sich nie zuvor für sie gestellt haben: Soll sie eine berufliche Karriere verfolgen? Will sie eine Familie gründen? Oder versucht sie beides miteinander zu vereinbaren? So oder so hat das Kind einen enormen Stellenwert. Bleibt die Mutter zu Hause, ist ihr Selbstwert an das Kind gebunden. Geht sie arbeiten, müht sie sich ab, Kind und Karriere unter einen Hut zu bringen. Für geschiedene oder alleinerziehende Mütter, die aus finanziellen Gründen arbeiten müssen, wird die Kinderbetreuung erst recht zu einer großen Belastung. Außerdem geht längst nicht jede Frau so wunschlos glücklich in der ausschließlichen Mutterrolle auf, wie es der männliche Mythos so gerne verbreitet. Eine Züricher Studie hat gezeigt, dass manche Mütter unglücklich, ja depressiv werden, wenn sie mit ihrem Kleinkind allein zu Hause, sozial isoliert sind (Huwiler 2001). Das bedeutet wiederum freilich nicht, alle Frauen seien nur dann glücklich, wenn sie sich beruflich engagieren.

In Deutschland hat seit Kurzem ein Umdenken in der Kinderbetreuung stattgefunden, das sich bereits in der Gesetzgebung wiederfindet: Ab 2013 hat jedes Kind einen rechtlichen Anspruch auf einen Kita-Platz. Was noch aussteht, ist eine außerfamiliäre Kinderbetreuung von guter Qualität und ein ausreichendes Angebot.

Wie ergeht es dem Mann in diesem Wandel? Er ist nicht mehr der exklusive Ernährer der Familie, denn mittlerweile ist mindestens die Hälfte der Frauen ebenfalls berufstätig. Der Anteil der Frauen, die mehr als 60 Prozent des Familieneinkommens erwirtschaften, betrug 2006 in Westdeutschland 11 Prozent und in Ostdeutschland 16 Prozent (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2010). Der Mann, das Familienoberhaupt vergangener Zeiten, muss sich als Ehepartner und Vater weitgehend neu erfinden. 70 Prozent der Scheidungen werden heutzutage von Frauen angestrengt. Die Männer würden ihrer Rolle als Partner und vor allem als Vater nicht nachkommen, so einer der am häufigsten genannten Gründe für die Scheidung. Mütter erwarten, dass sich die Väter in der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder stärker engagieren. Keine leichte Aufgabe für die berufstätigen Väter, da die Arbeitgeber nach wie vor nur wenig Verständnis für die Bedürfnisse der Familie aufbringen und den Eltern kaum mit flexibleren Arbeitsbedingungen entgegenkommen. Dass sich diese gesellschaftlichen und partnerschaftlichen Veränderungen vielfältig auf die Erziehung auswirken, ist augenscheinlich.

Politiker kämpfen seit 30 Jahren mit einem weiteren, scheinbar unlösbaren demografischen Problem: Es werden zu wenig Kinder geboren. Gegenwärtig kommen in Deutschland jedes Jahr knapp 700 000 Kinder zur Welt. Um die Bevölkerung stabil zu halten, müssten aber 350 000 Kinder zusätzlich geboren werden. Sozialpolitiker sorgen sich um die Altersrenten, die für künftige Generationen immer weniger gesichert sind. Um den Bevölkerungsschwund zu kompensieren, müssen die fehlenden Arbeitskräfte durch Einwanderung wettgemacht werden. Die Folgen sind wiederum soziale Probleme bei der gesellschaftlichen Integration. Und die sprachliche, kulturelle und soziale Heterogenität unter Schulkindern ist eine der großen Herausforderungen für das Schulsystem.

Hier lohnt sich ein Blick auf die skandinavischen Länder, die seit Jahren eine ausgeglichene Bevölkerungsbilanz aufweisen: Wenn Eltern in der Kinderbetreuung, Bildung und Erziehung ausreichend von der Gesellschaft unterstützt werden, bekommen sie auch mehr Kinder. Wenn Familie und Kinder für die jungen Menschen jedoch vor allem Last und Frust bedeuten, planen sie nur wenig Nachwuchs oder verzichten gar ganz darauf. Die Politik muss sich endlich zu der Einsicht durchringen, dass es erst dann wieder mehr Kinder geben wird, wenn es auch Freude macht, sie großzuziehen.

Was Generationen heute trennt

Unter Kultur wird im weitesten Sinn der Inbegriff von Wissen und Fähigkeiten verstanden, die sich der Mensch im Laufe seines Lebens als Teil der Gesellschaft aneignet. Dazu gehören Sprache, Moral, Recht und Sitte, Religion, Wirtschaft und Wissenschaft sowie alle Formen des künstlerischen Ausdrucks. Kultur trägt auf vielfältigste Weise, vor allem mit Gebräuchen, Ritualen und Werten, zum Zusammengehörigkeitsgefühl und zur Identitätsbildung einer Gesellschaft bei.

Damit die Kultur erhalten bleibt, muss sie von Generation zu Generation tradiert werden. Ursprünglich geschah dieser Generationentransfer als orale Tradition und durch Imitationslernen, dann mithilfe der Schriftsprache und heute zunehmend durch die elektronischen Medien mit Text und Bild. Tomasello (2002) beschreibt den Anreicherungsprozess von Wissen und Fertigkeiten als »Wagenhebereffekt«: Mit jeder Generation wird der Umfang des Kulturgutes angehoben. Eine erste starke Zunahme von Wissen und Fertigkeiten hat vor etwa 300 Jahren eingesetzt; in den letzten Jahrzehnten hat dieser Zuwachs ein exponentielles Ausmaß angenommen. Der exzessive Umfang des Kulturgutes ist für das Individuum längst nicht mehr zu überschauen. Suchmaschinen im Internet wie Google sind eine große Hilfe, um sich in den Datenmassen einigermaßen zurechtzufinden, sie lassen uns aber auch deren unfassbare Dimensionen bewusst werden. Das Bildungssystem hat die überaus anspruchsvolle Aufgabe auszusortieren, welches Wissen und welche Fertigkeiten den jungen Generationen vermittelt werden sollen.

Kulturelles Gut wurde in der Vergangenheit hauptsächlich lokal in den jeweiligen Lebensgemeinschaften, man denke etwa an die zahllosen Vereine, tradiert. Heute hingegen nehmen Musik, Theater, Film, Literatur und sehr viele Konsumprodukte immer globalere Züge an. Kaum ein Jugendlicher, der den amerikanischen Kinobestseller »Avatar« verpasst hätte oder nicht mit japanischen Videogames spielt. Die älteren Generationen befürchten zu Recht, dass wunderbare Texte wie Johann Peter Hebels »Kannitverstan« oder Rilkes »Panther« immer mehr in Vergessenheit geraten. In der Schule liest die junge Generation Goethes »Faust« oder Schillers »Räuber« nur mehr als Pflichtlektüre, wirklich interessieren sie aber die dicken Wälzer von »Harry Potter«. Sie hört Musik von der Kolumbianerin Shakira und kann mit Beethoven – der für viele Ältere noch zum Standardprogramm gehörte – wenig anfangen. Die Beziehungen der jungen Generation reichen nicht mehr nur von Tür zu Tür, vielmehr umspannen sie virtuell die Welt. Jugendliche in Deutschland verbringen eine Stunde pro Tag in sozialen Netzwerken wie Facebook oder Twitter; die meisten Eltern haben keinerlei Kontrolle über die virtuellen Ausflüge ihrer Kinder rund um den Erdball.

Eckpfeiler der Bildung waren seit jeher Geschichte und Religion. Die Verankerung eines Geschichtsbewusstseins in der heranwachsenden Generation trug zum Zusammenhalt und zur Identitätsbildung einer Volksgemeinschaft bei. Kinder sollten wissen, woher sie kommen, wer ihre Vorfahren waren, was diese geleistet und wofür sie gekämpft haben. In Deutschland und Österreich haben die schrecklichen Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein positives Geschichtsbild und eine Identitätsbildung erheblich beeinträchtigt. Mit der Einbindung in die EU und der Schaffung von Weltorganisationen wie UNO und Internationaler Gerichtshof wird der Nationalstaat als Entität immer blasser, was kein Anlass für Bedauern ist; er vermag jedoch den gesellschaftlichen Zusammenhalt immer weniger zu gewährleisten. Wie geht die Bildung damit um? Wie werden künftige Generationen auf grenzüberschreitende, kulturell und wirtschaftlich vielfältige Lebensgemeinschaften vorbereitet?

Die christliche Religion, jahrhundertelang eine wichtige kulturelle Klammer, hat ebenfalls stark an Bedeutung verloren. Als Ersatz halten Religionen aus allen Weltgegenden und esoterische Lehren Einzug in die Gesellschaft. So studieren nicht wenige junge Menschen ernsthaft den Zen-Buddhismus, andere verstehen sich als Agnostiker, und wieder andere suchen in Freikirchen oder irgendwelchen quasireligiösen Internetforen nach dem Sinn des Lebens. Wie schwer sich Gesellschaft und Schule mit Sinnfragen tun, zeigen die aktuellen Diskussionen über den Islam. Wie geht die Schule mit der Religion zukünftig um, insbesondere mit den ethischen Werten, die bisher durch die Religion vermittelt worden sind?

Es existiert eine Kluft zwischen den Generationen. Gelegentlich bekommt man den Eindruck, Eltern und Lehrer gehörten einer anderen Zeit an als die Kinder – was das Erziehen und Unterrichten kompliziert und anspruchsvoll gestaltet. Eine Kontinuität der Traditionen lässt sich beim besten Willen kaum mehr aufrechterhalten. Während sich die jungen Menschen scheinbar mühelos laufend Neues aneignen, erleben die älteren eine enorme Entwertung ihrer eigenen Lebenserfahrung. In der Vergangenheit verfügte der ältere Mensch aufgrund seiner jahrzehntelangen Erfahrungen über eine natürliche Autorität und wurde als Ratgeber geschätzt. Nun hat der technische Fortschritt, vor allem im IT-Bereich, sowie die Globalisierung und allgemeine Verfügbarkeit von Informationen diese Hierarchie zumindest nachhaltig erschüttert, wenn nicht umgedreht.

Mit diesen kulturellen und technologischen Umwälzungen haben Kinder und Jugendliche kein Problem, umso mehr aber die Erwachsenen. Deren Wertvorstellungen werden infrage gestellt, ihr Wissensmonopol erweist sich als brüchig, und ihre Kompetenzen altern im Schnellzugtempo. Es ist wohl ebenfalls erstmalig in der Menschheitsgeschichte, dass die junge Generation in wichtigen Bereichen kompetenter ist als die ältere. Die kulturellen Verwerfungen stellen soziale Hierarchien infrage und bringen sie sogar zum Einsturz, was die älteren Menschen verständlicherweise sehr verunsichert. Es führt kein Weg an der Einsicht vorbei: Die noch immer begrenzte Medienkompetenz vieler Eltern und Lehrer darf kein Tabuthema mehr sein, weil es die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen beeinträchtigt. Eltern und Lehrer sollten bereit sein dazuzulernen.

Dem Bildungssystem fällt das Loslassen von Altlasten außerordentlich schwer. Ein wesentlicher Teil der schulischen Überforderung, unter der Kinder, Eltern und Lehrer leiden, entsteht dadurch, dass immer mehr von den Kindern verlangt, im Gegenzug aber nichts weggelassen wird. Zusätzlich drängen neue Themen in die Schule, die die Jugendlichen wirklich bewegen, mit denen sich die Schule aber schwertut. Dazu gehören ethische Fragestellungen, wie beispielsweise: Warum sind Reichtum und Armut in der Welt so ungerecht verteilt? Oder Jugendliche wollen sich mit ökologischen Problemen wie Klimawandel, CO2-Verbrauch und Atomenergie und anderen globalen Themen, die ihre Zukunft mitbestimmen werden, auseinandersetzen. Wenn das Bildungssystem weiterhin versucht, an Althergebrachtem festzuhalten und sich dem Neuen zu verweigern, dann wird es in Abwandlung von Gorbatschows Diktum schmerzhaft lernen müssen: Wer sich dem Fortschritt nicht stellt, der bestraft seine Kinder. Dann findet der Fortschritt zunehmend außerhalb von Familie und Schule statt. Damit soll in keiner Weise einer undifferenzierten Fortschrittseuphorie gehuldigt werden, aber das Bildungssystem muss, wenn es das wertvolle kulturelle Erbe in die nächsten Generationen retten will, kritisch seine eigene Haltung hinterfragen, offen für Veränderungen sein und Altlasten zügig abtragen.

Warum die Wirtschaft Angst macht

Unsere Wirtschaft hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts einen tief greifenden Strukturwandel durchgemacht, der sich auch in unserer Zeit fortsetzt. Der Anteil der Beschäftigten in der Landwirtschaft sank von fast 60 auf unter fünf Prozent. Der industrielle Sektor verblieb bis in die 1970er Jahre bei rund 50 Prozent und ist seither unter 30 Prozent gesunken. Im gleichen Zeitraum stieg der Dienstleistungssektor auf rund 20 70 Prozent. Deutschland, Österreich und die Schweiz sind somit moderne Dienstleistungs- und Wissensgesellschaften geworden.

Grafik_1.jpg

 

Die immer weniger lokal verankerte Wirtschaft nimmt zunehmend globalen Charakter an. So kann es nicht erstaunen, dass diffuse Globalisierungsängste weite Kreise der Bevölkerung erfasst haben. Spätestens seit der jüngsten Finanzkrise macht sich die Befürchtung breit: Möglicherweise haben wir den Gipfel des Wohlstands erreicht, nachdem es seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirtschaftlich beinahe ständig aufwärtsgegangen ist. Von nun an könnte es wieder abwärtsgehen. Und eine Mehrheit der Bevölkerung befürchtet auch, dass die sozialen Unterschiede immer größer und die soziale Isolation noch ausgeprägter werden und zugleich die Sicherheit und Kalkulierbarkeit der eigenen Biografie abnehmen wird (Allensbach 2006). Vor 20 Jahren wähnte man sich noch in der Gewissheit, mit einer soliden Ausbildung und gutem Arbeitseinsatz werde einem die internationale Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt nichts anhaben können. Lange Zeit fühlte man sich mit einem Abitur und erst recht mit einem Hochschulstudium auf der sicheren Seite des Lebens – und zwar für immer. Mit dieser Sicherheit ist es vorbei. Arbeitslosigkeit nimmt nicht nur unter Nichtakademikern, sondern auch bei Akademikern zu. Arbeitsplätze von Software-Ingenieuren werden in aufstrebende Länder wie Indien ausgelagert und günstige, gut ausgebildete Informatiker aus dem Ausland eingeflogen. Andererseits machen Informatikfreaks Karriere ohne irgendeinen Abschluss – einfach weil sie gut sind und der Markt ihre Kompetenz honoriert. Zwar sind ein Abitur und ein Hochschuldiplom immer noch dienlich, aber eine Garantie auf einen guten Job bieten sie immer weniger. Man kann sich auch nicht mehr mit 25 Jahren in einem Beruf für den Rest des Lebens etablieren, sondern muss sich unter Umständen – so verlangt es die Wirtschaft – selbst im Alter von 40 oder 50 Jahren beruflich neu orientieren. Auch der gern zitierte Begriff des lebenslangen Lernens weckt in den meisten Menschen vermutlich mehr Angst als Interesse. Ganz offensichtlich geben Eltern diesen auf ihnen lastenden existenziellen Druck an ihre Kinder weiter.

Fliessband.jpg

Kollektives Arbeiten am Fließband[3]

 

Team.jpg

Arbeiten im Team[4]

 

Für das Bildungssystem stellt sich die dringende Frage, wie es sich auf diesen wirtschaftlichen Wandel einstellen soll. Die Betriebe beklagen, dass immer mehr Jugendliche nicht über die notwendigen schulischen Voraussetzungen verfügen. Mit der technologischen Entwicklung der letzten 20 Jahre sind die Anforderungen deutlich gestiegen, welche die Wirtschaft an Berufseinsteiger stellt. Schule und Wirtschaft müssen gemeinsam Mittel und Wege finden, damit möglichst alle Jugendlichen in die Arbeitswelt integriert werden können. Ein Beispiel: Wenn Kinder in der Grundschule lernen, von Hand zu schreiben, ist dagegen nichts einzuwenden. Spätestens beim Schulabgang müssen jedoch alle Schüler bestens mit dem Zehnfingersystem vertraut sein, denn niemand schreibt in der Wirtschaft noch von Hand. PowerPoint-Präsentationen zu erstellen und souverän vorzuführen muss genauso zur Ausrüstung der Schulabsolventen gehören wie die Beherrschung der gängigen PC-Programme oder das Recherchieren im Internet.

Die größte Schwachstelle in einer zukunftsorientierten Bildungsstrategie sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen mit ihren beschränkten Kompetenzen. Lehrer, die auf die Bedeutung der Handschrift pochen, weil sie die Bedienung des Computers nicht beherrschen und diese auch nicht lernen wollen, schaden den Kindern. Es kann deshalb nicht oft genug wiederholt werden: Eltern und Lehrer müssen sich weiterbilden, wenn sie nicht zum Hemmschuh für die Entwicklung der Kinder werden wollen.

Warum das Kind im Mittelpunkt stehen muss