Aus dem Amerikanischen von Patrick Baumann

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Night of Thunder

erschien 2008 im Verlag Simon & Schuster.

Copyright © 2008 by Stephen Hunter

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-770-7

www.Festa-Verlag.de

www.Festa-Action.de

Für meine Tochter Amy – weil sie eine wundervolle Person ist, aber auch ein Symbol für alle jungen, amerikanischen Reporterinnen.

Aufs Tempo kommt es an.

Verfasser unbekannt

1. Teil: VORRUNDE

1

Bruder Richard mochte es laut. Er drehte den Lautstärkeregler des iPods auf, bis ihm die Musik regelrecht das Hirn weichklopfte und sich anhörte wie das Heulen irgendeines Ungeheuers, das von den hohen, dunklen Bergen hinter dem Sichtschirm der vorbeirauschenden Bäume zu ihm herunterwehte. Er fuhr mit konstanten 135 Stundenkilometern, sogar in den Kurven – obwohl das chirurgische Präzision erforderte und ein wahres Wunder an Mut und Timing darstellte. Die Musik brüllte ihn an.

Sinnerman, where you gonna run to?

Gonna run to the sea

Sea won’t you hide me?

Run to the sea

Sea won’t you hide me?

But the sea it was aboilin’

All on that day

Das war sie, diese altmodische Religiosität, grimmig und geplagt, rau und unbarmherzig. Es war Feuer und Schwefel der Baptisten, der Zorn und Schmerz seines Vaters, es waren Schwarze in einer Kirche, die die Flammen der Hölle fürchteten. Es war das Dröhnen eines heißen, grundierungsgrauen V8 Cuda in der Nacht, während mit Bettlaken verkleidete Landeier ihre ganz eigene Hölle auf Erden erschufen, angetrieben von Schwarzgebranntem, zu viel Dixie oder zu viel Hass. Es waren die Südstaaten, die sich unter dem flatternden, roten Banner der Konföderierten erhoben.

Er hielt sich perfekt am Fahrbahnrand, trat mit dem linken Fuß auf die Bremse und ließ sie genau im richtigen Moment los, sodass er mit voller Kraft durch die Haarnadelkurve raste. Es war spät, es war dunkel und es war still, abgesehen natürlich vom Röhren des Motors. Unwillkürlich drückte er mit dem rechten Fuß das Gaspedal bis zum Bodenblech durch, und der Wagen schoss vorwärts. Er fuhr 160, dann 170, dann 190. Er war auf Messers Schneide, keinen Steinwurf weit von der Vernichtung entfernt – und er liebte es. Durch einen Spalt in der Fensterabdichtung drang ein Luftzug herein, der ihm die Haare zerzauste.

Sinnerman, where you gonna run to?

Gonna run to the moon

Moon won’t you hide me?

Run to the moon

Moon won’t you hide me?

But the moon it was ableedin’,

All on that day

Eine Steigung, dann eine plötzliche Kurve. Es war der Iron Mountain, ein schroffer Buckel, über den sich die 421 wie ein schiefer Schnitt dahinzog. Er bremste, spürte, wie das Auto wegrutschte, sah, wie sich eine große, weiße Staubwolke im Scheinwerferlicht kräuselte. Er rutschte über den Rand der Fahrbahn, fühlte das Knirschen, als die blockierten Reifen gegen den Schotter ankämpften und ihn aus dem Boden rissen – aber es war eine kontrollierte Rutschpartie, die keine echte Gefahr darstellte. Als das Fahrzeug langsamer wurde, schaltete er in den zweiten Gang herunter, schlingerte vorwärts und traf die Biegung genau im richtigen Winkel. Er bekam wieder Asphalt unter die Räder und ließ die Staubwolke weit hinter sich, während er erneut den perfekten Beschleunigungsvektor fand und weiter in die Nacht hineindonnerte.

Aber falls Sie glauben, Sie hätten hier einen jungen Südstaatenprinzen vor sich, high von Benzin, Testosteron und den Klängen eines alten, tröstlichen Spirituals, dann liegen Sie falsch. Bruder Richard war durchaus nicht jung; er war ein dünner, alterslos wirkender Mann mit merkwürdig leblosen Gesichtszügen. Eine noch nicht lange zurückliegende Operation hatte seinem Erscheinungsbild etwas Nichtssagendes, Austauschbares verliehen. Dazu war er gut genug gekleidet, um als Prediger, Geschäftsmann oder Zahnarzt durchgehen zu können: Er trug einen grauen Anzug mit einem weißen Hemd und einer schwarzen Krawatte, alles sauber, billig und direkt von der Stange aus Mr. Sams großem Geschäft an der Interstate. Wenn man ihn ansah, ahnte man nichts von seinem außergewöhnlichen Fahrtalent oder der Aggression, die dieses befeuerte. Auch nicht von dem Hass, der die Aggression erklärte, der Kälte seines Geistes oder seiner enormen Leistungsfähigkeit. Man erriet nicht einmal seinen Beruf: Er war ein Killer.

»Nikki Swagger, Reporterin.« Das klang lustig und etwas abgeschmackt, aber es gefiel ihr, und sie musste grinsen, wann immer ihr diese Worte in den Sinn kamen.

Nikki Swagger, Reporterin. Es war die Wahrheit. Nikki war jetzt 24 Jahre alt und arbeitete als Polizeireporterin für den Courier-Herald von Bristol, TN/VA. TN/VA war eine Ortsangabe, deren Seltsamkeit eine seltsame Realität widerspiegelte: Die Zeitung war für die Berichterstattung in einer Stadt zuständig, die in zwei Bundesstaaten gleichzeitig lag: halb in Tennessee, dem Staat der Freiwilligen, halb in Virginia, dem Alten Herrschaftsgebiet. Die Grenze verlief mitten durch die Stadt, ein Kaff mit 100.000 Einwohnern in den südlichsten Ausläufern des Shenandoah Valley, wo die beiden Staaten ineinander übergingen. Es war ein Land der Pferde, Farmen und Steinbrüche – aber vor allem war es, gerade in dieser Jahreszeit, das Land von NASCAR. Die Woche der Rennen stand vor der Tür, und schon bald würde eine von Tennessees kleineren Städten sich in eine der größeren verwandeln. Noch eine Woche und ein paar Tage, und 350.000 Bürger der NASCAR-Nation – manche nannten sie auch die Budweiser-Nation – würden für das Sharpie 500 anreisen, eines der wichtigsten Sprint-Cup-Rennen auf der örtlichen Rennstrecke. Nikki konnte es kaum erwarten!

Aber fürs Erste entfernte sich Nikki in ihrem Volvo auf Tennessees State Route 421 von Mountain City, dem Verwaltungssitz von Johnson County, etwas mehr als 20 Meilen außerhalb von Bristol. Vorsichtig folgte sie der Straße, die den Hang eines Bergs namens Iron Mountain hinabführte und sich in Serpentinen hierhin und dorthin wand, um das steile Gefälle bewältigbar zu machen. Sie wusste, dass sie wachsam bleiben musste, da die Sichtweite durch die Dunkelheit stark eingeschränkt war. Manchmal fuhren die Lastwagen so dicht auf, dass sie nur knapp an Chaos und Schmerz vorbeischrammten, weil sie nachts kürzere Routen mit weniger Verkehr suchten, um schneller zu ihren abgelegenen Zielorten zu gelangen. Und für Nikki war das Leben immer noch ein großes Abenteuer, von dem sie jede Sekunde genießen wollte.

Mit einem Blick auf das Tachometer stellte sie fest, dass sie etwa 60 km/h fuhr, was ihr ungefähr angemessen schien. Die Welt vor ihrer Windschutzscheibe bestand nur aus zwei Lichtkegeln, die die nächsten 70 Meter beleuchteten – das schmale Asphaltband der Straße und Kurven, die mit atemberaubender Plötzlichkeit auftauchten und wieder verschwanden. Sie war eine exzellente Fahrerin – vielleicht deshalb, weil sie bereits in ihrer Kindheit das Fahrverhalten verschiedener Fahrzeuge studiert und nicht nur Pferde geritten hatte, sondern auch knallharte Gokart-Rennen gefahren war. Sie konnte die entsprechenden Medaillen und Narben vorweisen, außerdem mehrere Zimmer voller Pokale, Orden und Fotos, die sie zeigten. Das Mädchen auf diesen Bildern war schön wie immer, aber wie immer auch etwas zerzaust, und für gewöhnlich saß sie in einem Gefährt mit einem Überrollkäfig. Auf den Fotos war immer auch ihre Mutter zu sehen, eine attraktive, blonde Frau, die wirkte, als wäre sie einem Howard-Hawks-Film entsprungen und müsste eigentlich den Namen Slim tragen. Außerdem war da ihr Vater. Seine militärische Laufbahn schien sich in die stets gebräunte Haut seines nie lächelnden Gesichts eingegraben zu haben, die ledrig wie ein spartanischer Schild war.

Mit einer sorgfältig und geschickt kontrollierten Geschwindigkeit von 60 Kilometern pro Stunde fuhr sie weiter den Berghang hinab, während zahlreiche Möglichkeiten in ihrem Kopf herumschwirrten. Sie hatte den ganzen Tag in der County-Hauptstadt verbracht und mit Dutzenden von Leuten gesprochen. Das Thema hatte mit ihrer Arbeit als Kriminalreporterin zu tun: Das Methamphetaminproblem. Meth – man gab diesem Zeug auch Namen wie Crystal, Ice, Killer Dust, Purple Death, Angel Breath, Der Flüsternde Wahnsinn und viele mehr – suchte Johnson County, Tennessee, heim, so wie es die meisten ländlichen Regionen der USA heimsuchte. Es war billig, es war relativ leicht herzustellen (obwohl es dazu neigte, in den Küchenlaboren der Wohnwagen und Hütten, in denen es produziert wurde, zu explodieren) und es haute rein wie ein Vorschlaghammer. Die Leute liebten die ersten paar Minuten des Rausches, erinnerten sich jedoch meist nicht mehr an die letzten, in denen sie ihr Neugeborenes in den Ofen steckten, in den Brunnen warfen oder an die Wäscheleine hängten. Sie erinnerten sich nicht daran, wie sie ihre Partner mit einer Hacke oder einem Stein erschlugen oder mit einer Schrotflinte in der Hand über die Interstate spazierten und auf diese merkwürdigen Dinger schossen, die an ihnen vorbeirauschten – Autos, wie sich dann herausstellte. Unter Meth-Einfluss brachten die Leute sich in eine Menge Schwierigkeiten. Nicht bei jedem Gebrauch, aber doch oft genug, dass viele hässliche Dinge passierten. Sie hatte gesehen, wie Familien zerbrachen, wie scheußliche Verbrechen begangen wurden und wie die Strafverfolgungsbehörden mithilfe der reichen Profite des Drogenhandels unterwandert wurden. Dealer wurden in Hintergassen oder Maisfeldern erschossen oder aufgeschlitzt – es war das ganze Spektrum großstädtischer Drogenkriminalität, mit dem Unterschied, dass es sich in unbekannten Kleinstädten abspielte, von denen die New York Times noch nie gehört hatte und über die auch keine Filme gedreht wurden. Nikki war die Chronistin dieser Plage, ihr Homer, ihr Melville, ihr Stephen Crane – obwohl man auch von ihr noch nie gehört hatte.

Beim Fahren zerbrach sie sich den Kopf über einige der bizarren Ereignisse, die sie bei ihrem Tagesausflug miterlebt hatte. Der offizielle Grund für den Trip war gewesen, dass sie Sheriff Reed Wells bei einer Meth-Razzia begleiten wollte. Dieser war ein ehemaliger Offizier der Ranger, der, wie man sich erzählte, in seine Heimat zurückgekehrt war, um im County aufzuräumen. Er hatte das Justizministerium überredet, das Verteidigungsministerium dazu zu bringen, ihm einen ziemlich ramponierten, aber immer noch einsatzfähigen Black-Hawk-Helikopter zur Verfügung zu stellen, mit dem er das Gebiet auskundschaften und sein taktisches Vorgehen aus der Luft planen konnte. Nikki hatte den ganzen Morgen in der Luft verbracht und neben diesem gut aussehenden Kerl gesessen, der seine Soldaten über zugewucherte Bergpfade lotste und einen wohlkoordinierten Angriff auf einen rostigen Wohnwagen durchführte, in dem, wie sich herausstellte, tatsächlich ein kleineres Meth-Labor verborgen war. Sie hatte den Übeltäter gesehen, ein vom Glück verlassener Bergsteiger namens Cubby Holden. Man nahm ihn fest, und ein paar kräftige, junge Deputies, die aussahen wie Tommy-Tactical-Actionfiguren, schleiften seine Gerätschaften in den Garten und zertrümmerten sie dort. Sie genossen jede Sekunde des Einsatzes und ließen eine bleiche Frau, zwei verwahrloste Kinder und einen äußerst vermüllten Garten zurück.

Ein typischer Triumph für Sheriff Wells – das Problem war, dass die Meth-Preise trotz seiner zahlreichen strategischen Erfolge in der Drei-Städte-Region stabil blieben. (Die zweite und dritte Stadt nach Bristol waren Johnson City – das merkwürdigerweise nicht zu Johnson County gehörte – sowie Kingsport.) Das wusste Nikki aus ihren Interviews mit Süchtigen in einer staatlichen Reha-Klinik in Mountain City. Ein Junge hatte ihr erzählt, er habe am Vortag 35 Dollar für einen Trip bezahlt, und vor zwei Jahren sei der Preis genau derselbe gewesen.

Wie konnte das sein? Vielleicht gab es da draußen viel mehr Labore, als sie ahnten. Vielleicht auch eine Art bewachtes Superlabor. Möglicherweise importierten Mafiaclans aus den Südstaaten das Zeug auch von anderen Orten aus.

Dann hatte sie ein seltsames Gerücht gehört. Zuerst dachte sie sich nichts weiter dabei, aber dann hörte sie es ein paar Stunden vor Einbruch der Nacht wieder. Es besagte, dass irgendjemand in den Bergen um sich schoss. Er verschwendete eine ganze Menge Munition, irgendwo an der alten Route 167, bevor sie in die größere, neuere Route 67 überging. Was war da los? War das vielleicht dieses berühmte Superlabor, das in irgendeiner Mulde versteckt lag, sodass es aus der Luft unsichtbar war? Und waren die Sicherheitsmaßnahmen so professionell, dass das Labor seine eigene Truppe aus Tommy Tacticals unterhielt, die das Gelände bewachten und jede Nacht mit ihren Maschinenpistolen Schießen übten?

Angeblich lag es irgendwo in dem Landstrich zwischen den Routen 67 und 167. Da ihr bis zur Nacht noch etwas Zeit blieb, sah sie sich dort etwas um, fand jedoch nichts, abgesehen von einer Art baptistischem Gebetscamp hinter einem ›Zutritt verboten‹-Schild, das sie ignorierte. Dort empfing sie ein Mann in einem taubenblauen Wal-Mart-Anzug, der wie Colonel Sanders aussah. Er schenkte ihr eine Bibel und versuchte, sie zu überreden, zum Abendessen zu bleiben. Sie verzichtete auf das Essen, aber als sie über den staubigen Weg zum Highway zurückfuhr …

Es war nur ein Stück Karton, das sich zwischen einigen Sträuchern verfangen hatte und in einem sonderbaren Winkel herabhing, sodass zufällig das Sonnenlicht darauffiel und ihm eine Farbe verlieh, die man an einem heißen Augusttag im Wald normalerweise nicht vorfand – ganz abgesehen davon, dass man in der Natur niemals auf rechte Winkel stieß. Ihr Blick fiel darauf. Also hielt sie an und hob es auf. Irgendetwas daran kam ihr bekannt vor. Es hatte etwas Offizielles an sich – vielleicht war es militärischer Herkunft, zumindest aber schien es etwas mit einer Regierungsbehörde zu tun zu haben. Ausrüstung, Munition, etwas in dieser Richtung. Das Stück war halb zerfetzt, weil die vorbeikommenden Autos es überfahren hatten. Aber da ihr Vater ein berühmter Schütze war und sich in seiner Nähe immer Kartons mit merkwürdigem Zeug befanden, wusste sie, was es damit auf sich haben musste, obwohl auf dem Kartonfetzen nur noch ein Rest der offiziellen Beschriftung lesbar war.

Aber zu ihrer Enttäuschung traten die Gedanken an Munition und Sprengstoff bald in den Hintergrund. Sie kam zu dem Schluss, dass es sich vielleicht um etwas Biblisches handelte, das mit den Baptisten zusammenhing, weil es auch religiöse Assoziationen hervorrief. Bei seiner rauen Reise in sein Nest zwischen den Blättern war es in der Mitte durchgerissen worden, sodass nur noch wenige Symbole darauf zurückgeblieben waren. Wie auch immer der Anfang der Beschriftung lautete – sie endete mit den Zeichen ›k 2:11‹, aber beim Doppelpunkt war sie nicht sicher, weil es mit zu vielen Dreckspritzern, Flecken und Falten übersät war. Es ließ sie jedoch sofort an eine Bibelstelle denken: ›Mk 2:11‹ – Markus 2,11. Patronen oder Predigten? Merkwürdigerweise schien es mit beidem zu tun zu haben. Sie dachte an das Sektendrama von Waco zurück, das sich in ihrer Jugend abgespielt hatte: die Schießerei, die Belagerung, das Ende in Feuer und Schwefel. Das war ein Beispiel für etwas, bei dem es gleichermaßen um Patronen und Predigten ging. Vielleicht war dieselbe Dynamik auch hier am Werk; schließlich waren die Menschen an vielen Orten der Welt noch nicht darüber hinausgekommen, sich einer vermeintlichen göttlichen Weisung folgend gegenseitig umzubringen. Andererseits ist es nur ein Stück Pappe am Straßenrand, mehr nicht. Es könnte auf eine Million verschiedener Arten hierhergeweht worden sein. Vielleicht geht meine Fantasie mit mir durch. Reporter neigen schließlich dazu, mehr zu sehen, als wirklich da ist. Sie steckte es zwischen die Seiten der Bibel, die der alte Baptistenpriester ihr angedreht hatte, damit es in ihrer Aktentasche nicht zerknittert wurde oder verloren ging, und fuhr davon, um nach Antworten zu suchen.

Der Betreiber des örtlichen Waffenladens, ein verbitterter, alter Mann, der schon nach kurzer Zeit verdammt unhöflich wurde, war ihr keine große Hilfe. Also machte sie sich auf den Heimweg.

Jetzt dachte sie: Mein Dad weiß es bestimmt.

Ihr Dad wusste vieles. Er war ein großer Kämpfer, ein berühmter, ehemaliger Marine. Vor nicht langer Zeit war er einige Male für eine Weile verschwunden, und immer war er trauriger als vorher zurückgekehrt, manchmal auch mit einer oder zwei neuen Narben. Aber er hatte ein Talent, das in dieser Welt sehr nützlich war. Im Grunde hatte es damit zu tun, dass er sich in einem bestimmten, geheimnisvollen Themengebiet gut auskannte. Er war kein guter Gesprächspartner, was Filme oder politische Themen anging – die konnte er alle nicht ausstehen –, aber er kam ausgezeichnet in der Wildnis zurecht, konnte das Gelände, den Wind und den Himmel richtig deuten und es im Spurenlesen und Jagen mit jedem aufnehmen. In dieser sonderbaren, in sich geschlossenen Welt der Schusswaffen und des Kämpfens mit ihnen war er so etwas wie ein Star. Aber er sprach nie darüber. Hin und wieder ertappte sie ihn dabei, wie er mit ernster Miene ins Leere starrte und an ein Leben voller Kugeln zurückdachte, die ihn knapp verfehlt hatten, voller Wunden, die nur langsam verheilt waren. Aber dann schüttelte er seinen Schmerz ab, wurde wieder lustig und unverschämt. Und sie wusste, dass andere Männer ihn beinahe wie einen Mythos verehrten, weil er tatsächlich getan hatte, wovon so viele von ihnen träumten, selbst wenn wenig über die Einzelheiten bekannt war. Nach seiner letzten Abwesenheit war er – unter anderem – mit einem starken Hinken zurückgekehrt, weil jemand ihm eine offene Wunde an der Hüfte zugefügt hatte, die erst nach mehreren Stunden genäht worden war. Außerdem mit unheilbaren Depressionen. So erschien es ihr jedenfalls. Und dann waren diese Depressionen wie durch ein Wunder an einem einzigen Nachmittag geheilt worden, als ein japanisch-amerikanischer Beamter ihr eine … neue kleine Schwester gebracht hatte. Miko. Bezaubernd, unersättlich, grazil, voller Liebe und Abenteuerlust. Sie hatte die Stimmung in der Familie unbeschreiblich stark aufgehellt und sie in einen Zustand äußersten Glücks versetzt – obwohl die Haarfarbe ihres alten Herrn sich innerhalb von zwei Wochen von einem glänzenden Braun in ein metallisches Grau verwandelt hatte und er in dieser Zeit um zehn oder 20 Jahre gealtert war.

Ihr Dad würde es bestimmt wissen.

Sie fuhr von der Straße, weil sie nicht mit dem Handy in der Hand lenken wollte, wenn ein mit Holz oder Dosennahrung beladener Lastwagen auf der anderen Fahrspur hinter einer nicht einsehbaren Kurve hervorgerauscht kam. Sie schaltete den Motor in den Leerlauf und zog das Telefon aus der Handtasche, wobei sie nichts als die Stille des dunklen Bergwalds umgab. Dann nahm sie die Bibel, zog den Kartonfetzen heraus und hielt ihn mit einer Hand vor sich, um ihn beschreiben zu können, falls erforderlich.

Das Telefon klingelte und klingelte und klingelte, bis schließlich eine Tonbandaufnahme der Stimme ihres Vaters ertönte: »Hier ist Swagger. Hinterlassen Sie eine Nachricht, aber wahrscheinlich rufe ich nicht zurück.«

Seine Art von Humor. Nicht jeder konnte darüber lachen.

»Hey, Pop, ich bin’s. Ruf mich sofort an. Ich muss dich was fragen.«

Wo steckte er? Wahrscheinlich saß er mit seinen alten Kameraden von den Marines herum und sie lachten sich über irgendwelche Master Sergeants aus dem letzten Jahrhundert tot. Vielleicht war er auch mit Miko unterwegs und brachte ihr das Reiten bei, so wie er es Nikki beigebracht hatte.

Also würde sie warten müssen. Oder doch nicht? Sie steckte das Stück Pappe in die Bibel zurück und holte ihren Laptop hervor, den sie für den Fall mitgenommen hatte, dass sie Dateien verschicken musste. Die Frage war, ob es hier draußen überhaupt ein Netz gab. Und die Antwort – ta da! – lautete: ja. Heute bekam man überall eine Drahtlosverbindung!

Sie öffnete Google, tippte k 2:11 ein und wartete ab, während die unsichtbare Magie sich auf die Jagd nach sämtlichen K-2:11s auf der Welt machte und ihr die Informationen über den blau schimmernden Bildschirm zugänglich machte. Hmm, nichts, das irgendetwas mit ihrem Thema zu tun hatte. Also gab sie Mark 2:11 ein und fand die Textstelle des Markusevangeliums, die für sie jedoch keinen Sinn ergab. Kontext. Ohne einen Kontext war man aufgeschmissen.

Arrgh, nichts. Sie wollte eine Zigarette, aber sie versuchte gerade aufzuhören.

Doch dann fielen ihr ihre nach einem brasilianischen Fluss benannten Freunde ein, die gerade dabei waren, die Weltherrschaft zu übernehmen.

Sie stellte ihre Anfrage bei Amazon.com, und dieses Imperium antwortete sofort.

Hier förderte ›k 2:11‹ nichts als technisches Kauderwelsch, ein Buch über russische U-Boote sowie ein weiteres über Schiffe aus dem Zweiten Weltkrieg zutage, die Korvetten genannt wurden.

Als Nächstes versuchte sie es mit dem Schusswaffenansatz, wählte die Rubrik ›Munition‹ und bekam eine Menge Informationen, vielleicht zu viele. Nachdem sie die Inhaltsangabe von Amazon überflogen hatte, entschied sie sich für ein Buch namens Die Geschichte der Scharfschützen und Präzisionsschützen, weil es den breitesten Überblick über das Thema zu bieten schien. Sie wählte die 1-Click-Bestellung, um es schon bald zu erhalten. Das war dumm. Ihr Dad würde sie sicher lange vorher anrufen und ihr alles erklären. Trotzdem gab es ihr das Gefühl, einen Schritt vorwärtsgekommen zu sein.

Sie legte den Laptop beiseite, checkte den Verkehr in beiden Richtungen und wollte den Wagen wieder auf die Straße lenken. In einer Stunde wäre sie wieder zu Hause. Wieder mal ein produktiver Arbeitstag für Nikki Swagger, die Reporterin – wow!

Irgendein Redneck peitschte in einem tiefergelegten schwarzen Wagen an ihr vorbei, schneller als Licht und Schall. Mann, war der verrückt oder was? Noch nie hatte sie ein Auto gesehen, das so schnell fuhr – ein verschwommener Blitz, ein tiefes Dröhnen, das Flüstern stromlinienförmigen Chroms, da und sofort wieder weg, für immer verschwunden. War es ein Traum, eine Vision, etwas aus einem Albtraum?

Es machte ihr Angst. Nicht dass es in diesen Bergen spuken würde oder dergleichen – aber in Gegenwart von nebelverhangenen Talkesseln, Haarnadelkurven, einem dunklen Baumteppich, der sich zu unsichtbaren Gipfeln erhob, und einem Straßennetz, das an allerlei ›Durchfahrt verboten‹-Schildern und Gott-weiß-was-noch endete, war man bereit, an so einiges zu glauben. Gerüchten zufolge gab es hier draußen Bürgermilizen, irgendeine Motorradgang, eine Gruppe des Ku-Klux-Klan, weiße Rassisten, etwas in dieser Art. Dann war da noch die Sache mit den Schützen, die in der Nacht herumballerten wie eine Armee der Rechtschaffenen, die sich auf ihren Feldzug vorbereitete. Dieser Kerl in seinem Muscle Car, der mit mehr als 160 Stundenkilometern dahinschoss, war vielleicht einer ihrer Abgesandten gewesen.

Nein, sagte sie sich. Das war bloß irgendein Jugendlicher, der zu viel Bier getrunken hat. Jetzt hält er sich für einen NASCAR-Star. Diese Leute lieben ihre Fahrer. Liegt also nahe, dass ein Junge sich so was einbildet. Sie rechnete halb damit, dieses tiefergelegte schwarze Rennauto irgendwo innerhalb der nächsten 20 Meilen wiederzusehen. Es würde auf der Seite liegen und Flammen würden aus ihm emporschießen wie pulsierendes rotes Licht, während die Rettungswagen es einkreisten und die Mannschaften versuchten, den Helden, der nun gut durchgebraten war und dessen Seele gen Himmel schwebte, aus dem Feuer zu ziehen.

Ein Schauer überlief sie. Dann legte sie den Gang ein und fuhr auf die Straße.

Er sah sie. Die Geschwindigkeit ließ das Bild vor seinen Augen verschwimmen, aber er erkannte den Volvo und die Miene einer jungen Frau im Licht des Armaturenbretts. Sie war rechts an den Straßenrand gefahren, in den Schutz der Bäume, und hatte dort an irgendetwas gearbeitet – sicher eine Folge ihrer Neugier, die ihr Schicksal besiegelte. In diesem Licht sah er kurz ein schönes, junges Gesicht aufblitzen. Er wusste, dass es eine knappe Sache war – die Bergstraße endete bald, und es würde viel schwerer sein, sie zu töten, wenn er sie nicht mehr in diese eiserne Wand aus Bäumen auf der rechten Seite drängen konnte.

Warum hatte er in diesem Moment nach rechts geschaut? Wer wusste das schon? Das war das Glück des Sinnerman, denn sogar ein Sünder konnte hin und wieder welches haben. Er bremste auf 130 ab, suchte sich eine geeignete Stelle am Wegesrand und fuhr tiefer in den Wald, um dort auf sie zu warten.

Bruder Richard schnappte sich den iPod und ging noch einmal seine Sinnerman-Optionen durch, von den Travelers 3 über den reinen Gospel von Reverend Seabright Kingly and His Hebrew Chorus (das war funky!) bis hin zu den Seekers, denen es ein wenig an Persönlichkeit fehlte. Dann schaltete er weiter zu Les Baxter’s Balladeers, ließ die gehobene Langeweile von Shelby Flint über sich ergehen und landete schließlich beim arhythmischen, amelodischen Ansatz von Sixteen Horsepower. Alle waren interessant – The Travelers 3 boten vielleicht die authentischste Folk-Ästhetik, die Balladeers den höchsten Show-Faktor und der Reverend die ausgefallenste alte Version, wie sie die Schwarzen in den Kirchen sangen. Durch all das Johlen und Kreischen war das Lied kaum wiederzuerkennen.

Bruder Richard war der Sinnerman, und er war stolz darauf. Er würde ein Unrecht begehen. Ich kann mit dem Unrecht leben. Es ist mir ein Vergnügen, dachte er. Ich definiere das Unrecht. Ich bin es. Es hätte anders kommen können, aber es ist nun einmal so gekommen.

Während die Musik ihm in die Ohren brüllte, wartete er. Und schließlich fuhr sie auf der verlassenen Straße vorbei, ohne ihn dort abseits des Wegs zu sehen. Ihr friedlicher, kleiner, vernünftiger Volvo schnurrte ordentlich mit weniger als 60 Stundenkilometern vorüber. Er sah, wie angespannt sie am Steuer saß – ihr Oberkörper war vorgebeugt, ihr Kopf hoch erhoben und ungewöhnlich reglos, und ihre Hände lagen fest in Zehn- und 14-Uhr-Position am Lenkrad. Die Beschaffenheit der Straße machte ihr Sorgen und sie befürchtete, dass ein großer Lastwagen hinter ihr auftauchen oder mit voller Wucht und in weitem Bogen um eine Kurve preschen könnte.

Aber über den Sinnerman machte sie sich keine Sorgen. In ihrer Welt gab es ihn nicht. Sie hatte keinen Begriff von ihm, keine Vorstellung von dem, was ihr bevorstand.

Sie hatte diese verdammten Berge fast hinter sich gebracht. Dann noch eine kurze Fahrt über die flache Talsohle des Shady Valley, eine letzte Ansammlung von Hügeln, danach Sullivan County – die Zivilisation, denn die 421 würde sie zurück nach Bristol führen, zu ihrem Apartment und einem schönen Glas Wein.

Dann sah Nikki den Tod.

Etwas Verschwommenes tauchte im Rückspiegel auf, nur ein Schatten ohne erkennbare Details. Dann war es in ihrem Seitenspiegel und wurde mit jedem Sekundenbruchteil größer, voller Wucht und ohne Gnade. Es war der Tod in seinem schwarzen Wagen, gekommen, um sie auszulöschen.

Noch nie hatte jemand versucht, Nikki umzubringen. Aber in ihren Adern floss das Blut ihres Vaters und, was noch wichtiger war, seine DNA. Ihre Reflexe waren ebenso schnell wie die des Killers, und sie neigte von Natur aus nicht zu Angst oder Panik. Der Aufprall war hart, der Lärm erfüllte das Universum und sie wurde aus der Bahn gestoßen, raste auf die Bäume zu, die den Untergang versprachen, während die Reifen sich durch den aufgepeitschten Staub wühlten. Nun tat sie, was nur eine von 10.000 Personen unter diesen Umständen getan hätte, und das mit einer Geschwindigkeit, die jede Skala sprengte, und mit einem sicheren inneren Gespür für das korrekte Verhalten in Extremsituationen.

Sie tat gar nichts. Sie ließ den Wagen seine Richtung selbst korrigieren, und die Räder richteten sich rasch neu aus. Sie gewann die Kontrolle zurück.

Die meisten Menschen neigen dazu, zu stark gegenzulenken, wenn sie Bäume oder eine Klippe auf sich zurasen sehen. Wenn sie das tun, bewirken die unabänderlichen, unbarmherzigen Gesetze der Physik, dass sie sich überschlagen. Das bedeutet ihren Tod. Das Genick, dieser dünne Ausläufer der Wirbelsäule, kann der g-Kraft nicht widerstehen und bricht infolge der extremen Erschütterung. Das Bewusstsein und die Lebenszeichen erlöschen sofort, und es spielt keine Rolle mehr, ob das Wrack Feuer fängt oder nicht und ob der Körper weitere Verletzungen erlitten hat, Knochenbrüche, innere Blutungen, was auch immer. Sie wusste nicht, dass der Sinnerman aufgrund seiner Erfahrung mit motorisierten Mordanschlägen davon ausgegangen war, dass sie das Lenkrad herumreißen würde, um ihr Leben zu retten, was ihren sicheren Tod zur Folge gehabt hätte. Er war überrascht, als sie das Rammmanöver überstand, mit leichter Hand die Kontrolle wiedererlangte und dann halb auf der Straße, halb im Schotter beschleunigte, um seiner Verfolgung zu entkommen.

Er rammte sie noch einmal, traf das hintere Drittel des beschleunigenden Volvos, und sie kam schlingernd und Staub aufwirbelnd von der Straße ab. Aber auch diesmal geriet sie nicht in Panik, versuchte keine abrupte Drehung (der garantierte Tod), sondern ließ den Wagen sich von allein drehen und die richtige Straßenlage von selbst finden. Sie raste knapp vor ihm her. Er steuerte nach links, nahm Anlauf für den nächsten Stoß, der besser gezielt sein würde.

Nikki hatte keine Angst. Angst ist Einbildungskraft, gepaart mit Erwartung und Grauen. Keiner dieser Begriffe beschrieb ihren Zustand. Stattdessen akzeptierte sie augenblicklich, dass sie sich in einem tödlichen Kampf gegen einen geübten, erfahrenen Killer befand, und sie verschwendete ihre Konzentration nicht auf die Ungerechtigkeit der Situation. Sie drückte das Pedal so heftig zum Bodenblech durch, dass sie das Einsetzen der g-Kraft spürte – auch wenn der Volvo 240 mit seinen sechs Zylindern und seinen 200 PS natürlich kein gleichwertiger Gegner für das hochgezüchtete Chrysler-Geschoss war, in dem ihr Kontrahent saß. Aber während er sich noch bemühte, den richtigen Winkel zu finden, erreichte sie einen überraschend großen Vorsprung, blieb dabei aber aufmerksam genug, um blitzschnell die Kurve zu bemerken, der sie sich näherten. Jetzt bremste sie endlich ab und ging in ein schwungvolles Rutschen über, das sie durch die Kurve tragen und die nächste harte Beschleunigung vorbereiten würde, die sie verdammt noch mal hier wegbringen würde, falls das überhaupt möglich war. Und wahrscheinlich war es das nicht.

Verdammt, war die gut! Als sie kontrolliert durch die Kurve schlitterte und die Reifen auf dem Asphalt quietschend nach Halt suchten, erkannte Bruder Richard seine Gelegenheit. Statt sie an der Außenseite der Kurve zu überholen, wählte er tapfer die Innenseite für seinen Vorstoß. Durch seine professionelle Abdrängtechnik, der sie als talentierte Amateurin nichts entgegenzusetzen hatte, gelangte er dorthin, wo sie ihn nicht erwartete. Als sie versuchte, wieder auf die richtige Fahrspur zu gelangen, brauste er mit voller Drehzahl heran, schnitt ihr den Weg ab und versetzte ihr einen Stoß an den vorderen Kotflügel an ihrer rechten Seite. Es war kein heftiger Schlag, eher ein leichter Schubser, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Aber – verflucht! – auch damit schien sie gerechnet zu haben. Sie stieg hart auf die Bremse und kurbelte wild am Lenkrad, während sie nach links rutschte.

Die Welt drehte sich vor Nikki, raste über ihre Windschutzscheibe, ein abstraktes Bild im Lichtkegel des einzigen noch funktionierenden Scheinwerfers. Sie berührte das Bremspedal äußerst vorsichtig und nahm nur winzige Kurskorrekturen am Lenkrad vor, was ihr erlaubte, mehr oder weniger die Kontrolle zu behalten. Als der Wagen zum Stehen kam, stellte sie fest, dass er sich um 180 Grad gedreht hatte. Sie blickte nun in Richtung des ansteigenden Netzwerks aus Serpentinen am Hang des Iron Mountain, das sie gerade erst hinter sich gebracht hatte. Also gab sie Vollgas, trat auf die Bremse, als er sie zum dritten Mal überholte – wie hatte er das so schnell geschafft? –, brachte irgendwie ein Wendemanöver im Rückwärtsgang zustande, in einer Geschwindigkeit, in der man an so ein Manöver besser nicht einmal denken sollte, und trat wieder das Gaspedal durch.

Aber es gelang ihm irgendwie, ihr den Platz auf der Straße streitig zu machen. Als er sie diesmal traf, drängte er sie weit nach rechts ab. Sie sah sein Gesicht im grellen Licht des Armaturenbretts, die schlichte Ebenmäßigkeit seiner Züge, ihre stumpfe Symmetrie, das beinahe Beliebige darin. Er war ein Otto Normalverbraucher, ein Max Mustermann. Seine Miene brannte sich in ihr Gedächtnis ein. Und dann war sie abseits der Straße, raste hilflos durch den Wald. Die Welt wurde ruckartig nach links und rechts geschleudert, während das Auto gegen die Bäume krachte oder sie streifte. Sie fühlte einen brennenden Schmerz im Genick, ihr Kopf wurde hin und her gerissen. Dann der Aufprall, und alles war vorbei.

2

Es war so schnell geschehen, innerhalb von zwei Wochen. Sein Haar ging direkt vom Sommer in den Winter über, ohne einen Herbst dazwischen. Es wurde nicht dünner, es fiel nicht aus, es nahm einfach ein mattes Grau an. Er sah jetzt uralt aus, zumindest seiner Meinung nach.

Eine Erinnerung hatte das bewerkstelligt. Vor Kurzem hatte er einen Schwertkampf auf Leben und Tod ausgefochten – im 21. Jahrhundert, in einer der modernsten Städte der Welt. Sein Gegner war ein japanischer Gentleman gewesen, der ihm in Talent und Fertigkeiten unendlich überlegen gewesen war. Und doch hatte er gesiegt. Er hatte den anderen getötet, ihn in zwei Hälften geteilt in einem matschigen Pulverschneefeld zurückgelassen, das sich durch das Blut des Mannes magenta gefärbt hatte.

Bob dachte oft: Warum habe ich gewonnen? Ich hatte nicht das Recht dazu. Ich hatte … so ein Glück. So ein gottverdammtes Glück. Dieser Gedanke war wie ein Wurm, der an seinem Herzen fraß. Du verfluchter Glückspilz. Warum bin ich davongekommen und dieser Kerl hat seine Eingeweide im Schnee verteilt?

Nicht dass Swagger die Sache unverletzt überstanden hatte. Der andere hatte seinen stählernen Hüftknochen freigelegt, und er hatte zu viel Zeit verstreichen lassen, bevor man die Wunde genäht und ihm damit das Leben gerettet hatte. Sie war nie richtig verheilt, und dass er sich so standhaft weigerte, sich das Problem einzugestehen, war dabei ebenfalls keine Hilfe. Irgendwie war sein Bein steif geworden, als ob das Blut, das die Naht wie ein Damm zurückhielt, immer noch da wäre, geronnen wäre und nur darauf wartete, wie ein roter Ozean hervorzubrechen und ihn leer zurückzulassen. Die Rache des Killers. Aber ein anderer Teil dieser Rache war, dass der Killer ihn in eine Witzfigur verwandelt hatte durch diese leicht hüpfende Gangart, die ihm nun zu eigen war. Er konnte immer noch reiten und gehen, aber nicht mehr allzu gut rennen. An Klettern brauchte er gar nicht mehr zu denken. Ein Motorrad hatte ihm das Leben gerettet, indem es ihm die Illusion der Freiheit vermittelte, die einmal seine stärkste Eigenschaft gewesen war.

»Ich seh aus, als wär ich 150«, hatte er an diesem Morgen gesagt.

»Du siehst keinen Tag älter aus als 145«, hatte seine Frau entgegnet. »Schätzchen, schau dir mal Daddy an, er ist ganz weiß geworden.«

»Daddy ist’n Schneemann«, rief das kleine Mädchen Miko, das jetzt sieben Jahre alt war. Sie war entzückt, einen Fehler zu finden an einem Helden, der so großartig war wie ihr seltsamer, weißhaariger Vater. »Schneemann, Schneemann, Schneemann!«

»Grau ist es, grau«, protestierte Bob. Dann fügte er hinzu: »Eine gewisse Person kommt gleich in große Schwierigkeiten, wenn sie nicht aufhört, Daddy einen Schneemann zu nennen.« Aber sein Ton verriet, dass die Drohung nicht ernst gemeint war. Bob hatte Freude daran, seine Töchter zu verwöhnen und dann mit Stolz zu beobachten, wie sie sich trotzdem zu anständigen Menschen entwickelten.

Er war ein reicher Mann. Reich an Grundbesitz – ihm gehörten jetzt sechs Pferdefarmen in drei Staaten im Westen: zwei in Arizona, zwei hier in Idaho und jeweils eine in Colorado und Montana; außerdem hatte er vor, Land in Kansas und Oregon zu erwerben. Und auch reich durch die Rente, die er vom United States Marine Corps erhielt. Sein Heim war ebenfalls ein wertvoller Besitz – er besaß ein schönes, vor Kurzem fertiggestelltes Haus 60 Meilen außerhalb von Boise, auf Land, das er selbst gerodet hatte und das einen Ausblick über die leere, grüne Prärie bot bis zum bläulichen Narbengewebe des Gebirges unter den wattebauschartigen Kumuluswolken vor dem diamantblauen Himmel. Auch mit seiner Frau war er reich beschenkt. Julie sah gut aus, wie eine Figur aus einem Howard-Hawks-Film, eine dieser goldhaarigen, katzenhaften Frauen, die nie die Fassung verloren, eine tiefe Stimme hatten und dennoch verflucht sexy waren. Aber sein größter Schatz waren seine Töchter.

Er hatte zwei. Nikki hatte ihren Abschluss an der Columbia School of Journalism gemacht und arbeitete nun in ihrem ersten Job bei einer Zeitung in Bristol, Virginia – einem Ort, der ihrem Vater deutlich besser gefiel als New York, wo sie das vorige Jahr verbracht hatte. Seiner Meinung nach war sie in einer kleinen Stadt direkt an der Grenze zwischen Virginia und Tennessee viel sicherer. Unterdessen hatte seine Adoptivtochter Miko sich problemlos in ihrer neuen Heimat im Westen eingelebt. Schnell gewöhnte sie sich an die Pferde, an die Schweinereien, die diese hinterließen, die Gerüche, die sie verströmten. Sie liebte sie, entwickelte ganz automatisch eine Zuneigung zu ihnen. Für ihren Vater war es ein Hochgenuss, zu sehen, wie so ein winziges Wesen so entspannt auf einem so riesigen Wesen sitzen und es mit so viel Selbstvertrauen führen konnte, wie sie es dazu brachte, sie zu mögen und ihr zu gehorchen. Die Kleine gewann bereits blaue Bänder beim Eventing und würde darin vielleicht sogar ihre große Schwester übertreffen, die als Teenagerin zwei Jahre lang Landesmeisterin in diesem Sport gewesen war.

Es war Vormittag, und im August musste Miko nicht zur Schule, also taten sie, was sie am liebsten taten: Das Mädchen saß auf seinem Pferd Sam und ihr Vater schaute zu, wie sie ruhig durch den Round-Pen kanterte. Aber er kommandierte sie nicht herum. So etwas hatte er eine Zeit lang als Offizier bei den Marines getan, aber das war nicht seine Art, mit seiner Tochter umzugehen. Jeder, der gesehen hätte, wie er dort am Zaun lehnte, hätte gedacht: Der Kerl sieht wie ein cooler Cowboy aus. Seine Jeans lag eng an seinen schlaksigen Beinen an; er hatte eine etwas krumme Haltung wie viele Reiter, und er kaute auf einem Grashalm. Von Kopf bis Fuß war er wie ein Cowboy gekleidet: schlammige, aber robuste Tony-Lama-Stiefel, ein blaues Jeanshemd, ein rotes Tuch um den Hals, weil der August in Idaho heiß war, und ein Stetson aus Stroh, der sein Gesicht vor der Sonne schützte.

Das alles hätte nicht perfekter sein können – und das ist stets ein Zeichen dafür, dass die nächste Störung nicht weit ist.

»Vorsichtig, Süße«, rief er. »Zwing ihn besser nicht. Du musst ein Gefühl für ihn kriegen, und wenn er so weit ist, zeigt er’s dir schon.«

»Ich weiß, Daddy«, rief sie zurück. Sie ritt englisch auf diesem hochnäsig wirkenden, dünn wie eine britische Briefmarke gehaltenen Sattel. Ihre Haltung war aufrecht, sie hatte eine Gerte in der Hand, hohe Stiefel mit flachen Absätzen an den Füßen und natürlich einen Helm auf dem Kopf. Sie war ebenso geübt im Umgang mit den großen Westernsätteln, die wie Boote auf dem Rücken der Pferde lagen, aber Bob und Julie waren sich einig gewesen, dass sie irgendwann eine Schule im Osten besuchen würde und daher den Reitstil beherrschen musste, der in diesem Landesteil üblich war. Außerdem wollten sie sie von den Rodeos fernhalten, zu denen es zu viele junge Mädchen zog, weil ihnen die spindeldürren Jungen gefielen, die dort ritten wie die Teufel und mit einem Grinsen wieder aufstanden, wenn sie in die Luft geschleudert wurden und im Dreck landeten. Aber Miko würde vielleicht etwas anderes tun. Sie würde vielleicht irgendeine verrückte Rodeo-Sache anstellen – zum Beispiel ein völlig annehmbares Pony ignorieren, um sich stattdessen lieber von einem Bullen auf die Hörner nehmen zu lassen.

»Wahrscheinlich wird sie am Ende doch die Stierkampfmeisterin von Idaho, aber versuchen muss man’s trotzdem«, sagte er zu seiner Frau.

»Wenn’s dazu kommt, wird sie sich jeden Tag das Geschrei und Genörgel ihrer alten Mutter anhören müssen«, gab Julie zurück.

So weit, so gut – Miko hatte einen Rhythmus und eine Geduld, die selbst ein für gewöhnlich eher gleichmütiges Tier wie ein Pferd anstecken konnten. Sie konnte regelrecht zaubern, jedenfalls glaubte Bob das, und er hätte bereitwillig seinen gesunden Hüftknochen für Miko hergegeben – oder auch alles andere.

Sie machte einen eleganten Sprung, ohne dass ihre Haltung auch nur im Geringsten darunter litt, mit schnurgerader Wirbelsäule und einer leichten Drehung bei der Landung.

»Der war gut, Süße«, rief er ihr zu.

»Ich weiß, Daddy.« Er lächelte und wischte sich über die Stirn. Dann nahm er eine Bewegung wahr, die zu schnell war, um Gutes zu bedeuten, und als er aufblickte, sah er Julie aus dem Haus kommen. Er spürte sofort, dass etwas nicht stimmte. Julie ließ sich sonst nie aus der Ruhe bringen. Zehn Jahre lang hatte sie eine Klinik in einem Reservat geleitet, hatte Indianerjungen mit Schnittwunden behandelt und inmitten von Blut, Schmerz, emotionalem Aufruhr und gelegentlichen Todesfällen immer einen klaren Kopf bewahrt. Wenn sie aufgewühlt war, wusste Bob sofort, dass es nur um eines gehen konnte: seine andere Tochter Nikki.

»Süße«, rief er, noch bevor Julie bei ihm eintraf, weil er Miko zurückholen wollte, bevor die schlechte Nachricht ihn erreichte und er den Kontakt zur Realität verlor. »Steig bitte mal ab, nur für einen Moment.«

»Ach, Daddy, ich …«

Er wandte sich Julie zu.

»Ich hab gerade einen Anruf von Jim Gustofson bekommen, dem Chefredakteur von Nikkis Zeitung …«

Bobs Brust schnürte sich um Herz und Lunge zusammen, als wäre in seinem Atmungssystem gerade ein Ventil gebrochen und würde Flüssigkeit verlieren. Er bekam weiche Knie; er hatte viele Menschen einen gewaltsamen Tod sterben sehen, vor allem junge und unschuldige, in beiden Hemisphären. Nun hatte er das trostlose, entsetzliche Bild einer Katastrophe vor Augen: vom Tod seiner Tochter, von seiner endlosen, schrecklichen Trauer und Wut.

»Was ist los?«

»Sie hatte einen Unfall. Ist in den Bergen von der Straße abgekommen und zwischen den Bäumen gelandet.«

»O Gott, wie geht’s ihr?«

»Sie ist am Leben.«

»Gott sei Dank.«

»Sie ist lange genug bei Bewusstsein geblieben, um noch die 911 anzurufen und denen zu sagen, wo sie war. Die sind schnell genug dort gewesen, und ihr Zustand war stabil.«

»Wird sie wieder in Ordnung kommen?«

»Mommy, ist was passiert?«

»Nikki hat einen Unfall gehabt, Schätzchen.«

Es brachte Bob beinahe um, den Schmerz zu sehen, der sich in der Miene seiner jüngeren Tochter spiegelte; das Kind reagierte, als hätte es einen Boxhieb vor die Brust bekommen. Sie schien fast zusammenzubrechen.

»Sie liegt im Koma«, fuhr Julie fort. »Sie ist bewusstlos. So haben sie sie gefunden, mit ein paar kleineren Schürfwunden und Prellungen. Keine Lähmung, keine Anzeichen schwerer Verletzungen – aber durch das Schleudertrauma wurde sie ohnmächtig, außerdem hat sie sich den Kopf angeschlagen und beide Augen sind blau.«

»O Gott.«

»Wir müssen sofort hin.«

Aber noch während Julie das sagte, dämmerte Bob, dass an der Sache etwas faul war. Seine älteste, dunkelste Furcht kam aus ihrer Höhle hervorgekrochen und stieß ihn mit ihrer kalten Nase an, beobachtete ihn aus gelben Augen, mit Blut auf den Zähnen und in ihrem Atem.

»Ich werd hinfahren. Ich fahr los, sobald ich einen Flug bekomme. Buch mir einen im Internet und ruf mich dann an, wenn ich auf dem Weg zum Flughafen in Boise bin.«

»Nein. Nein, ich werde auch zu meiner Tochter fahren. Ich bleib nicht hier. Wir fahren alle zusammen. Miko muss sie auch besuchen.«

»Komm mal her.« Während er sie von dem Kind wegführte, erklärte er es ihr.

»Ich mach mir Sorgen, dass das mit irgendwas zu tun haben könnte, das ich irgendwem angetan habe. Das ist eine Methode, um mich zu ködern …«

»Bob, nicht alles …«

»Nicht alles hat was mit mir zu tun, nein. Aber du kannst dir nicht vorstellen, was ich schon für abgekartete Spiele erlebt habe. Du hast keine Ahnung, wer vielleicht hinter mir her ist. Du hast eine Narbe auf der Brust, und du kannst dich auch noch an die Monate erinnern, die du im Krankenhaus gelegen hast, nachdem dieser Kerl dir eine Kugel verpasst hat.«

»Die hat er mir wegen mir verpasst, nicht wegen dir.«

Das alles war schon so lange her – aber er erinnerte sich noch, wie er die Schüsse gehört und sie halb verblutet am Wegrand gefunden hatte. Nikki hatte geschrien, und ein anderer Mann hatte tot in der Nähe gelegen.

»Ich sage nicht, dass es um mich geht. Aber ich kann’s auch nicht ausschließen. Und wenn ich mir die ganze Zeit über deine und Mikos Sicherheit Gedanken machen muss, kann ich nicht richtig funktionieren. Ich muss meine Nachforschungen allein anstellen. Wenn es sicher für euch ist, sage ich dir Bescheid.«

Den Scharfschützen habe ich umgebracht,

Aber vielleicht war der Bruder des Scharfschützen nun gekommen, und er kam hier in Idaho nicht an Bob heran, weil dieser hier Freunde und Familie hatte und jeden Winkel des Landes kannte. Also suchte er nach Wegen, Bob auf unbekanntes Terrain zu locken. Vielleicht würde es ihm Freude bereiten, den Schmerz in Bobs Gesicht zu sehen, wenn er zuerst seine Familie umbringen würde, eine nach der anderen – erst Nikki, dann Julie, dann Mi…

Er verfluchte sich. Jedes Mal wenn er lebendig und mehr oder weniger unversehrt wieder nach Hause kam, dachte er daran unterzutauchen, in seinem eigenen, ganz privaten Zeugenschutzprogramm zu leben. Eine neue Identität, ein neuer Anfang, ein neuer Ort, alles neu. Aber eine andere Stimme in ihm sagte: Nein, lass dich nicht verrückt machen, es ist nichts, es versaut dir das ganze Leben, wenn du es zulässt. Du gewinnst nicht, indem du bloß überlebst, sondern indem du lebst und alles hast, was du brauchst und liebst: deine Familie, dein Land, dein Zuhause.

»Bitte«, sagte er.

»Bob, das geht nicht nur dich was an. Sie ist meine Tochter. Sie ist meine Tochter. Ich kann nicht hierbleiben. Ich muss an ihrer Seite sein, ganz egal was es kostet oder wie groß das Risiko ist. Das spüre ich so deutlich, dass ich’s kaum aushalte.«

»Lass mich gehen, lass mich das abklären. Und sobald ich kann, und keine Sekunde später, gebe ich dir Bescheid, und dann kannst du nachkommen. Falls irgendeine Gefahr besteht, werde ich sie verlegen lassen, Bodyguards anheuern und einen sicheren Ort vorbereiten, zu dem du fahren kannst. Aber zuerst muss ich es wissen.«

Sie schüttelte den Kopf. Das Ganze gefiel ihr nicht.

»Ich weiß, dass ich mich irren kann«, versicherte er. »Das tue ich ständig. Es geht nicht darum, ob ich mich irre oder ob ich – was war das Wort, das Nikki benutzt hat?«

»Narzisstisch. Das ist jemand, der sich selbst zu sehr liebt, auch wenn er’s nicht zugeben kann. Du bist kein Narzisst. Kein Narzisst wird so oft angeschossen, aufgeschlitzt, blutig geschlagen, durch die Gegend geschleift und an den Kopf getreten wie du. Das muss ich dir lassen. Was immer du auch für Fehler hast, und du hast, weiß Gott, Hunderte – um ein Narzisst zu sein, bist du viel zu erpicht darauf, dein Leben zu riskieren, für dieses oder jenes oder für gar nichts. Bedank dich bei deinen Narben, dass ich dir zwei oder drei Tage lasse. Dann kommen wir.«

»Danke. Dann geh ich jetzt meine Sachen packen.«