Aus dem Amerikanischen von Alexander Rösch

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Enemy of the State

erschien 2017 im Verlag Emily Bestler/Atria Books, Simon & Schuster.

Copyright © 2017 by Cloak & Dagger Press, Inc.

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Veröffentlicht mit Erlaubnis von Emily Bestler/Atria Books,

ein Unternehmen von Simon & Schuster, Inc., New York.

Titelbild: Arndt Drechsler

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-762-2

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www.Festa-Action.de

PROLOG

Rabat, Marokko

Kurz nach Mitternacht wirkte Rabat weitgehend verlassen. Prinz Talal bin Musaid betrachtete die dicht gedrängten Wohnhäuser, die sich auf den Hügeln mit Blick über die Stadt aneinanderreihten. Seine Augen wurden zu einem menschlichen Umriss gelenkt, der sich in einer Gasse zu seiner Rechten duckte. Durch die Scheibe der Mercedes-S-Klasse kam ihm die Umgebung seltsam surreal vor. Die Staubschicht, die alles überzog, die rissigen Fassaden, die Lumpen, die zum Trocknen auf der Leine hingen – nichts davon existierte in seiner gewohnten Welt. Hier lebten die gesichtslosen Massen. Die Menschen, die er höchstens dann zur Kenntnis nahm, wenn sie nicht nach seiner Pfeife tanzten.

Vier Tage vor seinem 39. Geburtstag standen für ihn Privatjets, bildhübsche Frauen und luxuriöse Anwesen im Mittelpunkt. London, Monaco, Paris und New York verschwammen zu einem großen Ganzen. Die Städte dienten als bloße Kulisse für die verschwenderischen Nachtclubs und Boutiquen, in denen er und seine Begleiter verkehrten. Exklusive Orte, von denen nur wenige Eingeweihte wussten. Und ein noch kleinerer Kreis erhielt Zutritt.

Gelegentlich wurde er nach Saudi-Arabien beordert, wenn familiäre Angelegenheiten seine Anwesenheit erforderlich machten, doch mehr und mehr mied er seine Heimat, weil ihr bittere Erinnerungen an Verrat und den Entzug des ihm zustehenden Erbes anhafteten.

Sein Chauffeur manövrierte den Wagen vorsichtig in eine Seitenstraße, kaum breit genug zum Durchkommen. Bin Musaid mied den Anblick der plumpen Betongebäude zu beiden Seiten. Die gelangweilte Geringschätzung, die er solchem Elend sonst entgegenbrachte, wurde von Erregung und Vorfreude abgelöst. Kein Warten mehr. Kein Gerede. Dieses überwältigende Gefühl positiver Erwartung verspürte er immer dann, wenn Action sein Leben aufmischte.

Er ließ einen mit US-Dollars gefüllten Aktenkoffer auf den Schoß gleiten und genoss die angenehme Schwere. Sie rief ihm das bevorstehende Ziel in Erinnerung. Das Gewicht der Macht.

Obwohl er der Neffe von König Faisal war, hatte man ihm nie den Respekt entgegengebracht, den er verdiente. Nach dem vorzeitigen Tod seiner Eltern schickte man bin Musaid nach Europa und mutete ihm die Beleidigungen des westlichen Bildungssystems zu. Dozenten – darunter viele Frauen – hatten sich geweigert, seinen besonderen Status anzuerkennen, und spielten die autoritäre Karte aus, um auf lächerliche Weise ihre eigene niedere Herkunft zu kaschieren. Sie gaben ihm schlechte Noten und verpetzten ihn mit Geschichten über Weiber, Alkohol und Gewalttätigkeiten beim König.

Normalerweise hätte ihm das keine weiteren Konsequenzen beschert, doch Faisal ließ sich schließlich mit ihnen ein – mit den britischen Ungläubigen, die sowohl das Haus Saud als auch Allah ins Lächerliche zogen. Nach einem bedeutungslosen Zwischenfall mit einer weiblichen Mitstudentin hatte man ihn nach Saudi-Arabien zurückbeordert. Sie war eine typische westliche Hure gewesen, der er die Behandlung zukommen ließ, die sie verdiente; nicht mehr und nicht weniger. Trotzdem hatte er die Gelegenheit begrüßt, endlich den rechtmäßigen Platz in der herrschenden Klasse seiner Heimat einzunehmen.

Doch dazu war es nicht gekommen. Statt eines angesehenen Regierungspostens hatte man ihm eine endlose Serie niederer Tätigkeiten und bedeutungsloser Positionen in der unteren Hierarchie zugemutet. Der König äußerte sich in seiner Gegenwart zwar stets enthusiastisch über die strahlende Zukunft, die ihm bevorstand, unternahm jedoch nichts, um diese Zukunft real werden zu lassen.

Nachdem er sich von der eigenen Familie verraten fühlte, hatte bin Musaid seinem Geburtsland schließlich den Rücken gekehrt und alle Verbindungen auf ein Niveau reduziert, das gerade noch den Zugriff auf das Familienvermögen sicherstellte.

Er wusste inzwischen, dass es ohnehin keine Rolle spielte. Das Saudi-Arabien, das ihn zurückwies, war dem Untergang geweiht. König Faisal, alt und schwach, hatte längst die Kontrolle über die Machtblöcke verloren, die innerhalb des Landes zunehmend an Einfluss gewannen, und war zu einer Marionette Amerikas geworden. Der Monarch ignorierte das wahre Schicksal seiner Nation. Statt sich einzuigeln und belagern zu lassen, hätte das saudische Königshaus den ihm zustehenden Platz an der Spitze eines neuen Kalifats einnehmen sollen. Es war das Privileg und die Verantwortung des Hauses Saud, die islamischen Truppen anzuführen, wenn sie bei ihrem Feldzug Feinde in aller Welt vernichteten.

Sein Fahrer beugte sich vor, um in der Dunkelheit nach einem der seltenen Straßenschilder Ausschau zu halten.

»Links ab, du Idiot!«, schnauzte bin Musaid.

Tagelang hatte er Karten und Satellitenbilder auf Google studiert, um sich auf diesen Augenblick vorzubereiten. Nun ging es noch knapp einen Kilometer weiter geradeaus, bis die Straße in einer Sackgasse endete, dann weiter zu Fuß ins düstere Gewirr der Basare, die sich auf den Hügeln über der Stadt ausbreiteten. Der geplante Marsch dauerte etwa sieben Minuten, gemächlich, damit er keine ungewollte Aufmerksamkeit von Passanten auf sich lenkte. Am Ziel, einem unauffälligen Wohnkomplex, erwartete ihn ein Vertreter des Islamischen Staats.

Das Geld im Aktenkoffer diente der Finanzierung einer groß angelegten Aktion auf amerikanischem Boden. Der IS hielt es für ein entscheidendes Puzzlestück, um die unglaublich erfolgreiche Propagandapolitik auf eine neue Stufe zu hieven. Die Einzelkämpfer, die sie zu Selbstmordattentaten motivierten, leisteten zwar großartige Arbeit, doch in einem Land, in dem Massenschießereien an der Tagesordnung waren, hinterließen sie nicht genug Eindruck.

Es galt als entscheidender Faktor, dass die in den Vereinigten Staaten lebenden Muslime sich ihrem Feldzug anschlossen. Bislang übten sie sich in Zurückhaltung und ließen sich von Wohlstand und geheuchelter Integration in diesem Flickenteppich aus Einwanderern und Mischlingen einlullen, den die neue Heimat ihnen vorgaukelte. Allerdings bildeten sich erste Risse. Teile der amerikanischen Bevölkerung wendeten sich bereits gegen die muslimische Community. Es fehlte nur noch ein kleiner Schubser, damit Mohammeds Jünger isoliert, angegriffen und diskriminiert wurden. Sobald es dazu kam, standen Millionen junger, desillusionierter Männer bereit, um sich der Dschundollah, der Armee Gottes, anzuschließen.

Die saudi-arabische Führung hatte in der Vergangenheit auf ähnliche Methoden zurückgegriffen. Zwei von bin Musaids älteren Cousins waren direkt an der Finanzierung und Planung der Anschläge des 11. September beteiligt gewesen. Osama bin Laden galt zwar weltweit als Gesicht hinter den Angriffen, doch ohne die Unterstützung anderer Machthaber, die gezielt die Schwächen Amerikas ausnutzten, wäre der Erfolg nie zustande gekommen.

Der Prinz lächelte in der Dunkelheit in sich hinein. Videoaufnahmen der brennenden Wolkenkratzer und panischen Christen, die sich in die Tiefe stürzten, zogen an seinem geistigen Auge vorbei. Wobei es nicht allein diese glorreichen Szenen waren, die seine Stimmung aufhellten, sondern vor allem die amerikanischen Politiker, die zwar um die Rolle Saudi-Arabiens wussten, jedoch zu feige waren, um etwas dagegen zu unternehmen. Stattdessen hatten sie hinter verschlossenen Türen einen hastigen Pakt mit König Faisal ausgehandelt. Er würde die subversiven Kräfte im eigenen Land im Zaum halten und dafür sorgen, dass weiterhin Öl floss. Im Gegenzug verschwiegen die Amerikaner der Weltöffentlichkeit, dass fast ausschließlich saudische Staatsbürger für die Terrorakte verantwortlich zeichneten, und lenkten die Aufmerksamkeit ihrer Bürger ab, indem sie Bauernopfer in Afghanistan und im Irak öffentlich an den Pranger stellten.

Die daraus resultierenden Kriege und schleichenden Auswirkungen auf die westliche Wirtschaft hatten eine Spaltung des amerikanischen Volkes hervorgerufen, wie man sie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr kannte. Amerika lag am Boden wie ein verwundetes Raubtier. Und er war der Löwe, der darauf lauerte, die Bestie endgültig zu erlegen.

1

Über Asch-Schirqat, Irak

Mitch Rapp suchte vergeblich nach einer bequemeren Sitzhaltung. Sein Helm stieß gegen die Decke der Kabine und etwas Scharfes bohrte sich durch das Geflecht des Sitzes in seine rechte Rückenseite.

Nicht gerade der Komfort, den er von der G550 der CIA gewohnt war, allerdings hatte man dieses Flugzeug auch nicht konstruiert, um damit VIPs der Regierung herumzukutschieren. Es diente einzig und allein dem Zweck, ausgewählte Teams auf feindliches Terrain einzuschleusen. Damit das reibungslos funktionierte, mussten die Maschinen kompakt, schnell und unauffällig sein. Es gab weder einen Piloten noch ein Cockpit, keinen Druckausgleich in der Kabine, geschweige denn eine Klimaanlage. Und als einzige Beleuchtung musste der fahle Schimmer des Displays zu seiner Rechten herhalten.

Er blickte darauf und überflog die Daten. 400 Knoten, 25.000 Fuß Höhe, Kurs Südsüdwest. Eine ruckelnde Infrarotkarte neben Kompass und Zahlenkolonnen zeichnete den Kurs nach. Ganz unten auf dem Schirm schob sich gerade das Ziel in Sicht.

Asch-Schirqat.

Obwohl er schon viel erlebt und durchgemacht hatte, gab es wenige Orte auf der Welt, deren bloße Erwähnung bei ihm schwitzige Hände auslöste. Genau genommen nur zwei: die Stelle, an der seine Frau gestorben war, und eben Asch-Schirqat.

Eine grüne Lampe über der Luke flackerte auf. Er koppelte die Atemmaske von der Sauerstoffversorgung des Flugzeugs ab und verband sie mit dem mickrigen Tank am Wingsuit, den er trug, rutschte aus dem Stuhl auf den Karbonbelag des Bodens und zurrte ein kleines Päckchen zwischen den Beinen fest. Der Countdown hatte begonnen. Er wartete, bis die Luke zur Seite glitt, schob dann die Schutzbrille vor die Augen. Draußen erwarteten ihn Temperaturen um 30 Grad unter dem Gefrierpunkt. Rapp kämpfte sich an die tintenschwarze Öffnung heran. Wind peitschte ihm ins Gesicht. Der Countdown in der Hörkapsel erreichte null. Er schleuderte sich nach draußen und kämpfte um eine stabile Position, während er in den freien Fall beschleunigte.

Nach einigen Sekunden hatte er den Körper so weit austariert, dass er kurz auf die Anzeige am Handgelenk schauen konnte. Neben der aktuellen Höhe zeigte sie Richtung und horizontale Distanz zum Landepunkt an. Nicht dass es so entscheidend gewesen wäre, ihn exakt zu treffen – letztlich handelte es sich um eine zufällig gewählte Stelle knapp eine Meile vom Rand der IS-kontrollierten Stadt entfernt. Sein alter Mentor Stan Hurley hatte ihm beim Fallschirmtraining allerdings Genauigkeit als oberste Maxime eingebläut. Rapp erinnerte sich noch genau, wie der Kerl ihn inmitten der gezeichneten Landemarkierung empfangen hatte, den Blick himmelwärts gerichtet:

Wehe, du trittst bei der Landung nicht mit dem Fuß genau gegen meinen Kopf, dann tret ich dich hinterher, bis du blutest.

Kaum zu glauben, wie sehr ihm der elende Griesgram fehlte.

Unter ihm herrschte tiefe Finsternis, die das beunruhigende Gefühl erzeugte, frei im Weltall zu schweben. Saddam Husseins frühere Offiziere bekleideten in der IS-Führungsspitze zunehmend wichtige Posten. Ihr Aufstieg führte gleichzeitig zu einem drastischen Anstieg der Disziplin. Sie hatten Asch-Schirqat komplett verdunkelt, um den Amerikanern ein Bombardement zu erschweren. Schlimmer noch: Einige mobile SAM-Einheiten kurvten durch die zerstörten Straßen. Welchem Zweck sie dienten, wusste niemand, aber allein das Wissen, dass sie da waren, hatte ihn zu einer Strategieänderung veranlasst. Aus großer Höhe abspringen und sich der Stadt aus sicherer Entfernung nähern.

Knapp 300 Meter über dem Boden löste er den Fallschirm aus, koppelte das Päckchen zwischen den Beinen ab und klinkte es am Haupttragegurt ein. Mit ein paar kräftigen Zügen an den Steuerleinen manövrierte er den Schirm direkt über die vorgesehene Landezone – einen sandigen Hügel, der eine gute Sicht aus erhöhter Position ermöglichte.

Rapp raffte den Schirm eilig zusammen und streifte Schutzbrille und Helm ab. Fast zwei Minuten lag er still da und lauschte. Nachdem er davon überzeugt war, dass niemand seine Ankunft mitbekommen hatte, zog er sich bis auf ein paar schmuddelige Jeans und ein T-Shirt aus und zog das Päckchen zu sich heran.

Es enthielt lediglich ein Schulterholster samt Glock und Schalldämpfer, zwei Ersatzmagazine, etwas Trockenfleisch und eine kleine Schaufel, um das Sprungequipment zu vergraben. Sobald er damit fertig war, ging er problemlos als einheimischer Iraki durch, den es kurz nach Sonnenaufgang in die Wüste verschlagen hatte.

Ohne das Display am Handgelenk musste er die Sterne am Nachthimmel zur Orientierung nutzen. Glücklicherweise klappte das heutzutage genauso gut wie bei den ersten Forschern, die zu ihren Expeditionen aufbrachen. Er folgte einem Kurs nach Süden und massierte sich die Abdrücke der Schutzbrille im Gesicht weg. Nach wochenlanger Luftbeobachtung rechnete er zwar nicht damit, beim Erreichen der Stadt auf Sicherheitstruppen zu stoßen, aber Überraschungen gehörten zum Geschäft.

Als Rapp die zerbombten Gebäude am Rand von Asch-Schirqat erreicht hatte, robbte er zunächst auf dem Bauch weiter. Die Männer, derentwegen er gekommen war, hielten sich im Stadtzentrum auf. In Gedanken ging er die Route durch, die von den Kartografen der Agency festgelegt worden war.

Bei seiner letzten Flucht aus der Siedlung am linken Ufer des Tigris hatte er sich als amerikanischer IS-Rekrut ausgegeben. Der ehemalige irakische General, der das Gebiet kontrollierte, beabsichtigte seinerzeit, die saudi-arabische Ölförderung mithilfe schmutziger Bomben lahmzulegen, dadurch die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht zu bringen und die Saudis für eine Machtübernahme durch islamische Radikale verwundbar zu machen. Rapp war es gelungen, das Komplott zu vereiteln, nicht zuletzt dank der Unterstützung örtlicher Widerstandskämpfer.

Inzwischen kannte der IS die Identitäten dieser Verräter und hatte sich auf sie eingeschossen. Die meisten Verantwortlichen in Langley hielten es für puren Wahnsinn zurückzukommen, und argumentierten, dass das Risiko zu hoch und die Erfolgsaussichten zu gering waren. Vermutlich stimmte das sogar. Es änderte jedoch nichts daran, dass die fünf jungen Männer, die Rapp in Sicherheit bringen wollte, in Schlachten ziemlich unerfahren waren. Okay, bei der Informationsbeschaffung taugten sie nicht besonders viel. Die meiste Zeit hockten sie zusammen, schwangen theoretische politische Reden und ließen sich von ihren Kumpeln dafür feiern. Trotzdem hatten sie ihr Leben für ihn riskiert, als er sie brauchte. Da verdienten sie es verdammt noch mal, dass er umgekehrt dasselbe für sie tat.

Dummerweise zwang ihn diese Entscheidung, einem zaghaften Joe Maslick die Verantwortung für die Operation im marokkanischen Rabat zu übertragen. Letztlich wahrscheinlich gar nicht so verkehrt. Die Mission war nicht besonders komplex und Maslick musste dringend wieder Einsatzerfahrung in verantwortlicher Position sammeln, ob es ihm nun gefiel oder nicht.

Rapp schloss kurz die Augen und stellte fest, dass er das Unvermeidliche bewusst hinauszögerte. Er wäre am liebsten nie hierher zurückgekommen, hatte sogar versucht, die Militärs zu überreden, einen groß angelegten Angriff zur Rückeroberung der Stadt in die Wege zu leiten. Wenig erstaunlich: Sie wollten davon nichts hören. Sie hielten es zwar grundsätzlich für machbar, zumal die irakische Armee mit Unterstützung von US-Truppen über ausreichend Kampfkraft verfügte. Das Problem bestand darin, dass die Einheimischen kaum einen Unterschied zwischen irakischen Soldaten und IS-Milizen machten. Am Ende hielten sie beide nur für eine weitere Besatzungsmacht, der sie in ihrem endlosen Guerillakrieg gegenüberstanden. Willkommen im Nahen Osten.

Rapp stand auf und zwang sich zum Weiterlaufen. Er glitt zwischen zwei Gebäuden hindurch und orientierte sich mithilfe des leuchtenden Vollmonds. Dieser Teil der Stadt hatte eine Menge Gefechtsschäden erlitten, deshalb lebte hier so gut wie niemand mehr. Er war schon mal hier gewesen, hatte die Umgebung aber nicht verinnerlicht.

Nach knapp fünf Minuten, in denen er sich grob nach Süden orientierte, erreichte er einen eingestürzten Straßenzug, von dem kaum mehr als die östliche Begrenzungsmauer erhalten geblieben war. Einer der Orientierungspunkte, den er aus den Unterlagen aus Langley wiedererkannte. Er bog links ab und lief quer über einen von Bombenkratern übersäten Platz.

Auf der anderen Seite angelangt, beschlich ihn das Gefühl, verfolgt zu werden. Die Trümmer der umliegenden Bauten verfügten über einen natürlichen Rhythmus, der aus dem Gleichgewicht geraten zu sein schien. Die Schritte des Gegners waren unregelmäßig und vorsichtig, für sein trainiertes Gehör jedoch trotzdem unüberhörbar.

Er schlenderte betont gelassen weiter und kletterte über ein verbranntes Autowrack, um zu einer Gasse zu gelangen. Sobald er das Sichtfeld des Verfolgers verlassen hatte, huschte er in eine Wandnische auf der rechten Seite.

Wer immer da kam, ging äußerst diszipliniert vor, das musste Rapp ihm zugestehen. Es dauerte volle zwei Minuten, bis sich ein gut getarnter Schatten zentimeterweise in seine Richtung vorarbeitete. Mitch klaubte einen Betonsplitter aus einem Schutthaufen und schleuderte ihn in Richtung Neuankömmling. Fast unhörbar landete er etwa 20 Meter weiter südlich.

Die Schritte verstummten kurz. Rapp zückte die Glock und wartete, atmete flach. Einige Sekunden vergingen, dann tauchte der Umriss wieder auf. Der Mann überragte ihn um ein paar Zentimeter und hatte deutlich breitere Schultern. Das Sturmgewehr trug er vor der Brust und bewegte sich so gekonnt, dass er auf keinen Fall ein x-beliebiger IS-Pfuscher sein konnte.

Rapp verharrte reglos in der dunklen Nische, in die er sich geflüchtet hatte, und beobachtete den Vorstoß des anderen. Als der an ihm vorbeilief, feuerte Rapp aus der Deckung und drückte ihm den Lauf der Waffe gegen den Hinterkopf.

Der Gegner schrie nicht auf, sagte kein Wort, sondern blieb lediglich stehen und hob die Hände. Rapp trat langsam vor und strich ihm mit der Mündung der Glock durch die Haare, bis er direkt auf die Stirn zielte.

»Ich hab dich weniger nachlässig in Erinnerung«, raunte er auf Arabisch.

»Und für mich sahst du damals aus wie das Hinterteil einer Ziege.«

Rapp zog die Waffe zurück und ließ sich von dem Riesen umarmen.

»Halt dein Gesicht in den Himmel, mein Freund. Lass dich ansehen.«

Rapp reckte das Kinn Richtung Mond. Der Iraki packte ihn am Bart und bewegte seinen Kopf hin und her, um ihn zu inspizieren.

»Es ist erstaunlich, was ihr Amerikaner hinbekommt«, verkündete er mit aufrichtiger Bewunderung.

Um bei seiner vorherigen Operation in Asch-Schirqat nicht erkannt zu werden, hatte Rapp sich von Joe Maslick das Gesicht förmlich zu Brei prügeln lassen. Gaffar kannte ihn bisher nur mit diesem Gesicht – einer Ansammlung von Frakturen, Blut und Schwellungen.

»Ich will gar nicht dran denken, wie oft ich seitdem beim Chirurgen gewesen bin.«

»Trotzdem ist es … ganz erstaunlich.«

»Wie geht’s den anderen?«

»Sie kommen zurecht, aber es sind halt keine Soldaten. Angst ist ein guter Antrieb, aber das hier …« Er machte eine ausholende Geste. »Die Kälte, die Monotonie, der Mangel an Essen. Es ist verdammt hart.«

»Wie lange versteckt ihr euch schon hier?«

»Seit zwei Wochen.«

Rapp nickte. In der Regel waren es nicht die Schrecken und Anstrengungen des Krieges, die Menschen zusetzten, sondern die Pausen zwischen den Kämpfen.

»Komm«, sagte Gaffar. »Ich bring dich zu ihnen.«

Was von diesem Teil der Stadt übrig war, schien unbewohnt und für die IS-Truppen nicht von Interesse zu sein. Trotzdem bewegten sie sich mit größter Vorsicht. Schließlich erreichten sie eine massive Betonplatte, die gegen eine eingestürzte Mauer gekippt worden war. Gaffar hob einen Stein auf und schlug damit dreimal gegen die Überreste eines Laternenmasts. Kurz darauf tauchten die Leute, derentwegen Rapp gekommen war, am Eingang der improvisierten Höhle auf.

Die zwei hageren Kerle links wirkten wie Computergeeks. Einer schien die Brille verloren zu haben und blinzelte vergeblich gegen die Dunkelheit an, um etwas zu erkennen. Mohammed, ihr Anführer, befand sich trotzdem in halbwegs guter Verfassung. Dasselbe galt für seinen Bruder.

Die beiden Irakis gehörten zu den wenigen Männern auf der Welt, bei denen sich Rapp schwertat, ihnen in die Augen zu sehen. Deshalb konzentrierte er sich auf die Frau, die sich an Mohammeds Seite drückte.

»Wer ist sie?«

»Meine Frau.«

»Du hast geheiratet?« Rapp staunte. »Interessantes Timing.«

»Der IS hat Shada auf einer Auktion angeboten. Ich kenne sie seit meiner Kindheit und habe alles verkauft, um sie mit dem Erlös zu ersteigern.«

Rapp blickte in ihre dunklen Augen, betrachtete das glatte Gesicht und die schwarzen knotigen Haare. Er hatte Mohammeds Schwester unter ähnlichen Umständen ›erworben‹. Dieses Mädchen war jünger und deutlich verängstigter, erinnerte ihn aber stark an Laleh.

Die Erinnerung löste schmerzhafte Beklemmungen in der Brust aus. Er schob ihr Bild aus seinen Gedanken. Es würde dennoch zurückkehren. Das tat es immer.

»Wenn für mich nicht genug Platz ist, bleibe ich hier«, schlug sie vor, als sich das Schweigen in die Länge zog.

»Nein«, erklärte einer der Geeks mit leicht schriller Stimme. »Wenn jemand zurückbleibt, dann er. Schließlich hat er uns in die Sache reingeritten.«

»Halt die Klappe!«, raunte Gaffar im Flüsterton. »Wir haben uns da selbst reingeritten. Es ist unser Land, um das wir kämpfen, und unser Volk, das es zerstört hat. Nicht seins.«

Er hob die Hand und wollte zum Schlag ausholen, doch Rapp hielt sie fest.

»Hört zu, ihr müsst euch noch eine Weile zusammenreißen. Bald ist es vorbei.«

Er holte das mitgebrachte Essen aus der Tasche und verteilte es. »Nehmt das und packt eure Sachen.«

»Sie kann also mitkommen?«, vergewisserte sich Mohammed.

Rapp nickte. »Fünf Minuten.«

2

Rabat, Marokko

Joe Maslick spähte durch die schmutzige Windschutzscheibe auf das Viertel, in dem er sich aufhielt. Die Umgebung war besser ausgeleuchtet als erwartet, doch es gab trotzdem genug im Schatten liegende Stellen zum Parken. 1,86 groß und gut 100 Kilo schwer, fiel es ihm in diesem Teil der Welt – Blödsinn, eigentlich überall – nicht leicht unterzutauchen.

Grund Nummer 48, weshalb er gar nicht hier sein sollte.

Zum Glück war es dunkel und kaum jemand hielt sich im Freien auf. Doch das blieb natürlich nicht so. Schneller als es ihm lieb war, tauchten die ersten Frühaufsteher auf und schlürften irgendwo ihren Morgenkaffee, Kinder machten sich auf den Weg zur Schule und Verkäufer bauten ihre Stände auf, um Kunden abzufischen, die nicht in der prallen Sonne einkaufen wollten. Einer von der letzten Sorte würde garantiert an seine Scheiben hämmern und ihn anpflaumen, er solle den Wagen umparken. Nicht dass er es verstanden hätte, denn er sprach kein Arabisch.

Grund Nummer 49.

»Mas?« Bruno McGraws Stimme aus dem Knopf im Ohr. »Hörst du mich?«

»Leg los.«

»Ein Auto kommt in deine Richtung. Irgendwie merkwürdig. Ich vermute, das ist unser Mann.«

»Inwiefern merkwürdig?«

»Protzige neue Mercedes-S-Klasse. Zwei Mann vorn, einer auf dem Rücksitz.«

»So, so, Terroristen kurven also mittlerweile in 100.000-Dollar-Karossen durch die Gegend?« Mit dem müden Scherz versuchte er, seine Nervosität zu übertünchen. »Vielleicht sollten wir drüber nachdenken, die Seite zu wechseln.«

Die ganze Op stand unter denkbar schlechten Vorzeichen. Sein Commander, Scott Coleman, erholte sich von einer fast tödlichen Verletzung in Pakistan und Rapp pfuschte irgendwo im Irak rum. Blieb nur er übrig, um die Sache mit dem völlig unangebrachten Vertrauen der kompletten CIA, von der Direktorin abwärts, auszubaden.

»Könnte falscher Alarm sein. Jedenfalls ist er gleich an der Abbiegung der Bain Street«, fuhr McGraw fort. »Wir werden sehen, ob er sie nimmt.«

Maslick hasste es, Verantwortung zu übernehmen. Als Delta Force bei der Army hatte er für sich festgestellt, dass man am glimpflichsten davonkam, wenn man sich gute Anführer aussuchte und deren Befehle befolgte. Aus demselben Grund war er Coleman in den privaten Sektor gefolgt und hatte sich darauf eingeschossen, Mitch Rapp den Rücken zu stärken. Die zwei übernahmen die Denkarbeit, er das Schießen. So passte das in seiner Weltordnung am besten zusammen.

»Yup, er biegt ab. Das Spiel geht los.«

Maslick checkte die Tankanzeige. Ein paar Millimeter über dem ›Voll‹-Strich, genau wie vor fünf Minuten. Ihn quälte der Gedanke, die Mission wegen einer dummen Nachlässigkeit in den Sand zu setzen und Rapp beibringen zu müssen, dass er vergessen hatte, das Handy aufzuladen, ihm der Sprit ausgegangen war oder er die falsche Straßenkarte eingepackt hatte. Es wurde langsam zur Manie, die ihn davon abhielt, sich über die wirklich wichtigen Sachen Gedanken zu machen.

»Hast du Fotos gemacht?«, fragte er ins Headset.

»Vom Auto selbst, ja, kein brauchbares von den Insassen. Die Scheibe spiegelt zu stark.«

»Verstanden.« Maslick versuchte sich zu beruhigen. Ein simpler Job. Genau deshalb hatte man ihn darauf angesetzt. Vor ein paar Monaten hatte Rapp einen aufsteigenden Star am IS-Himmel in die Finger bekommen. Hayk Alghani war ein Gangster durch und durch, dessen Zeit sich auf Gefängnisaufenthalte und Fluchtversuche aufteilte. Nachdem eine seiner Bankbetrügereien schiefgegangen war, hatte er sich in Sewastopol in einer von örtlichen Gangstern gepachteten Immobilie verschanzt. Die europäischen Fahnder bekamen allerdings Wind davon, weshalb er sich in seiner Panik eine Ausgabe von Islam für Dummies zulegte und nach Syrien absetzte. Dank seines Händchens für finanzielle Gaunereien und Internetschwindel hatte er sich dort rasch hochgearbeitet. Zu seinem Pech so rasch, dass er ins Visier der CIA geriet.

Rapp hatte ihn vor den Toren Berlins hopsgenommen. Nach einer einzigen Ohrfeige plauderte Alghani bereitwillig all seine Vergehen aus und schwor den Amerikanern Loyalität bis ans Lebensende. Aktuell wartete er in einer heruntergekommenen Wohnung kaum eine Meile von Maslicks Parkplatz entfernt auf einen der ranghöchsten Geldboten des IS. Einen Mann, den alle nur als ›den Ägypter‹ kannten.

Maslicks Aufgabe beschränkte sich darauf, den Ägypter in den Kofferraum zu stopfen und in einem Stück zu einer Black Site der Agency zu schaffen. Übereinstimmenden Berichten zufolge arbeitete der Kerl grundsätzlich allein, wurde langsam alt und war nie bewaffnet. Eine simplere Mission gab es kaum.

Nun ging es plötzlich um einen Typen, der in einer S-Klasse durch die Gegend fuhr, offenbar mit Bodyguards im Schlepptau. Ziemlich genau das verfickte Gegenteil von simpel.

Scheinwerfer blitzten am Ende des verlassenen Straßenzugs auf und kamen näher. Maslick duckte sich in den viel zu engen Sitz und wartete, bis das Fahrzeug vorbeigefahren war. Definitiv eine aktuelle S-Klasse. Beiläufig stellte er fest, dass der Oberbau etwas tiefer als normal auf den Stoßdämpfern hing. Kugelsichere Karosserie.

Das Bremslicht flackerte kurz auf, dann verschwand das Vehikel links außerhalb seines Blickradius.

»Wick«, hauchte Maslick ins Kehlkopfmikro. »Sie kommen in deine Richtung.«

»Roger. Bin auf Position.«

Wicker hatte Posten auf dem Dach eines Gebäudes gegenüber vom vorgesehenen Treffpunkt bezogen. Wick gehörte unbestritten zu den besten Scharfschützen auf dem Planeten, doch diesmal sollte er bloß beobachten, das Arschloch festsetzen und es verhören, keinesfalls umbringen.

Maslick mahnte sich zur Ruhe. Sein Herz schlug schneller als bei einem Feuergefecht. Er kannte sich mit dem ganzen logistischen Krempel nicht aus. Für Coleman und Rapp wäre das Ganze eine lockere Fingerübung gewesen, ihn dagegen überforderte die Vielzahl variabler Faktoren, die er im Auge behalten musste. Statt einer Zielperson gab es drei. Statt eines normalen Fahrzeugs ging es um einen gepanzerten Mercedes. Hatten diese Hurensöhne kurzfristig Verstärkung organisiert? Unter Umständen war Wick nicht der einzige Bewaffnete, der gerade auf einem Dach in Rabat lauerte.

Maslick fing an zu schwitzen, so stark, dass es ihm schwerfiel, die Waffe ruhig zu halten. So etwas war ihm noch nie passiert. Weder in Afghanistan noch im Irak. Nicht mal bei diesem Desaster in Pakistan.

Grund Nummer 50, weshalb er für die Leitung dieses Einsatzes ungeeignet war. Oder schon Grund Nummer 51?

»Das Zielfahrzeug hat angehalten«, meldete Wicker. »Ein Mann steigt hinten aus. Wirkt auf mich nicht wie ein Ägypter. Typische Saudi-Montur. 10.000-Dollar-Anzug und ein Tischtuch um den Kopf.«

Maslick murmelte etwas.

»Das hab ich nicht verstanden, Mas. Wiederhol das bitte.«

»Hast du ihn vor die Linse bekommen?«

»Klar, nicht perfekt, aber gut genug, um es auf der Titelseite von Terrorist Weekly zu drucken.«

Maslick schlug mit der Hand gegen das Lenkrad und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Alles, was die Analysten geliefert hatten, schien mit einem Mal kompletter Bullshit zu sein.

Aus einer Malen-nach-Zahlen-Op war von jetzt auf gleich eine Improvisier-um-dein-Leben-Nummer geworden.

»Schick die Aufnahmen nach Langley. Wenn wir Glück haben, schlägt die Gesichtserkennung an.«

3

Asch-Schirqat, Irak

Rapp starrte auf die Leuchtzeiger der ramponierten Timex-Uhr und dann in die Dunkelheit hinter sich. Er sah nicht viel, hörte dafür umso mehr. Die Dämmerung umgab sie und sie bewegten sich in halbem Worst-Case-Tempo und machten dabei doppelten Worst-Case-Lärm. Eigentlich hätten sie bis Sonnenaufgang die Wüste erreichen sollen, doch das musste er sich abschminken. Es wurde höchste Zeit für einen Plan B.

Gaffar tauchte hinter einer umgestürzten Säule auf. Rapp musterte seine bullige Gestalt im Näherkommen.

»Ich hab doch gesagt, du sollst dableiben und uns den Rücken freihalten«, mahnte er, als der Iraki neben ihm stand.

»Ich weiß, aber es läuft gar nicht gut, Mitch. Ali tut sich schwer und Yusuf meint, er habe sich den Knöchel verstaucht. Wir kommen also noch langsamer voran.«

Nicht zu fassen. Selbst der Bewohner eines Altersheims hätte mittlerweile die Stadtgrenze erreicht.

»Wie weit müssen wir in die Wüste rein, Mitch?«

»Etwa 15 Kilometer. Mit dem Fallschirm unauffällig in der Nähe der Stadt zu landen war kein Problem. Einen Hubschrauber anzufordern halte ich dagegen für zu riskant. In dieser Gegend sind zu viele Patrouillen unterwegs.«

Der Rest ihrer Gruppe kam nach unerträglich langen fünf Minuten angewatschelt. Die Frau, deren Namen er verdrängt hatte, lief mit halbwegs erträglichem Tempo voraus. Kaum überraschend. Wenn es jemanden gab, der es eilig hatte, aus Asch-Schirqat rauszukommen, dann sie. Die Enthauptungen oder Salven, mit denen der IS den Rest von ihnen hingerichtet hätte, waren im Vergleich zu dem Schicksal, das ihr drohte, vergleichsweise human.

»Sag mir noch mal deinen Namen«, bat er leise.

»Shada.«

»Wo ist dein Ehemann, Shada?«

»Er hilft Yusuf.«

Es dauerte vier weitere Minuten, bis sie vollständig versammelt waren. Yusuf humpelte stark und hatte einen Arm um Mohammeds Schulter gelegt, der ihn stützte. Rapp war an die Arbeit mit Soldaten gewöhnt, die außergewöhnliche – manchmal unvernünftige – Anstrengungen auf sich nahmen, um Müdigkeit und Schwäche zu kompensieren. Yusuf tendierte zum exakten Gegenteil.

Die Verlockung, ihm an den Haaren zu zerren und ernsthaft ins Gewissen zu reden, weil er sie alle in Gefahr brachte, war groß, doch es hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Diese jungen Zivilisten hatten die letzten Wochen mehr oder weniger unter freiem Himmel verbracht – und die ganzen letzten Jahre in der Hölle. Sie liefen auf Reserve und hatten kaum noch Saft im Tank. Es gab keine Entschlossenheit, keinen Stolz und keine Loyalität mehr, die zusätzliche Kräfte hätten mobilisieren können. Früher oder später brachen sie einfach zusammen.

Rapp ging in die Hocke und winkte die anderen in einen Kreis um sich. »Planänderung. Die Stadt zu verlassen und 15 Kilometer weit in die Wüste zu laufen, werden wir nicht schaffen. Wir müssen einen fahrbaren Untersatz organisieren.«

Leises Murmeln erhob sich. Wenig überraschend zeigte sich die Mehrheit begeistert von der Idee.

»Freut euch nicht zu früh«, warnte Rapp. »Wir wollten uns unbemerkt aus der Stadt schleichen, ohne einer IS-Patrouille in die Arme zu laufen. Nun müssen wir gezielt nach einer suchen.«

»Vielleicht ist es besser, wenn der Rest von uns hierbleibt«, schlug Yusuf vor. »Ihr könntet das Fahrzeug auftreiben und uns hier einsammeln.«

Gaffar streckte die Hand aus und verpasste dem Jüngeren einen Schlag auf den Hinterkopf. »Sieht er für dich aus wie ein Busfahrer?«

Rapp sorgte mit einer Handbewegung für Ruhe. »Wegen der ganzen Trümmer auf der Straße halte ich es ohnehin für unmöglich, einen Truck an diese Stelle zu bringen. Selbst wenn es ginge, würde es zu viel Aufmerksamkeit erregen. Wir gehen zusammen und fliehen zusammen. Kapiert?«

Weiteres Murmeln, diesmal deutlich weniger begeistert.

»Gaffar, wo stoßen wir am ehesten auf eine Patrouille?«

»In nördlicher Richtung erreichen wir nach gut einem Kilometer den Rand der Zone, die regelmäßig kontrolliert wird. Außerdem ist es eine günstige Stelle, um die Stadt unbemerkt zu verlassen.«

»Dann führ uns hin. Ich übernehm den Abschluss.«

Shada folgte Gaffar dichtauf, der Rest hielt gewissen Abstand, weil Rapp aus Sicherheitsgründen darauf bestand. Yusuf, weiterhin auf Mohammed gestützt, setzte sich als Letzter in Bewegung.

Rapp behielt alle sechs im Auge. Die Gefahr, umzingelt zu werden, hielt er für ausgesprochen gering. Seine Position am Ende diente vor allem dem Zweck, für ein gewisses Mindesttempo zu sorgen. Das schien zu funktionieren. Etwa einmal pro Minute blickte Yusuf kurz über die Schulter und beschleunigte jedes Mal leicht den Schritt.

Die Gebäude in der direkten Umgebung blieben finster, wirkten aber längst nicht mehr so heruntergekommen wie zu Beginn ihrer Wanderung. Die Trümmer, die das unauffällige Vorankommen so erschwerten, wichen festgetrampeltem Lehm. Anstelle von blinden Fensterrahmen fanden sich vermehrt Exemplare mit intakten Scheiben und Holzläden.

Rapp hörte ein sanftes Knacken von oben und richtete die Glock auf die Geräuschquelle. Er lugte über den Schalldämpfer hinweg und erspähte eine Katze, die zwischen einer Reihe von Dachsparren hin und her sprang. Davon abgesehen blieb alles ruhig. Der IS hatte eine Sperrstunde und ein striktes Verdunklungsprotokoll festgelegt. Die Bewohner der Häuser wagten es nicht, gegen die auferlegten Regeln zu verstoßen.

Ein vages Leuchten wurde im Norden sichtbar. Er blieb stehen und wandte den Kopf, um es mit dem lichtempfindlicheren, peripheren Sehen zu erfassen. Das erwies sich als unnötig, weil im selben Moment das Geräusch eines Automotors aus derselben Richtung erklang.

Rapp beschleunigte zu einem langsamen Joggen und überholte die anderen, um sich an die Spitze ihrer bunt zusammengewürfelten Kolonne zu setzen. Wie erwartet hatte Gaffar angehalten und hinter einem zerstörten Brunnen Deckung bezogen.

»Eine Straße weiter östlich«, meinte er. Rapp ging neben ihm auf die Knie und forderte den Rest der Gruppe per Handzeichen auf, sich nicht von der Stelle zu rühren.

»Ich vermute, dass sie zum Stadtrand fahren und dann über die Straße vor uns zurückkommen.«

»Das wäre auch mein Tipp.«

»Dann sind wir hier richtig«, entschied Rapp. »Falls es nicht zu viele sind, fangen wir sie an dieser Stelle ab.«

»Und wie definierst du ›nicht zu viele‹?«

Rapp inspizierte die Straße und die Gebäude am Straßenrand. Es gab nicht viel, was sie zu ihrem Vorteil ausnutzen konnten. Nichts als das Überraschungsmoment und den Umstand, dass die IS-Kämpfer wohl kaum mit Widerstand seitens der Einheimischen rechneten.

»Ich nehm an, du hast keinen Schalldämpfer dabei?«

»Nein. Nur einen Revolver mit fünf Schuss. Und ein Messer.«

»In diesem Fall halte ich mehr als acht Mann für zu riskant.«

»Acht? Bist du sicher?«

»Glaubst du, wir kommen mit mehr klar?«

»Ich dachte eher an weniger.«

»Werd mir jetzt bloß nicht nervös, Gaffar. Wir winken sie ran und dann probier ich’s auf die freundliche Tour, damit ihre Wachsamkeit nachlässt. Wenn du meine Glock benutzt, werden sie nicht viel hören und nicht sofort reagieren. Ich …«

»Nein«, fiel ihm Gaffar vehement ins Wort. »Wir wissen beide, dass das ein furchtbarer Plan ist. Ich gehe. Dein Akzent passt nicht in diese Region, außerdem bist du ein deutlich besserer Schütze. Und nimm’s mir nicht übel, aber du bist kein besonders warmherziger Bursche. Mich mag dagegen jeder.«

»Ach, ist das so? Das hab ich noch gar nicht mitgekriegt.«

»Da kannst du alle fragen«, verkündete er todernst, während der Truck der IS-Patrouille vor ihnen auftauchte. »Ich hab ein einnehmendes Wesen.«

»Dann setz es mal ein«, forderte Rapp ihn auf. Er hielt die Strategie tatsächlich für besser, obwohl es ihm im Blut lag, grundsätzlich den gefährlichsten Part einer Operation zu übernehmen.

»Mohammed ist ebenfalls bewaffnet«, stellte Gaffar fest. »Sollen wir ihn um Hilfe bitten?«

»Von mir aus gern, aber willst du’s wirklich riskieren, dass er versehentlich dich trifft?«

»Okay, du hast ja recht.«

Der Schein einer einzelnen Taschenlampe wurde von den Mauern zu ihrer Rechten reflektiert. Gaffar holte tief Luft und zitterte leicht, als er sie wieder ausstieß.

»Alles in Ordnung?«

»Natürlich.«

Er hatte der irakischen Armee angehört, ausgebildet von Amerikanern, und war ein grundsolider Kämpfer. Zu einer Gruppe schwer bewaffneter IS-Psychopathen zu marschieren, hätte vermutlich jeden aus dem Konzept gebracht.

Rapp wühlte in der Jackentasche und zückte eine Schachtel Marlboro. Er hielt sie ihm zusammen mit einer Packung Streichhölzer hin.

Gaffar grinste. »Dich hat wahrlich Gott zu uns geschickt. Möge Allah dir sein Lächeln schenken.«

»Und dir.«

Nach diesen Worten trat der groß gewachsene Araber mitten auf die Straße und hob die Hand zum Gruß. Er kniff die Augen vor dem grellen Scheinwerferlicht zusammen. Der Truck bremste und Gaffar reagierte mit betonter Lässigkeit, schirmte das Streichholz mit der Hand vor dem Wind ab und hielt es vor die Zigarette im Mundwinkel.

Der Pick-up kam schlitternd wenige Meter vor ihm zum Stillstand. Männer sprangen von der Ladefläche, brüllten laut und schwenkten die AKs in seine Richtung.

Ihre Begleiter im Führerstand ließen sich mehr Zeit mit dem Aussteigen. Sobald sie vor dem Fahrzeug standen, wusste Rapp, dass sie es mit sieben Gegnern zu tun hatten. Eine machbare Aufgabe.

»Was treibst du hier draußen?«, erkundigte sich der Fahrer. »Es ist Sperrstunde.«

Gaffar warf das Streichholz beiläufig auf den Boden und nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette. »General Masri schickt mich. Uns liegen Erkenntnisse vor, wonach Mohammed Qarni und seine Bande in diesem verlassenen Teil der Stadt untergetaucht sind. Ich halte das allerdings für wenig wahrscheinlich und habe nirgends eine Spur von ihnen entdeckt.«

Er lief weiter, ignorierte die auf ihn gerichteten Waffen und schüttelte eine Zigarette für den Fahrer aus der Packung. Der nahm sie wortlos entgegen. Gaffar entzündete ein Streichholz.

»Gut möglich, dass sie aus der Stadt geflohen sind«, fuhr er fort. »In diesem Fall wird die Wüste meinen Job für mich erledigen.«

Er hielt den anderen die Marlboros hin. Zögernd kamen sie näher. Rapp beobachtete sie aus der Deckung, analysierte ihre Bewegungen, die Art, wie sie ihre Waffe hielten, den Grad ihrer Wachsamkeit. Nachdem alle geraucht hatten, hatte er jedem von ihnen eine Priorität zugeteilt. Natürlich würfelte die Unkalkulierbarkeit des Kriegs sie zwangsläufig durcheinander, aber an irgendetwas musste man sich orientieren.

Gaffar machte seine Sache perfekt. Die Behauptung, dass ihn jeder mochte, erwies sich als zutreffend. Das Gespräch plätscherte entspannt dahin, alle paar Sekunden brach lautes Gelächter aus. Rapp verstand nicht genau, was gesprochen wurde, aber das passte so. Gaffar dämpfte bewusst die Stimme, damit sich die IS-Kämpfer dicht um ihn scharten. Ein hübsch enges Trefferbild – dumm nur, dass er sich dadurch selbst in die Gefechtslinie brachte.

Rapp wartete den nächsten Lachanfall ab und nutzte ihn, um zwei Schüsse kurz hintereinander abzugeben. Er verzichtete auf die bewährten Kopfschüsse – zu auffällig und zu viel Schweinerei – und zielte stattdessen auf den Körperschwerpunkt. Die ersten Patronen galten den Männern, die ihm den Rücken zuwandten, dann visierte er die auf der anderen Seite an. Schuss Nummer drei wurde durch Gaffars Position in der Gruppe verkompliziert. Das Zielen nahm mehr Zeit in Anspruch, als ihm lieb war. Die beiden ersten Opfer waren schon fast zu Boden gegangen, als er endlich abdrückte und einen Tango dicht unterhalb der Stelle traf, an der das Sturmgewehr vor seinem Torso hing.

Der Fahrer stieß einen Warnruf aus. Gaffar reagierte augenblicklich, brüllte etwas von Mohammed und seiner Bande und zog die Waffe. Dabei feuerte er bewusst in die falsche Richtung, um den anderen zu suggerieren, es gäbe einen Schützen südlich von ihnen.

Sie fielen prompt drauf rein und eröffneten das Feuer auf die Fenster des Gebäudes auf der anderen Straßenseite. Holzsplitter, pulverisierter Beton und zersprungenes Glas regneten auf sie herab. Rapp nahm den Rücken des Fahrers ins Visier, drückte ab und fällte ihn. Kein Anführer mehr. Als Nächstes richtete er die Glock auf einen Mann, der auf der Ladefläche des Trucks gesessen hatte und ihm besonders wachsam und athletisch vorkam.

Gaffar zuckte und brach zusammen. Rapp zögerte ganz kurz, weil er mit einem bislang unbemerkten Schützen rechnete, bis er feststellte, dass es zur Show seines arabischen Freundes gehörte. Dieser lag nun auf dem Rücken hinter den restlichen drei Überlebenden.

Rapp widmete sich erneut dem eigentlichen Ziel und legte den Mann um. Zeitgleich schaltete Gaffar dessen Begleiter mit einem Kopfschuss aus. Der letzte IS-Soldat hörte auf zu schießen und blickte sich verwirrt um. Einen Sekundenbruchteil später schlug Rapps Geschoss in seine rechte Schläfe ein.

Es wurde still.

Rapp winkte dem Rest der Gruppe beruhigend zu, bevor er über die Straße rannte, um die Waffen der Gegner aufzusammeln. »Bist du verletzt?«

»Mir geht’s gut.« Gaffar stand auf und klopfte sich den Staub von der Kleidung.

Rapp warf ihm ein AK zu und deponierte die restlichen Waffen auf der Ladefläche des Pick-ups. Inzwischen war Shada hinter ihm aufgetaucht. Er half ihr beim Hochklettern. Gaffar setzte sich neben sie und zog die anderen über die seitliche Begrenzung. Mohammed unterstützte Yusuf und stürmte dann zur Beifahrertür.

Bis Rapp aufs Gaspedal trat und den Truck über die Straße schießen ließ, hatte Gaffar alle auf der Ladefläche dazu gebracht, die Waffen so zu halten, dass sie auf einen zufälligen Beobachter wie eine IS-Patrouille wirkten.

»Da«, sagte Mohammed und deutete durch die Windschutzscheibe. »Links abbiegen und wenden. Das bringt uns auf eine Straße, die direkt aus Asch-Schirqat rausführt.«

Rapp folgte der Anweisung, würdigte ihn ansonsten aber keines Blickes. Mit etwas Glück saßen sie innerhalb der nächsten Stunde in einem Hubschrauber und er bekam Mohammed Qarni nie wieder zu Gesicht.

4

Rabat, Marokko

Hayk Alghani stand am Rand der Fensterfront und betrachtete den windigen Basar unter sich. Vor ein paar Sekunden hatte er das Aufblitzen von Scheinwerfern bemerkt, doch jetzt herrschte erneut Dunkelheit. Die Intensität der Helligkeit deutete darauf hin, dass es sich nicht um ein vorbeifahrendes Fahrzeug gehandelt hatte, sondern um eins, das anhielt.

Sein Schwindelgefühl verstärkte sich, im Magen rumorte es heftig. Er musste würgen und stürmte ins Badezimmer. Dort riss er den gesprungenen Toilettensitz nach oben und spuckte in die fleckige Schüssel. Nicht mehr lang, redete er sich ein. Bald ist es vorbei.

Oder doch nicht?

Es stand außer Frage, dass er selbst die Schuld an seiner aktuellen Misere trug, doch der Auslöser schien aus einem anderen Leben zu stammen. Der arrogante junge Mann, der in Sewastopol vor den Behörden geflohen war, um sich dem IS anzuschließen, existierte nicht länger. Vermutlich hatte er nie existiert.

Wie immer bei ihm hatten die aktuellen Probleme mit einer Frau begonnen. Wunderschön und leidenschaftlich – eine überzeugte Muslima, die an nichts anderes als an Gott und den Kampf gegen die Sünde dachte. Obwohl er sich nach Verlassen des Elternhauses im Teenageralter vom Islam abgewandt hatte, faszinierten ihn der kompromisslose Glaube und die unerschütterliche Entschlossenheit. Sie hatte ihn letztlich überzeugt, sich in die einladenden Arme des Dschihad zu begeben und das Leben als Kleinkrimineller einem weitaus größeren Ziel zu opfern: der Erschaffung eines neuen Kalifats.

Nach einer eilig organisierten Hochzeit nutzten sie ihre Kontakte im Internet, um nach Syrien zu reisen, wo sie von IS-Vertretern in Empfang genommen und an einen Ort gebracht wurden, den beide nicht kannten. Es war ihnen egal. Sie befanden sich außerhalb des Einflussbereichs der europäischen Strafverfolgungsbehörden. Er befand sich vollkommen im Bann ihrer Schönheit und ihrer Begeisterung für den radikalen Islam. Egal wo sie landeten, sie würden dort im Dienst Gottes das Böse in der westlichen Welt bekämpfen.

Es fiel ihm nicht sonderlich schwer, den Moment zu bestimmen, in dem alles aus dem Ruder gelaufen war. Ihre Reise, auf der sie sich Assads Todesschwadronen, russischen Kampfflugzeugen und amerikanischen Drohnen entziehen mussten, dauerte viele Tage. Der Schlaf beschränkte sich auf flüchtige Momente in ausgebombten Ruinen oder Höhlen. Schließlich erreichten sie einen Außenposten des IS, dem Zugriff von Ungläubigen entzogen. Mira schloss sich einer Gruppe von Frauen an, um ein Bad zu nehmen. Dort würde sie ihren Tschador ablegen und von ihnen nackt gesehen werden.

Später am selben Tag isolierte man ihn und Mira von den übrigen Rekruten und verfrachtete sie in einen drückend heißen Geländewagen, der nach Westen in die Wüste fuhr. Er wurde zunehmend nervöser, als der Fahrer sich weigerte, Fragen zu beantworten. Mira blieb dagegen vollkommen ruhig. Nichts konnte sie aus der Fassung bringen. Sie vertrat die feste Überzeugung, dass man sie für eine besondere Aufgabe auserwählt hatte und es ihr bestimmt war, den Lauf der Geschichte zu beeinflussen.

Als sie erfuhr, dass der Mullah Sayid Halabi ihnen eine Privataudienz gewährte, reagierte sie mit enthusiastischer Begeisterung. Sie durften also tatsächlich vor den Mann treten, dem Allah so große Liebe zuteilwerden ließ und der die Herzen der Amerikaner mit Furcht und Schrecken erfüllte. Eine enorme Ehre, mit der sie nie gerechnet hatte. Hayk erinnerte sich noch gut, wie sie dem Machthaber ewige Treue geschworen hatte, und an den belustigten Ausdruck in den blassblauen Augen Halabis, die er von den früheren Invasoren seiner Heimat geerbt hatte.