Aus dem Amerikanischen von Michael Krug

Impressum

Die amerikanische Originalausgabe Fallen – Blood & Roses #4

erschien 2014 im Verlag Smashwords.

Copyright © 2014 by Callie Hart

Copyright © dieser Ausgabe 2019 by Festa Verlag, Leipzig

Titelbild: Alexander Kopainski

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-86552-766-0

www.Festa-Verlag.de

EINS

Jimmy Renford

Büros von Castle Security

5:47 Uhr. Ich hasse es, zur Frühschicht einzustempeln. Aber die letzten drei Monate hatte ich die Nächte. Deshalb hat man wohl entschieden, es wäre an der Zeit, dass ich mal die harte Tour abbekomme. Eigentlich nur fair, schätze ich. Allerdings ist es wieder etwas völlig anderes, wenn man mit Myers zusammenarbeiten muss. Der Mann hat weder ein Gespür für Körperhygiene noch dafür, wann man verdammt noch mal die Klappe halten sollte. Seit ich hier arbeite, bin ich erst drei- oder viermal mit ihm zum Dienst eingeteilt gewesen. In der Zwischenzeit hab ich von den anderen Jungs gehört, dass eine Schicht mit Myers als eine Art Strafe gilt. Ich bin pünktlich – zu spät komme ich nie. Und ich leiste gute Arbeit, deshalb hab ich keine Ahnung, was ich ausgefressen habe, um die Scheiße zu verdienen. Jedenfalls passt es mir gar nicht. Heute wird höllisch viel zu tun sein.

Die Reihe der Monitore vor dem Schreibtisch, an dem Myers und ich postiert sind, ist schon jetzt mit Bildern von Menschen gefüllt, die bereits wach sind und ihrer morgendlichen Routine nachgehen. Mir ist das nie richtig vorgekommen – dass die Welt niemals innezuhalten scheint. Dass ständig, Tag und Nacht, ganz gleich um welche Uhrzeit, Leute wach sind, die wir auf den Bildschirmen dieser Monitore beobachten können. Wir sind Big Brother, überwachen sowohl die banalen Rituale als auch die manchmal hochgradig illegalen Aktivitäten der Einwohner von Seattle. Wir bekommen alles zu sehen, und ich meine wirklich alles. Manchmal empfinde sogar ich das als unheimlich, und ich arbeite hier.

»Also sag ich zu ihr: ›Bitch, wenn du wirklich auf ’nen grünen Zweig bei meiner Schwester kommen willst, kannst du vor ihr nicht so mit mir reden. Immerhin bin ich ihr kleiner Bruder, verstehst du? Sie wird immer hinter …‹ He! He, Renford, sieh dir das an. Die Bilder von dem neuen Tankstellenkunden sind online gegangen. Ist dir das schon aufgefallen? Ich kann’s nicht fassen, dass die von uns verlangen, 18 neue Standorte im Auge zu behalten.« Myers stupst mich ein wenig zu fest mit dem Ellenbogen. Der Kaffee zum Mitnehmen, in den ich gerade Zucker rühre, schwappt gefährlich. Um ein Haar hätte sich die heiße, schwarze Flüssigkeit auf meinen Schritt ergossen.

»Pass doch auf, du Arsch! Du hättest mir fast den Schwanz verbrannt.«

Myers lacht nur sein nervtötendes Eselsgewieher von einem Lachen, völlig unbeirrt von der unverhohlenen Abneigung in meiner Stimme. Ich gebe mir nicht mal Mühe, sie zu verbergen. Scheint Myers total schnurz zu sein. »Wie du meinst, Alter. He, und sieh dir das an.« Er zeigt mit einem Finger auf den rechten unteren Bildschirm, den unmittelbar vor mir.

Dabei deutet er auf das Fahrzeug, das die Zufahrt zur Tankstelle entlangrollt. Ich kenne die Tankstelle, es ist die draußen am Flughafen. Ich hab sie schon so oft selbst benutzt, dass ich die Anordnung und die stark frequentierte Straße durch das Fenster des Gebäudes erkenne, als die Ansicht der Kamera von draußen zu einer Innenaufnahme wechselt.

Myers glotzt immer noch ehrfürchtig auf den Wagen, der gerade zu den Zapfsäulen gerollt ist. Es ist ein Aston Martin One-77 – kleine Jungs träumen davon, eines Tages ein solches Superauto zu besitzen, während sie mit der Matchbox-Version davon spielen. Dieses Monster von einem Auto sieht ziemlich gut gepflegt aus. Der funkelnde Glanz der Motorhaube zeugt von einer Wachspolitur, die erst unlängst erfolgt sein muss. Sogar ich muss zugeben, dass es eine wunderschöne Karre ist.

»Ich hab schon mit dem Gedanken gespielt, so ein Teil Probe zu fahren«, verrät mir Myers und stopft sich ein Stück gebutterten Toast in den Mund. »Du weißt schon, einfach zum Autohändler gehen und so tun, als wär ich interessiert dran, es zu kaufen. Dazu in Schale schmeißen, damit die denken, ich hätte die Kohle dafür oder so. Schätze, das ist die einzige Möglichkeit, wie ich je hinters Lenkrad einer solchen Karosse kommen könnt«, meint Myers und wischt sich Brotkrumen von den Mundwinkeln. »Andererseits weiß man ja nie. Vielleicht gewinn ich ja auf meine alten Tage noch im Lotto.«

Myers labert weiter darüber, wie er die Chancen verbessern will, indem er bei einer Art Wettgemeinschaft dabei ist, und er bietet mir an, mit einzusteigen, falls ich interessiert bin, aber ich höre ihm nicht wirklich zu. Stattdessen starre ich auf den Mann, der gerade vom Rücksitz des Wagens aussteigt. Ich kenne ihn, obwohl ihn viele andere Leute nicht erkennen würden. Er ist ein Top-Promi besonderer Art. Die Art von Promi, mit der nur Leute in bestimmten Kreisen vertraut sind. Manchmal wird er in den Nachrichten erwähnt, aber nicht im Unterhaltungsbereich. Über ihn wird in dem Teil berichtet, der den ungelösten Morden und brutalen Schlägereien gewidmet ist, die sich gelegentlich in den dunkleren Winkeln dieser Stadt ereignen. Allerdings fällt dabei nie sein Name, wenngleich ich ihn sehr wohl kenne: Charlie Holsan.

Charlie Holsan ist gerade aus diesem lächerlich teuren Auto ausgestiegen und betritt die Tankstelle. Ein großer Kerl, der mir nicht bekannt vorkommt, steigt vom Fahrersitz aus und folgt Charlie hinein. Den Fahrer kenne ich nicht, dafür Charlie umso besser: Er ist seit acht Jahren der Arbeitgeber meines Bruders. Acht Jahre, in denen Sammy nie ans Telefon geht und nie bei irgendwelchen Familienveranstaltungen aufkreuzt. Acht Jahre, in denen ich Sammy wiederholt auf Kaution aus dem Knast holen musste, wenn sein Boss zu beschäftigt gewesen ist, um selbst jemanden zu schicken. Acht Jahre, in denen mein Bruder immer verkommener geworden ist, während dieser englische Arsch seine Krallen tiefer und tiefer in ihn schlägt.

Ich hasse den Mann.

Charlie und sein Chauffeur tanken nicht. Stattdessen betreten sie beide in ihren lächerlich kostspieligen Anzügen das Gebäude. Ihre italienischen Lederschuhe glänzen im grellen Licht der Neonbeleuchtung der Tankstelle. Sie sehen die Regale durch, suchen nach … Keinen Schimmer, wonach sie suchen. Wir sind darauf geschult worden, solche Leute zu sichten – Leute, die wirken, als würden sie Zeit totschlagen. Das bedeutet in der Regel, dass sich ein Überfall ankündigt, allerdings glaube ich irgendwie, dass bewaffneter Raubüberfall ein wenig unter Charlies Kaliber ist. Falls er knapp bei Kasse wäre, was ich nicht glaube, hätte er einen ganzen Arsch voll hirnloser Brutalos, die derlei Drecksarbeit für ihn erledigen könnten.

»So ein glücklicher Schweinehund«, brummt Myers und stopft sich mehr von seinem Frühstück in den Mund. »Was meinst du? Banker? Anwalt? Er sieht wie ein verfickter Anwalt aus. Muss jedenfalls echt dick Kohle haben, wenn er sich einen Aston leisten kann.«

Wäre Myers einer der anderen Jungs, mit denen ich tatsächlich gern abhänge, würde ich mein Schweigen vielleicht brechen und verraten, womit sich dieser Mann den Lebensunterhalt verdient. So jedoch strecke ich nur die Hand aus und drücke die Sperrtaste, die verhindert, dass der Bildschirm vor mir zu einer anderen Kamera irgendwo anders in der Stadt weiterschaltet.

Charlie und sein bezahlter Handlanger latschen weiter gemächlich durch den Laden, greifen sich willkürlich Artikel von den Regalen und reden miteinander. Charlie wählt etwas aus einem anderen Regal aus, sagt wieder etwas zu seinem Begleiter und lacht. Er wirft den verpackten Artikel dem anderen Mann zu, der ihn öffnet und den Inhalt zu essen beginnt. Über Charlies Schulter sehe ich, wie sich die Tür öffnet. Eine junge Frau tritt ein und telefoniert dabei am Handy. Sie schaut nicht auf. Ihr fällt nicht auf, dass Charlie und der andere Kerl zu lachen aufhören und sie ansehen. Über der Schulter trägt sie eine große Tasche, die sperrig aussieht. Ungewöhnlich, so etwas mit sich herumzuschleppen. Die Frau geht zur Kasse, stellt die Tasche zu ihren Füßen ab und lacht über etwas, das die Person am anderen Ende der Leitung zu ihr sagt.

Mich beschleicht ein ungutes Gefühl. Ich kann nicht sagen, warum, aber irgendwas … irgendwas ist da faul. Die Männer kaufen nichts und kommen mir entschieden zu fixiert auf diese junge Frau vor. Das geht weit über beiläufiges Interesse hinaus.

Ich spiele mit dem Gedanken, zum Funkgerät zu greifen und die Jungs darauf anzusetzen, aber was kann ich schon sagen? Ich kann nicht erklären, woher ich Charlie kenne – woher ich weiß, dass dieser Typ mittleren Alters, der wie ein stinknormaler Geschäftsmann aussieht, in Wirklichkeit ein Unterweltboss ist, der wegen zahlreicher Morde und wegen Drogenhandels gesucht wird. Wenn ich es erklärte, würde ich Sammy damit definitiv in Schwierigkeiten bringen. Was der Penner mit Sicherheit mehr als verdient hätte – aber meine Mutter hat es nicht verdient.

Die junge Frau bezahlt an der Theke für etwas. Charlie und sein Begleiter haben mit ihrem Herumgealber aufgehört und stellen sich hinter ihr an. Der Fahrer tritt zur Seite, als sich Charlie bückt und die Tasche für die Frau aufhebt. Als sie sich umdreht, hält er sie ihr entgegen. Es ist eine freundliche Geste, und die junge Frau lächelt ihn an, als sie die Tasche entgegennimmt.

»Oha! Moment mal«, entfährt es Myers. Er beugt sich an mir vorbei und knautscht die Augenbrauen zusammen. »Was zum Teufel macht der Typ da?«

Ich war zu beschäftigt damit, zu beobachten, wie Charlie die junge Frau zu dem Glauben verleitet, er sei ein Gentleman, deshalb habe ich nicht auf den anderen Kerl geachtet. Der steht echt knapp hinter ihr, und es sieht so aus, als hielte er ihr etwas ans Genick. Etwas Spitzes. Etwas Silbriges. Etwas, das als verschwommener weißer Fleck in den niedrig aufgelösten Bildern der Überwachungskamera funkelt. Adrenalin flutet meinen Körper. »Heilige Scheiße! Er will sie ausrauben oder so. Er tut’s wirklich!«

Bevor ich reagieren kann, beginnt die Sirene an der Wand hinter mir laut und durchdringend zu schrillen. Der Kassierer auf der anderen Seite des Plexiglases unmittelbar vor den drei Leuten in der Tankstelle hat eine bessere Sicht darauf, was vor sich geht, und offenbar ist auch er der Meinung, die junge Frau sei in Gefahr. Er hat den Alarm ausgelöst. »Scheiße. Tu’s. Verständige das Einsatzteam.«

Myers mag ein Arschloch sein, aber er reagiert wirklich schnell. Er ist schon am Telefon und gibt der Polizei die Einzelheiten des laufenden Überfalls durch, dann funkt er das von Castle beschäftigte Sicherheitsteam an.

Ich habe Mühe, den Blick vom Bildschirm zu lösen. Sowohl der Fahrer als auch Charlie haben sich von der Frau entfernt, und was immer der Chauffeur der Frau an den Hals gehalten hat, ist verschwunden. Der Kassierer ist aus seiner geschützten Kabine gekommen – Idiot! Den Leuten wird eingebläut, genau das nicht zu tun. Er versucht gerade, Charlie und den anderen Kerl aus der Tankstelle zu vertreiben.

Charlies Chauffeur zieht eine Knarre. Die Lage hat ohnehin schon rasant auf »beschissen« zugehalten, aber sobald die Schusswaffe gezückt ist, weiß ich: Das war’s. Ich kann bereits vor mir sehen, wie es ablaufen wird: Der Kassierer will den starken Macker mimen, der Schießprügel geht los, der Kassierer landet auf dem Boden …

Aber die Waffe feuert nicht, und es ist nicht der Kassierer, der auf dem Boden landet. Sondern die Frau. Der Kassierer dreht sich um, und sogar in der lausigen Qualität der Bilder der Überwachungskamera ist das Grauen in seinem Gesicht unverkennbar. Charlie sagt etwas, und der Chauffeur drängt sich am Kassierer vorbei. Er schnappt sich etwas von der Theke. Dann bückt er sich, dreht die Frau um und schiebt ihren Rock hoch, legt ihren Bauch frei.

»O Scheiße. Er … er wird doch nicht etwa …«, setzt Myers an. Ich weiß, was ihm durch den Kopf geht. Er denkt, der Fahrer will sich zusätzlich auch noch an ihr vergehen – doch das tut er nicht.

Er beugt sich über ihren Körper und versperrt die Sicht darauf, was er treibt. Seine Schultern heben und senken sich kurz, dann zieht er den Rock der jungen Frau wieder runter und bedeckt ihren Bauch. Sie bleibt liegen, er wirft etwas auf sie, etwas Langes, Dünnes, Schwarzes, und er lacht dabei.

Da er die Sicht der Kamera auf sie nicht mehr behindert, ist deutlich zu erkennen, dass mit der Frau etwas nicht stimmt. Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit ihr. Sie müht sich auf dem Boden auf die Hände und Knie, und es sieht so aus, als würde sie würgen. Heftige Zuckungen schütteln ihren Körper. Der Kassierer eilt zu der Frau, legt ihr unsicher eine Hand auf den Rücken. Sein Mund bewegt sich, als er panisch mit ihr spricht.

Charlie und der Chauffeur schlendern gemächlich aus der Tankstelle … und die Frau auf den Knien beginnt, Blut zu erbrechen.

ZWEI

Zeth

(Drei Tage zuvor)

Alexis Romera ist in Sicherheit.

Manchmal sucht einen ein Satz stundenlang heim.

Alexis Romera ist in Sicherheit.

Manchmal spukt einem ständig nur ein einziger, bestimmter Gedanke durch den Kopf, immer und immer wieder, ganz unabhängig davon, wie sehr man versucht, ihn abzuschütteln.

Alexis Romera ist in Sicherheit.

Das ist der Satz, unter dem ich in Dauerschleife leide, während wir weg von San Jacinto fahren. So lange, bis die Worte anfangen, mein Hirn zu ficken. Sloane ist neben mir auf dem Beifahrersitz. Sie trägt hautenge Shorts, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie von irgendwo herbeigeträumt habe. Ihre langen, perfekten Beine strecken sich in den Fußraum, und alles, woran ich denken kann, ist: Alexis Romera ist in Sicherheit. Alexis Romera ist verdammt noch mal in Sicherheit.

Grob übersetzt bedeuten die Worte zugleich: Sloane Romera braucht dich nicht mehr. Sloane Romera braucht dich nicht mehr. Deshalb kleben sie mir im Schädel wie ein gottverdammter Kaugummi, den ich nicht abschütteln kann.

»Rechts. Rechts. Rechts! Du verpasst die Ausfahrt!« Sloane umklammert das Lenkrad, als ob sie uns zur Ausfahrtsrampe steuern will, aber ich bedenke sie mit einem vernichtenden Blick. Dem vernichtenden Blick. Dem Blick, der ihr verrät, dass sie die Hand besser schleunigst vom Lenkrad entfernen sollte oder Gefahr läuft, sie zu verlieren. Niemand außer mir fährt den Camaro. Und es fasst auch niemand das verfickte Lenkrad an.

»Ich kenne den Weg nach Dana Point, Sloane.« Ich nehme die Ausfahrt, achte allerdings darauf, erst im letzten Moment rüberzuschwenken und Sloane eine Scheißangst einzujagen. Sloane atmet scharf ein, sagt aber kein Wort. Sie hält nichts von meinem rücksichtslosen Fahrstil. Was mich nur noch rücksichtsloser fahren lässt. Ich liebe es einfach, in dieser Frau ein Feuer zu entfachen, mit welchen Mitteln auch immer.

»Du hältst dich für so schlau, was?«, meint sie und starrt stur geradeaus durchs Fenster, als wir den Weg nach Süden antreten.

»Im Großen und Ganzen schon.«

»Gut. Dann ist dir wohl im Großen und Ganzen auch egal, dass du Michael und den anderen keine Chance gelassen hast zu sehen, wohin du abgebogen bist, richtig?«

Mein Kumpel Michael fährt uns mit seiner Limousine hinterher, seit wir San Jacinto verlassen haben, begleitet von Cade und einem anderen Widow Maker namens Carnie auf ihren Bikes. Klar hab ich die Ausfahrt in letzter Sekunde genommen, um Sloane auf die Palme zu treiben, aber auch aus einem anderen Grund: Ich wollte diese Kerle abschütteln. Sloane gegenüber zucke ich unverbindlich mit den Schultern, was sie mit einem finsteren Blick quittiert. Ich sehe den Blick nicht, ich spüre ihn. Er brennt sich mit der Intensität einer Supernova seitlich in mein Gesicht.

»Warum hast du Michael gesagt, er soll mitkommen, wenn du in Wirklichkeit gar nicht willst, dass er mitkommt?«

»Weil er für mich was tun muss, nachdem wir Lacey abgeholt haben. Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass Cade und Carnie darauf bestehen würden, uns als verfickte Eskorte zu begleiten. Das Letzte, was du willst, ist, dass Rebels Mannschaft in Ma und Pa Romeras Vorgarten aufschlägt, glaub mir. Ich schicke ihn direkt zu dem Job.«

Dazu brummt Sloane. »Mein Vater würde echt einen Herzinfarkt kriegen. Aber andererseits …«

»Was?«

Sie kichert verhalten. Mit gefällt der schräge Ton nicht, der darin mitschwingt. »Tja, mein Vater wird ohnehin einen Herzinfarkt kriegen, und zwar in dem Moment, in dem er dich zu sehen bekommt. Cade und Carnie wären nur noch das Tüpfelchen auf dem i gewesen.«

Oh, darauf habe ich nur gewartet. »Schätzchen, du kannst unbesorgt sein. Dieser Wagen wird vor dem Haus deiner Eltern nicht mal anhalten. Und ich werd mit Sicherheit nicht aussteigen. Ich dreh ein, zwei Runden, während du dich verabschiedest, dann komm ich euch abholen.«

Ich rechne mit Einwänden von Sloane gegen meine Weigerung, ihre Eltern kennenzulernen, aber sie hat keine. Ich will nicht mal den Kopf drehen und hinschauen, falls sie mir einen vernichtenden Blick zuschleudert … aber Scheiße noch mal, ich kann nicht anders. Ich will diese zum Niederknien süße, finstere Miene sehen.

Als ich aus dem Augenwinkel einen flüchtigen Blick wage, fehlt allerdings von der finsteren Miene jede Spur. Sie wirkt nicht mal geknickt. Sloane starrt nur aus dem Fenster und beobachtet, wie amerikanische Durchschnittsverdiener mittleren Alters an ihr vorbeiziehen.

Sie ist nicht mal geknickt. Wenn sie nicht geknickt ist, dann muss sie verfickt erleichtert sein. Für sie ist es besser, wenn mir ihre Eltern nie begegnen, das ist mir schon klar. Wahrscheinlich warten sie nur auf den Tag, an dem sie anruft und ihnen mitteilt, dass sie irgendeinen verlässlichen, beschissenen Schönheitschirurgen oder so heiraten wird. Jemanden, der mit ihr im Krankenhaus zusammenarbeitet – wo will sie bei ihren Arbeitszeiten auch sonst jemanden kennenlernen? Und nach Ansicht ihrer Eltern würde das für sie das Beste sein. Ein solcher Kerl würde ihre Prioritäten verstehen. Sie mit ihr teilen. Er würde verstehen, dass sie nicht rund um die Uhr verfügbar ist, um zum Abendessen auszugehen oder zu kochen und zu putzen.

Aber Sloanes Eltern sind Kirchenfanatiker. Wahrscheinlich erwarten sie irgendwann ein solches Leben für Sloane. Sie werden wollen, dass sie Hausfrau und Mutter wird. Sie werden von ihr erwarten, dass sie ihre Karriere sausen lässt, um zu Hause herumzusitzen und fett zu werden, während sie ihre statistischen zwei Komma fünf Kinder hütet.

Ich bezweifle stark, dass Sloane das vorhat, aber vielleicht hatte sie diesen Streit mit ihren Eltern noch nicht. Und mit mir am Arm bei ihnen aufzukreuzen würde definitiv zu einem Streit führen. Ich bin nicht der Typ dafür, ihr zwei Komma fünf Kinder zu bescheren. Ich bin nicht der Typ dafür, sie zu Hause bleiben und für mich kochen zu lassen. Ich bin vielmehr der Typ, der sie dazu anstiftet, sich tätowieren zu lassen, und der sie ihr gesamtes Geld dafür verprassen lässt, jedes Wochenende eine Kaution zu hinterlegen, um meinen nichtsnutzigen Arsch aus dem Knast zu holen. Oder zumindest würden ihre Eltern das in mir sehen. Und ich bin sicher, dasselbe gilt für den Rest der Welt. Gut, dass mir scheißegal ist, was der Rest der Welt denkt. Aber Sloanes Eltern … Wieso zum Geier fühle ich mich gerade so beschissen? Noch vor zwei Sekunden habe ich über die Vorstellung gelacht, sie kennenzulernen.

Es sollte mir schnurzegal sein. Sie sollten mir schnurzegal sein. Sloane scheint nie das Bedürfnis zu verspüren, sich dem Willen ihrer Eltern unterzuordnen. Ist unwahrscheinlich, dass sie mich fallen lassen würde, weil sie es verlangen. Und dennoch … dass sie wegen der Sache nicht mit mir streitet … fühlt sich verflucht beschissen an.

»Knirschst du grade mit den Zähnen?«

Sloane hat bemerkt, dass ich mit den Zähnen knirsche. Na perfekt. »Nein.«

»Doch, tust du.«

»Mach dich einfach bereit. Das hier ist doch ihre Gegend, oder?« Ich knautsche die Brauen zusammen und konzentriere mich demonstrativ auf die Bilderbuchstraße vor mir – die Umgebung sieht aus, als würden hier nur Zahnärzte und verkackte Buchhalter wohnen.

»Die Nächste rechts«, weist mich Sloane an. Sie gibt sich keinerlei Mühe, den neugierigen Ton in ihrer Stimme zu verbergen. Tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, dass sie haargenau weiß, warum ich drauf und dran bin, die Zähne zu Staub zu zermahlen. Wir erreichen das Haus ihrer Familie, und ich tue, was ich angekündigt habe, halte kaum lang genug an, um Sloane aus dem Wagen steigen zu lassen. Die Reifen quietschen, als ich die Straße entlang davonrase, und ich bin ziemlich überzeugt davon, dass ich mehrere Millimeter Gummi auf dem Asphalt zurücklasse.

Verfickter, dämlicher Arsch. Verfickter, dämlicher Vollidiot. 30 Sekunden lang schimpfe ich mich eine Kombination dieser und ähnlicher Bezeichnungen und höre erst auf, als das Handy klingelt. Es ist Michael.

»Hi.«

»Hallo, Boss. Dem jähen Abgang an der Ausfahrt entnehme ich, dass du ein Weilchen allein brauchst. Irgendwas, das ich inzwischen tun soll?«

»Ja, da hätte ich tatsächlich was. Rick Lamfetti. Julios Jungs haben ihn ziemlich übel zugerichtet. Hab ihn in Anaheim untergebracht. Kannst du ihn aufspüren und nachsehen, ob er noch lebt?« Ich habe die begründete Hoffnung, dass Rick noch atmet. Begründet genug, um Michaels Vormittag für den Versuch zu opfern, den Penner zu finden. Den Kommentaren nach, die Julio in der Villa fallen gelassen hat, muss ihm der Kerl wohl alles erzählt haben – über Sloane, über Alexis, über mein Zerwürfnis mit Charlie. Und den Bildern nach, die Julio uns gezeigt hat, sieht es so aus, als hätten sie ihn um einiges härter durch die Mangel gedreht als Michael.

Trotzdem. Bei Michael haben sie zweifellos gewusst, dass es ihnen nichts bringen würde, ihm die Daumenschrauben anzusetzen, deshalb haben sie sich die Mühe gespart. Rick hingegen hat wahrscheinlich schon beim ersten Schlag gequiekt wie ein Schwein beim Abstechen. Und die Informationen, die Leute wie Rick nach dem ersten Schlag ausspucken, sind nie die Wahrheit. Sie sagen etwas, das denjenigen mit den schmerzhaften Fäusten aufhören lässt, ihnen wehzutun. In der Regel eine Halbwahrheit, ein lahmer Versuch, halbwegs loyal zu bleiben.

Jeder anständige Profi weiß alles, was es über Typen zu wissen gibt, die von Anfang an schreien. Sie wissen genau: Wenn sie ihnen nur ein wenig mehr zusetzen, ihnen ein kleines bisschen mehr Feuer unter dem Hintern machen, werden aus den Halbwahrheiten Ganzwahrheiten, und normalerweise pissen sie sich in die Hose, plaudern alles über jeden aus, ob relevant oder nicht, nur um die eigene Haut zu retten. Ich persönlich hatte nie was anderes als Verachtung für Menschen wie Rick übrig. So ein verfickt großer Kerl mit diesem schon lächerlich definierten Oberkörper und den dürren Hühnerstelzen. Das kommt davon, wenn man das Beintraining vernachlässigt, Arschloch.

Einen Moment lang herrscht am anderen Ende der Leitung Schweigen, als Michael über meine Bitte nachdenkt – er weiß, dass ich von ihm verlange, sich auf die Suche nach einem flachen Grab in den dunklen, schattigen Winkeln von Anaheim zu begeben. Das Geräusch, wie Michael resigniert ausatmet, dringt verzerrt über die Leitung. »Geht klar, Boss. Mir haben diese Schuhe ohnehin nicht gefallen.«

»Guter Mann.«

»Was soll ich den Widow Makers sagen? Und weiß Alexis, was dein Mädel vorhat? Ich hab so das Gefühl, dass dein alter Knastkumpel ziemlich an ihrer Schwester hängt.«

»Nein, Alexis weiß nichts. Und Sloane will, dass es so bleibt. Sag besser kein Sterbenswort.«

»Also sind wir jetzt Diplomaten?«

Ja, genau meine Gedanken, Kumpel. Aber das spreche ich nicht laut aus. Ich brumme nur ins Telefon, vermittle so mein leichtes Missfallen darüber, verhört zu werden. Jeden anderen würde ich dafür zusammenscheißen, aber Michael käme sogar mit Mord ungeschoren davon. »Versuch einfach, den Frieden zu bewahren. Es bringt uns nicht weiter, wenn sich Sloane und Alexis gegenseitig an die Gurgel gehen.«

Darüber lacht Michael leise. »Ah, du willst, dass die Schwestern miteinander auskommen.«

Ich verdrehe die Augen. Wäre der Kerl hier, würde ich ihn kräftig in den Arm knuffen. Ihm einen saftigen blauen Fleck dafür verpassen, dass er sich wie eine Pussy aufführt. »Nein, Mann. Ist bloß so, dass wir uns so bald wie möglich aus diesem gottvergessenen Staat verpissen. Und mein Leben wird unerträglich, wenn Sloane auf der Fahrt zurück nach Hause immer noch wegen der Probleme ihrer verkorksten Familie rumzickt.«

»Dir ist schon klar, dass es für das Problem ’ne ziemlich einfache Lösung gäbe, oder?«, meint Michael.

Ich weiß genau, auf welche ziemlich einfache Lösung er anspielt: abhauen. Auf und davon machen. Nein, streichen wir das. Eher flüchten. »Ja, Arschloch. Ist mir klar. Fahr einfach nach Anaheim, okay?«

Am anderen Ende der Leitung höre ich das Hupen von Autos und das tiefe, kehlige Brummen von Motorrädern. »Schon gut, schon gut. Ich erledige das. He, Zee?«

»Ja?«

»Ich hatte keine Ahnung, dass mein Cousin was mit Alexis hat. Das weißt du, oder?«

Ich brumme – ja, es wäre verflucht viel einfacher gewesen, Sloanes Schwester zu finden, wenn sich Michael regelmäßig über Neuigkeiten bei seiner Verwandtschaft informiert hätte. Trotzdem ist es nicht seine Schuld. Familien sind chaotisch. Ich weiß, wovon ich rede. »Klar, Mann. Sonst hättest du dich wohl kaum vor Julios Anlage herumgetrieben und nach einem Geist Ausschau gehalten.«

Michael lacht über die Bemerkung. »Ja, das hätte mir eine halbherzige Tracht Prügel erspart. Und? Meinst du, sie liebt ihn wirklich?«

Darüber habe ich schon nachgedacht. Viel sogar. Ich habe nur das Schlimmste über Rebel gehört, aber andererseits bin ich mir sicher, dass die Leute auch über mich nur Furcht einflößende Scheiße hören. Das bedeutet noch lange nicht, dass ich der Leibhaftige höchstpersönlich bin. Vielleicht gilt das auch für Rebel. Ich halte ja in der Regel nicht viel davon, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden, aber normalerweise merke ich es, wenn mir jemand Scheiße erzählt. »Wer weiß, Bruder? Es sind mit Sicherheit schon merkwürdigere Dinge passiert.«

Auch in Dana Point passieren gerade merkwürdige Dinge. Der Gedanke kommt mir, als ich feststelle, dass ich irgendwie vor dem Haus von Sloanes Eltern geparkt habe.

Und ich steige aus dem Wagen.