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Abdel Hafed Benotman

Müllmann auf Schafott

Roman

Aus dem Französischen
von Lena Müller

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Hinweis

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen, Handlungen und Begebenheiten sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Schlecht geschrieben weil schlecht gelebt?

Meinen Schwestern

Joëlle, Véronique, Idoïa, Nathalie, Florence, Audrey

DIE FAMILIE BOUNOURA

BENAMAR BOUNOURA

Vater

NABILA BOUNOURA

Mutter

NOURREDINE (oder NORDINE) BOUNOURA

genannt NONO

ältester Sohn

KARIMA BOUNOURA

genannt KIM

die Zweitälteste

NADIA BOUNOURA

genannt NADOU

jüngere Tochter

FARAHT BOUNOURA

genannt FAFA

der Jüngste

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Glossar und Anmerkungen zur Übersetzung

Der Vater verhüllt die Mutter im Herzen
des Kindes ein verbranntes Insekt
das weiterfliegt
mit versengten Flügeln
.

Sein Können – schreiben und lesen – half ihm auch nicht weiter. Obwohl er eine ganze Menge Bleistifte weggespachtelt und die Tinte gleich milliliterweise gesoffen hatte. Er hatte sich die Wörter im Mund herum gedreht, bis er davon Aphthen hatte. Ganz zu schweigen vom steifen Hals, dem krummen Rücken, den schwieligen Ellbogen – und trotz allem, keine Chance. Er hatte es durchgeackert, dieses Alphabet, jeden einzelnen Buchstaben, Vokale und Konsonanten. Dann hatte er bei diesem doppelten Denkmikado – Grammatik-Rechtschreibung – in seinem kleinen Kopf, ohne zu wackeln, Verben und Zeitformen gezogen. Satz für Satz hatte er es sich geangelt, das Schreibund Leseverständnis. Resultat? Gleich null.

Fafa suchte seinen Vornamen im Kalender der Post. Nada. Und im Kalender der Feuerwehr? Walou. Dasselbe bei der Pariser Müllabfuhr. Nix.

Sein vor Panik abgekauter, nagelloser Zeigefinger durchforstete die Namen der Heiligen von oben bis unten, keine Spur von Faraht. Klar gab’s Fatima, diese Schlange, die ihn zunächst in die Irre geführt und zu einem verständlichen Warum sie und nicht ich? verleitet hatte, aber keinen Fafa. Weil er ihn partout nicht finden konnte, wusste er von diesem Moment an, intuitiv, instinktiv, dass er niemals ein Heiliger sein würde … Dabei würde er seine Glocke nicht gerade selten läuten hören.

Einen Hoffnungsschimmer sah er noch – das Telefonbuch! Er schlug den Wälzer auf und verlor sich zwischen den Seiten. Das Ding taugte nur, um beide Arschbacken draufzupflanzen, wenn man sich beim Friseur den Schädel scheren ließ. Fafa wusste nicht, wie man da drinnen etwas suchte, schlug sich aber tapfer und begab sich, Ellbogen auf den Esstisch gestützt, Kopf in den Händen, auf die Suche nach dem großen B seines Nachnamens, er, der kleinste Bounoura. Fafa der Winzling.

Schlechtes Karma, kein Bounoura im Telefonbuch, kein Faraht in den Kalendern. Für einen Moment zweifelte Fafa an seiner Existenz, dann sagte er sich, dass es vielleicht irgendwo einen Heiligen Fafa mit Turban gab, schließlich hatten seine Eltern ihm erst kürzlich erklärt, dass er kein Franzose gallischer Abstammung, sondern ex-kolonisierter und außerdem muslimischer Algerier war und dass sein Fest noch kommen würde, alles zu seiner Zeit. Bis dahin fühlte sich Fafa wie ein Nichts, das ein Wenig werden würde.

Zu seiner Beruhigung versprach man ihm, dass man ihn, den braven, kleinen Moslem, in das große Buch Gottes eintragen würde, ein Buch, das mehr taugte als alle Telefonbücher und Kalender dieser Erde.

Und dann war er da, der große Tag, der Fafa über die noch frische Enttäuschung seiner Lektüre, dieser labyrinthischen Suche nach sich selbst, nach einer hieroglyphischen Anerkennung in Schriftform hinwegtrösten sollte. An einem Freitag führte Gott Fafa in sein Geheimnis ein, und endlich hörte er es läuten.

Als sein Bruder Nono und seine Schwestern Kim und Nadou ihn zum Abschied küssten, fragte Fafa sich, weshalb man ihn in diese weiße Mini-Djellaba gesteckt hatte, unter der sein nackter Po Gänsehaut bekam. Sein Bruder und seine Schwestern gingen ohne ihn zu Monique Caldérini, Nachbarin und Freundin von Nabila Bounoura.

Fafa mochte Monique und wollte sich trotz dieser blöden, rutschigen Lederschlappen an seine Geschwistern hängen, aber Nabila bremste ihn mit Tausend Küsschen und Versprechungen aus. Fafas kleines Herz ließ sich von diesen Schmeicheleien beruhigen, und in seiner Zuckerschnute lief schon das Wasser zusammen. Voll Vertrauen erwartete er den großen Augenblick, wie seine Schulfreunde immer auf den Weihnachtsmann gewartet hatten … Fafa wartete auf seinen eigenen Weihnachtsmann, nur für ihn allein, den von tausendundeinem Mond.

Als er hörte, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde, gluckste er vor Freude und wäre beinahe auf dem gebohnerten Parkett ausgerutscht. Fafa kollidierte mit den Knien von Benamar Bounoura, seinem riesenhaften Lieblingsvater. Benamar hob ihn hoch und drückte ihn. Fafa legte seine Arme um den väterlichen Hals, wagte einen Blick über die breite Schulter und schaute direkt in die schwarzen, in tiefen Höhlen liegenden Augen eines komischen Zwergs, der ihm sein breitestes Zahngoldlächeln schenkte. Angesichts dieser Fratze am Tag seiner Verabredung mit Gott ahnte Fafa Schlimmes, das Schlimmste.

Benamar drückte seinen Sohn noch ein wenig fester und trug ihn, gefolgt vom Zwerg, ins Esszimmer. Der Mann begrüßte die gerührte Nabila und stellte seine Ledertasche auf den Tisch. Aus den luftigen Höhen der Arme seines Vaters fragte Fafa sich, ob es für ihn nicht langsam an der Zeit sei, entweder zu springen und so schnell wie möglich zu Monique zu flitzen, oder aber auf der Vaterstatue bis nach oben zu klettern, um sich auf Benamars Kopf zu hocken und sich nicht mehr von der Stelle zu bewegen.

Der Mann trug einen Bart und einen Kupferdraht im Ohrläppchen. Seine schwarz umrandeten Augen verliehen ihm ein ziemlich ungesundes Aussehen.

Fafa dachte an den Frosch, der sich in einen schönen Prinzen oder sogar in einen guten Dschinn verwandelte, je nachdem, wie tief die Magie in die Flasche geschaut hatte. Dieser Gedanke tröstete ihn, und er spielte mit dem Gedanken, ob die ein wenig übel riechende, unheilvolle Präsenz dieses Mannes nicht einfach eine Prüfung war, die es durchzustehen galt. Als Nabila auf die Tasche zeigte, nickte der Mann mit seinem hässlichen Kopf und sagte: »Ja, ja«, was auf arabisch wie »Ouha ouha« klingt.

Fafa konzentrierte sich also auf die Tasche, während der Mann Gabardine und Jacke ablegte. Waren da die Geschenke drin? Er konnte nichts sehen. Also zeigte er auf die Tasche, setzte sein schönstes zahnloses Schelmenlächeln auf, legte sein Gesichtchen in Falten und quietschte: »Geschenk?!«

Der Mann lachte bebend. Benamar strich seinem Sohn übers Haar. Nabila schüttelte glücklich den Kopf. Plötzlich war der Mann neben Benamar und fuhr, ohne dass man es hatte kommen sehen, mit seinen dürren Fingern unter die Djellaba und kniff dem völlig überrumpelten, schamroten Fafa in den Schniedel.

Benamar feixte, und Nabila begleitete den Mann auf seine Bitte in die Küche. Fafa, made in totale Panik, starrte dem Mann hinterher, der sich die abgewetzten Hemdsärmel hochkrempelte.

Fafa versuchte zu entkommen, aber Benamar hielt ihn fest, ließ ihn um seine eigene Achse rotieren und klemmte ihn sich unter den Arm. Dieser Arbeiterarm, der eine Eisenstange verbiegen konnte. Diese wenig zärtliche Gorillahand, die ihn am Kragen packte, umdrehte und rücklings auf seinem knorrigen Unterarm fixierte.

Nabila kam mit sauberen Handtüchern zurück, gefolgt von dem Typen, der etwas in seinen Bart brummelte und sich an der Tasche zu schaffen machte. Mit seinem überstreckten Hals erspähte Fafa, was da ans Licht kam. Bis die kupfernen Verschlüsse zuschnappten, hätte man es für ein Spiel halten können. Für eine Farce, als die gegerbte, brüchige Tasche ihre rissigen Lederlippen aufsperrte. Aber damit war es vorbei, als Nabila ihren Ehemann umrundete und Fafas Füße packte. Am Oberkörper vom Vater und an den Beinen von der Mutter gehalten, renkte Fafa sich fast den Hals aus, um den Mann nicht aus den Augen zu lassen, der ein großes Buch aufschlug und mit lauter Stimme vorlas, dass Gott groß sei.

Der Leseunterricht zog sich in die Länge wie dieser endlose Tag, der Fafa schon wie die Ewigkeit schien.

Das Kind schrie, als sein Bauch aufgedeckt wurde, und schrie wieder, als es sah, wie sich aus der Tasche, diesem eigentümlichen Insekt, die Greifzangen einer Schere hervorschoben.

Fafa tanzte die Samba, die Rumba, den Kasatschok, aber es half nichts. Die Eltern hielten ihn so fest, dass der Mann sich problemlos Fafas Schniedel an der Vorhaut schnappen und daran ziehen konnte, damit die Eichel sich aus dem Staub machte, um dann die Haut zwischen das Eisen der Schere in seiner anderen Hand zu klemmen. Er schaute zu Benamar, der nickte. Warf Nabila einen Blick zu, die unter Tränen lächelte, und begann, nachdem er tief Atem geholt hatte, laut zu beten, ohne den Blick von den weit aufgerissenen Augen des quietschenden Fafas zu wenden, dessen Stimme im gemeinsam getönten Allahu Akbar unterging.

Synchron zum Schnitt der Schere und Fafas aufgesperrtem Mund, der nach Atem schnappte, um noch lauter zu brüllen, spürte der Mann das Wegggleiten der seidigen Haut des Genitals und Fafa das Brennen der offenen Wunde. Mit einem anzüglichen Lachen legte der göttliche Metzger die winzigen Überreste, die riesige Trophäe, auf eine ausrangierte Untertasse.

Mit genau sieben Jahren wurde Fafa im 6. Arrondissement bei vollem Bewusstsein nach allen Regeln der Barbarei beschnitten.

Fafa fiel nicht in Ohnmacht, er zappelte und begann, wild um sich zu schlagen und zu treten, während das Blut zwischen den Fingern des Manns hervorquoll, als er versuchte, das winzige Ding in ein weißes Handtuch zu wickeln. Nicht, um Linderung zu verschaffen, sondern um besser sehen zu können.

Mit seiner kehligen Stimme befahl der Mann, das Kind auf den Tisch zu legen, und es geschah … Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Nabila, stets auf Posten, schob Fafas Beine auseinander, während Benamar seine Arme festhielt und seine Bärenbrust an die Wange seines Rotz und Wasser heulenden Sohns presste.

Aus den Augenwinkeln, in dem Spalt zwischen seinem Vater und ihm, sah Fafa die große Nadel und den Faden. Immer noch ohne Betäubung machte sich der Mann daran, ihm den Saum zu vernähen.

Fafa schrie sich die Lunge aus dem Leib und überhörte das stolze Lachen des Herrn Papas und den Zuspruch der Mama. Mit einem Auge bei dem geköpften Vögelchen und mit dem anderen im offenen Koran, antwortete der göttliche Metzger auf jeden Schrei des Jungen, dass Gott groß und größer sei.

Dass Gott groß war, daran hatte Fafa keinen Zweifel. Vor allem ein großer Verräter. Als man Fafa in das Doppelbett legte, das er mit Nono teilte, als man ihn mit einem dünnen Laken zudeckte, damit nichts auf die Wunde drückte, als das Monster samt der Foltertasche aus seinem Blickfeld verschwunden war, beglückwünschten Nabila und Benamar ihn von beiden Seiten des Bettes zu seinem Mut eines geschächteten Schweins und verkündeten, dass die Gäste im Esszimmer es kaum erwarten konnten, ihn zu sehen. In seinem Unglück hatte Fafa den Besuch weder kommen hören noch erwartet. In einer langen Reihe sah er nun merkwürdige heilige Könige und Pilger vorbeiziehen – die vom kahlen Berge –, die er noch nie in seinem Leben gesehen hatte, mit Ausnahme der verrückten Nachbarin, Nabilas Banknachbarin bei der Überwachung des Hofgangs der Kinder, die sein Trommelfell mit einem schrillen youououyouou zerriss.

Der erste Zehnfrancschein flattert zwischen seinen Beinen aufs Laken, gefolgt vom nächsten und übernächsten, ein Regen aus Scheinen, als hätte jemand an diesem Herbsttag den Geldbaum über ihm geschüttelt.

Jede Menge Hugos und Corneilles, Zehnfrancschein und Fünfzig-Franc-Scheine. Fafa weinte vor freudiger Erschöpfung. Endlich ließen sich die sehnlichst erwarteten Geschenke blicken. Auf dem Nachttisch wurden Bonbons und Gebäck abgeladen. Alles türmte sich auf seinem misshandelten, entstellten Pimmel. Man küsste ihn, die Verrückte wollte sich zu ihm aufs Bett setzen und verursachte dabei eine Kuhle, durch die sich das Laken spannte und Fafas Piephahn platt drückte, woraufhin Fafa ihr einen so hasserfüllten Blick zuwarf, dass sie sofort wieder aufsprang und dabei dem armen Schniedel den nächsten Stoß versetzte.

»Gott ist groß«, entschuldigte sie sich.

Einer nach dem anderen beglückwünschte Nabila und Benamar, bevor sich alle zu den Schauplätzen weiterer Schandtaten aufmachten. Fafa blieb allein mit seinen Eltern zurück und musste nach der Folter auch noch Ungerechtigkeit über sich ergehen lassen. Benamar begann, die Geldscheine zwischen Fafas Beinen einzusammeln, zählte sie mit angefeuchteten Fingern, prüfte die großen Fünf-Franc-Münzen mit den Zähnen, formte ein Bündel, das er in seiner Hosentasche verschwinden ließ, und einen Haufen, den er Nabila gab. Fafa sah von dem Geld nie wieder auch nur die Schwanzspitze. Man hatte ihm sein himmlisches Schmerzensgeld geraubt. Dieser verdammte Verräter namens Allah!

Das verhätschelte Kind blieb alleine in seinem Zimmer zurück, reglos in der Mitte des großen Betts. Die Augen auf die geschlossene Tür gerichtet. Mit einem traurigen Lächeln schielte es auf die Süßigkeiten, die außerhalb seiner Reichweite waren. Auf dem Flur brach Lärm los, die Tür wurde einen Spalt aufgeschoben, und Nadous Kopf erschien unten im Rahmen, darüber der von Kim, und schließlich ganz oben der von Nono. Die drei spähten ins Zimmer, und als sie den Nachttisch sahen, stürzten sie sich darauf. Mit schmerzverzerrtem Gesicht versuchte Fafa aufzustehen, fiel zurück in seine Kissen und stammelte bloß ein schwaches, erbärmliches: »Das gehört mir …«

Nordine, Karima und Nadia verschlangen das Gebäck und die Bonbons und warfen ihm die verschlagenen Blicke kleiner Schakale zu, die an den Zitzen der Mutter Reise nach Jerusalem spielen.

Fafa begann, Gott zu hassen, und im selben Augenblick, als er mit seinem eigen Fleisch das Wissen um das pseudogroße Geheimnis Gottes bezahlte – die Grausamkeit –, schwor er furchtbare Rache für diese Falle, die sie ihm gestellt hatten, für dieses Attentat, diesen Verrat, diesen Vertrauensmissbrauch. Gott, der sich bei Fafa einen Vorschuss genehmigt hatte, stand jetzt in seiner Schuld.

Um nicht vor Enttäuschung umzukommen, verbuchte Fafa es als mageren Trost, aber mögliche Investition, dass ein Teil seiner Person, ein Stück seines Wesens, und zwar nicht das geringste, von nun an im Paradies aufbewahrt wurde und dass bei seinem Tod Engel kommen und unter Verwendung der Beweismittel belegen konnten, dass die Vorhaut eines gewissen Faraht Bounoura, alias Fafa, amputiert an einem Freitag im Herbst 1967, mit dem Rest seiner Pipipistole zusammenpasste.

Seine Träumereien wurden von einem Akt des Kannibalismus zunichtegemacht, als Nabila ihm am nächsten Tag erzählte, dass sein Fleischhütchen dem am Vortag verspeisten Hammelcouscous untergemischt worden sei und man nicht wisse, wer es anlässlich des freudigen Ereignisses verspeist hatte. Fafa, dem man einen Teller ans Bett gebracht hatte, wusste nicht, ob er kotzen oder sterben sollte. Nach dem gestrigen Gemetzel wurde ihm nun mit einem breiten Lächeln die nächste Scheußlichkeit aufgetischt. Esst, das ist mein Leib. Trinkt, das ist mein Blut, hatte in seinen Ohren plötzlich einen ganz anderen Klang.

Wer? Welcher seiner lieben Verwandten? Wer hatte ein Stück seines Schniedels verschlungen? Nono, der große Bruder, dessen Name Nordine oder Nourredine Sonnenlicht bedeutete, der aber alles andere war als eine Leuchte? Karima, die durch einen Schreibfehler für immer aus dem Kalender verbannt worden war? Nadia, die als außergewöhnlicher Vielfraß bekannt war und gerne von sich behauptete, sie werde alles essen, was vor ihr gestorben war und sterben würde? Sein Vater? Seine Mutter? Das Paar, dem er in die Falle gegangen war? Er selbst etwa? Was nur grausam und gerecht gewesen wäre. Fafa zermarterte sich den Kopf und war bei Tisch wie hypnotisiert von den kauenden Mündern, den schluckenden Kehlen, den hüpfenden Adamsäpfeln, den dicken Backen, die laute Rülpser fahren ließen. Er betrachtete sie, bis Benamar die Nerven verlor und mit einem Klaps auf den Hinterkopf Fafas Nase in den unangerührten Teller stieß. Infolge des gastronomischen Verbrechens eröffnete Fafa seine vegetarische Phase mit einer Art Hungerstreik. Man würde ihn, Bounoura Nummer sechs, nicht dazu bringen, den Schwanz eines unbekannten Kindes zu verspeisen, das vielleicht gerade aus Leibeskräften gegen seine liebenden Henker anbrüllte.

Verkleidet als Märtyrer, verbrachte Fafa die zwei schlimmsten Wochen seines jungen Lebens. Unter seiner Djellaba ertrug er nicht die geringste Berührung und lief mit gespreizten Beinen durch die Gegend, um zu vermeiden, dass die verschiedenen Gewebe, Haut und Textil, schmerzhaft aneinanderrieben.

Alles tat ihm weh, weh, WEH! Aua.

Das Tröpfeln des Urins, das Verarzten seines armen Schniedels. Zwei Wochen, in denen an seinem Schniepel herumgedoktort wurde, dessen Verbände es darauf angelegt hatten, Faser für Faser mit der Kruste der Wunde zu verwachsen. Fafa pisste aus allen Löchern, den Poren, den Augen, ganz zu schweigen vom Leck in seinen Armaturen, aus denen es rot und gelb tropfte.

Auch wenn seine Eltern nicht müde wurden, ihm die hygienischen Vorzüge aufzuzählen, ließ Fafa sich nicht umstimmen:

»Vorher konnte ich mich wenigstens jeden Tag waschen …«

Und logischerweise musste Gott, als er diesen Schutz dort angebracht hatte, klar gewesen sein, dass Fafa sich oft heiße Flüssigkeiten in den Schoß gießen würde. Er war schließlich allwissend, oder etwa nicht? Benamar, dem zwei Wochen ausreichend erschienen, um über diesen Verlust hinwegzukommen, beendete das Thema endgültig mit einem »Jetzt bist du ein Mann«.

Somit war alles gesagt, und weitere Nachfragen waren gefährlich. In einem unbeobachteten Moment ließ Nono seinen kleinen Bruder wissen, dass er das Gelbe durchgemacht hatte, aber weil er in Algerien zur Welt gekommen war, konnte er sich nicht daran erinnern, schließlich hatten ihn als Säugling seine Geschlechtsorgane wenig interessiert.

Weil Fafa jetzt ein Mann war, würde er sich auch so verhalten, als echter Manneken-Pis: Ich pinkel im Stehen!

Aus demselben Genital gekrochen.
An derselben Brust genährt.
Wer sollte den einen lieben, wenn nicht der andere?
Sprecht nicht länger von Inzest, ihr armen
Waisen, verbunden durch die Mikroben der Liebe
.

Um seine Lektionen in Männlichkeit zu absolvieren, begann Fafa, der kleine Aushilfsmacho, mit der Überwachung seiner Schwestern Kim und Nadou. Wie jeder gute Schäferhund schnappte er am Schultor zunächst nach Nadous Waden, die von ihren spitzen Absätzen Gebrauch machte, als er ihr den Befehl erteilte, sich fissa nach Hause zu bewegen, ohne noch groß rumzuquatschen. Fafa steckte den Tritt ein und versuchte dann, naiv wie er war, Kim aufzumischen, die ihn schon erwartete, mit einem perfekten Leberhaken, gefolgt von einem Uppercut auf die Schläfe. Fafa verstand, dass Einigkeit stark macht und dass seine Schwestern nicht Herr Seguins Ziegen, sondern eben die Töchter Bounoura waren. Er beschloss, seinem Vater ein, zwei Vornamen zu stecken, der ihn mit einem abfälligen Blick wieder ins Feld schickte. Da Benamar nie vor 19 Uhr nach Hause kam, hatten Kim und Nadou genug Zeit, Fafa im Hausflur abzufangen und dermaßen in die Mangel zu nehmen, dass sie in weniger als zwei Runden einen überzeugten Feministen aus ihm gemacht hatten. Fafa war damals ein wandelnder Knochen mit Haaren obendrauf, der auf zwei Storchenbeinen durchs Leben stakste. Körperlich hatte er nichts zu bieten und boxte einfach nicht in derselben Klasse wie seine Schwestern.

Weil er vor dem Vater nicht als Feigling dastehen wollte, nahm Fafa es mit der Wahrheit nicht so genau, als er Benamar die Ergebnisse seiner Nachforschungen darlegte:

»Oula l’radim, sie sind unschuldig wie die Lämmer …«

Als Lohn für seine treuen Dienste brachten Nabila und Benamar ihm bei, was sie aus dem Koran wussten. Weil sie aber nicht lesen konnten, schrumpften die Suren zu Sprichwörtern zusammen und der spirituelle Gehalt brach sich in Aberglauben Bahn:

»Du schläfst mit einem Gürtel? In der Nacht wird er zur Schlange und erwürgt dich.«

Fafa verbrachte schlaflose Nächte damit, den Gürtel seines Schlafanzugs anzustarren.

»Du trinkst Milch auf dem WC? Du verwandelst dich in eine Ratte.«

Fafa trank literweise Milch, aufrecht auf der Klobrille, und, was erschwerend hinzukam, tunkte auch noch Brot hinein. Dieses Brot, das Muslime küssen und dann wegwerfen, wenn es hart geworden ist.

»Und wenn ich Schweinefleisch esse?«

Fafa bekam die Antwort mitten ins Gesicht, verpackt in einen rauen, harten Handteller:

»Dann kommst du in die Hölle, wo eine Schlange mit neun Köpfen sich in deine Körperöffnungen schlängelt und dich bis in alle Ewigkeit von Innen verzehrt.«

Er experimentierte mit dem Gürtel und der Milch, die Schweinehaxen hingegen ließ er aus. Aber dem gefährlichsten aller Orte, dem Schulhof, entkam er nicht. Beim Flaschendrehen wehrte er sich gegen eine neue Regel, die besagte, dass er, Muslim bis zur Schwanzspitze, in ein Schinkenbrot beißen sollte. Ketzerei, das Brot war durch die rosafarbene, gummiartige Scheibe für immer verdorben. Seine kleinen Freunde, die im Kalender standen, berieten sich, und die ganze Kinderbande stürzte sich auf Fafa, der, auf dem Boden liegend, wie ein Spielverderber die Zähne zusammenbiss und den Kopf schüttelte. Sie kniffen ihn. Sie kitzelten ihn. Sie hielten ihm die Nase zu. Nichts zu machen. Voll Abscheu musste Fafa über sich ergehen lassen, dass sie ihm die Scheibe ins Gesicht schmierten, und als es diesen kleinen Christenmonstern gelang, seine eine Lippen hoch- und die andere herunterzuziehen, berührte ein kleines Stück Chetan seine zu Halouf-Raspeln umfunktionierten Zähne …

Fafa schrie wie am Spieß, als ihm die Klassenkameraden das gute Stück in den Mund stopften, und spuckte es eiligst wieder aus. Die anschließende Verfolgungsjagd um die Kastanienbäume auf dem Hof wurde von der Klingel unterbrochen, die sie zurück an ihren Platz im Trott Richtung Zukunft schickte.

Mit verheultem Gesicht und als Letzter betrat Fafa das Klassenzimmer der Erstklässler, so tief hatte er sich den Finger in den Hals gesteckt. Der Rasende Roland rächte ihn nicht:

»Atézemock Karl der Große!«

An jenem Tag rannte Fafa zu Hause gleich ins Bad und schrubbte sich mit der Bürste das Zahnfleisch wund. Aus Angst vor den widerlichen Grunz- und Quieklauten, die wie ein verräterischer Schwall aus ihm hervorquellen könnten, bekam er zu Hause den Mund nicht mehr auf. Er war überzeugt, dass seine schweinliche Verwandlung von einem Grunzen eingeleitet werden würde, und gab bei Tisch keinen Mucks von sich. In seinem Inneren konnte Fafa schon die Schlange mit neun Köpfen knurren hören, die sich durch Nasenlöcher und Hintern schlängelte. Für drei ganze Tage konnte sich niemand rühmen oder beschweren, die Stimme von Faraht Bounoura vernommen zu haben. Wenn er alleine war, bewegte er seine Lippen und riskierte ein paar zaghafte Töne oder sogar ein Wort:

»Miuma

Fafa fragte sich, ob Gott bluffte. Wenn er allein war, redete er pausenlos, aber was würde geschehen, sobald ihm im Kreise der Familie ein Laut über die Lippen kam? Mektob et zob! Fafa, der größte Maulheld unter den Quasselstrippen, konnte den Mund nicht länger halten und traf eine Entscheidung. Entweder würde sein Vater ihn beim ersten Grunzen schlachten. Oder Gott, Zeuge der oralen Vergewaltigung, vergab ihm, weil’s nicht seine Schuld gewesen war. Oder es gab diesen Gott ebenso wenig wie das bis zum Rand mit Milch gefüllte Klo, in dem eine Ratte schwamm, und in diesem Fall konnte er Gott zum Teufel jagen und sich an die Maxime halten, dass Herz und Geist sich nie ganz grün sein würden und dass es immer noch besser war, zum Teufel zu gehen, als auf zu Gott vertrauen. Punkt.

Ganz so leicht hatte Fafa es dann doch nicht, weil er nicht die Vorteile von Waisenkindern genoss und die Nachteile seines Daseins als ehelichen Sohns fürchten musste. Wohl oder übel musste er mit der Königinmutter Nabila klarkommen.

In Ermangelung eines nahen Gewässers oder aufgrund einer Dürreperiode wuchs Nabila auf wie ein Katzenjunges, das man aus Versehen nicht ertränkt hatte. Da ihre Mutter im Kindbett gestorben war und ihr Vater im Not leidenden Algerien nicht in der Lage war, sie zu versorgen, gab man Nabila zu einer Familie, die bereit war, sie durchzufüttern, bis sie alt genug sein würde, um sich auf den Beinen zu halten, Wasser zu schleppen und Körbe auf dem Kopf zu transportieren. Sobald sie ein Bein vor das andere setzen konnte, hatte Nabila keine ruhige Minute mehr. Sie musste zurückzahlen, was man in sie investiert hatte. Schon als Kind arbeitete sie wie eine Sklavin. Ernährte sich von den Resten. Wohnte abseits. Hüllte sich in Lumpen. Wurde oft geschlagen und musste die schwersten Aufgaben im Haushalt übernehmen. Sie war Aschenputtel mit Kopftuch und kannte nur Boshaftigkeit, Schmerz und die Erniedrigung, stets mit einem »Nach allem, was wir für dich getan haben« zur Ordnung gerufen zu werden.

Ohne Bildung, ohne Kontakt zur Außenwelt, ohne die geringste Ahnung von den Möglichkeiten, die die Welt bereithielt, lebte sie nur, um nicht zu sterben. Sie besaß nichts, noch nicht einmal sich selbst, und hoffte darauf, jung zu sterben. Sie fürchtete, dass es selbst auf dem Friedhof keinen Platz für sie gab und lachte bitter bei der Vorstellung, dass die Toten bei ihrer Beerdigung protestieren und ihr zurufen würden:

»Nabila, raus aus diesem Grab. Wir wollen dich nicht in unserer Nachbarschaft.«

Noch mit über fünfzig Jahren rief Nabila manchmal weinend nach ihrer Mutter.

So fand Benamar Bounoura sie und erwarb sie auf Pump. Sie hatte nichts mitzureden und dachte sich wohl, dass selbst die schlimmste Ehe im Vergleich zu den siebzehn Jahren, die sie hinter sich hatte, schön sein müsse. Benamar nahm sie mit in sein kleines Dorf aus Stein und roter Erde. Vertraute sie seiner Mutter Zorla an, rühmte ihren Fleiß, und nachdem die beiden Nabilas Hüften befühlt hatten, waren sich Mutter und Sohn einig, dass der Neuzugang für die kommenden Brutzeiten taugte. Benamar, der plante, seine Frau im Dorf zu lassen, während er in Frankreich ein Vermögen machte, beeilte sich, einen Schleier der Unterwerfung über ihre schwarzen, leidenden Puppenaugen zu decken. Benamar wanderte aus, und Zorla bewachte ihre Schwiegertochter, die bereits Karima unterm Herzen und Nourredine auf der Hüfte trug. Durch den Sehschlitz ihrer Schleier beobachteten die beiden Frauen das Kommen und Gehen der französischen Legionäre, die genug von den Ziegen hatten.

In Frankreich landete Monsieur Benamar Bounoura mitten im großen Wiederaufbau nach dem Weltkrieg. Frankreich oder Indochina, er erfuhr nie, ob er die richtige Wahl getroffen hatte. Als Vater von zwei Kindern entging er der Zwangsrekrutierung zum Massensterben in Asien und beschritt den mühsamen Weg der indigènes sujets français ohne Bürgerrechte. Im hell leuchtenden Paris kratzte er im Schatten der Ghettos das zusammen, was er zum Leben brauchte. Er fing bescheiden an und bettete seine Einmeterneunzig und neunzig Kilo im Winter auf die schmalen Bänke der Metropolitaine und im Sommer auf die der öffentlichen Parks. Wusch sich in Brunnen, bevor er die öffentlichen Badehäuser und die Gastarbeiterwohnheime für sich entdeckte. Benamar hatte nur eines im Kopf, sich selbst und seine Familie durchzubringen. Seine Mutter Zorla. Seine Frau Nabila. Seine Kinder Karima und Nourredine und diesen idiotischen Mohamed, diesen einbeinigen Nichtsnutz von großem Bruder, der wie alle Kinder der dritten Welt, von Lateinamerika bis in die europäischen Vorstädte, vom schwarzen Afrika bis ins unruhige Asien, nichts Besseres zu tun gehabt hatte, als mit dem einzigen Spielzeug zu spielen, das nichts kostet, dem Leben. Mohamed vertrieb sich die Zeit, indem er sich hinten an fahrende Autos hing und sich auf ihre schmalen Stoßstangen setzte. Er verlor das Gleichgewicht und schickte bei seinem Sturz ein Bein ins Nirwana. Mit einem Holzbein ausgestattet, humpelte er fortan im Stil von Arthur Rimbaud durchs Leben.

Benamar trug seine kleine Welt wie Atlas auf den Schultern, die Seele stolz und das Herz hart, und ließ sich nicht kleinkriegen. Am Tag war er sich für nichts zu schade und hortete Centime um Centime. Sparsamkeit war seine höchste Tugend, Geiz seine zweite Haut. Er war ohne jedes Laster, trank nicht, rauchte nicht, spielte nicht und kannte keine Frauen außer Nabila, die den monatlichen Scheck bei der Post abholte, Schalter Nummer 6, ein heiliger Ort, verehrt wie eine Moschee. Selbst vom anderen Ufer des Meers behielt Benamar die Macht über alles und jeden, vor allem über seine Nabila, für die in diesem Puzzle ein Schattenplatz vorgesehen war, Benamars zweiter Schatten. Grauer Schatten, so grau, dass die Zukunft ihn mit Demenz aufhellte, sobald Benamar sie über eine Familienzusammenführung nach Frankreich holte.

Benamar machte seine Sache gut, und auch das Glück half ein wenig nach, als er aus dem Dienstmädchenzimmer eines heruntergekommenen Mietshauses im 6. Arrondissement von Paris geworfen wurde und mit seiner Familie eine Wohnung in Bagnolet zugewiesen bekam, wo Nabila Nadia und Faraht zur Welt brachte. Der Zufall brachte sie alle zurück ins 6. Arrondissement, da dort mittlerweile anstelle ihres alten Wohnhauses ein schöner, neuer Sozialbau stand, dessen Treppenaufgänge in allen Buchstaben des Alphabets erstrahlten. Das Sozialamt hatte eine Liste möglicher Kandidaten für den sozialen Wohnungsbau angelegt, und die Familie Bounoura – zwei Erwachsene, vier Kinder – war die glückliche Gewinnerin gewesen. Da hatte man eine Arbeiterfamilie gefunden, eine maghrebinische noch dazu. Die Smala Bounoura war als einzige Familie wirklich proletarisch und ausländisch, im Sinne von nicht-europäisch. Etwas verloren zwischen Beamten, Vorarbeitern, Klein- und auch Großbürgern. Die Sekretärin des Polizeipräfekten. Ein selbstständiger Taxifahrer. Ein Florist. Viel Verkehrsbetriebe. Ein Anwalt. Ein Kommissar. Sozialarbeiter. Ladenbesitzer, deren Geschäfte in der Nachbarschaft waren. Die Filialleiter des Bon Marchés, dem Supermarkt auf der Rue de Sèvres, wo sich die Treppenaufgänge A bis H des Wohnblocks befanden, inklusive der Alibifamilie BOUNOURA, Treppenaufgang B, erster Stock, geradeaus. Ein Fremdkörper, ein Mysterium aus Nordafrika. Der algerische Teil der Bounoura sah nicht aus, wie man sich Algerier vorstellt. Benamar, glatte Haare und helle Haut. Nabila ebenfalls. Nourredine, hellbraune Haare, bei Geburt blond. Karima, braunhaarig, mit durchscheinender Haut. Und die beiden hässlichen kleinen Entlein. Nadia war bräunlich, ihre Nase groß und gebogen, die Mähne dick und lockig, Faraht ebenso. Wie ein Weinfass, das man bei Vollmond transportiert hatte, schien Nabila ihre Eizellen umgekehrt zu haben. Die beiden in Paris geborenen Bälger hatten, wie aus Protest, echte Arabervisagen.

Dort also, in dieser Atmosphäre, in der Gegend zwischen der Rue du Cherche-Midi und der Rue du Sèvres würden die vier Kinder aufwachsen.

Das Familienleben war geregelt wie ein Uhrwerk, dessen wichtigste Zahnräder die Eltern waren. Nono, der Älteste, der Mechanismus, der durch die Erfüllung seiner Pflichten von Haushalt bis Kinderbetreuung die Uhr immer wieder aufzog. Kim, großer und kleiner Zeiger, die durch ihr Alter und ihre Rolle als Zweitgeborene für das Gleichgewicht zwischen dem großen und dem kleinen Bruder sorgte. Nadou, die als zweite Tochter die undankbare Rolle eines strangulierten Kuckucks hatte, der kurz zum Vorschein kam, mit seinem Käfiggesang die Lebenszeit verkündete und vergeblich versuchte, davonzufliegen. Fafa, der Jüngste, auch genannt der Kleine, um ihn besser zu verbergen, zu vergraben … Eine Art Familienjoker, den man aus dem Ärmel ziehen konnte. Fafa wanderte von einem zum anderen, ein Pendel, das im endlosen Takt der Kindheit schwang. Fafa, den sie nicht aus den Augen ließen, denn eines Tagen würde er groß sein und das Holz der Uhr zum Bersten bringen, damit sie endlich frei wären, die Zeit auf ihre jeweils eigene Art anzuzeigen. Der eine Sonnenuhr. Die andere Sanduhr. Mit den Sternen. Mit einem Fuß zu früh und dem anderen zu spät, immer zwischen den Zeitzonen.

Dann wurde die gut geölte Routine der Bounouras gestört. Fafa war der Erste, der bemerkte, dass seine Mama verrückt war. Nicht die nette Verrückte von nebenan. Nicht das exzentrische Original, für das man sich ein wenig schämt, das man aber trotz allem liebt und verteidigt. Nein, die Irre. Die echte. Die gefährliche Schizophrene. Die Wahnsinnige. Die Ruhiggestellte. Einfach eine unglückliche Existenz, wie man sagt, wenn man nicht mit ihr zusammenlebt.

Bis auf ihren Mann und ihre Kinder lebte Nabila zurückgezogen in ihrer Erinnerung an Algerien, und wenn sie, was selten vorkam, ihre Kinder von der Schule abholte, schaute sie nicht nach rechts und links. Steif, die hängenden Arme ein wenig vom Körper abgewinkelt, schnappte sie sich Nadia und Fafa und machte kehrt, ab nach Hause. Sie sprach kein Französisch und ging weder einkaufen, sie schickte eins der Kinder nach Brot oder Milch, noch besuchte sie eine Freundin. Benamar wachte jeden Sonntag über die Einkäufe, er ging auf den Markt, erfüllte seine Rolle als Familienoberhaupt und überließ sein Portemonnaie ausschließlich seinem gesunden Menschenverstand. Weil er Schienen durch ganz Frankreich geschleppt und sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang verlegt hatte. Weil er von Norden bis Süden Fundamente ausgehoben hatte, verbissen, fleißig, eigenbrötlerisch, unermüdlich, schweigsam, hatte er das Recht, allein über die Finanzen zu entscheiden. Als die Kinder groß genug waren, alleine in den Park zu gehen, ging Nabila auch nicht mehr auf den Plätzen des Viertels an die frische Luft.

Für Benamar diente Nabila als Wurzel. Sie lebte, wie er es für gut befand. Als muslimische Frau. Wenn er abends nach Hause kam, fühlte er sich durch sie in seiner Identität als Mann bestätigt, ein einziger Blick auf Nabila reichte, um die Beleidigungen von draußen zu vergessen. Die Befehle, das ständige Duzen. Die Nachäffer, die sich auf die »Ilikrizitit« und die »Feierzeige« spezialisiert hatten. Benamar sprach nie über den Rassismus, er vergrub alles tief in seinem Inneren. War sich der Kraft seines Traums sicher, der in großen Neonbuchstaben in seinem Schädel blinkte, wenn er nach dem Abendessen wie ein Stein ins Bett fiel – ZURÜCK IN DIE HEIMAT INSCHAL-LAH. Die Vatermaske fest mit dem Gesicht verwachsen, beruhigt, dass Nabila über sein Heim wachte, verwaltete er die Wohnung, als sei sie besetztes Gebiet. Eine Botschaftsniederlassung. Ein Stück Land, dessen Grenze, ergebene Botschafterin, freiwillige Geisel und lebenslanger Häftling Nabila war. Benamar wollte es so, um jeden Preis. Auch um den der Diktatur.

Kindheit, Kindheit,
schlimmes Fieber
in schlechten Träumen
.

Strom fließt durch den Körper, auf der Suche nach einem Ausgang, er zirkuliert, und man steht da mit offenem Mund und wünscht sich, zu sterben oder dass es aufhört. So zirkulierte Nabilas Wahnsinn, ein geschlossener Kreislauf.

Als Ableiter hatte sie nur ihre Kinder, die sich Stromstöße fingen, wenn sich der mentale Fluss ihrer Krankheit über sie ergoss, mit seinem Bodensatz aus Ängsten, Sorgen, Aberglauben, Hass, Einsamkeit und einer schrecklichen Spielart der Liebe, halb Opfer, halb Henker. In ihrem Opferkult, der alle tötet, die man liebt, die man lieben müsste, trieb Nabila, vom Mystizismus geschwängert, ihr eigenes Leben ab.

Wer hätte Madame Bounouras Hintergedanken erahnen können, wenn der quietschende Fafa bei ihren nimmersatten Zärtlichkeiten fast platzte vor Lachen, mit seinen beiden Patschhändchen den Kopf der Mutter wegschob und ihr manchmal, wenn er keine Luft mehr bekam, an den Haaren zog? Nabila drückte ihr Gesicht, Nase und Mund, in den Schoß ihres Sohns und grummelte, seufzte, kitzelte ihn mit den unglaublichsten Tönen. Fafa war außer sich vor Glück und stieß spitze Schreie aus, ohne den verschwommenen Blick der Mutter zu verstehen.

Mit zehn Jahren fand Fafa die Mamaspiele dann überhaupt nicht mehr witzig, wenn sie ihn zu ihren seltsamen, obligatorischen Mittagsruhen rief, bei denen er sich nicht mehr vor Lachen bog, sondern vor Unbehagen zusammenrollte:

»Komm ins Bett …«

Im großen Ehebett drückte Nabila Faraht und Nadia von beiden Seiten an sich. Sie wartete ab, bis ihre Tochter schlief wie ein Stein und mit den konzentrischen Kreisen ihres Atems das Halbdunkel des Zimmers wärmte, um sich ihrem Sohn zuzuwenden.

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Nadia schläft tief und fest.

Die Mutter schiebt den Kopf ihrer Tochter von der Schulter, rückt vorsichtig von ihr ab und wendet ihrem schlaffen Körper den Rücken zu, ihr Atem trifft auf Fafas Wange. Fafa starrt mit aufgerissenen Augen ins Dunkel und hört, wie sie zwischen einem Zähneknirschen und einem heißen Seufzer flüstert:

»Mama ist schön … Miuma ist eine Gazelle … Du hast deine Mama lieb …«