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Der Arzt vom Tegernsee
– 36 –

Eine zweite Chance für die Liebe

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-463-5

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Dr. Eric Baumann fuhr durch das offene Tor des Leinerhofes und hielt kurz vor dem erst vor einigen Jahren renovierten Bauernhaus. Er war kaum ausgestiegen, als er auch schon durch mehrstimmiges, lautes Kläffen begrüßt wurde. »Werdet ihr wohl ruhig sein!« rief er zu den Hunden aller Rassen und Größen hinüber, die sich an den Maschendrahtzaun ihres Freilaufes drängten. »Sieht mir ganz so aus, als wärt ihr schon wieder mehr geworden.«

»Seit heute morgen hat sich ihre Zahl um zwei vergrößert«, sagte Andrea Stanzl, die in diesem Moment aus der Scheune kam, in der die Futtervorräte aufbewahrt wurden. »Die Polizei hat uns zwei Mischlingshündinnen gebracht, die während der Nacht an einen Pfosten kurz hinter Tegernsee angebunden worden sind.«

Die junge, ziemlich korpulente Frau schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, wer so etwas fertigbringt. Man sollte es sich sehr gut überlegen, bevor man sich ein Tier anschafft. Außerdem ist keiner gezwungen, es einfach auszusetzen. Es gibt genügend Tierheime, in die man es unterbringen kann.«

»Dieser Meinung bin ich allerdings auch, Frau Stanzl«, meinte der Arzt und drückte ihre Hand. »Ich nehme an, meine Patientin ist in ihrer Wohnung.«

Andrea nickte. »Frau Gabler ist bei ihr.« Sie verzog das Gesicht. »Manchmal verstehe ich Frau Riedl wirklich nicht. Ich habe sie davor gewarnt, das alte Pflaumenkompott zu essen, aber nein, sie mußte es mir zum Trotz tun. Als wenn sie mir und nicht sich dadurch schaden würde.«

»Sieht nicht aus, als hätte Frau Riedl ihre Meinung über Sie geändert«, bemerkte Eric. Seit er Andrea Stanzl vor einigen Wochen auf dem Leinerhof untergebracht hatte, stellte sich ihr die alte Wirtschafterin Ilse Gablers in den Weg. Sie konnte es nicht ertragen, daß Andrea innerhalb kürzester Zeit Ilses Vertrauen und ihre Freundschaft gewonnen hatte.

»Ich weiß auch nicht, ob sie ihre Meinung über mich jemals ändern wird«, antwortete die junge Frau mit einem Schulterzucken. »Dabei habe ich ihr nichts getan. Manchmal glaube ich, es ist allein schon mein Anblick, der sie zur Weißglut bringt.« Sie schaute an sich hinunter. »Früher hätte mir dieser Gedanken etwas ausgemacht, heute…« Andrea lachte auf. »Dank Ihnen leide ich nicht mehr an Minderwertigkeitskomplexen. Sie haben mir mehr geholfen, als Ihnen vielleicht bewußt ist.«

»Und Sie werden auch noch weiter abnehmen, da bin ich mir sicher«, sagte Dr. Baumann. Er betrat mit Andrea das Haus. »Ist Klaus auch da?«

»Nein, er ist in die Stadt gefahren, um sich bei einer Baufirma vorzustellen.« Leise seufzte sie auf. »Drücken Sie die Daumen, daß er endlich eine Arbeit findet. Es macht ihn absolut fertig, daß er mit seinen vierundzwanzig Jahren auf der Straße steht und auf Arbeitslosenunterstützung angewiesen ist.«

»Ich werde die Daumen drücken«, versprach Eric. Er stieg die Treppe zum zweiten Stock des alten Hauses hinauf, das Ilse Gabler von ihrem verstorbenen Mann, einem Immobilienmakler, geerbt hatte. Seine Eltern waren Bauern gewesen und hatten den Leinerhof bis zu ihrem Tod selbst bewirtschaftet.

Der Arzt klopfte an die Schlafzimmertür von Beate Riedl. Ilse Gabler, eine hübsche blonde Frau von achtundzwanzig Jahren, öffnete ihm. »Schön, daß Sie kommen konnten, Doktor Baumann«, sagte sie und reichte ihm die Hand. »Frau Riedl geht es gar nicht gut.«

»Frau Stanzl hat mir schon von dem Pflaumenkompott erzählt«, erwiderte Eric leise.

Ilse nickte. »Andrea hatte das Kompott extra zum Wegwerfen auf die Anrichte gestellt. Ich bin überzeugt, daß die gute Beate Riedl das Obst nur gegessen hat, weil sie Andrea nicht akzeptieren kann.«

»Wer nicht hören will…« Dr. Baumann kannte den Dickschädel der alten Wirtschafterin nur zu gut. Beate Riedl war auf dem Leinerhof aufgewachsen, schon ihre Eltern hatten dort gearbeitet. Kurz nach dem Krieg hatte sie als Siebzehnjährige einen der Knechte geheiratet, ein Jahr später war ihr Sohn Wolfgang zur Welt gekommen. Vor zwanzig Jahren hatte sie durch einen Autounfall ihren Mann, ihren Sohn und ihre Schwiegertochter mit einen Schlag verloren. Ihr war nur der damals vierjährige Klaus geblieben, und an ihm hing sie mit abgöttischer Liebe.

»Dann wollen wir mal sehen«, sagte er und trat an das Bett der Kranken, während Ilse das Zimmer verließ und die Tür hinter sich schloß.

Beate Riedl öffnete die Augen. »Mir geht es ja so schlecht, Herr Doktor«, jammerte sie. »Diese Schmerzen. Es ist, als würde mein Magen von eisernen Fäusten zusammengepreßt. Die halbe Nacht und den Vormittag über habe ich mich ständig übergeben müssen. Das können nicht nur die Pflaumen sein, es ist bestimmt auch der Ärger, den ich mit dieser Stanzl habe.«

»Was für Ärger?« fragte Dr. Baumann. Vorsichtig tastete er den Leib der Kranken ab.

»Es ist ein Unglück, daß Frau Gabler sie aufgenommen hat«, sagte sie stöhnend und vergaß dabei völlig, daß Dr. Baumann dafür verantwortlich war. »Nichts macht sie richtig, rein gar nichts. Ständig muß ich hinter ihr herräumen, als hätte ich nichts anderes zu tun. Und ich bin überzeugt, daß sie das Einmachglas mit den Pflaumen geöffnet hat, damit sie verderben.«

»Auch meiner Katharina passiert es ab und zu, daß Kompottgläser sich öffnen, ohne daß sie es bemerkt, und das Obst dadurch verdirbt«, antwortete der Arzt und maß den Blutdruck der alten Frau. »Allerdings würde keiner von uns auf die Idee kommen, das Kompott dann noch zu essen.«

»Ich gehöre noch einer Zeit an, in der man Achtung vor Lebensmitteln hatte und nicht gern etwas weggeworfen hat«, sagte Beate Riedl. »Heute…« Sie seufzte laut auf.

Der Blutdruck seiner Patientin war nur leicht erhöht, und auch ihr Herz schlug völlig normal. »Ich werde Ihnen ein Mittel gegen die Magenkrämpfe verschreiben«, sagte Eric. »Davon können Sie heute jede Viertelstunde fünfzehn Tropfen nehmen und während der nächsten fünf Tage dreimal täglich fünfzehn Tropfen. Außerdem werde ich Ihnen eine krampflösende Injektion geben. Bis heute abend müßte es Ihnen schon besser gehen.«

»Und wer soll die Tropfen von der Apotheke holen? Klaus ist in der Stadt.« Beate Riedl richtete sich etwas auf. »Sie sollten sehen, wie die Stanzl meinem Enkel schöne Augen macht. Andauernd ist sie hinter ihm her, am liebsten wäre sie auch heute mit in die Stadt gefahren.« Ihre Hände verkrampften sich in der Bettdecke. »Wenn ich nicht aufpasse, wird sie den Klaus noch auf die schiefe Bahn bringen.«

»Nun, das glaube ich nicht, Frau Riedl.« Dr. Baumann zog die Spritze auf. »Frau Stanzl hat es in ihrem Leben sehr schwer gehabt. Hier auf dem Leinerhof kann sie zum ersten Mal aufatmen.«

»Auf unsere Kosten.« Die alte Wirtschafterin schloß demonstrativ die Augen. »Ein Unglück ist’s, daß diese Person sich hier eingenistet hat, doch auf mich will ja keiner hören.«

»Bitte, drehen Sie sich zur Seite.«

Beate Riedl drehte sich schwerfällig. »Wenn ich nicht schon so alt wäre, dann…« Sie hielt den Atem an, während ihr Eric die Injektion gab.

»Was dann?« fragte er und deckte sie zu.

»Ach, ist egal«, meinte die Kranke. »Wen interessiert es schon, was ich sage?«

Dr. Baumann schloß seine Tasche. »Gute Besserung, Frau Riedl«, wünschte er und reichte ihr die Hand. »Wenn noch etwas sein sollte, kann mich Frau Gabler jederzeit anrufen.«

»Danke«, murmelte sie und drehte sich auf die andere Seite.

Eric verließ das Schlafzimmer. Er wusch sich im angrenzenden Band die Hände und ging danach in die Küche hinunter, wo die Besitzerin des Leinerhofes mit einer Tasse Kaffee auf ihn wartete.

»Wie sieht es aus, Doktor Baumann?« fragte sie und setzte sich zu ihm an den Tisch.

»Kein Grund, sich Sorgen zu machen, Frau Gabler.« Er gab ihr das Rezept. »Bitte sorgen Sie dafür, daß Frau Riedl das Medikament regelmäßig nimmt. Ich kenne sie. Wenn es ihr morgen wieder besser geht, was anzunehmen ist, wird sie die Tropfen ganz einfach vergessen.«

»Sie können sich auf mich verlassen«, versprach Ilse. »Und was darf Frau Riedl essen?«

»Heute nur Zwieback und schwarzen Tee bitte, morgen Haferschleimsuppe ohne Milch, und dann werden wir weitersehen.« Dr. Baumann ließ zwei Stück Zucker in seinen Kaffee fallen. »Ich wundere mich stets von neuem, wie es Ihnen innerhalb der kurzen Zeit gelungen ist, Frau Stanzl fast völlig zu verwandeln«, sagte er. »Sie ist kaum noch mit der verschüchterten, verfehlten jungen Frau zu vergleichen, die ich zu Ihnen gebracht habe.«

»Nun, der Verdienst gebührt zum Teil auch Ihnen, Doktor Baumann. Wenn Sie sich nicht so um Andrea gekümmert hätten, als alle Welt sie verlassen hatte, wäre es mir nicht gelungen, ihr zu helfen«, antwortete Ilse. »Andrea ist mir vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen und innerhalb der letzten Wochen zu einer wirklichen Freundin geworden. Ich habe selten einen Menschen kennengelernt, der so ein Geschick hat, mit Tieren umzugehen wie sie. Selbst der gefährlichste Hund wird bei ihr lammfromm, legt sich ihr zu Füßen und bietet ihr seinen Bauch dar.«

»Frau Riedl scheint zu befürchten, daß sich Klaus in Frau Stanzl verlieben könnte.«

Ilse lachte auf. »Längst geschehen«, sagte sie. »Die beiden haben sehr viel füreinander übrig.« Sie stand auf. »Warten Sie einen Augenblick. Ich möchte Ihnen etwas zeigen.« Die junge Frau verließ die Küche und ging in ihr Atelier hinüber.

Mit dem Kaffeebecher in der Hand, blickte der Arzt aus dem Küchenfenster. Andrea und einer der beiden Männer, die zur Zeit täglich ein paar Stunden im Tierpflegenest arbeiteten, verließen jeder mit drei Hunden an der Leine den Hof.

Ilse kehrte mit einer lebensgroßen Puppe zurück. »Mein neuestes Werk.« Sie setzte die Puppe, die bis jetzt nur Unterwäsche trug, auf einen der Stühle.«

Eric sah die Puppe entgeistert an. »Claudia Bartels?« fragte er. Es war noch nicht lange her, da hatte ihm Clara Bartels, als er wegen eines Gastes in ihrer Pension gewesen war, einige Fotos ihrer seit über zwanzig Jahren verschwundenen Tochter gezeigt.

»Ja, Claudia Bartels«, bestätigte Ilse Gabler. Sie hatte vor Jahren eines ihrer Hobbys zum Beruf gemacht und sich darauf spezialisiert, nach Kinderfotos Puppen anzufertigen. Die Arbeit brachte soviel ein, daß sie davon das Tierpflegenest unterhalten konnte. »Frau Bartels ist vor einigen Wochen bei mir gewesen und hat mir das Foto gebracht. Claudia ist auf ihm sechs Jahre alt.« Sie strich sanft über das bemalte Gesichtchen der Puppe. »Es ist mir nicht leichtgefallen, die Puppe anzufertigen. Ich mußte die ganze Zeit darüber nachdenken, was wohl mit Claudia damals passiert ist.«

»Fraglich, ob das jemals geklärt werden wird.« Dr. Baumann konnte den Blick kaum von der Puppe wenden. »Es ist geradezu unheimlich, wie lebensecht Ihre Puppen wirken«, meinte er beeindruckt. »Man könnte meinen, Claudia würde jeden Moment vom Stuhl rutschen und in den Hof zum Spielen laufen.«

»Das ist der Effekt, den meine Puppen auch erreichen sollen«, erwiderte Ilse. »Die meisten meiner Auftraggeber haben inzwischen erwachsene Kinder. Indem sie von mir eine Puppe nach einem Kinderfoto ihrer Sprößlinge fertigen lassen, holen sie sich ein Stückchen jener Zeit zurück.« Sie berührte die Haare der Puppe. »In diesem Fall bin ich mir allerdings nicht sicher, ob es gut für die Bartels ist, sich die Erinnerung an Claudia so wachzuhalten.«

»Vermutlich wird ohnehin kaum ein Tag vergehen, an dem sie nicht an ihre Tochter denken«, sagte

Eric und stand auf. »Ich muß weiter, Frau Gabler.«

»Ich bringe Sie noch nach draußen«, bot sie an. »Und dann fahre ich rasch in die Stadt, um das Rezept einzulösen.«

Nachdem Dr. Baumann den Hof verlassen hatte, kehrte die junge Frau in die Küche zurück und trug die Puppe wieder ins Atelier. Sie hatte noch keine Zeit gehabt, die Kleider für sie anzufertigen. Deshalb hüllte sie die Puppe in eine weiche Kinderdecke, bevor sie sie in das Bettchen setzte, das vor einem der Fenster stand.

An den Wänden im Atelier hingen Fotos all der Puppen, die Ilse im Laufe der letzten Jahre angefertigt hatte. Es gab keine unter ihnen, zu der sie nicht eine ganz besondere Beziehung gehabt hätte. Manchmal brauchte sie drei, vier Monate für eine Porträtpuppe und sie gelang ihr auch nur, wenn sie es schaffte, die Seele des Kindes zu erspüren.