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ANGELA EITER

Alles Klettern ist Problemlösen

Wie ich meinen Weg nach oben fand

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Vorwort

Voller Enthusiasmus beginne ich mit dem Schreiben an diesem Buch. Ich habe vieles zu erzählen, was andere Menschen auf ihren Wegen mitnehmen können. Positives wie Negatives. Von außen betrachtet scheint meine Kletterkarriere ein makellos glänzendes Bilderbuch zu sein. Erfolge sind mir quasi zugeflogen. Aber der Schein trügt. Auf meinem Weg nach ganz oben hatte ich mit größeren Problemen zu kämpfen, als ich sie beim Klettern in der Wand je vorfand.

Meine Erfolge sind das Spiegelbild meiner Karriere und mein Name wird gern als Synonym für diesen glänzenden Spiegel verwendet, jedoch definiere ich mich durch mehr als durch meine Medaillen und Pokale.

In diesem Buch öffne ich meine verborgene Seite hinter dem Spiegel, die bislang nie zum Vorschein kam. Erfolg ist kein glückliches Privileg, sondern ein harter, oft schmerzhafter Kampf, der von leuchtenden Gipfeln und dunklen Tälern gesäumt wird. Erfolge beginnen nicht mit Siegen, sondern mit den Niederlagen, die man überwindet.

All das Erlebte wollte ich festhalten, meine schwierigsten Zeiten genauso wie die schönsten Erinnerungen. Warum? Vielleicht um andere Menschen zu ermutigen, ihre eigenen Durststrecken zu meistern und zu sich selbst zu stehen.

Im Sommer 2019

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Inhalt

Wie alles begann

Meine ersten Schritte in die Vertikale

Kletterhunger

Wie läuft ein Wettkampf ab?

Meine erste Tiroler Schüler-Meisterschaft

Die Spirale beginnt sich zu drehen

Ein starkes Band

Die erste Kletterreise

Wer ist stärker: die Magersucht oder ich?

Auszeit und Rückkehr

Inspirierende Begegnungen

Mit Kopf durch die Wand

Wenn der Vater mit der Tochter …

Angy, die Trainingsweltmeisterin?

Ganz oben

Rock Master 2003: der Beginn einer wunderbaren Karriere

Den Kinderschuhen entwachsen

Aller Anfang ist schwer

Von wegen Eintagsfliege

Ein Sport auf dem Weg nach Olympia

Frühling der Entscheidungen

Siege im Abonnement?

Die Kehrseiten der Medaillen

Das Blatt wendet sich

Ausgebrannt

Der Nagel bricht

Zurück auf Los

Eine Art Wiedergeburt

Weltmeisterlich klettern

Ausflug mit Folgen

Vollgas in die letzte Saison

Abschied und Neubeginn

Draußen klettern ist anders

Nifada oder neue Wege am Fels

Der Drang nach mehr

Das Projekt meines Lebens

Der Körper fordert sein Recht

La Planta de Shiva

Nachbemerkung

Was bringt die Zukunft?

Zeittafel

Die wichtigsten Wettkämpfe, Sportkletterrouten und Auszeichnungen

Dank

WIE ALLES BEGANN

Meine ersten Schritte in die Vertikale

April 1997. Viertklässler aus den unterschiedlichsten Grundschulen des Bezirkes eilen zur Aufnahmeprüfung in die Sporthauptschule Imst. Darunter, begleitet von seiner Mutter, ein für sein Alter ausnehmend zierliches Mädchen aus der Gemeinde Arzl im Pitztal.

Im Turnsaal der Schule tollten Kinder wie eine Horde junger Hunde herum. Mittendrin ein großer, sehr durchtrainiert wirkender Mann mit Brille, den einige bereits zu kennen schienen. Sie riefen ihn Mike.

Ich musterte Mike, da kam die Direktorin der Schule auf meine Mama und mich zu. Eine sportlich gebaute ältere Dame mit hellen kurzen Haaren. Sie gab uns die Hand, stellte sich vor und erklärte uns den Ablauf der Eignungsprüfung. Bevor die Tests begannen, mussten wir uns aufwärmen. „Die Kinder spielen Fangen. Geh hin und spiel mit“, ermunterte mich die Direktorin.

Voll motiviert rannte ich in die Menge. Nach geschätzten 15 Minuten ertönte ein Pfiff von Mike. Er rief die Meute zu sich und teilte uns für die Krafttests ein. An der ersten Station mussten wir an einer Reckstange Klimmzüge machen.

„Oje, das habe ich noch nie gemacht!“, dachte ich besorgt. Ich beobachtete die Kinder vor mir. Ein blondes, kleines Mädchen mit aalglatten Haaren bis zum Hintern verblüffte mich. Es schaffte mehr als zehn Klimmzüge! Meine eigene Vorstellung nahm sich vergleichsweise mickrig aus. Ein einziger Klimmzug – das war alles, was ich draufhatte. Ich biss die Zähne zusammen, presste den Atem und zog, was ich konnte. Aber nichts da! Ein zweiter Klimmzug wollte und wollte nicht klappen.

„Auweh. Hoffentlich sehe ich bei der nächsten Station besser aus!“ Und tatsächlich schnitt ich bei den Liegestützen und Situps etwas besser ab. Nicht überragend, aber immerhin.

Am Ende des Auswahlverfahrens mussten wir alle der Reihe nach unser Kletterkönnen demonstrieren. Damals hatte ich noch keine Ahnung, worum es im Klettersport eigentlich geht, war aber umso neugieriger, was mich nun erwartete.

Wir gingen in den Keller des Schulgebäudes. Mike zeigte uns den sogenannten Boulderraum. Dieses Wort hatte ich vorher noch nie gehört. Bouldern bedeutet Klettern auf Absprunghöhe, man wird dabei nicht mit dem Seil gesichert, sondern allein durch Matten am Boden. Der etwa drei Meter hohe und 25 Quadratmeter große Raum mit einem winzigen Fenster war rundherum mit Holz verkleidet. Von diesen Holzwänden hoben sich unzählige Noppen und Warzen in allen möglichen Farben und Formen ab. Das war lustig anzusehen. Kreuz und quer waren diese Griffe und Tritte montiert, sogar die Decke war mit Holzpaneelen samt Griffen bestückt. Zudem zog auf einer Höhe von vielleicht eineinhalb Metern ein etwa drei Meter langes Dach in den Raum. „Wow! – Und da kann man klettern?“ Ich kam aus dem Staunen nicht heraus.

Mike erklärte uns den Ablauf des Tests: Er deutete auf den rot markierten Startgriff. Von dort sollten wir an der senkrechten Wand nach links queren, über eine leicht nach vorne geneigte Wand in das markante drei Meter lange Dach auf eineinhalb Metern Höhe klettern und schließlich zu einem schwarz umrundeten Zielgriff, der sich gleich neben dem roten Startgriff befand. Damit wäre die Runde geschafft.

Ich konnte es kaum abwarten, bis ich an der Reihe war. Einige Kinder hatten spezielle Schuhe an und einen Beutel mit einem weißen Pulver, mit dem sie ihre Hände vor dem Klettern einrieben. So auch das blonde, kleine Mädchen, das mich schon bei den Klimmzügen beeindruckt hatte. Wie elegant sie sich auf der Wand bewegte! Sie schaffte scheinbar mühelos die gesamte Traverse.

Endlich war ich an der Reihe. Zu meiner Überraschung erwies sich das Klettern viel schwerer als gedacht. Ich versuchte diejenigen Griffe zu fassen, in die ich meine Finger versenken konnte. Zwischen diesen tassengroßen Haltepunkten tauchten immer wieder ganz kleine Griffe auf, auf denen nicht mehr als die Fingerspitzen Platz fanden. Da zog ich lieber gleich weiter zum nächsten, größeren Griff, um mir nicht unnötig die Zähne auszubeißen. Noch schwieriger als mit den Händen war es, mit den Füßen Halt zu finden. Ich musste mich unfassbar fest konzentrieren, damit ich mit meinen klobigen Turnschuhen nicht von den kleinen Tritten abrutschte, die schmal wie ein Türrahmen waren. Ich schaute besonders genau auf die Tritte, versuchte meine Fußspitze langsam und exakt zu setzen. Bei aller Anstrengung machte es mir unglaublich viel Spaß, mich weiterzutasten, die Balance zu suchen und eine Lösung für diese Herausforderung zu finden. Bis ich etwa in der Hälfte der Traverse plötzlich mit den Füßen abrutschte – aus mit der Vorstellung. Dabei wäre ich zu gern noch weitergeklettert!

Mike sah meine Enttäuschung und fragte mich, wie oft ich schon geklettert sei.

„Heute zum ersten Mal.“

„Tatsächlich? Das erste Mal?“ Er schaute mich ungläubig an.

Ich war damals Schülerin an der Volksschule der Gemeinde Arzl im Pitztal. Mit Ablauf des Sommerhalbjahrs sollte ich meine vierjährige Schulpflicht dort beenden. Mein Zwischenzeugnis konnte sich sehen lassen, alles Einser außer einer Zwei im Musikunterricht, über die ich mich damals wahnsinnig ärgerte. Meine Noten waren jedenfalls kein Ausschlusskriterium bei der weiteren Schulwahl.

Wieso suchte ich mir aber ausgerechnet die Sporthauptschule Imst für meinen weiteren Weg aus? Meine damalige Volksschullehrerin setzte mir diesen Floh ins Ohr. Und sie kannte mich, meinen Bewegungshunger und meine Begeisterungsfähigkeit, offenbar recht gut. Doch im Moment war ich mit meiner Situation und vor allem mit mir selbst gar nicht zufrieden. Ich zweifelte sehr, ob man mich nach dieser mäßigen Vorstellung bei den Einstufungstests in die Schule aufnehmen würde.

Aus Sicht eines Trainers weiß ich heute, dass meine Kletterleistung damals ziemlich gut war. Und das erkannte auch Mike. Während andere Kinder bei der Aufnahmeprüfung bereits spezielle Kletterschuhe besaßen, kletterte ich mit Turnschuhen. Kletterschuhe sind eng anliegend, haben eine weiche Gummisohle und erlauben Feinmotorik bis in die Zehenspitzen. Kleinere Tritte können präzise angetreten werden, was einen guten Halt verspricht. Turnschuhe hingegen sind breit und bockig, die Spannung im gesamten Schuh fehlt. Die Fußspitze biegt sich leicht nach oben, verhindert geschmeidige Bewegungen und man rutscht leicht weg von den Tritten – so wie es mir ergangen ist.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis wir endlich ein Schreiben von der Direktorin der Sporthauptschule erhielten. Ich platzte fast vor Aufregung, als ich das weiße Kuvert im Briefkasten fand. Ich starrte den Brief an, zögerte kurz, dann holte ich tief Luft und öffnete den Umschlag. Vorsichtig faltete ich das Schreiben auf und las: Ich sollte tatsächlich einen Platz an der Sporthauptschule Imst bekommen! Wie sehr diese Entscheidung meinen weiteren Weg prägen sollte, ahnte ich zu diesem Zeitpunkt nicht.

Kletterhunger

Im Herbst desselben Jahres wechselte ich in die neue Schule, wo im Zuge des Unterrichts zweimal die Woche ein Klettertraining mit Sportlehrer Michael „Mike“ Gabl auf dem Stundenplan stand. Von Beginn an kletterte ich mit tiefer Leidenschaft und meine Begeisterung machte mich stark.

Schon als Kind liebte ich Denksportaufgaben, an denen ich mich regelrecht festbeißen konnte, sowie das kreative Basteln mit allem möglichen Plunder, der mir zwischen die Finger kam. Beim Klettern entdeckte ich in gewissem Maß Parallelen zu diesen Vorlieben. Denn neben den konditionellen Fähigkeiten sind es vor allem mentale Aspekte, die über das Gelingen von Bewegungsabläufen beim Klettern entscheiden.

Dieses Knacken von Bewegungsrätseln taugte mir so sehr, dass ich selbst nach dem Training in der Schule oft noch am Stockbett in meinem Zimmer weiterkletterte. Ich nummerierte mir an den Sprossen und Bettkanten einzelne Züge und boulderte daran herum, bis ich müde wurde. Anschließend machte ich zum Auspowern noch ein paar Klimmzüge und Liegestützen.

Das umfangreiche Training zeigte Früchte, denn bei meinem ersten Wettkampf, der „Westtiroler Meisterschaft“, die es damals noch gab, erreichte ich den erstaunlichen fünften Platz. Mike war hellauf begeistert von meiner Vorstellung und überreichte mir eine symbolische Mitgliedskarte zur Aufnahme in sein spezielles Wettkampf-Kletterteam, in dem er den Stärksten unter uns als „Nachspeise“ zum allgemeinen Training eine weitere Trainingseinheit servierte.

Das war Futter für meine Motivation! Ich brachte meinen Papa dazu, mir eine eigene Kletterwand zu bauen, damit ich auch in den Sommerferien trainieren konnte, wenn die Kletterhalle der Schule geschlossen hatte. Allzu viel Überredungskunst brauchte es nicht, denn ihm taugte es, wie ich durch das Klettern immer mehr aufblühte.

Ein guter Freund meines Vaters besaß einen Heustadel, den er ihm gern für den Bau einer Kletterwand zur Verfügung stellte. Gemeinsam werkelten sie mehrere Tage eifrig an der Konstruktion, bis sie mir dann stolz den fertigen Kletterhimmel demonstrierten. Die Wand reichte hinauf bis auf eine Höhe von fünf Metern und erstreckte sich vier Meter in die Breite. Im rechten Teil konstruierte mein Vater sogar ein kleines Dach, damit ich ordentlich zu beißen hatte. An dieser Wand konnte ich im Toprope oder sogar im Vorstieg klettern. Papa sicherte mich, wann immer er Zeit hatte. Manchmal stapelten wir am Boden des Heustadels auch alte Matratzen aufeinander, sodass ich im unteren Teil der Wand frei herumbouldern konnte.

Spätestens nach dem ersten Sommer entpuppte sich die Wand allerdings als zu einfach für meine gesteigerte Fitness. Ich kannte die Züge in- und auswendig und das immer gleiche Auf- und Abklettern wirkte narkotisierend auf meinen Körper und Geist. Ich fühlte mich wie ein Tiger im Käfig.

Was für ein Glück, dass zu dieser Zeit gerade die neu errichtete Kletterhalle in Imst ihre Tore für uns öffnete. Mit ihren 17 Meter hohen, teils stark überhängenden Wänden war sie damals die größte Halle in Österreich – ein krasser Gegensatz zu meiner kleinen Heustadel-Welt und gerade recht für meinen Tatenhunger.

Mike verköstigte uns inzwischen dreimal die Woche mit seinem Trainingsmenü. Es war ein irres Gefühl, seinem Team anzugehören. Die Älteren von uns waren so um die 14 oder 15 Jahre alt und bestritten schon eifrig Wettkämpfe in der Jugendklasse. Dabei gingen sie selten leer aus, denn das Kletterteam Imst gehörte zu den erfolgreichsten in Österreich.

Für die Wettkämpfe überreichte uns Mike spezielle, mit den Labels der Sponsoren bedruckte Klamotten, die wir gern auch bei den Trainingseinheiten trugen. Wenn ich heute zurückblicke, find ich es sehr amüsant, mit welcher Begeisterung ich damals dieses Werbe-Outfit trug.

Neben dem Training an den Wänden der Kletterhalle Imst sowie im schuleigenen Boulderraum ging Mike mit uns gelegentlich zum Klettern an die Felsen in der Umgebung. Als Bergführer war es ihm wichtig, uns einen verantwortungsvollen Umgang mit uns selbst und der Natur zu vermitteln. Beim Thema Sicherheit kannte er kein Pardon. Am Fels wies er uns auf die Gefahren hin, die in einer Halle nicht vorkommen. Das Klettern bereitete mir auch draußen in der Natur großen Spaß, zumal ich schon immer gern mit meinem Papa in die Berge ging. Durch den Wechsel von Halle und Fels konnte ich schon früh aus dem Vollen schöpfen.

Weniger begeisterten mich die gelegentlichen Gewichtsmessungen im Wettkampfteam. Durch die Kletterszene wurde unterschwellig vermittelt, dass leichte Kletterer bessere Karten im Wettkampf hätten. Man orientierte sich an bekannten Gesichtern, die im internationalen Ranking bei Kletterwettkämpfen ganz oben standen, wie zum Beispiel Katie Brown aus den USA oder die französischen Sportkletterpioniere François Legrand und Liv Sansoz. Das Thema „Leicht-sein“ war jedenfalls in meinem Trainingsumfeld ein gern diskutiertes Thema, ein geringes Körpergewicht galt als eine der erfolgversprechenden Variablen beim Klettern.

Auch österreichische Topathleten wie Stefan Fürst oder Reinhold Scherer lebten scheinbar das „Schmalsein“ vor. Beide Pioniere sorgten im nationalen wie internationalen Ranking für Aufsehen. Stefan galt zu seiner Zeit als unangefochtene Nummer 1 in den Österreichischen Meisterschaften und heimste zudem große Erfolge bei internationalen Bewerben ein. Auch am Fels bewies er sein Können, insbesondere mit der Erstbegehung von „X-Large“ in Arco im Schwierigkeitsgrad 8c. Reinhold Scherer stand ihm um nichts nach. Er erlangte spätestens 1992 mit der Erstbegehung von „Dschungelfieber“ an der Martinswand bei Innsbruck im Grad 8c+ ebenfalls große internationale Bekanntheit. Über diese legendären Leistungen wurde oft gesprochen, auch Mike erzählte davon. Die Bilder dieser superschlanken Helden brannten sich auf der Netzhaut unseres inneren Auges ein.

Hinzu kommt, dass ich zumindest für mich den Eindruck hatte, Mike würde für unseren Sport sehr schlanke Kletterinnen besonders schätzen. All das motivierte mich, weniger zu essen, um erfolgreicher zu werden.

Als Kind hatte ich eigentlich immer Appetit, da ich stets Auslauf suchte und mich oft stundenlang in der freien Natur bewegte. Ob Radfahren, Schwimmen, Ballspiele oder einfach irgendwo Herumturnen – ich erfreute mich an allem, was Bewegung und körperliche Ertüchtigung versprach. Wählerisch war ich beim Essen eigentlich nicht, aber bestimmte Lebensmittel lösten sehr starke Bauchkrämpfe bei mir aus. Vor allem nach dem Genuss von Brot oder Nudelgerichten hatte ich mit derart üblen Koliken zu kämpfen, dass ich oft zusammengekrümmt liegen musste. Auch bei Milchprodukten und Süßigkeiten hielt ich mich aus freiem Ermessen zurück, vermutlich zeigte mir mein kindlicher Instinkt, dass ich bestimmte Nahrungsmittel nicht vertrug. Als ich acht Jahre alt war, suchte meine Mama mit mir einen Arzt auf, der bei mir eine Weizensowie eine leichte Laktose- und Fruktose-Unverträglichkeit diagnostizierte.

Heute weiß ich, dass ich an chronischen Magen-Darm-Beschwerden litt und noch immer leide, die allerdings erst recht spät richtig erkannt wurden. Vermutlich spürte ich bereits als Kind die Symptome. Nichtsdestotrotz aß ich das, was ich vertrug, gern. Gleichzeitig aber machte es mir nichts aus, meine Mahlzeiten um des Klettererfolgs willen immer mehr zu reduzieren, denn wenn der Magen leer war, blieben auch die Bauchkrämpfe aus.

Also aß ich nur noch die Hälfte als sonst. Manchmal startete ich ohne Frühstück in den Tag. Ein anderes Mal ließ ich das Mittagessen ausfallen oder es gab am Abend nichts. Ich las in Büchern und Zeitschriften alles über Ernährung, was ich nur finden konnte. So lernte ich nicht nur die Grundsätze gesunder Essgewohnheiten kennen, sondern auch wie Abnehmen am besten gelingt. An manchen Tagen fiel mir meine selbstauferlegte Diät leicht, gelegentlich kämpfte ich mit dem Hunger. Aber mein Wille war stark.

An den Trainingssonntagen dieses ersten Winters in Mikes Wettkampfteam legte ich besondere Beharrlichkeit an den Tag, denn ich wollte ihn beeindrucken und im Klettern besser werden. Ich startete mit einem reichhaltigen Frühstück, denn frühstücken war schließlich erlaubt. Das hatte ich gelesen. Auf 10:00 Uhr brachten mich meine Eltern in die Kletterhalle. Meine Teamkollegen und -kolleginnen waren auch schon vor Ort, und wir pushten uns gegenseitig im Training. Wir spulten eine Route nach der anderen, zogen dann noch ein paar Boulder oder machten ein Krafttraining am Board. Manche meiner Teamkollegen beendeten das Training bereits mittags, wieder andere gesellten sich später dazu. Ich aber blieb bis in den Nachmittag in der Kletterhalle. Zu essen gab es den ganzen Tag über sehr wenig, ich belohnte mich erst mit dem Abendessen für diese lange Trainingseinheit.

Im Nachhinein wundere ich mich, wie ich das ohne umzukippen durchstehen konnte, aber es funktionierte prächtig. Ich kann mich an keinen einzigen Moment erinnern, an dem ich erschöpft war. Heute wäre dies undenkbar, aber der Körper eines zwölfjährigen Kindes konnte diese Belastungen anscheinend gut kompensieren. Zumindest vorübergehend. Jedenfalls stieg meine Leistungskurve nach oben wie eine Parabel. Diesen konditionellen Schub setzte ich brauchbar bei den nächsten wichtigen Wettkampfereignissen ein. Die Tiroler Meisterschaft der Schülerklasse rückte heran. Noch dazu in meinem „Wohnzimmer“, in der Imster Kletterhalle.

Wie läuft ein Wettkampf ab?

Für jene Leserinnen und Leser, die sich mit Kletterbewerben nicht auskennen, möchte ich kurz den allgemeinen Ablauf erklären. Ein Lead- oder Vorstiegs-Wettkampf gliedert sich in zwei Qualifikationsrunden und ein Finale. Manchmal gibt es dazwischen ein Halbfinale, in das die besten 26 Athleten aus der Qualifikation einziehen. Im Finale stehen die besten acht beziehungsweise zehn, das variiert je nach Wettkampftypus. Der Austragungsmodus von Boulderbewerben unterscheidet sich im Übrigen grundlegend von den Lead- oder Vorstiegswettkämpfen.

Eine Lead-Wettkampfroute besteht aus aneinandergereihten Griffen und Tritten, die den Bewegungsablauf vorgeben. In einem Abstand von etwa einem bis zu zwei Metern befinden sich einzelne Sicherungspunkte, die sogenannten Expressschlingen. In die Karabiner all dieser Schlingen müssen die Kletterer das Seil einhängen. Sie dienen nur der Sicherung, sich an ihnen festzuhalten ist nicht erlaubt.

Ein beauftragter und ausgebildeter Routensetzer errichtet diese Wettkampfrouten. Insofern steckt hinter jeder Bewegung eine Überlegung des jeweiligen Routensetzers. Mit der Anordnung der Griffe und Tritte bezweckt er bestimmte Kletterabläufe und „zwingt“ die Athleten, gewisse Bewegungen auszuführen. Dabei kann er aus einem variantenreichen Sortiment an Griffen und Tritten wählen, die er an die Wand schraubt.

Die teilnehmenden Kletterer dürfen diese Routen vorher nicht auschecken. Die ersten zwei Routen, sprich die Qualifikationsrunden, werden im sogenannten Flash-Modus ausgetragen. Das heißt, dass der Routensetzer und seine Helfer allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Routen einmal vorklettern, bevor diese selbst an den Start gehen. Es gibt zwei voneinander unabhängige Routen. Die eine Hälfte der Teilnehmer klettert auf der ersten Route, die andere Hälfte auf der zweiten Route. Nachdem jeder an der Reihe war, wird gewechselt. Die Kletterer dürfen sich dabei auch untereinander beobachten. Und das erleichtert einiges! Die Athleten starten der Reihe nach, und es ist selbsterklärend, dass die erstgereihten Teilnehmer die schlechteren Karten gezogen haben, da sie noch keinem anderen Athleten zuschauen konnten und sich allein auf die Demonstration der Vorkletterer verlassen müssen.

Das Halbfinale und das Finale werden im On-Sight-Modus ausgetragen. Das bedeutet, dass sich die Athletinnen und Athleten weder gegenseitig zuschauen noch die Route vorher auschecken dürfen. Logischerweise regelt das nicht der Vertrauensgrundsatz, sondern die sogenannte Isolationszone: ein abgeschirmter Raum, in dem Handys und jegliche anderen Geräte, die den Kontakt nach außen ermöglichen, verboten sind. Die Isolationszone wird immer von mindestens einer Person überwacht. Diese leitet auch sämtliche wichtige Informationen weiter, die von außen kommen. Das könnte zum Beispiel ein technischer Zwischenfall sein, wenn sich etwa ein Griff dreht und dadurch der Start verzögert wird.

Als ich mit dem Wettkampfklettern begonnen hatte, wurde auch die Qualifikationsrunde bei den Weltcups in der Erwachsenenklasse noch im On-Sight-Modus und – je nach Größe des Starterfeldes – an einer oder zwei Routen ausgetragen, was die Aufenthaltsdauer in der Isolationszone nochmals deutlich erhöht hatte. Heute ist das kaum mehr vorstellbar. Die Umstellung von On-Sight- auf Flash-Modus ist erst im Jahre 2008 zunächst optional und 2009 quasi in allen Wettbewerben erfolgt.

Was treibt man eigentlich die ganze Zeit in der Isolationszone? In allererster Linie absolvierte ich ein gediegenes Aufwärmprogramm mit Laufen, funktionellen Übungen, Dehnen und Warm-Klettern, womit ich gut zwei Stunden beschäftigt bin. Aber der Aufenthalt in dieser Quarantäne kann je nach Teilnehmerzahl und Startreihenfolge weit länger dauern!

Als es die Iso-Zone noch in den Qualifikationsrunden der Weltcups gab, waren mehrere Stunden Aufenthalt dort keine Seltenheit für mich, denn Athleten und Athletinnen, die im internationalen Ranking ganz oben standen, starteten erst gegen Ende. Bei der Weltmeisterschaft in München von 2005 musste ich sage und schreibe 15 Stunden in dieser Quarantäne absitzen, denn als Weltranglisten-Erste startete ich erst ganz am Schluss, und bis ein Teilnehmerfeld von über 80 Kletterinnen durch war, mein lieber Schwan, das dauerte! Das Aufwärmprogramm nahm etwa drei Stunden in Anspruch, die restliche Zeit verbrachte ich mit Lesen oder mit Konzentrationsspielen. Zwischendrin gab ich mich aber auch einfach mal meinen Gedanken hin oder plauderte ein wenig mit meinen Kolleginnen. Irgendwann jedoch schlug nicht mehr ich die Zeit tot, sondern sie mich.

Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass die Kletterzeit pro Athlet damals noch zehn bis zwölf Minuten betrug. Im Jahre 2008 wurde auch die Kletterzeit geändert und auf sechs Minuten in den Qualifikationsrunden und acht Minuten im Halbfinale und im Finale definiert. Im Jahre 2017 wurde die Kletterzeit optional und 2018 dann für alle Wettbewerbe im Lead nochmals reduziert: Die Uhr tickt nun bei allen Durchgängen für sechs Minuten. Auch wenn diese Zeitreduktion für die Athleten meiner Generation eine große Umstellung war, bringt sie viele Vorteile mit sich – nicht zuletzt einen kürzeren Aufenthalt in der Isolationszone. Außerdem müssen die Athleten nun schneller und kompromissloser Entscheidungen treffen und dürfen bei kniffligen Passagen nicht lange verweilen. Das hilft ihnen, Zeit und Kraft zu sparen. Obendrein wird der Wettkampf dadurch für die Zuschauer kurzweiliger und bleibt spannend. Dass diese Zeitreduktion den Sport für das Fernsehen attraktiver macht, ist ein zusätzlicher Pluspunkt. Das bewies die Weltmeisterschaft in Innsbruck 2018. Alle Durchgänge wurden im österreichischen Hauptsender ORF 1 live in professioneller Aufmachung übertragen – ein sensationeller Fortschritt für Sportler und Fans.

Nach den Qualifikationsrunden ist die Besichtigung der eigentlichen Wettkampfroute ein elementarer Bestandteil jedes Bewerbs. Hier gilt es, allein durch das Anschauen der vorgegebenen Strukturen sämtliche Informationen zu Tritten, Griffen, Rastpunkten und zu den Positionen, aus denen man die Sicherungspunkte einhängen kann, zu erfassen und sich im Gedächtnis einzuprägen. Ferngläser sind dabei als Hilfsmittel erlaubt, technische Geräte wie Kamera, Mobiltelefone und dergleichen hingegen verboten.

Das Merken der einzelnen Griffe fiel mir in der Regel nicht schwer. Bis auf wenige Ausnahmen behielt ich die Route im Kopf. Für Außenstehende mag das schwer vorstellbar sein, aber für mich sind Routen in gewisser Weise wie Bücher. In beiden Fällen muss man auch zwischen den Zeilen lesen können. Man muss die Bewegungsvorstellung der Routenbauer erkennen. Jeder Griff erfüllt seinen Zweck. Der eine wird mit der linken Hand gehalten, der andere mit der rechten und manche mit beiden. Oftmals dienen Griffe nur als kurzer Zwischenhalt zum Weitergreifen auf den nächsten, besseren Griff. Genau diese beabsichtigten Bewegungen gilt es herauszulesen und zu interpretieren. Manche Passagen lassen sich leicht und schnell auflösen, andere versetzen einen in Spannung und treiben den Adrenalinspiegel in die Höhe.

Nach Ablauf der genau festgesetzten Besichtigungszeit geht es nochmals zurück in die Isolationszone. Dann beginnt das große Palaver. Die Athleten versammeln sich gruppenweise und tauschen Informationen aus. Kaum jemand vertraut einzig und allein auf seinen eigenen Plan. Womöglich überlegst du dir jetzt, ob bei dieser Gelegenheit nicht versucht wird, sich untereinander auszutricksen und die Mitbewerber auf die falsche Fährte zu locken. Es wäre doch ein günstiger Zeitpunkt, die Chance zur Irreführung zu nutzen. Mag sein. Aber so etwas ist mir während meiner gesamten Wettkampflaufbahn tatsächlich nie untergekommen!

Meine erste Tiroler Schüler-Meisterschaft

An dem besagten Wochenende der Tiroler Schüler-Meisterschaft zitterte ich wie Espenlaub vor Aufregung. Die Nervosität erlosch jedoch spätestens während der Aufwärmprozedur. Vor dem Start hatten wir genügend Zeit, und ich absolvierte konsequent mein gelerntes Programm mit Lauf-, Dehn- und Kletterübungen, um bestmöglich vorbereitet zu starten. Die ersten beiden Routen meisterte ich problemlos, was den Einzug ins Halbfinale der besten 26 bedeutete.