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Sophienlust
– Staffel 12 –

E-Book 111-120

Bettina Clausen
Judith Parker
Aliza Korten
Isabell Rohde

Impressum:

Epub-Version © 2019 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74095-584-7

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Was soll aus uns werden?

Roman von Clausen, Bettina

Dominik von Wellentin-Schoenecker stand vor dem Herrenhaus. Da fuhr ein fremder Wagen auf den Hof von Sophienlust. Ein Mann saß hinter dem Steuer. Etwa fünfunddreißig Jahre alt. Die Frau neben ihm mochte einige Jahre jünger sein.

Der Wagen bremste. Die Frau sprang heraus. »Hier muss ein kleines Mädchen sein!«, rief sie aufgeregt.

Nick schaute die Unbekannte befremdet an. Grüßen kann sie wohl nicht, dachte er. Trotzdem blieb er höflich. »Ich habe kein Mädchen gesehen.«

»Natürlich muss es hier sein. Nicht wahr, Fred?« Die Frau wandte sich zu ihrem Begleiter um, der gerade aus dem Wagen stieg.

»Es muss hier sein«, bestätigte er. Gleichzeitig kam er näher. Auch er grüßte nicht. »Es ist fünf Jahre alt und hört auf den Namen Binchen. Eigentlich heißt sie Sabine.« Der Mann war genauso nervös wie die Frau. Das machte Nick misstrauisch. »Ist Ihnen das Kind davongelaufen?«, erkundigte er sich.

»Natürlich ist es davongelaufen. Sonst würden wir es ja nicht suchen.« Anne Zimmermann schüttelte den Kopf.

Nick spürte, wie er zornig wurde. Aber er wollte nicht unhöflich zu den Fremden werden. Deshalb rief er nach Frau Rennert. »Tante Ma!«

Eine Minute später trat die Heimleiterin aus der Tür. »Guten Tag«, grüßte sie freundlich.

Doch die Fremden erwiderten den Gruß nicht. Sie hielten es auch nicht für nötig, sich vorzustellen. »Wir suchen ein kleines Mädchen. Es muss hier sein«, wiederholte Fred Zimmermann barsch.

»Handelt es sich um Ihre Tochter?«, erkundigte sich Frau Rennert.

»Aber das ist doch völlig nebensächlich!«, rief Anne gereizt.

Ein Schatten fiel über das gutmütige Gesicht der Heimleiterin. »Bei uns ist kein fremdes Kind«, erklärte sie.

»Aber Binchen muss hier sein!«

»Wieso muss das Kind ausgerechnet bei uns sein?«, fragte Frau Rennert irritiert. »Genauso gut kann es doch woanders sein.«

»Wo denn?«, schnappte Fred Zimmermann.

»Das kann ich Ihnen leider auch nicht sagen«, erwiderte die Heimleiterin. »Ich würde Ihnen raten, zur Polizei zu gehen.«

»Vielen Dank für den Ratschlag«, entgegnete Anne Zimmermann voller Hohn. »Aber wir sind überzeugt, dass Binchen hier ist.«

Das verstand die Heimleiterin nicht. »Darf ich fragen, warum Sie da so sicher sind?«

»Weil unser Haus nicht allzu weit von hier entfernt ist«, erklärte Fred ungeduldig.

»Und weil wir schon überall gefragt haben. Binchen ist nirgends.«

Mit einem Seufzer wandte sich Frau Rennert an Dominik. »Nick, würdest du bitte alle Kinder zusammenrufen?«

»Sofort, Tante Ma.« Er lief los.

»Darf ich Sie ins Haus bitten?«, wandte sich die Heimleiterin an die ungebetenen Gäste. Sie blieb noch immer höflich, wünschte sich aber, dass Frau von Schoenecker da wäre.

Anne und Fred Zimmermann betraten die Halle von Sophienlust. »Donnerwetter«, entfuhr es dem Mann. Neugierig betrachtete er die große Halle mit den wertvollen alten Möbeln. Dabei wurde sein Blick gierig.

Das entging der Heimleiterin nicht. »Bitte, nehmen Sie doch Platz. Dominik holt alle Kinder, die sich zur Zeit hier befinden. Dann können Sie selbst feststellen, ob ein fremdes Kind darunter ist.«

»Wer ist dieser Junge?«, wollte Anne Zimmermann wissen.

»Sie sprechen von dem künftigen Erben dieses Besitzes«, klärte Frau Rennert den Besuch auf.

Annes Augen wurden groß. »Dem Erben? Diesem Kind?«

»Dominik von Wellentin-Schoenecker ist der eigentliche Besitzer von Sophienlust. Seine Mutter verwaltet es nur für ihn.«

»Dann ist seine Mutter Frau von Schoenecker?«, folgerte Fred Zimmermann. Natürlich war ihm der Name von Schoenecker ein Begriff. Schließlich wohnten sie ja in der Nähe.

Frau Rennert bestätigte es.

Stimmengewirr erklang. Nick öffnete die Tür. Die Kinder traten ein. Eines nach dem anderen.

»Bitte, schauen Sie selbst, ob Ihre Tochter dabei ist«, forderte Frau Rennert die Besucher auf.

»Binchen ist nicht unsere Tochter«, entgegnete Anne Zimmermann geistesabwesend.

»Nicht Ihre Tochter?« Frau Rennert schaute fragend auf. Sie sah, wie der Mann der Frau einen tadelnden Blick zuwarf.

»Binchen ist unsere Nichte«, erklärte Fred. »Aber wir sind für das Kind verantwortlich.«

Anne Zimmermann musterte jedes Kind. Ungeduldig sprang sie schließlich auf. »Unsere Sabine ist nicht dabei.«

»Ich sagte Ihnen ja bereits, dass sie nicht hier ist.«

»Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns hier etwas umsehen?«

»Wie bitte?« Frau Rennert konnte ihre Entrüstung nicht verbergen. Das geht doch entschieden zu weit, sagte sie sich.

Da fuhr draußen ein Wagen vor. Kurz darauf betrat Denise von Schoenecker die Halle.

Gott sei Dank, dachte die Heimleiterin. Ihr Blick drückte diesen Stoßseufzer auch aus.

»Was ist denn hier los?«, erkundigte sich Denise. Erst dann sah sie die Fremden.

Fred Zimmermann erhob sich. »Wir suchen unsere kleine Nichte. Sie heißt Sabine, aber sie hört auf den Namen Binchen.«

»Darf ich mich erst einmal vorstellen?« Denise nannte ihren Namen.

Fred Zimmermann errötete. Das war ein deutlicher Hinweis auf seine Unhöflichkeit. »Mein Name ist Fred Zimmermann. Und das ist meine Schwester Anne.« Steif reichte er Denise die Hand.

Ich hätte geschworen, dass sie ein Ehepaar sind, dachte Frau Rennert und schickte die Kinder wieder hinaus.

Die Kinder verließen die Halle. Nick ging als Letzter. Dabei warf er dem frechen Geschwisterpaar einen unfreundlichen Blick zu. Die beiden gefielen ihm nicht.

Sie gefielen auch Denise nicht. Trotzdem machte sie mit ihnen einen Rundgang. »Binchen könnte sich ja irgendwo versteckt haben«, hatte Fred erklärt.

Ein Kind versteckt sich nur, wenn es sich fürchtet, dachte Denise. Doch sie blieb höflich. Damit konnte sie die aufgebrachten Geschwister beruhigen. Und sie konnte die beiden schließlich überzeugen, dass die kleine Sabine nicht in Sophienlust war.

»Vielleicht taucht Binchen noch bei Ihnen auf«, meinte Fred beim Abschied.

»Dann werde ich Sie selbstverständlich sofort benachrichtigen, Herr Zimmermann.«

»Sie haben uns sehr geholfen, Frau von Schoenecker«, flötete Anne Zimmermann. Sie reichte Denise die Hand.

Denise fühlte sich abgestoßen. Sie verabschiedete sich höflich, aber sehr kühl. Dann schaute sie den beiden nach. Sie gingen zu ihrem Wagen. Doch sie stiegen nicht sofort ein. Mit lauernden Blicken schauten sie sich um. Dann betrachteten sie das Herrenhaus von Sophienlust. Ihre Gesichter drückten dabei das Gleiche aus. Pure Besitzgier.

Das arme Kind, dachte Denise. Und wohin mochte es gelaufen sein?

Denise betrat die Halle. Nick stand bei Frau Rennert. Er stellte die gleiche Frage: »Wo kann dieses Mädchen sein, Mutti?«

»Da fragst du mich zu viel. Bei uns ist es jedenfalls nicht.«

Nick pflichtete ihr sofort bei. »Ich habe mit den Kindern noch einmal das ganze Haus durchsucht.«

»Sehr gut«, lobte Denise. »Es wäre nämlich unangenehm, wenn die Kleine doch hier wäre.«

»Verstehe ich, Mutti. Bei dieser übergeschnappten Tante und dem verrückten Onkel!«

Denise warf ihrem Sohn einen tadelnden Blick zu. Doch sie sagte nichts. Im Grunde genommen war die Charakteristik ja richtig. Sie wandte sich um. »Ich muss zurück nach Schoeneich.«

»Darf ich zum Abendessen hierbleiben, Mutti?«

»Also gut. Aber komm nicht zu spät zurück. Und vergiss deinen kleinen Bruder nicht. Ich kann ihn nirgends finden.«

»Er spielt mit Heidi und Fabian im Park. Ich bringe ihn schon mit.«

Frau Rennert öffnete das Küchenfenster. Es war Essenszeit. Doch sämtliche Kinder spielten noch draußen. »Heute habt ihr wohl wieder mal überhaupt keinen Hunger?«

»Doch!«, riefen sofort einige Stimmen. Die Hungrigsten liefen sofort ins Haus.

»Es gibt Pfannkuchen mit Himbeermarmelade«, verkündete Fabian.

»Woher weißt du das, Fabian?«

»Ich hab’s gerochen.«

Henrik lachte ihn aus.

»Wollen wir wetten?«, schlug Fabian sofort vor. Da trat Nick zu ihnen. Er verpasste Henrik einen sanften Rippenstoß. »Du sollst doch nicht wetten, kleiner Bruder.«

»Nenn mich nicht immer kleiner Bruder. So klein bin ich nicht mehr. Außerdem will ich ja gar nicht wetten. Fabian ist ganz wild darauf. Um was willst du wetten?«, erkundigte er sich aber doch.

»Oh, vielleicht um einen Pfannkuchen.«

Nick musste lachen. »Ihr könnt doch sowieso essen, so viel ihr wollt.«

»Stimmt auch wieder.« Fabian betrat mit Nick und Henrik den Speisesaal.

Es gab tatsächlich Pfannkuchen. Und sie schmeckten wieder einmal ganz ausgezeichnet. Doch plötzlich interessierten die guten Pfannkuchen keinen mehr. Fast gleichzeitig hörten alle Kinder zu essen auf.

»Was ist denn das?«, rief Heidi laut und deutete in die Mitte des Saales. Dort balgten sich zwei junge Hunde. Das wäre eigentlich nichts Ungewöhnliches gewesen. Doch es waren fremde Hunde. Kein Kind hatte sie je zuvor gesehen. Es waren zwei junge Spaniels. Der eine war honiggelb, das Fell des anderen war ganz hell. Schon fast weiß.

Nick schloss die Augen und öffnete sie sofort wieder. Aber die Hunde waren noch da. Es war keine Sinnestäuschung. »Aber das gibt es doch gar nicht!« Er stand auf.

Pünktchen und Heidi spielten schon mit den Hunden. »Ob die uns zugelaufen sind, Nick?« Pünktchen schaute auf. Helle Freude stand in ihren blauen Augen. Die beiden tollpatschigen ­jungen Tiere waren aber auch gar zu drollig.

Nick schüttelte verwundert den Kopf. »Sie müssen doch irgendwo herkommen. Hunde haben doch normalerweise einen Herrn.«

»Willst du sie auch mal streicheln, Nick?« Henrik hob den helleren der beiden Hunde auf und hielt ihn Nick vor die Brust. Automatisch nahm Nick das weiche Knäuel auf den Arm.

Fast alle Kinder hatten ihre Plätze nun verlassen. Sie standen in der Mitte des Speisesaales.

»Was ist denn hier los?« Mit einer Platte dampfender Pfannkuchen stand Frau Rennert in der Tür.

»Wir haben zwei neue Hunde, Tante Ma! Schau mal, wie lieb sie sind! Zwei Spaniels!«, so riefen die Kinder durcheinander.

Die Heimleiterin stellte rasch die Platte mit den Pfannkuchen ab. Dann kam sie in die Mitte des Raumes.

Inzwischen hatte sich Nick aus der Gruppe gelöst. Er schaute sich im Speisesaal um. Da sah er in der äußersten Ecke eine kleine Gestalt, halb vom Fenstervorhang verdeckt. Er kam näher. Tatsächlich! Seine Vermutung war richtig. Da stand ein Kind. Zitternd blickte es ihm entgegen. Mit großen verschreckten Augen. Es war ein Mädchen.

»Du brauchst keine Angst zu haben. Hier tut dir niemand etwas.« Nick streckte dem Kind seine Hand entgegen. »Komm hervor. Na, komm schon. Du kannst dich doch nicht die ganze Nacht hier im Vorhang verstecken.«

Die Kleine nickte. Dann kroch sie aus ihrem Versteck hervor.

Nick nahm sie bei der Hand. So traten die beiden zu den anderen.

»Nanu«, sagte Henrik. »Jetzt haben wir zu den Hunden auch noch ein Mädchen. Was wir heute alles kriegen …«

Pünktchen strich dem Mädchen vorsichtig übers Haar. »Sind das deine Hunde?«

Die Kleine nickte. Sie ging in die Knie. Da kamen die Hunde sofort zu ihr.

Doch jetzt griff Frau Rennert ein. »Setzt euch wieder auf eure Plätze«, ordnete sie an. »Und du ruf bitte deine Mutter an, Nick.« Dann nahm sie das fremde Mädchen auf den Arm und verließ mit ihm den Speisesaal.

Die Kinder aßen weiter. Doch ihre Aufmerksamkeit war nicht mehr bei den Pfannkuchen. Sie diskutierten das Ereignis. »Wo ist die Kleine?«, wollten sie von Nick wissen, der eben zurückgekehrt war.

»Bei Tante Ma in der Küche. Sie bekommt etwas zu essen. Die Hunde auch.«

»Hast du deine Mutti angerufen?«, fragte Fabian.

»Ja, sie muss jeden Moment hier sein.« Nick setzte sich wieder zu den Kindern. »Kann ich noch einen Pfannkuchen bekommen?«

»Wo sie wohl herkommt?«, überlegte Pünktchen laut.

Irmela schob ihren Teller zurück. »Ich kann jetzt einfach nichts mehr essen. Ich bin viel zu aufgeregt.«

Das Geräusch eines vorfahrenden Wagens unterbrach das Gespräch.

»Tante Isi!« Heidi wollte aufspringen.

Nick drückte sie auf ihren Stuhl zurück. »Tante Ma will, dass ihr hierbleibt. Esst fertig!«

»Aber ich bin fertig«, beschwerte sich Heidi.

»Dann musst du trotzdem hierbleiben.« Nick aß seelenruhig weiter. Dabei war er genauso neugierig wie die anderen. Doch er wusste, dass seine Mutter jetzt mit dem fremden kleinen Mädchen allein sein musste.

Irmela verstand das. Sie kam ihm zu Hilfe. »Die Kleine ist doch sowieso schon ganz eingeschüchtert«, sagte sie. »Wenn wir jetzt noch alle herumstehen, bringt Tante Isi keinen Ton aus ihr heraus.«

Das verstanden alle. Also blieben sie auf ihren Plätzen. Wenn auch ungern.

Als Denise die Halle von Sophienlust betrat, sprangen zwei junge Spaniel an ihr hoch. »Nanu?«, staunte sie. »Von Hunden hat Nick doch nichts gesagt.« Aber da kam ihr auch schon die Heimleiterin entgegen. »Wo ist denn der unerwartete Zuwachs?«, fragte Denise.

»In der Küche. Die Kleine ist völlig verschüchtert. Und ganz verhungert. Ich habe ihr zu essen gegeben.«

Denise betrat die Küche. Sofort legte das Mädchen den Pfannkuchen auf den Teller zurück, in den es gerade hatte hineinbeißen wollen.

»Du kannst ruhig weiteressen«, sagte Denise freundlich.

Doch die Kleine rührte sich nicht. Ängstlich schaute sie Denise entgegen.

Die Herrin von Sophienlust und Schoeneich setzte sich zu ihr. Sie wusste, dass es schwer sein würde, das Kind zum Sprechen zu bringen. Die Angst stand ja ganz deutlich in den großen blauen Kinderaugen.

»Haben deine Hunde schon etwas zu fressen bekommen?«

Das Mädchen nickte.

»Wie heißen sie denn?«

»Sie haben noch keine Namen.«

»Ach so.« Denise nickte verständnisvoll. »Und wie heißt du?«

Die Kleine senkte den Blick. Sie gab keine Antwort.

»Heißt du vielleicht Binchen?«

Mit einem Ruck hob das Kind den Kopf. Nun hatte die Überraschung ihm die Sprache geraubt. Es konnte nur nicken.

Denise sprach ganz ruhig weiter. »Du bist doch bestimmt schon den Nachmittag über bei uns?«

Wieder konnte das Kind nur nicken.

»Hast du dich versteckt?«

»Ja«, kam es kläglich von den blassen Lippen.

»Dann hast du also Angst?«

Keine Antwort.

»Vor wem fürchtest du dich denn, Binchen?«

Das Mädchen begann zu weinen. Da nahm Denise die Kleine auf ihren Schoß. Behutsam tupfte sie die Tränen von den erhitzten Kinderwangen. »Nicht weinen, Binchen.« Sie redete beruhigend auf das Kind ein.

Endlich beruhigte sich die Kleine. Sie aß sogar ihren Pfannkuchen auf. Dann begann sie stockend zu erzählen, dass sie Onkel und Tante davongelaufen war.

»Aber warum denn?«, erkundigte sich Denise vorsichtig. »War Tante Anne nicht lieb zu dir?«

»Nein«, antwortete Binchen spontan. »Sie ist garstig und ekelhaft. Und Onkel Fred auch. Ich mag nicht mehr zu ihnen zurück.« Sie schaute zu Denise auf. »Kann ich nicht bei dir bleiben?«

Diese flehende Kinderbitte rührte Denise fast zu Tränen.

»Ich würde dich ja so gern hierbehalten …«

Binchen schluckte. »Tust du es nicht?«

Nun musste auch Denise schlucken. Erst dann konnte sie antworten: »Das darf ich nur, wenn deine Tante und dein Onkel einverstanden sind, Binchen.«

»Oh.« Grenzenlose Enttäuschung lag im Blick des Kindes. »Sie lassen mich doch nie weg. Nicht einmal zu meiner Mutti.« Bewundernd schaute sie zu Denise empor. »Sie ist genauso schön wie du.«

Denise und Frau Rennert horchten auf. »Deine Mutti?«

Binchen nickte und senkte die Lider.

»Ich dachte, sie sei Waise«, sagte die Heimleiterin leise zu Denise.

Die nickte. Dann wandte sie sich wieder an Binchen. »Weißt du, wo deine Mutti ist?«

»Freilich! Ich wollte doch zu ihr.« Das Stimmchen begann bedenklich zu schwanken. »Sie sagen immer, meine Mutti ist verrückt. Sie ist aber nicht verrückt. Das weiß ich ganz genau.« Besorgt klammerte sie sich an Denises Arm. »Du glaubst mir doch?«

»Ich glaube dir, Binchen. Aber kannst du uns nicht sagen, wo deine Mutti ist?«

»In einem Krankenhaus. Es ist groß und schön und hat einen Garten. Gar nicht weit weg von hier.«

»Die Nervenklinik«, entfuhr es Frau Rennert. Auch Denise hatte daran gedacht. Offensichtlich befand sich die Mutter des Kindes in der nahen Nervenheilanstalt.

Binchen blickte misstrauisch zu der Heimleiterin. »Sie ist aber nicht verrückt.«

»Das glauben wir ja auch gar nicht«, versicherte Frau Rennert rasch. »Magst du noch ein Glas Milch?«

Doch Binchen schüttelte eigensinnig den Kopf. »Ihr wollt mich wieder zu Tante Anne bringen, nicht wahr?«

Unter dem anklagenden Kinderblick wurde Denise verlegen. Natürlich musste sie Binchen zurückbringen. Gegen den Willen der Verwandten konnte sie das Mädchen nicht behalten. Damit hätte sie sich strafbar gemacht. Einen Ausweg gab es nur dann, wenn die Verwandten das Kind misshandelten. Dann konnte sie etwas unternehmen.

Denise fragte Binchen noch einmal nach ihrer Tante. Die Kleine hatte nun alle Scheu verloren und erzählte freimütig. »Immer schlägt sie mich«, berichtete sie. »Wenn sie sagt: ›Komm her!‹, dann muss ich sofort rennen.«

»Und wenn du es nicht tust?«, fragte Denise.

»Dann bekomme ich gleich zwei Ohrfeigen. Oder ich kriege nichts zu essen.« Binchens Gesichtsausdruck wurde gequält. »Und wenn ich nach meiner Mutti frage, dann schlägt sie mich auch. Oder sie sagt, Mutti ist verrückt.« Offensichtlich quälte diese Behauptung das Kind am meisten.

»Da muss man doch etwas unternehmen, Frau von Schoenecker«, meinte Frau Rennert erschüttert.

Denise schaute die Heimleiterin an. »Ja, aber es wird nicht einfach sein. Ich weiß noch gar nicht, wie ich es anfangen soll.«

»Sprechen Sie mit Ihrem Rechtsanwalt«, riet Frau Rennert.

»Jetzt bringt ihr mich wieder zu ihr zurück, gelt?«

Mit einem Seufzer zog Denise das Kind wieder auf ihren Schoß. »Das müssen wir leider tun, Binchen. Ich würde dich gern hierbehalten. Aber ich darf es nicht.«

»Kannst du mich auch nicht zu meiner Mutti bringen?«

»Nein, das geht leider auch nicht. Aber ich werde versuchen, dir zu helfen. Das verspreche ich dir.«

Forschend blickte die Kleine zu Denise auf. »Wirklich?«

»Ganz bestimmt, Binchen. Du musst nur ein wenig Geduld haben. Versprichst du mir das?«

Eifriges Nicken. »Ja. Ich will jeden Tag auf dich warten. Irgendwann holst du mich doch, oder?«

»Ich werde es versuchen, Binchen. Aber es wird nicht so schnell gehen. Du darfst also nicht enttäuscht sein, wenn es ein bisschen dauert.«

»Nein«, sagte das Kind gehorsam. »Wenn sie mir nur meine Hunde nicht wieder wegnimmt.«

»Ich werde es deiner Tante sagen.« Denise ging, um Anne Zimmermann anzurufen.

Zwanzig Minuten später traf Binchens Tante ein. Denise blieb ruhig und höflich.

Doch auf diesen Ton ging Anne Zimmermann nicht ein. Sie stürmte in Denises Zimmer. Dort saß Binchen verschüchtert auf der Couch. Die Hunde lagen zu ihren Füßen.

»Du undankbares, ungezogenes Ding!«, schrie Anne Zimmermann. Dann packte sie Binchen hart am Arm, riss sie empor. »Steh auf! Und zwar ein bisschen dalli!«

Da griff Denise ein. »Bitte behandeln Sie das Kind etwas rücksichtsvoller, Frau Zimmermann.«

»Halten Sie sich da raus«, schnappte Anne Zimmermann.

»Das kann ich leider nicht. Ich habe das Kind gefunden …«

»Gefunden?«, unterbrach Anne sie. »Versteckt haben Sie es.«

»Gegen diese Beschuldigung muss ich mich strengstens verwahren, Frau Zimmermann. Und wenn Sie das Kind weiter so misshandeln …«

Wieder wurde sie unterbrochen. »Sie wollen mir also drohen?« Annes Augen funkelten hinterhältig.

»Ja, genau das will ich«, antwortete Denise mit Würde. »Gegen Kindesmisshandlung können auch Außenstehende etwas unternehmen. Ich glaube, das Fürsorgeamt wird sich dafür interessieren.«

Mit der Fürsorge oder dem Jugendamt wollte Anne nichts zu tun haben. Sie ließ Binchen los. »Na gut, Frau von Schoenecker.« Sie betonte den Namen auf eine unangenehme Weise. »Dann werde auch ich den zuständigen Behörden einen Hinweis geben.«

Denise schaute fragend auf. Sie verstand nicht, worauf Anne Zimmermann hinauswollte.

»Schließlich steht fest, dass Sie ein fremdes Kind einen ganzen Nachmittag lang versteckt gehalten haben.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Binchen da mit ihrer hellen Kinderstimme. »Ich habe mich ganz allein versteckt. Diese Tante hat überhaupt nicht gewusst, dass ich hier bin.«

Anne warf dem Kind einen drohenden Blick zu. Komm mir nur erst nach Hause, sollte diese Warnung wohl heißen.

Binchen verstand. Sie lief zu Denise und klammerte sich an deren Rock. »Ich will hierbleiben!« Helle Panik klang aus ihrer Stimme. »Bitte, bitte, lass mich hier!«

Denise legte schützend ihren Arm um die zuckenden Schultern des Kindes. Schon überlegte sie, ob sie es wagen konnte, Binchen zu behalten, da riss Anne Zimmermann das Kind von ihr weg. »Ich habe keine Lust, mir dieses Theater länger anzusehen. Wir gehen!« Binchen energisch mit sich ziehend, stürmte sie zur Tür.

Einige Schritte lief Denise ihr nach. Dann blieb sie zurück. Sie wusste, es hatte keinen Zweck. Sie konnte das Kind nicht gegen Annes Willen behalten. Wahrscheinlich hätte Anne Zimmermann es dann mit der Polizei geholt. Damit war dem Mädchen nicht geholfen. Hier musste sie andere Wege beschreiten. Also nahm sie sich vor: Gleich morgen will ich mit meinem Anwalt sprechen.

*

Schon am nächsten Vormittag saß Denise ihrem Anwalt, Dr. Lutz Brachmann, einem alten Freund des Hauses, gegenüber. »Du hast völlig richtig gehandelt«, bestätigte er ihr. »Gegen den Willen des Erziehers, Vormundes oder Verantwortlichen darfst du ein fremdes Kind nicht behalten.«

»Auch dann nicht, wenn es von seinen Angehörigen misshandelt wird?«, fragte Denise.

»Auch dann nicht. Dann ist es deine Pflicht, das Jugendamt einzuschalten.«

»Rätst du mir in diesem Fall dazu?« Denise schaute ihn fragend an.

Dr. Brachmann wiegte den Kopf. »Ich werde zunächst Erkundigungen einziehen. Dann besprechen wir unser Vorgehen noch einmal.«

Denise erhob sich. »Damit bin ich einverstanden. Bitte, rufe mich an, sobald du etwas herausgefunden hast.« Denise verabschiedete sich von dem Anwalt, der ihre beste Freundin geheiratet hatte.

Noch am gleichen Tag begann Dr. Brachmann mit seinen Nachforschungen. Dabei stieß er auf einen jüngeren Kollegen. Einen sehr erfolgreichen, aber auch sehr gefürchteten Anwalt, Marcel Aschmann. Auch er interessierte sich für die Verhältnisse in dieser Familie und war gern bereit, mit Dr. Brachmann zusammenzuarbeiten.

Schon einen Tag später rief Dr. Brachmann Denise an. »Ich habe eine Neuigkeit, Isi. Die Familie Zimmermann ist sehr, sehr vermögend. Und weißt du, wem das Riesenvermögen gehört? Der fünfjährigen Sabine Zimmermann.«

Denise musste sich setzen. »Nun beginne ich zu verstehen.«

»Nicht wahr?« Lutz blätterte in seinen Notizen. Dann fuhr er fort: »Als Sabines Vater starb, hinterließ er alles dem Kind. Seinen beiden Geschwistern Fred und Anne vermachte er gar nichts. Sie besitzen nur das Wohnrecht in dem alten Haus.«

»Ich nehme an, die Mutter sollte das Vermögen des Kindes verwalten«, vermutete Denise.

»Ganz richtig«, bestätigte Dr. Brachmann. »Das war den geldgierigen Geschwistern ein Dorn im Auge. Sie begannen die sensible junge Frau zu quälen. Schließlich ließen sie Miriam Zimmermann für verrückt erklären.«

»Nicht zu fassen«, entfuhr es Denise.

»Allerdings. Damit war der Weg zu dem Kind frei. Aber auch der Weg zu dem Geld. Denn der Vormund des Kindes soll gleichzeitig das Vermögen verwalten. So hat es Sabines Vater in seinem Testament festgelegt.«

»Also geht es wieder einmal ums Geld«, murmelte Denise. »Deswegen legen die Geschwister also so großen Wert darauf, das Kind zu behalten.«

»Natürlich! Nur deswegen.«

»Ich möchte diese Miriam Zimmermann besuchen. Glaubst du, dass man mich zu ihr lassen wird?«, fragte Denise.

»Ich kann mit dem Chefarzt der Nervenheilanstalt sprechen«, schlug Lutz vor. »Wenn es dir recht ist, vereinbare ich gleich einen Termin.«

»Bitte, tu das«, bat Denise.

*

Binchen stand am Fenster des großen alten Hauses. Sehnsüchtig blickte sie in die Richtung, in der Sophienlust lag. Im Arm hielt sie eine abgegriffene Stoffpuppe. Mit der unterhielt sie sich. »Glaubst du, Dolly, dass sie ihr Versprechen hält? Die anderen Kinder haben sie alle Tante Isi gerufen. Sie ist genauso schön wie meine Mutti. Wie unsere Mutti, Dolly.« Sie streichelte das Stoffpüppchen zärtlich. Dann sprach sie wieder von Denise. »Weißt du, dass sie mich auch gestreichelt hat? So richtig lieb und zärtlich, wie Mutti es früher immer getan hat.«

Binchen war ganz allein im ersten Stock. Trotzdem sprach sie im Flüsterton. Die hohen Räume des alten Hauses flößten ihr Angst ein. Schon immer hatte sie Furcht in diesen Mauern empfunden. Doch früher war ja die Mutter bei ihr gewesen.

Da rief eine schrille Stimme: »Binchen!«

Das Kind antwortete nicht. Es drückte sich nur ängstlich in die Fensternische.

»Sabine, hörst du mich nicht?« Die Stimme klang nun drohend. »Komm sofort herunter! Ich weiß, dass du dort oben bist.«

Binchen hopste von der Fensterbank und lief zur Treppe. Auf dem ersten Treppenabsatz stand ihre Tante. »Kannst du nicht sofort kommen, wenn man dich ruft?« Anne riss Binchen die Puppe aus dem Arm.

»Meine Dolly!«

Da flog das Spielzeug auch schon auf den Boden des dunklen Ganges. Ein Klaps traf Binchen am Hinterkopf. »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht mit dieser schmutzigen, alten Puppe spielen?«

Binchen begann leise zu weinen. Gerade diese Puppe liebte sie über alles. Sie war von der Mutter.

»Hör auf zu heulen. Sonst gibt es nichts zu essen. Hinunter mit dir. Und wasch dir die Hände ordentlich!«

Als Binchen am Tisch saß, konnte sie vor Erregung nichts herunterschlucken. Schon spürte sie ein seltsames Würgen in der Kehle. Ihre Augen weiteten sich angstvoll. Nur das nicht. Ein einziges Mal hatte sie sich übergeben müssen. Dafür hatte die Tante sie halb totgeprügelt.

Da wurde Anne auch schon aufmerksam. »Was ist los mit dir? Schluck die Suppe hinunter.«

Binchen schluckte und schluckte. Es wollte nicht gehen.

»Wenn du hier etwas schmutzig machst, dann kannst du etwas erleben«, drohte Anne.

Da mischte sich Fred ein. »Nun bring sie doch endlich hinaus. Du siehst doch, dass sie nichts hinunterbringt.«

»Nichts hinunterbringt«, brüllte Anne. »Natürlich kann sie die Suppe schlucken. Sie will bloß nicht. Reine Boshaftigkeit. Aber ich werde ihr schon Gehorsam beibringen. Und wenn es mit dem Knüppel ist.« Sie packte Binchen, riss sie vom Stuhl und schleppte sie hinaus.

Vor Angst konnte Binchen sich nicht mehr auf den Beinen halten. Sie brach zusammen. Neben der Toilette.

Anne war bereits ins Esszimmer zurückgegangen.

»Hast du sie allein gelassen?«, fragte Fred.

»Selbstverständlich. Sie ist doch alt genug. Soll ich vielleicht auch noch zusehen, wie sie sich übergibt?«

Er antwortete nicht sofort. »Behandle sie nicht allzu streng«, riet er dann.

»Nanu? Seit wann hast du Mitleid mit der Göre?«

»Ich habe kein Mitleid mit ihr. Ich denke nur daran, dass wir das Kind noch brauchen. Nur solange wir Binchen haben, können wir auch über das Geld verfügen. Wenn man sie uns wegnimmt …«

»Warum sollte man sie uns wegnehmen?«, unterbrach Anne ihren Bruder.

»Vielleicht, weil wir sie schlecht behandeln.«

»Das weiß doch niemand.«

»Aber es könnte herauskommen«, gab er zu bedenken.

Anne schaute ihren Bruder streng an. »Du verlierst doch hoffentlich nicht die Nerven?«

»Aber nein«, wehrte er ungeduldig ab. »Glaubst du, ich will jetzt auf einmal in Armut leben? Nur weil unser Bruder so ein albernes Testament aufgestellt hat?« Er schüttelte missbilligend den Kopf. »Ein kleines Kind als Universalerbin einzusetzen, auf so eine Schnapsidee konnte wirklich nur er kommen.«

»Es ist doch sonnenklar, wer dahintersteckt«, stichelte Anne. »Miriam natürlich. Sie hatte es doch von Anfang an nur auf das Geld unseres Bruders abgesehen. Ich frage mich noch heute, wie er diese Frau heiraten konnte.«

»Du vergisst, dass Miriam sehr schön ist.« Fred zog gedankenverloren an seiner Zigarette.

Misstrauisch schaute Anne auf. Sie hielt sich selbst für schön. »Ist das dein Ernst? Miriam und schön?«

»Natürlich ist sie das, meine Liebe. Was wahr ist, ist wahr.«

»Ich glaube fast, sie gefällt dir noch?«

»Hätte ich dir dann geholfen, Anne? Du konntest sie doch nur mit meiner Hilfe in das Irrenhaus bringen.«

»Nun verdrehe bitte nicht die Tatsachen. In die Anstalt haben wir sie gemeinsam gebracht. Daran haben wir beide den gleichen Anteil.« Sie fuhr erschrocken zusammen, als sich die Tür in ihrem Rücken öffnete. »Was ist denn nun schon wieder? Kann man nicht einmal in Ruhe essen?«

»Das Kind ist auf der Toilette zusammengebrochen«, berichtete die Haushälterin.

»Auch das noch.« Anne wollte sich erheben. »Mit dieser Göre hat man wirklich nichts als Ärger.«

Fred mischte sich ein. »Dann tun Sie doch etwas«, fuhr er die Haushälterin an. »Bringen Sie Binchen ins Bett.«

»Das habe ich bereits getan. Ich wollte nur fragen, ob ich den Arzt rufen soll.«

»Den Arzt?« Fred hob die Augenbrauen. »Das Kind ist doch nicht krank.«

»Es ist ohnmächtig geworden«, beharrte die Haushälterin.

»Das werden Kinder in dem Alter oft«, bemerkte Anne leichthin. »Kochen Sie ihr einen Kamillentee.«

»Sehr wohl!« Die Haushälterin verließ schleunigst das Zimmer. Sie schaute nach dem Kind. Ganz still lag Binchen in ihrem Bett.

»Geht es dir schon ein bisschen besser, Binchen?«

Binchen antwortete nicht. Sie hatte die Bettdecke bis zum Kinn gezogen. Nur das blasse Gesichtchen mit den ängstlichen großen Augen lugte hervor. »Hast du meine Dolly gefunden?«

»Ach ja, natürlich.« Die Haushälterin griff in ihre große Schürzentasche. »Hier.« Sie legte die Stoffpuppe aufs Bett.

Ein schwaches Leuchten überzog das Kindergesicht. Binchen tastete nach der geliebten Puppe. »Und meine zwei Hunde?«, erkundigte sie sich nun.

»Du weißt doch, dass Tante Anne dir nicht erlaubt, sie mit auf dein Zimmer zu nehmen.«

»Bestimmt fürchten sie sich. Sie sind doch ganz allein in dem alten Schuppen.«

»Ach wo«, tröstete die Haushälterin das Kind. »Hunde fürchten sich nie. Sobald es dir wieder besser geht, darfst du ja auch im Garten mit ihnen spielen.«

Diese Aussicht tröstete Binchen. »Ich habe mir zwei Namen ausgedacht. Willst du sie hören?«

»Ja, gern.«

»Bingo und Bongo. Bingo ist der helle und Bongo der dunkle Spaniel. Gefallen sie dir?«

»Ja, ich glaube, sie gefallen mir.«

»Fein«, freute sich Binchen. »Aber du darfst sie nicht Tante Anne verraten.«

»Nein. Wenn du es nicht willst, verrate ich die Namen nicht.«

Binchen nickte zufrieden.

*

Miriam Zimmermann zählte zu den leichten Fällen. Sie bewohnte ein normales Zimmer. Keine Gitter vor dem Fenster. Auch die Tür war nicht verschlossen. Deshalb bekam Denise von Schoenecker auch sofort Besuchserlaubnis.

Vor dem Fenster standen zwei Stühle und ein Tisch. Dort saß eine junge Frau. Als es klopfte, wandte sie den Kopf.

»Guten Tag, Frau Zimmermann.« Denise schloss die Tür hinter sich.

Miriam erhob sich. Die Schwester hatte sie auf diesen Besuch vorbereitet. Denise blickte in zwei klare schöne Augen. Keine Spur von Unsicherheit konnte sie darin entdecken. Sie nannte ihren Namen. Dann reichte sie der jungen Frau die Hand.

Miriam erwiderte die Begrüßung mit festem Händedruck. »Bitte, nehmen Sie Platz, Frau von Schoenecker.«

Denise setzte sich auf den zweiten Stuhl. Einen Moment lang schwieg sie. Sie wollte der jungen Frau Zeit lassen, sich zu sammeln. Doch das erwies sich als unnötig. Miriam selbst eröffnete das Gespräch. Sie sprach klar und deutlich. »Die Schwester hat mir erzählt, dass Ihnen das Kinderheim hier in der Nähe gehört.«

»Eigentlich gehört es meinem Sohn Dominik. Ich verwalte es nur bis zu seiner Großjährigkeit.«

»Ich verstehe.« Miriam blickte sehnsüchtig aus dem Fenster. »Es muss schön sein, sich den ganzen Tag mit Kindern beschäftigen zu können.«

»Das ist es. Aber es bringt auch viele Schwierigkeiten mit sich.«

»Die würde ich gern in Kauf nehmen. Wenn ich nur hier herauskönnte.«

»Vielleicht kann ich Ihnen dazu verhelfen«, sagte Denise schnell.

Miriam Zimmermann hob überrascht den Kopf. »Sind Sie deshalb gekommen?«

»Auch. In erster Linie aber komme ich wegen Binchen.« Denise sah, wie Miriam zusammenzuckte. Sie wollte die junge Frau nicht länger auf die Folter spannen. »Binchen ist ihrer Tante und ihrem Onkel davongelaufen«, berichtete sie rasch. »Sie kam zu uns nach Sophienlust.«

Miriams Wangen röteten sich. »Bitte, erzählen Sie mir alles. Wie geht es meinem Kind?«

Aus diesen Worten sprach die besorgte Mutter. Denise erzählte ihr alles. Jedes Wort von Binchen. Sie zögerte auch nicht, Annes Benehmen zu kritisieren.

Ein Schatten fiel über Miriams Gesicht. Dann begann die junge Frau zu sprechen. Sie schilderte ihr Leben in dem großen alten Haus. Alle Qualen, die die Geschwister Zimmermann ihr zugefügt hatten. Und wie es schließlich zu der Einweisung in die Nervenheilanstalt gekommen war.

»Ihnen ging es von Anfang an nur um das Vermögen«, sagte Miriam abschließend. »Ich hätte ihnen das ganze Geld ja gern gegeben, um meinen Frieden zu haben. Aber das durfte ich nicht. Schließlich gehört das Vermögen ja meiner Tochter. Nicht mir.«

Denise nickte. »Ich darf Ihnen etwas bestätigen, Frau Zimmermann. Ich halte Sie für völlig normal. Sie sind ein Opfer Ihrer geldgierigen Verwandten geworden.«

»Ja, das bin ich. Aber wenn man einmal hier drin ist, kommt man nicht so schnell wieder heraus.«

»Das wollen wir erst einmal sehen«, erwiderte Denise kampflustig. »Mit meiner Hilfe können Sie rechnen. Was in meiner Macht steht, werde ich für Sie tun. Gibt es außer Ihrer Schwägerin und Ihrem Schwager jemanden, der Sie früher kannte?«

Miriam überlegte. »Ich weiß nicht. Mir fällt niemand ein. Ich habe in dem großen Haus an der Seite meines Mannes sehr einsam gelebt. Warum fragen Sie?«

»Es müsste jemand sein, der Sie für völlig normal hält. Den Sie vielleicht schon vor Ihrer Ehe gekannt haben.«

Miriam schwieg einen Augenblick. »Es gibt da jemand …« Sie brach wieder ab. »Aber ich weiß nicht, ob es richtig ist, überhaupt von ihm zu sprechen.«

»Vielleicht kann uns gerade dieser Mensch helfen«, drängte Denise.

»Es ist ein Mann, den ich einmal sehr geliebt habe.« Miriam senkte unwillkürlich den Blick. »Ich kannte ihn vor meiner Ehe.« Es fiel ihr sichtlich schwer, darüber zu sprechen.

»Glauben Sie, dass dieser Mann noch hier in dieser Gegend wohnt?«

»Ganz sicher. Er ist sogar ein berühmter Anwalt geworden.«

Denise horchte auf. Schon einmal hatte sie in diesem Zusammenhang von einem gefürchteten Anwalt gehört. »Würden Sie mir seinen Namen nennen?«

»Marcel Aschmann.«

Er war es!

Denise erhob sich. »Wenn es Ihnen recht ist, werde ich mit Herrn Aschmann sprechen.«

Miriam zuckte unsicher mit den Schultern. »Wenn Sie es für richtig halten …«

»Ja. Ich werde Sie bald wieder besuchen.« Denise schüttelte Miriam herzlich die Hand. Anschließend sprach sie mit dem Chefarzt der Klinik. Sie sagte ihm offen, dass sie Miriam Zimmermann für völlig normal halte. Und sie schilderte ihm die Verhältnisse im Hause Zimmermann.

Der Arzt nickte. »Ich kenne die Zusammenhänge, Frau von Schoenecker.«

Denise horchte auf. »Gibt es noch jemand, der sich um Frau Zimmermann bemüht? Sie sagte mir nichts davon.«

»Es gibt jemand, der die gleichen Interessen hat wie Sie. Doch davon weiß Miriam Zimmermann nichts. Es ist Herr Dr. Aschmann.«

Nun war Denise wirklich erstaunt. Zum zweiten Mal an diesem Tag begegnete ihr der Name Aschmann. Wollte der Rechtsanwalt seiner Jugendliebe wirklich helfen? Oder bewegten auch ihn andere Interessen?

»Sie sollten mit Herrn Dr. Aschmann sprechen«, hörte Denise den Arzt sagen.

»Ja, das will ich tun.« Dann stellte sie die Frage, die ihr so am Herzen lag. »Sagen Sie, Herr Doktor, besteht eine Chance, dass Frau Zimmermann die Klinik eines Tages wieder verlassen darf?«

»Ja, Frau von Schoenecker. Diese Aussicht besteht. Miriam Zimmermann ist unser leichtester Fall. Eigentlich ist sie gar kein Fall. Und meine Kollegen sind in diesem Punkt mit mir einer Meinung.«

»Dann werden Sie sie also irgendwann entlassen, Herr Doktor?«

»Ja. Einige Zeit möchte ich sie noch beobachten, um mir meiner Sache völlig sicher zu sein. Aber ich zweifle nicht mehr daran, dass Frau Zimmermann normal ist.«

»Ich danke Ihnen.« Ungemein erleichtert verabschiedete sich Denise von dem Arzt.

Gleich anschließend telefonierte sie mit Dr. Brachmann. Er nannte ihr die Adresse von Marcel Aschmann. »Wenn es dir recht ist, vereinbare ich einen Termin für dich«, schlug er vor.

Damit war Denise einverstanden. »Ich möchte Herrn Dr. Aschmann so bald wie möglich sprechen«, erklärte sie.

Noch am gleichen Abend rief Dr. Brachmann auf Gut Schoeneich an. Er hatte schon für den nächsten Morgen einen Termin zwischen Denise und Marcel Aschmann vereinbart.

*

In Dr. Marcel Aschmann lernte Denise am nächsten Morgen einen ganz außergewöhnlichen Mann kennen. Er sah aus wie ein Filmstar aus Hollywood. Doch in seinen Worten steckte geballte Energie. Sie konnte sich gut vorstellen, wie gefährlich dieser Mann als Gegner sein musste. Dabei war er noch verhältnismäßig jung. Dreiunddreißig Jahre.

Er erhob sich, als sie eintrat »Frau von Schoenecker?«

»Ja.« Sie reichte ihm die Hand.

»Aschmann.« Er machte eine knappe Verbeugung. »Bitte, nehmen Sie doch Platz.«

Das Büro war sehr geschmackvoll eingerichtet. Doch wer Marcel Aschmann gegenübersaß, achtete nicht mehr auf die Einrichtung. Dieser Mann wirkte wie ein Magnet.

»Ihr Anwalt hat mir schon angedeutet, was Sie zu mir führt, Frau von Schoenecker.« Seine dunklen Augen fixierten sie scharf. »Sie haben Frau Zimmermann kennengelernt? Ich spreche von Miriam Zimmermann.«

Denise bestätigte es. Sie schilderte kurz, wie es zu der Bekanntschaft mit der Familie Zimmermann gekommen war.

Marcels Lippen bildeten einen schmalen harten Strich. Doch sie wurden weich, als Denise von Binchen sprach. Er ließ sich das Kind beschreiben. »Sie wissen ja sicher, dass ich einmal sehr eng mit Miriam Zimmermann befreundet war«, erwähnte er. »Ich hatte gehofft, sie würde meine Frau werden. Doch es hatte wohl nicht sein sollen. Bitte, fahren Sie doch fort.«

Denise beschrieb nun ihren Besuch in der Klinik. Auch diese Schilderung machte sein strenges Gesicht vorübergehend weich.

»Ich selbst habe Miriam seit sechs Jahren nicht mehr gesehen«, bemerkte er.

»Darf ich mir eine Frage erlauben, Herr Dr. Aschmann?«

»Bitte, gnädige Frau.«

»Woher wussten Sie von Miriam Zimmermanns Schicksal?«

Er lächelte schwach. Das machte ihn noch anziehender. Warum ist so ein Mann nicht verheiratet?, fragte sich Denise flüchtig. Wegen Miriam?

»Ich habe all die Jahre hindurch meine erste große Liebe nicht vergessen können. Natürlich hat es Frauen gegeben. Doch nichts konnte meine Gefühle für Miriam auslöschen. Deshalb habe ich ihr Schicksal weiterverfolgt. Auch nach ihrer Ehe noch. Dann hörte ich, dass sie in diese Klinik gebracht worden sei. Ich konnte nicht glauben, dass sie wirklich geisteskrank ist. Deshalb zog ich Erkundigungen ein und sprach auch mit dem Chefarzt der Nervenheilanstalt.« Er schaute Denise an. »Welchen Eindruck hat Frau Zimmermann auf Sie gemacht?«

»Einen völlig normalen«, antwortete Denise spontan.

Er nickte. »Das hat mir auch der Arzt bestätigt. Ich hoffe, dass man sie bald wieder entlässt.«

»Dann verfolgen wir das gleiche Ziel, Herr Dr. Aschmann.«

Er schaute sie an. »Ich würde gern mit Ihnen Hand in Hand arbeiten. Sind Sie einverstanden, Frau von Schoenecker?«

»Ich könnte mir keinen besseren Partner wünschen«, entgegnete Denise lächelnd. Dann wurde sie ernst. »Ich sorge mich sehr um Binchen.«

Er schaute fragend auf. Dann verstand er. »Natürlich, das ist Sabines Kosename. Auch ich sorge mich um das Kind. Und ich habe auch schon die Behörden auf die Verhältnisse im Hause Zimmermann aufmerksam gemacht. Doch bisher stand ich vor einem Problem.«

Jetzt schaute Denise ihn fragend an.

»Wo soll das Mädchen hin? Wenn das Kind wirklich misshandelt wird, nimmt man es den Geschwistern Zimmermann weg. Aber ob Sabine sich in einem Heim wohlfühlt?«

»In Sophienlust würde sie sich bestimmt wohlfühlen«, sagte Denise schnell. »Sie wollte ja damals schon bei uns bleiben.«

Marcel lächelte. »Das glaube ich Ihnen gern. Ich habe mich erkundigt. Das ist nun mal so meine Art. Ihr Heim soll ja das reinste Paradies für Kinder sein.«

*

Binchen spielte mit Bingo und Bongo im Garten. Auch ihre Puppe Dolly hatte sie bei sich. Sie unterhielt sich mit ihr.