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Systemische Therapie und Beratung

In den Büchern der Reihe zur systemischen Therapie und Beratung präsentiert der Carl-Auer Verlag grundlegende Texte, die seit seiner Gründung einen zentralen Stellenwert im Verlag einnehmen. Im breiten Spektrum dieser Reihe finden sich Bücher über neuere Entwicklungen der systemischen Arbeit mit Einzelnen, Paaren, Familien und Kindern ebenso wie Klassiker der Familien- und Paartherapie aus dem In- und Ausland, umfassende Lehr- und Handbücher ebenso wie aktuelle Forschungsergebnisse. Mit den roten Bänden steht eine Bibliothek des systemischen Wissens der letzten Jahrzehnte zur Verfügung, die theoretische Reflexion mit praktischer Relevanz verbindet und als Basis für zukünftige nachhaltige Entwicklungen unverzichtbar ist. Nahezu alle bedeutenden Autoren aus dem Feld der systemischen Therapie und Beratung sind hier vertreten, nicht zu vergessen viele Pioniere der familientherapeutischen Bewegung. Neue Akzente werden von jungen und kreativen Autoren gesetzt. Wer systemische Therapie und Beratung in ihrer Vielfalt und ihren transdisziplinären und multiprofessionellen Zusammenhängen verstehen will, kommt um diese Reihe nicht herum.

Tom Levold
Herausgeber der Reihe Systemische Therapie und Beratung

Jürgen Kriz
Fritz B. Simon

Der Streit ums Nadelöhr

Körper, Psyche, Soziales, Kultur.
Wohin schauen
systemische Berater?

Herausgegeben von Matthias Ohler

2019

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Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe: »Systemische Therapie und Beratung«

hrsg. von Tom Levold

Reihengestaltung: Uwe Göbel

Umschlagfoto: © pixabay

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2019

ISBN 978-3-8497-0313-4 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8202-3 (ePUB)

© 2019 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Carl-Auer Verlag GmbH

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Tel. +49 6221 6438-0 · Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Vorwort

Das Nachwort als Ouvertüre

Der Vormittag

Leitunterscheidungen

Uexkülls Sommerwiese: Umgebung versus Umwelt

Der Mensch – animal symbolicum. Befund und Befindlichkeit

Innen und außen. System – Umwelt. System – Lebenswelt. Wozu Theorien?

Das Nadelöhr: Subjekt

Verstehen

Ebenen des Verstehens und Unterscheidens

Prozessebenen und Einflüsse

Beispiel: Massaker, Waffen, Psychen, Psychotiker

Wo und wie intervenieren?

Relevanz und Irrelevanz der Psyche

System, Umwelt, Aufmerksamkeit – »nur« ein theoretischer Dissens?

Theorie-Dissens und praktische Folgen – Person, Paar, Team, Organisation

Das Nadelöhr – Wohin schauen Therapeuten, wohin Organisationsberater?

Wo geschieht Veränderung, und wodurch? – Personen und Spielregeln

Paare

Familien

Produktion – Kreativität

Austauschbarkeit, Sinn und Motivation

Der menschliche und der gesellschaftliche Anspruch

Austauschbarkeit, Erwartbarkeit, Strukturen auf Dauer

Prämissen des Entscheidens; Funktionalität

Der »ganze Mensch«

Werte, Moral, Systemtheorie: Sein und Sollen – Die Theorie und ihre Anwendung

Personzentrierte Systemtheorie: nicht konkretistisch

Coaching
Beispiel: Burnout

Regeln, ihre Befolger, ihre Kreateure

Entwicklungen im systemischen Feld: personenzentriert, systemorientiert

Psychotherapie und Organisationen

Once again: Austauschbarkeit, die Frage, mit welchen Systemen wir es zu tun haben – Familie, Organisation, Team – und wie wir uns das erklären

Körper

Der Streit um die Anerkennung von Therapiemethoden und -richtungen; Medikalisierung, Manualisierung, Dehumanisierung

Der politische und der ökonomische Kontext: Folgen lausiger Ideologien

Multiple Choice und die gefährliche Trivialisierung des Studiums

Der Nachmittag (1)

Gummibegriff »Beratung«

Die vier Prozessebenen und die Wichtigkeit von Kultur

Das Vorkommen des Beraters im Modell von Beratung

Die Geschlossenheit psychischer Systeme; Folgen für Interventionsideen

Irritation und Musterunterbrechung

Und das Subjekt?

Tiere, Menschen, Bewusstsein, Selbstbewusstsein

Sinnzuschreibung

Personzentrierte Systemtheorie: Die vier Prozessebenen

Kopplung individueller und sozialer Zuschreibungen

Organisation von Psychiatrie, Organisation von Kopplungen

Politik, Ökonomie, Psychen und forschende Pharmavertreter

Ausbildung

Virginia Satirs Sicht

Handwerk und Theorie

Ausbildung: Innen- und Außenperspektive der Beobachtung koppeln

Unterschiede konzeptionalisieren

Wirtschaft, Markt, Symptome

Psychotherapie als soziale Arbeit?

Psychotherapie, Beratung, Coaching als politische Tätigkeiten

Die Organisation der Selbstorganisation von Beratung

Der ganze Mensch und die Psyche

Organismen, Bedeutungszuweisungen und Kommunikation

Vom Bio-Repertoire zur Interaktionsgeschichte Geschlossene Systeme oder Bedeutungszuweisungen?

Saubere Theorien? Rigide Theorien?

Kopplungsforschung oder Interaktion von Prozessebenen – nur ein akademischer Unterschied?

Folgen für die Praxis

Personenorientierung, Sachorientierung, Austauschbarkeit: Teams

Familie, Organisation, Strukturdynamiken

Der Nachmittag (2)

Grausamkeit und Organisation; die Rolle des Subjekts

Luhmanns »Kommunikation« verstehen

Nachschlag

Noch mal zu den Leitunterscheidungen: Subjekt/Lebenswelt oder System/Umwelt? Wohin soll geschaut werden? Versuch einer Zuspitzung

Die entscheidende Frage für Berater, Therapeuten, Verantwortungsträger: Welche Erklärungen verwende ich? Und wo interveniere ich?

Paare und Paartherapie

Trauma

Beschreiben und/oder Erklären: Eine wichtige Unterscheidung?

Alles, was funktioniert, ist systemisch?

Epiloge, oder »Wenn du doch endlich verstehen würdest, dass …«

Über die Autoren

Vorwort

Ein Motto der Carl-Auer Akademie lautet: unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher machen bzw. dazu verhelfen, dass sie stattfindet. In diesem Sinne wird versucht, widersprechende Meinungen und Konzepte und die Personen, die sie vertreten, persönlich ins Gespräch miteinander zu bringen, weil das von selbst eher selten geschieht. Auf diese Weise soll möglich werden, Unterschiede und Widersprüche in theoretischen Entwürfen und in ihren Folgen für die beraterische und therapeutische Praxis sichtbar werden zu lassen – und hoffentlich fruchtbar.

Worin liegt der Nutzen solcher paradigmatischer Kontroversen? Entwicklung lebt von Widersprüchen.

Jürgen Kriz und Fritz B. Simon trafen sich im Jahr 2018, um ihre an unterschiedlichen systemtheoretischen Modellen orientierten Theorien und Praxiserfahrungen zur Verfügung zu stellen und zu diskutieren, möglichst kontrovers, mit Fokus auf Unterschiede. Das soll die Möglichkeit schaffen, dass andere diese Unterscheidungen detailreich kennenlernen und vielleicht ein Modell finden, ähnliche Kontroversen zu eröffnen, zu führen und daraus zu lernen.

Das Label »systemisch« lässt vermuten, es handele sich um eine von anderen Ansätzen klar unterschiedene theoretische und praktische Position oder Haltung. Schon hier beginnen allerdings Kontroversen: Die orthopädische Metapher der Haltung beispielsweise würde Fritz B. Simon eher nicht benutzen. Andere systemische Berater bemühen diese Metapher als zentralen Begriff in ihren Erläuterungen dessen, was systemische von anderen Praxeologien unterscheide.

Das Gespräch wurde in voller Länge aufgezeichnet und von mir, Matthias Ohler, moderiert – zumindest habe ich versucht, es zu moderieren. Die Protagonisten kamen sehr schnell und sehr engagiert in einen Disput, der so spannende Differenzen und Gemeinsamkeiten ins Licht rückte – und manche Gemeinsamkeiten überraschten dabei genauso wie manche Unterschiede –, dass es mir besser schien, dem Ganzen ziemlich freien Lauf zu lassen. Das hat die nachträgliche Arbeit am Transkript der Aufnahme zuerst nicht einfacher werden lassen. Ich habe es aber nicht bereut. Im Gegenteil: Nach einer Weile des Zögerns und Redigierens entschloss ich mich, lediglich Zwischenüberschriften zur thematischen Orientierung einzufügen und ansonsten den Leserinnen und Lesern Gelegenheit zu geben, sich wie an den Tisch dazuzusetzen und wie live dabei zu sein, wenn sich Gespräche in ihrer natürlichen Neigung entwickeln, von einem Gegenstand zum andern zu mäandern, aber immer die Möglichkeit besteht, zurückzuschauen, dorthin, woher man dahin gekommen ist, und damit für neue thematische und konzeptionelle Kopplungen zu sorgen.

Darin liegt gerade der mögliche Gewinn qualitativ hochwertiger Debatten, dass sie nicht gegängelt werden, nicht darauf zugespitzt, etwas zu Gehör zu bringen, das man vielleicht schon hundertmal gehört hat, was ihnen die Chancen raubte, die in der schönen Spontaneität dialogischen Eifers liegen.1 Das führte auch zu der Entscheidung, die eigentliche Schlusssequenz des Originalgesprächs als Ouvertüre an den Anfang zu setzen.

Bei Der Streit ums Nadelöhr handelt es sich nicht um ein Interview klassischen Zuschnitts. Es gibt zwei Gesprächspartner, die beide ausgewiesene Experten ihrer Fachgebiete sind, sich mit einer enormen Anzahl professioneller Aufgaben ausführlich befasst und umfangreiche praktische Erfahrung versammelt haben: Psychiatrie, Familientherapie, Paartherapie, Coaching, Organisationsberatung, Berufspolitik, Verbandsmanagement und vieles mehr. Zudem haben beide im Laufe ihres beruflichen Lebens einige Entwicklungen durchlaufen, die ihre Positionen mindestens touchiert, wenn nicht verändert haben. Das erhöht, wenn man sich grundsätzlichen Fragen zu systemischer Theorie und Praxis widmet, zwangsläufig die thematische Komplexität, in der diese dialogische Spontaneität stattfindet. Und auf diese Weise erhöht sich auch das damit verbundene Risiko, sich immer wieder in neuen Themenfeldern und Fragestellungen wiederzufinden, wonach man sich aber immer aufs Neue fragen kann, wie man dorthin gelangt ist … Hierin liegt ein weiterer Vorteil solcher Dispute, den man nicht unterschätzen sollte: Jeden Tag aufs Neue sind Coachs, Organisationsberater und Psychotherapeuten mit den immer gleichen, aber nicht weniger drängenden Fragen konfrontiert: Mit welchen Systemen habe ich es zu tun? Woher kommt mein Auftrag? Worauf richten wir unsere Aufmerksamkeit? Wo gibt es Chancen, dass Interventionen wirklich greifen? Was tun, wenn sich nichts tut?

Die Personzentrierte Systemtheorie von Jürgen Kriz, die u. a. in der Tradition der Synergetik steht, spricht vom »Nadelöhr des Subjekts«, durch das alle Prozesse hindurchmüssen, um sinnvolle Realität zu generieren. Das Nadelöhr gilt als notwendige Basis für intersubjektive Verständigung.

Die philosophische Tradition des Subjektbegriffs will sich der abstraktere Ansatz, den Fritz B. Simon verfolgt, nicht einkaufen. Es bleibt aber die Frage: Was kann ich ungestraft wegdenken, wenn ich Systeme gleich welchen Typs verstehen und wirksam beraten will?

Die spannende Debatte um leitende Unterscheidungen und deren Folgen für die beraterische und therapeutische Praxis wird hier genauso fundiert und ausführlich wie unterhaltsam und witzig geführt. Sie stellt sich paradigmatisch den Anforderungen, die aus der Unsicherheit des beraterischen Alltags entstehen, mit sicherem Zugriff auf die wunden Punkte, die die Frage der Entscheidung für den Fokus auf Person oder größere Systeme so wichtig machen.

Das ist ausgesprochen lehrreich, insbesondere für solche Berater, Coachs und Therapeuten, die am Anfang ihres beruflichen Lebens stehen. Aber nicht minder interessant ist es für diejenigen, die über langjährige Erfahrung verfügen. Denn damit verfügen sie auch über eben diese Erfahrung, dass sich die Fragen immer aufs Neue stellen, ja: gestellt werden müssen.

Mein herzlicher Dank gilt Vera Kalusche für das sorgfältige und sachkundige Lektorat. Des Weiteren Alexander Eckerlin und Paula Mahlke, die die Gespräche mit großer Achtsamkeit und viel Geduld zunächst transkribiert und dann lesbarer gemacht haben.

Jürgen Kriz und Fritz B. Simon gebührt der Dank für die Bereitschaft, sich diesem Projekt zur Verfügung gestellt zu haben, sowie für die Beherrschung der disputiven Gangarten Schritt – Trab – Galopp bei Zügeln in ruhiger Hand.

Heidelberg, im Sommer 2019
Matthias Ohler

1Als Beispiele seien hier genannt die Gespräche, die Bernhard Pörksen vor dreißig Jahren mit Heinz von Foerster führte (Pörksen, B. /von Foerster, H. [1998/2018]: Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker. Heidelberg: Carl-Auer, 12. Aufl.) und diejenigen von Satuila Stierlin, die sie zum Thema Resilienz führte und die als DVD publiziert wurden (Stierlin, S./Herlo, B. [2007]: Trotz alledem. Formen von Resilienz. DVD in Eigenproduktion).

Das Nachwort als Ouvertüre

OHLERWem außer uns könnte dieses Gespräch nutzen, über den Spaß hinaus, den es uns gemacht hat und den es hoffentlich auch anderen stiftet?

KRIZAlso mich hat es an Reflecting Team erinnert. Das hat ja ein bisschen Ähnlichkeit mit unserem Gespräch: Es schafft Komplexität, verändert damit. Es hat aber auch, wenn du so willst, Modellcharakter, nämlich den Modellcharakter, dass sich zwei Leute oder das Reflecting Team unterhalten können, mit unterschiedlichen Sichtweisen, ohne sich an die Gurgel zu gehen. Sondern mit gegenseitiger Wertschätzung einfach zu sehen: Es gibt unterschiedliche Theorieansätze, wo man nicht entscheiden muss, wer wirklich recht und wer nicht recht hat. Wo man also das ganze maligne Gerangel der derzeitigen Debatten um die »Wissenschaftlichkeit« von bestimmten Psychotherapieansätzen außen vorlassen kann. Wo man anerkennt, dass die Ansätze different sind, aber nur zusammen, in ihrer Gesamtheit, etwas weiterbringen.

Es gäbe vermutlich noch weitere Perspektiven, die man zukünftig auch mit einbeziehen könnte. Diese Komplexität, nicht nur der Welt, sondern auch der Diskurse und der theoretischen Erklärungen, muss ausgehalten werden. Und wenn man sehr viele Dinge liest, wo es immer darum geht, wer hat denn nun recht, hat unser Gespräch schon mal Modellcharakter, in dem Sinne, dass Leute sehen: Aha, da ist ein Autopoietiker, und da ist ein Synergetiker, und jeder hat sein eigenes Zeug daraus gestrickt. Die können sich sehr wohl differenziert auseinandersetzen, sind sich in manchen Dingen einig, sehen in anderen Dingen auch Unterschiede. Die Wertschätzung hat man, glaube ich, durchgespürt – und das ist ein guter Modellcharakter, wie man miteinander umgehen kann. Also gerade in Deutschland, wo zufällig etablierte Ansätze im Augenblick die anderen nur als Konkurrenz sehen und versuchen, diese plattzumachen.

SIMONIch glaube auch, man muss sich über Sachfragen auseinandersetzen können. Und man muss die sachlichen Konflikte von der Person trennen. Deswegen war meine Idee immer, dass man sich nur auf der Basis einer tragfähigen persönlichen Beziehung gut über Sachfragen streiten kann. Nur dann kann man dem anderen sagen: »Du hast ein vermanschtes Theoriekonzept.«

KRIZOhne, dass ich dir etwas ins Gesicht schütten muss.

SIMONSachliche Kontroversen müssen ja die Wertschätzung an der Person des anderen nicht beeinträchtigen. Sie sind auch nicht als Abwertung seiner Arbeit zu verstehen. Ich schätze, zum Beispiel, die Arbeit von Jürgen sehr. Aber es geht um – manchmal nur kleine – Differenzen in Theorie und Praxis. Die Auseinandersetzung über derartige Differenzen gehört für mich zur Professionalität. Diese Feinheiten gehen üblicherweise verloren, wenn wir, wie gerade im Psychobereich, eine ganz starke Schulenbildung haben. Man muss sich in der Regel für die eine oder für die andere entscheiden. Das bekommt dann quasireligiöse Merkmale.

KRIZMit Feindbildern, die dann aufgebaut werden.

SIMONFeindbilder, Gegensätze und Loyalitätsfragen werden hochgepeppt, und die Frage, was denn nun tatsächlich die Gegensätze sind, fällt unter den Tisch und wird gar nicht mehr thematisiert.

Auf der Metaebene kann man aber vieles zusammenfügen. Ich glaube, man kann unterschiedliche theoretische und praktische Modelle erst integrieren, wenn man bereit ist, die Unterschiede zu betonen und sich zu streiten.

KRIZUnd zusammenzufügen.

SIMONMan muss die Konflikte verschärfen und verdeutlichen, damit man sehen kann, welches die Unterschiede sind. Manche erweisen sich als unwichtig, andere als wichtig und zentral, sodass man sie nicht leugnen und um des lieben Friedens willen aufgeben kann.

Das heißt aber nicht, dass man nicht zusammenarbeiten kann. Ich habe ganz viel mit Kollegen zusammengearbeitet, die anderer Meinung waren als ich. Das war für mich immer viel interessanter als allein zu arbeiten, denn ich kenne mich und meine Arbeitsweise ja schon.

KRIZMehr oder weniger.

SIMONIch kenne mich nicht wirklich, aber ein bisschen doch …

KRIZAlso als Subjekt gerade kennst du dich nicht sehr.

SIMONIch weiß schon ganz gut, welche Art von Einfällen bei welcher Art von Problemen oder Klienten ich habe, derentwegen ich in Wiederholungsschleifen gerate. Wenn ich hingegen mit jemandem zusammenarbeite, der einer anderen Theorie folgt, dann kann es entweder sehr mühsam sein, wenn wir darum ringen …

KRIZWer hat recht?

SIMON… wer recht hat oder sich durchsetzt. Ich ringe in der Regel nicht ums Rechthaben. Ich gebe üblicherweise nach, wenn ich mit so jemandem zusammenarbeite, und denke mir meinen Teil, weil es sonst auf Kosten unserer Klienten geht.

Aber es passiert mir auch nur relativ selten, dass ich bereit bin, mit Kollegen oder Kolleginnen zusammenzuarbeiten, von denen ich denke, dass wir uns streiten werden. Aber meistens ist es eher anregend zu sehen: »Oh, da hat jemand eine andere Idee, die sich auch aus einem anderen Deutungsrahmen für das ergibt, was hier gerade passiert!« Dann erlebe ich das als sehr befruchtend, und es kann hoch produktiv sein. Zwei Kollegen, die dieselbe Meinung haben, sollten nie als Team zusammenarbeiten, denn dann könnte jeder von ihnen gleich vor dem Spiegel arbeiten.

Ich glaube an die produktive Kraft von Konflikten.

Wenn man vor der Wahl steht, sich zwischen zwei oder mehr miteinander im Konflikt liegenden sachlichen Optionen oder Alternativen zu entscheiden, muss nicht im Sinne von Entweder-oder entschieden werden, sondern es kann in der – sachbezogenen – Auseinandersetzung eine dritte Position gefunden werden, zum Beispiel eine Sowohl-als-auch- oder auch eine Weder-noch-Lösung. Bezogen auf unseren Konflikt bzw. den Konflikt zwischen unterschiedlichen theoretischen Modellen muss man halt sagen: »Ja, es ist situationsabhängig, welches Modell man verwenden sollte.« In dem Moment, wo wir mit sehr personennahen Systemen arbeiten, Interaktionssystemen, in denen Face-to-Face-Kommunikation stattfindet, macht ein personenorientiertes Systemmodell durchaus Sinn, denn die Spielregeln entwickeln sich als Folge psychischer Eigenarten der Beteiligten. Zentral ist bei der Wahl des Modells stets die Frage: Wer passt sich wem mehr an? Passt sich das soziale System mit seinen Spielregeln den psychischen Strukturen der Teilnehmer an? Das ist, zum Beispiel, in personennahen Systemen wie Familien oder Teams der Fall. In Organisationen und größeren sozialen Systemen, wie z. B. Kulturen, ist das aber umgekehrt; da passt sich die psychische Dynamik den Spielregeln des sozialen Systems an. Daher brauchen wir, um das Verhalten der Beteiligten zu erklären, ein anderes Modell.

Ich kann eine Familie nicht wie eine Organisation anschauen, und eine Organisation nicht wie eine Familie. Gunter Schmidt und ich hatten mal eine Familie in Therapie, da hat der Vater den Sohn abgemahnt. Das war vollkommen absurd. Das funktioniert nicht in Familien. Ein Vater kann seinen Sohn nicht entlassen, auch nicht nach mehrmaliger Abmahnung.

Welches theoretische Modell passt für welche Fragestellung? Die Systemtheorie liefert passende Modelle für unterschiedliche soziale Systeme, aber nicht ein Modell, das für alle passt.

OHLEREntwicklung lebt von Widersprüchen.

KRIZJa, und von dem Zusammenwirken. Das heißt ja nicht: vermanschen oder so! Das ist auch noch mal wichtig zu beachten.

OHLERIch denke, die Begegnung hier war ein Beispiel dafür, was ursprünglich wohl Fritz Simons Idee produzierte, solche Gespräche zu initiieren. Unterschiedspflege soll wieder an Bedeutung gewinnen, und zwar Unterschiedspflege, die direkt erlebbar ist. Also nicht, dass die eine Schule hier ihre Sachen macht und die anderen machen dort ihre Sachen, und gegenseitig befehden sie sich vielleicht oder gründen irgendwelche Organisationen, die diese Fehden für sie austragen. Sondern man ist tatsächlich in der Lage, diese Unterschiede miteinander auszubuchstabieren – und vielleicht auch neue zu entdecken – und dies anderen zur Verfügung zu stellen, damit auch sie den Mut bekommen, Ähnliches selbst zu organisieren und diese Unterschiede anzuschauen, daraus zu lernen.

SIMONDie Schwierigkeit, die ich sehe, ist, dass üblicherweise potenzielle Kontrahenten gar nicht erst miteinander ins Gespräch kommen. Die Freund-Feind-Unterscheidung führt dazu, dass man mit den anderen gar nicht redet. Und falls doch, dann findet man keine gemeinsame Sprache. Wir haben es in unserem Gespräch ja schon gesehen, dass wir den Beschreibungsbegriff unterschiedlich verwenden; oder wie wir Personen definieren. Ich definiere Person anders als du. Daher ist es nur wahrscheinlich, dass man lieber in seiner Sprach- und Denkgemeinschaft bleibt, das heißt, es ist eigentlich ziemlich unwahrscheinlich, dass es zu einer sachbezogenen, fachlichen Auseinandersetzung zwischen Vertretern unterschiedlicher Schulen oder Fachgebiete kommt. Deswegen muss man das organisieren. Selbstorganisiert findet das nicht statt. Wenn man sich auf einem Kongress trifft, macht man bestenfalls Small Talk, oder man trifft sich mit seiner eigenen Clique und bestätigt sich gegenseitig, die anderen seien Idioten. Was meistens ja auch stimmt … Aber das geschieht dummerweise auf allen Seiten, das heißt, alle meinen, die anderen seien Idioten. Und da das so ist, braucht man sich mit ihnen auch nicht auseinanderzusetzen. Das ist das Problem.

Der Vormittag

Leitunterscheidungen

OHLERHerzlich willkommen! Ich freue mich, dass es geklappt hat, zwei Protagonisten der therapeutischen, beraterischen, psychoanalytischen, wie auch immer, Szene zur Carl-Auer Akademie zu bekommen, die bereit sind, ihre Unterschiede in einem hoffentlich kontroversen Gespräch zur Verfügung zu stellen.

Auf der Seite der rechten Hand – um nicht zu sagen: auf der rechten … – Professor Jürgen Kriz, Emeritus der Universität Osnabrück. Ursprüngliche Herkunft, wenn ich das richtig erinnere, Statistik. Und das ist seiner späteren Arbeit zur Beforschung und Befruchtung des psychotherapeutischen Feldes sehr zugutegekommen. Alle möglichen Therapierichtungen, konzeptionelle Hintergründe usw. hat Jürgen Kriz untersucht und erforscht und dabei immer geschaut, was wo heimatfähig wäre und was man dann eventuell kritisieren oder integrieren muss. Jüngste Publikation, und eine Art integrierendes Lebenswerk: Subjekt und Lebenswelt. Personzentrierte Systemtheorie in Psychotherapie, Beratung und Coaching.2

Damit klingt schon ein mögliches kontroverses Thema an. Dazu aber gleich.

Zu meiner Linken, Professor Fritz B. Simon, herkunftsmäßig Arzt, Psychoanalytiker, Psychiater. Später hat sein Fokus sich verschoben auf die Untersuchung, Begleitung und Beratung von Unternehmen und anderen Organisationen. Ich hatte mal gehört, es gebe für ihn über das ganze professionelle Leben einen Schwerpunkt, nämlich die Untersuchung von dysfunktionalen und funktionalen Systemen. Wie könnte man das anders ausdrücken? Wahrscheinlich stimmt’s nicht ganz.

SIMONWas mich fasziniert, ist, wie die Organisation von Prozessen, die wir als selbstverständlich voraussetzen – sei es die Organisation sozialer Prozesse, sei es die psychischer Prozesse – zustande kommt. Der Hintergrund ist, dass ich meine berufliche Laufbahn in der Psychiatrie begonnen habe, und Psychoseforschung ist aus meiner Sicht immer Organisationsforschung. Aber alles, was man im Umgang mit Menschen, die als »verrückt« betrachtet werden, lernt, kann man auch in Unternehmen oder in der Politik anwenden.

OHLERIst es das, was du in deinem letzten Buch als Bildung von Formen bezeichnest?

SIMONEs geht um Organisationsbildung. Und Form … das ist ein Begriff, der, wie ich ihn verwende, voraussetzungsvoll ist. Eine Form steht für eine Einheit aus System und Umwelt. Bezogen auf lebende Systeme heißt das: für ein System und die für sein Überleben relevanten Umwelten.

OHLER Jüngste Publikation: Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen.3 Auch dies ist wie ein Opus magnum eine Zusammenfassung ganz wichtiger Unterscheidungsangebote und Definitionsangebote und was daraus für die Praxis folgen kann.

Ich würde gern damit einsteigen. Mir scheint, es gibt einen Unterschied in Leitunterscheidungen. Wenn ich bei Jürgen Kriz schaue, scheint mir die Rolle des Subjekts sehr prominent zu sein, wie es schon im Titel des Buches anklingt. Es scheint etwas Basales zu sein, die Unterscheidung Subjekt/Lebenswelt. Und mir scheint sich diese Unterscheidung zu unterscheiden von der vielleicht abstrakteren Unterscheidung System/Umwelt, die für dich, Fritz, glaube ich, eine Leitunterscheidung ist.

Wo seht ihr da den Unterschied, bzw. wo würdet ihr sagen: »Da bin ich mit der Leitunterscheidung des anderen nicht so richtig einverstanden.« Jürgen, magst du anfangen?

KRIZNa, ich fange vielleicht erst mal an, meinen gegenwärtigen Standpunkt zu erläutern. Denn noch vor zwei Jahren hätte ich das Buch »Person und Gesellschaft« genannt. Interessanterweise bin ich dann beim Durchdenken auf eine Unterscheidung gestoßen, die ich bis dahin in ihrer Radikalität so nicht gesehen habe.

Es beginnt mit der Frage, die uns Systemiker umtreibt: Was ist eigentlich jeweils die Umgebung für ein System? Die Umgebung eines Systems ist aus Sicht der Naturwissenschaften und der Synergetik, woher ich ja meine Anleihe habe, recht einfach zu fassen. Da gibt es eben bestimmte energetische Kontrollparameter, unter denen ein System sich mit seiner dynamischen Ordnung an die Umgebungsbedingungen adaptiert. Aber das passt natürlich für den Menschen eigentlich überhaupt nicht oder jedenfalls nicht gut. Denn eine essenzielle Unterscheidung für den Menschen ist die Frage: Beschreibe ich eigentlich ein System bzw. die ganze Problematik, über die wir heute noch reden werden, eher aus der Dritte-Person-Perspektive, also von außen? Oder beschreibe ich das von innen, aus der Sicht des Subjekts?

Wenn Fritz also eben sagte: »ein System und die für sein Überleben relevanten Umwelten«, frage ich mich eben: Sind jene Umwelten gemeint, die ein externer Beobachter – beispielsweise ein Organisationsberater – erfasst und beschreibt? Oder sind es die Umwelten aus der Perspektive der beteiligten Subjekte? Da gibt es natürlich Unterschiede. Und ein zentrales Thema, welches mein aktuelles Buch durchzieht, ist, die Komplementarität beider Perspektiven zu beachten. Beide sind essenziell und nicht durch einander zu ersetzen. Gerade Systemiker – und hier noch stärker jene, die sich wie Organisationsberater den Makrosystemen widmen – sind verführt, nur die erste Perspektive, quasi die der »objektiven Beobachter« zu berücksichtigen und die Perspektive der Subjekte auszublenden.

Uexkülls Sommerwiese: Umgebung versus Umwelt

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