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Myriam Revault d’Allonnes

Brüchige Wahrheit

Zur Auflösung von Gewissheiten
in demokratischen Gesellschaften

Aus dem Französischen von
Michael Halfbrodt

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2019 by Hamburger Edition

eISBN 978-3-86854-971-3

© 2019 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-337-7

© der Originalausgabe 2018 by Editions du Seuil

Titel der Originalausgabe: »La Faiblesse du vrai. Ce que la post-vérité fait à notre monde commun«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

»Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt zwar nur eine, aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.«

Franz Kafka, Briefe an Milena

Inhalt

Einleitung

1Im Zeitalter des »Post«: Bestandsaufnahme

Die Ära des »Post«

Umstände

2Wahrheit und Politik, eine bewegte Geschichte

Episode 1: Der Tod des Sokrates und die Folgen …

Macht und Wissen

Meinung und Wahrheit: Die doxa der Griechen

Der politische Diskurs und seine Zweideutigkeiten

Episode 2: Der Name Machiavelli oder der Einbruch des Bösen

3Die Wahrheit des Politischen

Vernunftwahrheiten und Tatsachenwahrheiten

Die Brüchigkeit der Tatsachenwahrheiten

Lüge, Handlungsvermögen und Freiheit

Massenhafte Lügen und Sichtbarkeit des öffentlichen Raumes

Politik und Wahrheitsregime

Politik und Wahrsprechen: Zurück zur parrhesia

4Fiktion und Tun-Können

Macht der Fiktion

Die Imagination der praktischen Möglichkeiten: Eine zu erschaffende Wahrheit

Postfaktisches und Weltverlust

Bibliografie

Zur Autorin

Einleitung

Durch das ständige Auftauchen von Begriffen im Hier und Jetzt, die, kaum erschienen, obsolet machen, was noch tags zuvor als unumstößliche Norm galt, wird die Gegenwart selbst unwirksam: Sie liefert keinerlei Anlass zum Handeln. Also gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder man macht sich, von einem Gefühl des Schwindels ergriffen, daran, wie die Chronisten des Alltäglichen den Anstieg der Bedeutungslosigkeit in seinem Fortgang zu begleiten; oder der Hang zur Philosophie, der – wie seit den Griechen bekannt – darin besteht, vor dem Seienden zu staunen, lässt uns bei Sinn oder Unsinn dessen verweilen, was sich in den Vordergrund der Weltbühne drängt. Die Anforderung ist gewiss nicht neu. »Denken, was uns zustößt«, unter diesem Motto standen die Überlegungen Hannah Arendts. Auf dem Prüfstand der Ereignisse, sagte wiederum Merleau-Ponty, begegnen wir dem Unannehmbaren und wird diese »interpretierte Erfahrung« zu These und Philosophie. Doch ihre ständige Anwesenheit im Realen war nicht zu trennen von einem Eingebettetsein in das Tragische der Geschichte: den totalitären Erfahrungen, dem Bankrott des Kommunismus, dem Sinnlosen als Hintergrund, vor dem sich jeder Wille zu absoluter und universeller Sinngebung abzeichnet.

Gleichwohl scheint es heute so, als hätte sich diese Anforderung umgekehrt: Ist das, was uns zustößt, noch des Nachdenkens wert? Angesichts des Lächerlichen neigen wir zum Misstrauen gegenüber dem, was sich als Denkereignis mit einer realen Macht zur Erschütterung präsentiert. Mittlerweile sind wir mit der »Postwahrheit« konfrontiert, ein Begriff, der die politische Szene und die Medienlandschaft derart durchdrungen hat, dass post-truth 2016 vom ehrwürdigen Oxford Dictionary zum internationalen »Wort des Jahres« erklärt wurde.

Offenkundig stellt der Gedanke, dass wir uns in einem Augenblick, wenn nicht einer Epoche »nach« der Wahrheit befinden, einen signifikanten Bruch hinsichtlich eines der Grundbegriffe der westlichen Metaphysik dar, auf dem obendrein, für den gesunden Menschenverstand, die Selbstverständlichkeit des Realen beruht: Ein Satz gilt dann als »wahr«, wenn er durch seine Übereinstimmung mit dem Seienden verbürgt ist. Zwar äußerte sich das Streben nach Wahrheit auf vielfältige, gegensätzliche, mehr oder minder gelehrte Weise in vielen Bereichen, doch hat die Vielzahl der Ansätze niemals dazu geführt, das »Existenzielle« des Bezugs auf das Wahre infrage zu stellen.

Als seine Geltung und seine Macht von den drei großen Denkern des Argwohns, Nietzsche, Marx und Freud, frontal in Zweifel gezogen wurden, ging es zwar darum, die großen klassischen Problematiken zu verabschieden, die von der unumstößlichen Wahrheit eines zum Fundament erhobenen Subjekts, eines sich selbst transparenten, gegen jede illusorische Sicht der Welt gefeiten Bewusstseins ausgingen. Doch diese radikalen Infragestellungen beseitigten nicht den Wert der Wahrheit, sie attackierten die Illusionen nur, um zu entziffern, was sie verbargen. Sie entmystifizierten zwar »die Wahrheit als Lüge«, aber sie zerstörten nur, um neu aufzubauen. Nicht nur indem sie die Perspektive auf ein neues Wahrheitsverständnis eröffneten, sondern indem sie eine Kunst der Interpretation, des Sinnzugangs erfanden.1 Nietzsches Formel, »Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen«, beseitigt oder zersetzt die Wahrheit nicht, sie bringt zum Ausdruck, dass reine Tatsachen nichts bedeuten. Sie müssen geordnet werden und ergeben nur unter der Voraussetzung Sinn, dass sie entziffert und interpretiert werden. Anders ausgedrückt: Es geschah gerade um der Macht des Wahren willen, dass diese Übung in Argwohn ihre Verfälschungen entlarvte.

Anders verhält es sich mit der »Postwahrheit«, derzufolge – wenn man dem Oxford Dictionary glauben will – die objektiven Tatsachen eine geringere Bedeutung haben als ihre subjektive Einschätzung. Die Fähigkeit des politischen Diskurses, die öffentliche Meinung durch Appelle an die Gefühle zu modellieren, hat Vorrang vor der Realität der Fakten. Es ist nicht wichtig, ob Letztere die Meinungen prägen oder nicht, das Wesentliche ist die Wirkung der Worte. Die Unterscheidung in Wahr und Falsch wird also bedeutungslos angesichts der Wirksamkeit des »Glaubenmachens«. Das Zeitalter der Postwahrheit ist auch das des Postfaktischen.

Viel ist gesagt worden über diese »postfaktische Politik«, die mit dem Brexit und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten Einzug in die Alltagssprache hielt, insbesondere über ihren Zusammenhang mit der Erzeugung und viralen Verbreitung von fake news über die neuen Medien (Internet, soziale Netzwerke usw.).

Das ist nicht das Thema des vorliegenden Werkes. Denn das, was sich als Erstes aufdrängt, ist eine symptomale Lektüre. Der Begriff ist keineswegs ein Einzelphänomen, sondern Teil einer Konstellation, die sich durch den massiven Gebrauch der Vorsilbe »Post/post« auszeichnet: Postmoderne, Postpolitik, Postdemokratie, Postkapitalismus usw. Es bietet sich also zunächst einmal an, sich über die Bedeutung des Präfixes Gedanken zu machen: Es verweist nicht nur auf den Gedanken einer zeitlichen Reihenfolge (etwas kommt nach dem Vorherigen), sondern beabsichtigt, einen qualitativen Bruch zu markieren, der, nach dem Vorbild des Ausgangsbegriffs der Postmoderne, einem neuen Zeitalter, einer neuen Ordnung der Geschichte den Weg bereitet. Doch ist diese Inflation auch Zeichen einer Schwierigkeit, die Gegenwart, in der wir leben, zu verorten, sie in ihrer Einzigartigkeit zu benennen, Indiz einer Krise, die im »Post« gewissermaßen ihren lexikalischen Ausdruck findet.

Insofern die Postwahrheit aufgrund zweier politischer Ereignisse in den Blickpunkt geraten bzw. insofern von »postwahrheitlicher« oder »postfaktischer Politik« die Rede ist, fragt man sich sofort, ob diese Begriffe nicht auf Umwegen einen uralten Konflikt fortführen, ob man es nicht mit einer neuen Erscheinungsform eines vermeintlich unüberwindbaren Gegensatzes zu tun hat. Wahrheit und Politik sind bekanntlich noch nie gut miteinander ausgekommen. Nicht nur weil allgemein angenommen wird, dass die Ausübung der Macht nicht auf den Einsatz von Lüge und Manipulation (was gemeinhin als »Machiavellismus« bezeichnet wird) verzichten kann, sondern auch weil alles darauf hindeutet, dass die Suche nach der Wahrheit mit der politischen Alltagspraxis unvereinbar ist. Das wird bestätigt durch die platonische Version des Schicksals von Sokrates, der von einem demokratischen, der Macht eines unwissenden und unbeherrschten demos ausgelieferten Gemeinwesen zum Tode verurteilt wurde. Daher die wiederkehrende Versuchung, die Aufgabe des Regierens den »Wissenden« anzuvertrauen: vom platonischen Philosophenkönig über Saint-Simon (die Verwaltung von Sachen ist weniger riskant als die Regierung von Menschen) bis zur »epistemokratischen« oder »epistokratischen« Tendenz, die heute unter der Ägide der ökonomischen Rationalität dominiert. Man darf vermuten, dass das Auftauchen der Postwahrheit im Zusammenhang steht mit dem Aufstieg der Populismen, die auf das Ressentiment gegen die Macht der Eliten (der »Wissenden«) setzen. Im Gegenzug wird man versucht sein, da das Volk nicht aufgeklärt genug ist, um rationale Entscheidungen zu treffen, auf die Kompetenz der Experten zu vertrauen …

So richtig diese beiläufige Analyse sein mag, sie berührt noch nicht den Kern des Problems. Die Fragte lautet vielmehr: Was beeinträchtigt die Postwahrheit? Das ist die Perspektive, die dieses Werk zu entfalten versucht, indem es zunächst eine historisch-begriffliche Genealogie entwirft, die ihren Ausgang nimmt von der Ursprungsdebatte zwischen Platon und Aristoteles über das der Politik angemessene Wahrheitsregime.

Es ist keineswegs anachronistisch, herauszustellen, was seit der griechischen Antike eine gewisse Art von Beziehung zwischen der Sphäre der rationalen Wahrheit und der der menschlichen Angelegenheiten, die den Wechselfällen des Unvorhersehbaren unterworfen ist, bestimmt hat. Der aristotelische Ansatz geht davon aus, dass eine »Wahrheit« des Politischen, sofern sie existiert, den Weg über die Aufwertung der doxa und des geteilten, in der öffentlichen Debatte entstandenen Urteils nimmt. Er schließt sich mitnichten der platonischen Verdammung der Meinung an, sondern konzentriert das Denken auf die Analyse der Bedingungen der praxis und des gemeinsamen Bodens, auf dem die politische Existenzweise beruht. Er offenbart ferner, dass die politische Sprache eine unüberwindliche Ambivalenz in sich trägt: Die Politik hat ihre eigene Art des Sprachgebrauchs, die weder mit der der Wahrheit noch der der Philosophie identisch ist, denn im öffentlichen Raum stehen sich viele unterschiedliche und konfligierende Standpunkte gegenüber. Pluralität – nicht zu verwechseln mit dem Relativismus der Meinungen – ist mit dem Horizont menschlicher Angelegenheiten unauflöslich verbunden.

Diese Denkform hat zwar bis heute ihre ganze Gültigkeit bewahrt, doch genügt sie nicht, um den besonderen Bedingungen Rechnung zu tragen, die dafür sorgen, dass die Postwahrheit vor allem den Tatsachenwahrheiten (hinsichtlich zufälliger Ereignisse oder solcher, die sich ohne zwingende Notwendigkeit zugetragen haben) abträglich ist, weniger wissenschaftlichen oder rationalen Wahrheiten, die in der Moderne kaum noch infrage gestellt werden.

Hannah Arendt hat mit unvergleichlicher Subtilität und Kraft die zahlreichen Paradoxien herausgearbeitet, die das Verhältnis zwischen Politik, Meinung und Tatsachenwahrheiten bestimmen. Während Tatsachenwahrheiten und Meinung gemein haben, an der Struktur der Öffentlichkeit zu partizipieren und menschlicher Pluralität zu entspringen, unterscheiden sie sich insofern, als die – faktische oder rationale – Wahrheit sich mit zwingender Notwendigkeit aufdrängt. Über die Tatsache, dass »zwei plus zwei gleich vier« ist, lässt sich ebenso wenig diskutieren wie darüber, dass Donald Trump im November 2016 zum US-Präsidenten gewählt wurde. Faktische Wahrheiten drängen sich auf und stehen gewissermaßen »über« der Zustimmung. Und doch sind sie, trotz dieser scheinbar unwiderlegbaren Evidenz, anfällig, und man musste nicht erst bis zum Auftreten des »Postfaktischen« warten, um zu dieser Einsicht zu gelangen. Wir kennen die Praktiken totalitärer Regime, die die Namen entmachteter Führer aus den Geschichtsbüchern entfernten oder Fotos retuschierten, um unliebsam gewordene Personen verschwinden zu lassen.

Es wäre allerdings ein Irrtum, anzunehmen, dass die Postwahrheit und die Erzeugung »alternativer Fakten« in demokratischen Gesellschaften denselben Mechanismen entspringen wie die totalitäre Ideologie. Tatsächlich wird in beiden Fällen ein Ersatz für die Realität angeboten, eine Neuordnung der gesamten Faktenstruktur, sodass eine fiktive Welt an die Stelle der Welt unserer gemeinsamen Erfahrungen und Beziehungen tritt, die der »Boden« ist, auf dem wir stehen.

In den totalitären Regimen ruft eine »im phantasmatischen Sinne fiktive« Ideologie eine ebenso verlogene wie kohärente Welt ins Leben, die sich durch Erfahrung nicht widerlegen lässt. Das ideologische Denken befreit sich von der Erfahrung und entledigt sich des Realen, indem es die Existenz einer Realität behauptet, die »wahrer« ist als die, die wir begreifen und wahrnehmen. Es ordnet die Tatsachen nach einem vollkommen logischen Verfahren: Ausgehend von einer Prämisse mit axiomatischen Wert, von der sich alles Übrige ableitet, gelangt man zu einer Kohärenz, wie man sie in der Wirklichkeit niemals antrifft.

Auch wenn diese Vorgehensweise auf den ersten Blick manchen Charakteristika der Postwahrheit nicht unähnlich ist (Fakten als »Artefakte« zu betrachten, durch die Verbreitung von fake news die Existenz »alternativer Fakten« zu behaupten), lässt sich die Wirkung totalitärer Mechanismen nicht pauschal auf demokratische Gesellschaften übertragen, in denen sich die Frage anders stellt. Störende oder unbequeme Wahrheiten werden in »Meinungen« verwandelt, die man vertreten kann, als wären sie nicht direkt in unbestreitbaren Fakten verankert. Die Leugnung des Holocaust ist in dieser Hinsicht ein exemplarischer Fall, denn sie verfälscht und beseitigt das Reale unter den Augen derer, die es erlebt haben. Dieser Prozess – begünstigt durch den Hang zum »Anything-goes«-Relativismus – ermöglicht es, sich von der Tatsachenevidenz zu befreien und zu einer Art undifferenzierten Vielfalt zu gelangen, bei der das Äußern von Meinungen nicht mehr durch Fakten gestützt oder legitimiert zu werden braucht. Sind Meinungen nur insofern begründet, als sie sich auf faktische Wahrheiten stützen, schafft die Postwahrheit diese Beglaubigung ab, was dazu führt, dass die Unterscheidung in Wahr und Falsch hinfällig wird. Es ist nicht mehr nötig, dass Fakten Meinungen gestalten. So waren während der Amtseinführungszeremonie von Donald Trump weniger Zuschauer anwesend als bei derjenigen von Obama 2009. Das scherte das Team des neuen Präsidenten wenig, da seine Beraterin bei dieser Gelegenheit behauptete, ungeachtet der Fotos und Dokumente, dass man eine Menge nie wirklich »quantifizieren« könne und dass es folglich »alternative Fakten« gäbe. Wie die Chefredakteurin des Guardian in ihrem Kommentar zur Brexit-Kampagne und ihrem Ausgang bemerkte: wenn Fakten ein »Zahlungsmittel« wären, käme man an der Feststellung nicht vorbei, dass sie gerade stark an Wert verloren hätten.

Das Problem wird noch komplizierter, wenn man die Art des Prozesses analysiert, der den Tatsachenwahrheiten entgegenläuft: nämlich die Lüge, genauer gesagt, die Fähigkeit, die faktische Wirklichkeit zu leugnen, zu negieren oder zu entstellen. Sie ist verwandt mit der Möglichkeit, das Wirkliche handelnd zu verändern, anders gesagt, sich vorzustellen, dass das Wirkliche anders sein könnte, als es ist. Arendt vertritt diese irritierende, wenn nicht provokante These, indem sie die Nähe zwischen der Fähigkeit des Lügens, der vorsätzlichen Leugnung der Realität, und der Fähigkeit des Handelns, der Veränderung der Welt, betont. Beide entspringen der Vorstellungskraft und der Ausübung einer Freiheit, die imstande ist, Neues und Unvorhergesehenes zu erzeugen. Diese Verwandtschaft macht der Lügner sich zunutze, indem er heimlich von der Veränderung zur Verfälschung des Wirklichen übergeht. Doch tut er nichts anderes, als die menschliche Freiheit zu entstellen oder zu verfälschen, diese ursprüngliche Fähigkeit, die die Macht besitzt, die bestehende Ordnung der Welt zu ändern.

Diese Verflechtung gilt es zu berücksichtigen, will man das der Politik immanente Paradox verstehen, das sich nicht in den Mitteln erschöpft, die man traditionell der politischen Praxis zuschreibt. Das »Wahrsprechen« unterhält eine schwierige Beziehung zur immanenten Ambiguität der politischen Sprache: Aristoteles war sich dessen bewusst, als er versuchte, die Regeln des wahrscheinlichen Diskurses aufzustellen, in einem Kontingenzbedingungen entsprechenden logischen System, das nicht das des »Wahren« ist. So erhellend Foucaults Analysen der parrhesia (des Wahrsprechens, der Unverblümtheit, der freien Meinungsäußerung) im Hinblick auf eine Geschichte der Subjektivität und der Herausbildung des ethischen Subjekts auch sind, er war wahrscheinlich noch zu sehr Platoniker, um das Paradox des Politischen – und vielleicht seine Zerrissenheit – bis zum Ende durchzuhalten, ohne zu versuchen, es in den Nachweis des Ethischen aufzulösen. Wenn die Welt nur existiert, weil ein »Selbst« sich in ihr befindet und handelt, gilt umgekehrt, dass es kein Selbst geben kann »ohne eine in irgendeiner Weise praktikable Welt«.2

Aristoteles stand vor einem Problem, auf das Arendt zurückkam: das des Imaginären. Anders ausgedrückt, die Verwandlung von Tatsachenwahrheiten in Meinungen ist mit der prekären, um nicht zu sagen pervertierten Ausübung der Urteilskraft verbunden, die heutzutage durch die virale Informationsverbreitung noch intensiviert wird. Doch die Verwandtschaft zwischen Lügenkönnen und Freiheit, die Nähe zwischen Lüge und der Fähigkeit zur Veränderung des Bestehenden führt uns dazu, die Frage nach der Fiktion und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit, zu ihrer Produktivität und/oder ihrem Missbrauch zu stellen oder vielmehr neu zu stellen.

Wie steht es um die Macht der Fiktion? Unter welchen Voraussetzungen ist sie ein Tun-Können3? Was unterscheidet eine ohnmächtige Fiktion, die nur ein Ersatz für das Reale ist, von einer imaginativen Neugestaltung, deren heuristische Kraft es uns ermöglicht, die Welt zu bewohnen? Der Untersuchung dieser Fragen ist der letzte Teil der vorliegenden Studie gewidmet. Es geht darum, Wesen und Wirkungen des Postfaktischen mit der Kreativität eines fiktionalen Diskurses zu konfrontieren, der das Wirkliche nur zerstört, um es neu zu erschaffen. Zu diesem Zweck erforscht er Formen des Möglichen, die weder in der kollektiven Erfahrung noch in der deskriptiven Sprache gegeben sind. So betrachtet wirkt sich das freie Spiel der Vorstellungskraft nicht nur auf die Welt des Textes und der literarischen bzw. künstlerischen Fiktion aus, sondern es verweist auch auf praktische Möglichkeiten und eine »zu schaffende Wahrheit«. So seltsam dieser Ausdruck in Bezug auf die traditionelle Auffassung der Wahrheit als adaequatio rei et intellectu, als Übereinstimmung der Sache mit dem Verstand, verbürgt durch die Realität des Gegenstandes, auch klingt, er beinhaltet die Möglichkeit, neue Wirklichkeitsdimensionen zu erschließen.

Es gibt zahlreiche imaginative Praktiken, die eine Rückwirkung auf die bestehende Welt haben. Die Utopien sind keine Alternativvorschläge, die an die Stelle des Bestehenden treten sollen – ebenso wenig wie ihr symmetrisches Gegenstück, die sogenannten Dystopien. Mehr als in ihren Gegenständen, ihren Thematiken, ihren Inhalten, die oft pathologische, ja totalitäre Formen erzeugten, liegt ihr Wert in ihrem Vorrat an Möglichkeiten, den ihr Projektionsvermögen offenbart. Denn ihre Exzentrizität, ihre »Ortlosigkeit« gibt umgekehrt Aufschluss über die Grenzen, innerhalb derer wir leben und uns bewegen. Das »Nirgendwo«, das die Selbstverständlichkeit des Realen durchbricht, schafft eine Distanz zum bestehenden Sozialraum, doch durch den Sinnüberschuss, den es enthält, erneuert und bereichert es die Welt, um sie bewohnbar zu machen. Das Gleiche gilt für die von Michel Foucault betrachteten »Heterotopien«: diese »anderen« Orte, die zugleich außerhalb aller Orte stehen und tatsächlich innerhalb unserer Gesellschaften lokalisierbar sind, widerstehen der Entropie, indem sie ein »Anders-als-Sein« des Sozialen entwerfen.

Wenn mit dem Aufkommen der »Postwahrheit« die von Orwell in 1984 ersonnene Welt so starke Resonanzen mit der heutigen aufweist, dann weniger, weil sie die unmenschlichen Züge eines vollendeten totalitären Systems hervortreten lässt, sondern vielmehr, weil sie eine Welt darstellt, aus der die Vorstellung von Wahrheit vollkommen verschwunden ist und in der die einzige Freiheit, über die der zum Widerstand Entschlossene verfügt, darin besteht, in sein Tagebuch schreiben zu können, dass »zwei und zwei vier« ist. Gegen die Vernichtung des Realen beruft sich Orwell weniger auf instituiertes Wissen als auf die gewöhnliche »Wahrheit« der common decency (des »gemeinsamen« oder »gewöhnlichen« Anstandes). Sie ist das spürbare Fundament unserer Zugehörigkeit zur Welt, insofern vergleichbar mit dem Rousseau’schen Mitleidsprinzip, diesem strukturierenden Affekt, der uns dazu veranlasst, in die Gemeinschaft einzutreten und dessen Verlust oder Fehlen das Zeichen des Unmenschlichen ist. Die in 1984 beschriebene dystopische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der jeder Bezug auf diese gewöhnliche »Wahrheit«, die zugleich eine Gemeinsamkeit des Urteilens wie der sinnlichen Erfahrungen ermöglicht, verschwunden ist. Sie wird von Individuen bewohnt, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen Wahr und Falsch nicht mehr existiert. Und in dieser Welt, die keine mehr ist, ist die heuristische Macht der Fiktion zusammen mit der Stärke des Wahren untergegangen. Denn die Macht des Imaginären verkümmert und verblasst, wenn die Schwäche des Wahren triumphiert.

1Über diese Übung in Argwohn, siehe Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, S. 45–49, und Le Conflit des interprétations, S. 148–151.

2Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 373.

3Im Original pouvoir-faire, siehe Ricœur, Das Selbst als ein Anderer, S. 266 [AdÜ].

1

Im Zeitalter des »Post«: Bestandsaufnahme

Wir wissen es nur zu gut: Begreifen, was uns zustößt, das Zeitgeschehen oder die Gegenwart zu denken, heißt nicht, sich der rastlosen Bewegung anzuschließen, dem Strudel der Ereignisse, dem unaufhörlichen Strom der Informationen und Moden in einer Gesellschaft, die von der Inflation des Momentanen und Ephemeren beherrscht wird. Doch genügt es schon, dass ein Wort zum »Wort des Jahres« gekürt wird, und sei es durch das ehrwürdige Oxford Dictionary, um daraus zu schließen, dass es zu einem Gegenstand des Denkens werden kann – oder soll? So geschehen 2016 mit dem Wort »postfaktisch« bzw. »Postwahrheit« (post-truth), das sich definitionsgemäß bezieht auf »Umstände, unter denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die öffentliche Meinungsbildung haben als Appelle an das Gefühl oder persönliche Überzeugungen«. Da sein Gebrauch sich im Vergleich zum Vorjahr um 2000 % erhöht hatte, vor allem im Kontext des Brexit-Referendums in Großbritannien und der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten, war der Begriff 2016 zu einer »Konstante der politischen Berichterstattung« geworden. Und das Wörterbuch führte aus, dass das Eindringen des »Postfaktischen« in die Sprache »begünstigt wurde durch die wachsende Macht sozialer Netzwerke als Informationsquelle und das zunehmende Misstrauen gegenüber den vom Establishment präsentierten Fakten«.4

Unterschied