Maya Lasker-Wallfisch

mit Taylor Downing

Briefe nach Breslau

Meine Geschichte über drei Generationen

Aus dem Englischen von Marieke Heimburger

Insel Verlag

Für meine Großeltern, Alfons und Edith, und für meine Mutter, Anita, sowie für meine Tanten Renate und Marianne – die Laskers aus Breslau

Briefe gehören unter die wichtigsten Denkmäler, die der einzelne Mensch hinterlassen kann.

Johann Wolfgang von Goethe

1

Sprache

In meinem Elternhaus wurden zwei Sprachen gesprochen: Musik und Deutsch. Ich beherrschte keine von beiden. Damit fing das Problem an.

Meine Eltern waren beide Berufsmusiker. Jeden Tag stieg mein Vater in unserer winzigen Wohnung hinauf ins Dachzimmer, um Klavier zu üben. Es war verboten, ihn dabei zu stören. Mindestens acht Stunden übte er jeden Tag. Dank seiner eisernen Disziplin wich er kein einziges Mal von dieser Routine ab. Durch die ganze Wohnung konnte man ihn spielen hören. Auch meine Mutter spielte mehrere Stunden am Tag Cello, jedoch nicht zu Hause. Sie probte mit dem English Chamber Orchestra, dessen Gründungsmitglied sie war, oder trat mit ihm auf. Wenn sie zu Hause war, stand ihr Cello in der Wohnzimmerecke wie ein Aktenkoffer. Sie nahm es und ging fast jeden Tag damit zur Arbeit. Wenn sie nicht spielte, war mein älterer Bruder Raphael dran. Auch er spielte wunderschön Cello. Er hatte Glück und großes Talent. Er sprach die Sprache meiner Eltern.

Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an meine Mutter, wie sie in unser großes (so kam es mir damals vor) schwarzes Bakelit-Telefon spricht. Auch nach fast fünfundfünfzig Jahren habe ich unsere Telefonnummer sicher im Gedächtnis. »Kann ich Maya mitbringen?«, fragte meine Mutter ihren Gesprächspartner – vermutlich den Dirigenten, der an jenem Tag die Probe mit dem Orchester leitete. Ich wurde mitgenommen, auf einen Stuhl gesetzt und angewiesen, still zu sein. Der Raum füllte sich mit Musik, zu der ich keinerlei Verbindung spürte. Bereits mehr als einmal war ich dafür verantwortlich gewesen, dass eine Aufnahme mit Barenboim durch das Zerreißen eines Stücks Papier ruiniert wurde – ich hatte die rote Lampe ignoriert, die anzeigte, dass aufgenommen wurde. Kein Wunder, dass ich mich nie willkommen fühlte. Ich wünschte mir immer so sehr, meine Mutter könnte sein wie andere Mütter – zu Hause, wo sie mit mir und meinem Bruder spielt. Als ich etwas älter wurde, musste ich mir meinen Freunden gegenüber irgendeine Erklärung ausdenken, wenn sie fragten, warum meine Mutter sich die Telefonnummer auf den Arm geschrieben hatte. Anders zu sein ist ganz klar ein Nachteil für ein Kind.

Ich verinnerlichte schon bald, dass alles Deutsche schlecht war. Zum Beispiel wurde mir gesagt, dass deutsche Autos nichts taugten. Wenn meine Mutter im Bus oder in der U-Bahn andere Fahrgäste unerwartet Deutsch sprechen hörte, verdüsterte sich ihre Laune sofort, und sie wurde unruhig und argwöhnisch. Doch meine Eltern sprachen auch deutsch miteinander. Sehr vertraut und innig. Wie sollte ich daraus schlau werden? Ich konnte an ihren Gesprächen nicht teilnehmen. Ich verstand nicht, was los war, und so wuchs ich in einem Zustand permanenter Verwirrung auf. In meinem Leben fühlte sich nichts sicher an, ohne dass ich je verstanden hätte, warum.

Meine Mutter, Anita Lasker-Wallfisch, wuchs als die jüngste von drei Schwestern in Breslau auf. Sie war Cellistin im berühmten Mädchenorchester von Auschwitz, das jeden Morgen am Lagertor spielte, wenn die abgezehrten Zwangsarbeiter sich auf den Weg in die nahe gelegenen Fabriken machten. Das Orchester spielte auch abends, wenn die erschöpften Männer und Frauen ins Lager zurückkehrten, und hin und wieder trat es vor der SS auf. Es war die Musik, die meine Mutter am Leben hielt. Ohne die Musik wäre sie wahrscheinlich zusammen mit über einer Million anderen Menschen in dem Todeslager umgekommen. Als Cellistin im Orchester gehörte sie zu einer Gruppe, deren Mitglieder verschont blieben, solange die SS nach Musik verlangte.

Die Nazis verließen Auschwitz, als die Rote Armee sich näherte, und meine Mutter wurde im Oktober 1944 ins Konzentrationslager Bergen-Belsen überführt. Dort wurde sie, halb verhungert und sterbenskrank, in den letzten Kriegswochen von den britischen Truppen befreit. Sie erholte sich schnell, und als sie schließlich in der Lage war, Deutschland zu verlassen, beschloss sie, nach Großbritannien zu emigrieren.

Sie erreichte London im März 1946 und fing an, sich ein neues Leben aufzubauen. Nach ein paar Jahren begegnete sie meinem Vater wieder, Peter Wallfisch. Die beiden kannten sich aus ihrer Schulzeit in Breslau. Er hatte den Krieg in Palästina verbracht. 1952 heirateten sie. Das Leben war nicht leicht für zwei verarmte klassische Musiker. Mein Vater war Künstler und spielte in ganz Europa und dem Rest der Welt. Meine Mutter war die Ernährerin, die Musikerin, die jeden Tag zur Arbeit ging. Sie zogen in eine kleine Wohnung in der Nähe der Portobello Road, damals ein armer, heruntergekommener Stadtteil Londons. Heute ist er gentrifiziert und todschick. Aber in den 1950ern wohnten wir über einer schwarzen Familie im Erdgeschoss und anderen Einwanderern im ersten Stock. Damals gab es noch keine Political Correctness. In manchen Mietshäusern hingen Schilder mit der Aufschrift »Keine Schwarzen. Keine Hunde. Keine Iren.« Unsere Vermieter waren anders. Wir bewohnten die beiden obersten Stockwerke. Mein Bruder Raphael wurde 1953 geboren, ich fünf Jahre später.

Allen Kindern sind ihre Eltern peinlich. Mir waren meine aber ganz besonders peinlich. Bei uns zu Hause war nichts so wie bei den anderen Kindern. Bei denen gab es Weißbrot in Scheiben, Butter, Marmelade und Kuchen. Bei uns gab es Schwarzbrot, Salami und stinkenden Käse. Bei meinen Freunden gab es abends etwas Warmes. Bei uns gab es Abendbrot. Und nur hin und wieder, manchmal am Wochenende, bekamen wir Nachtisch, in der Regel Joghurt. Das war in den 1960ern sehr exotisch. Seltsame Aromen waberten durch unsere Wohnung, und ich kann mich noch gut erinnern, wie jeder Gast angewidert das Gesicht verzog.

Mir wurde erzählt, mein erstes Wort sei »mehr« gewesen. Offenbar war nie genug da. Nicht genug zu essen, nicht genug Zeit mit unserer Mutter. Ich weiß noch, wie mir immer gesagt wurde: »Du brauchst nicht mehr, du hattest schon genug.« Mir aber kam es vor, als bekäme ich von allem zu wenig. Ich wurde übergewichtig – ein dickes kleines, sich selbst verletzendes Mädchen, das in einer merkwürdigen Familie aufwuchs. Ich konnte meine Gefühle nicht rational erklären, weil mir die Wörter dafür fehlten. Ich wurde nach und nach ängstlicher und schrecklich unglücklich. Ich befand mich bereits auf dem Weg, der meine frühen Jahre prägen sollte.

Ich bin überzeugt, dass meine Mutter ihr Bestes getan hat. Sie war ganz bestimmt keine schlechte Mutter im landläufigen Sinn. Sie war sechzehn gewesen, als sie selbst ihre Mutter verlor, und sie verbrachte mehrere Jahre im Gefängnis, in Auschwitz und in Bergen-Belsen, sie hatte viel Lebenszeit verloren und viel nachzuholen. Sie hatte, um zu überleben, auf eine normale Gefühlswelt verzichtet. Da die Musik ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte, wurde sie ihre große Liebe. Sie gab alles, um gut zu spielen. Die Musik entzog sie uns nicht nur an vielen langen Arbeitstagen, sondern auch häufig, wenn das English Chamber Orchestra auf Tournee ging, dann war sie oft wochen-, manchmal gar monatelang weg.

Wenn sie mit dem Kammerorchester unterwegs war, wurde ich weggeschickt. Zu Hause benahm ich mich oft nicht gut, ich bekam Ärger, und mein Vater kam alleine nicht mit mir zurecht. Ich wurde an alle möglichen Orte verfrachtet, die meisten gefielen mir nicht. Manchmal wohnte ich ein paar Tage bei Freunden. Wenn es länger dauerte, kam ich ins Ferienlager. Da gab es Pferde, und alle dachten, ich würde das mögen, tat ich aber nicht. Ich hatte immer das Gefühl, nur geduldet zu sein und mich einschmeicheln zu müssen. Immer wieder schrieb ich meinen Eltern: »Bitte kommt und holt mich … aber noch nicht jetzt gleich, das Essen hier schmeckt mir nämlich gut!«

Wir hatten damals eine Putzfrau, die regelmäßig unsere Wohnung saubermachte. Wir nannten sie »Icky«. Manchmal sprang sie auch als Babysitterin ein, und ich freute mich immer sehr auf das von ihr servierte Abendessen: Fischstäbchen und Baked Beans. Das war die schlichte englische Kost, nach der ich mich als Kind sehnte. Icky war vermutlich der unkomplizierteste Mensch, der mir in meinen ersten zehn Lebensjahren begegnet ist. Sie war ein seltener Vogel. Sie lebte in noch einfacheren Verhältnissen als wir, und doch fand ich meine gelegentlichen Besuche in ihrer Sozialwohnung wahnsinnig aufregend. Sie war eine waschechte Cockney, eine Spezies, die im London der 1960er Jahre immer seltener anzutreffen war.

Während der Grundschulzeit entwickelte ich schnell Strategien, um mich bei anderen Kindern beliebt zu machen. Das war notwendig für mein Überleben. Ich kaufte Süßigkeiten und verteilte sie. Da stand ich dann immer hoch im Kurs. Aber das kostete Geld. Also stahl ich Geld, um Süßigkeiten zu kaufen, mit denen ich Freunde kaufte. Normalerweise stahl ich aus der Handtasche meiner Mutter. Anfangs nur ein paar Pennys. Aber ich wurde immer kühner und nahm immer größere Beträge. Ich wusste, dass ich irgendwann auffliegen würde, und trotzdem machte ich weiter. Und natürlich flog ich auf, als ich einen Zehn-Schilling-Schein klaute (heute 50 Pence). Meine Mutter sagte: »Wenn du zugibst, dass du das Geld gestohlen hast und mir die Wahrheit sagst, dann können wir die zehn Schilling zusammen ausgeben.« Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es zugab oder nicht.

Als ich mit elf auf die weiterführende Schule kam, wohnten wir in einem anderen Stadtteil Londons, in Willesden. Der Umzug wurde als Aufstieg betrachtet. Immerhin bedeutete er, dass mein Zimmer nicht mehr auch als Esszimmer herhalten musste. Allerdings gab es ein Problem mit der Schulbehörde, es standen nämlich nicht genügend Plätze in den Schulen im Viertel zur Verfügung, und außerdem waren meine Schulunterlagen abhandengekommen. Infolgedessen landete ich in einer Schule, die ich furchtbar fand. Ich wurde gemobbt und verprügelt, weil ich das einzige weiße jüdische Mädchen an der Schule war. Ich geriet vom Regen in die Traufe.

In all den Jahren hatte ich keine Ahnung, was meine Mutter im Krieg durchgemacht hatte. Zuhause wurde nie über die Lager gesprochen, nicht über Auschwitz und nicht über Bergen-Belsen, und auch nicht darüber, was mit meinen Großeltern passiert war. Ich hatte ansatzweise etwas über den Holocaust gehört, aber keine genaue Vorstellung davon, wie die Nazis vorgegangen waren bei ihrer »Endlösung der Judenfrage in Europa«. Das Thema stand in den späten 1960er Jahren nicht auf dem Lehrplan britischer Schulen, und auch im Fernsehen wurden keine Geschichten über den Holocaust gezeigt. Und zu Hause herrschte Schweigen. Meine Mutter schrieb viel später, dass sie und ihre Schwester, als sie 1946 nach Großbritannien kamen, gerne erzählt hätten, was sie alles durchgemacht hatten. Dass sie aber niemand fragte. Ihre Antworten hätten zu sehr wehgetan, denn das von ihnen überlebte Grauen übertraf alles, was man sich vorzustellen wagte. Die Menschen wollten es lieber gar nicht hören. Meine Mutter wusste, dass ihre Erlebnisse aus Auschwitz und Bergen-Belsen immer noch in ihr steckten. Diese Erfahrungen waren zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Persönlichkeit geworden. Doch sie verschloss sich und sprach nie darüber.

Ich muss dreizehn gewesen sein, als ich bei uns zu Hause nach Zigaretten suchte. Ich durchwühlte damals mit einer gewissen Regelmäßigkeit die Wohnung, und ich dachte, meine Mutter hätte in einem bestimmten Schrank im Flur vielleicht eine Schachtel versteckt. Ich wusste, dass das Fach in dem Sideboard für mich tabu war, aber ich brauchte dringend eine Kippe. Also schob ich die Türen auf und wühlte herum. Zigaretten fand ich keine, aber dafür eine Mappe. Mir war klar, dass es sich um etwas Persönliches von meiner Mutter handelte, aber ich schlug sie trotzdem auf. Ich fand Fotos von aufgetürmten Leichen. Von Bulldozern, die sie in eine riesige Grube schoben. Unzählige, meist nackte Körper vor Holzbaracken. Ich hatte keine Ahnung, was das war, worum es da ging. Ich wusste nichts von der Befreiung Bergen-Belsens durch britische Truppen und der Entdeckung Tausender von toten oder halbtoten Häftlingen … und dann war da dieses Foto von einem Mädchen, das meiner Mutter sehr ähnlich sah. Die Bilder waren schrecklich. Ich war dreizehn und verstand überhaupt nichts. Warum hob meine Mutter solche Fotos auf? Warum versteckte sie sie? Was hatte das zu bedeuten? Ich wusste, dass ich in dem Schrank nichts zu suchen hatte. Ich legte die Fotos zurück in die Mappe und schloss die Türen. Ich habe meine Mutter nie gefragt, was das war und was es zu bedeuten hatte. Und ich war verwirrt, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte – war es falsch gewesen, nach Zigaretten zu suchen, oder war es falsch gewesen, in die versteckte Mappe zu schauen? Meine Mutter kam nicht dahinter, dass ich die Fotos gesehen hatte. Das Schweigen hielt an.

Vor nicht allzu langer Zeit sagte meine Mutter, sie habe Raphael und mich in einer »normalen« Atmosphäre großziehen wollen. »Normal« ist eins ihrer Lieblingswörter. Aber wie kann ein Zuhause, wie kann eine Familie normal sein, wenn ein Elternteil ein solches Trauma durchlitten hat wie meine Mutter? Sie wollte uns zum Beispiel nie von unseren Großeltern erzählen. Haben wir nach ihnen gefragt? Ich glaube nicht, seltsamerweise. Bei uns zu Hause standen schöne Fotos von ihnen herum, sie sahen wirklich gut aus. Aber meine Mutter wollte uns nicht beunruhigen, sie wollte uns keine Albträume bescheren, indem sie uns erzählte, dass die beiden zu Tode gefoltert worden waren und in einem Massengrab lagen. Da ich nichts über das frühere Leben meiner Mutter wusste oder darüber, wie die Nazis ihre Eltern verhaftet und verschleppt hatten, wusste ich auch nicht, was ich fragen sollte. Das Schweigen setzte sich durch meine gesamte Kindheit hindurch fort. Es sollte fast vierzig Jahre dauern, bis meine Mutter tapfer begann, ihre Erinnerungen an all das aufzuschreiben, was sie durchgemacht hatte. Das war in den 1980er Jahren. Nach vielen Jahren lag das Ergebnis vor, ein Manuskript mit dem Titel Meine Geschichte, das sie Raphael und mir 1988 zu Weihnachten schenkte. Es war ein merkwürdiges Geschenk. Keins, das auf meinem Wunschzettel gestanden hatte. Es wurde die Grundlage für ihr späteres Buch Ihr sollt die Wahrheit erben.

Die Grundschule war für mich im Großen und Ganzen ein sicherer Ort gewesen. Ich schlug mich ganz gut und benahm mich nur leicht daneben. Interessant ist, dass sie der erste Ort war, an dem ich mich sicher gefühlt habe. Nach dem Ende der Grundschulzeit und dem Wechsel auf eine weiterführende Schule verlor ich zunehmend die Kontrolle.

Immer wieder wechselte ich die Schule. Diese mangelnde Kontinuität in meiner Schullaufbahn beeinträchtigte meine Lernfähigkeit, bedeutete aber auch, dass ich nie richtig Teil einer Gruppe wurde. Ich wurde gebeten, die Gesamtschule Holland Park zu verlassen, nachdem ich zu oft geschwänzt hatte, und die Schulleiterin empfahl grundsätzlich eine kleinere Schule für mich. Damals galt Holland Park als eine der progressivsten Einrichtungen in London, aber sie war nicht progressiv genug, um eine notorische Schulschwänzerin zu tolerieren. Ich leistete gegen alles und jeden Widerstand, und nachdem ich sämtliche Versuche der Leitung, mich doch noch zu halten, ausgereizt hatte, wurde ich von der Schule verwiesen. Als ich vierzehn war, landete ich bei einer Privatpaukerei in Kensington. Diese vier, fünf verstaubten Zimmer unter dem Dach eines vierstöckigen Stadthauses konnten kaum als Schule bezeichnet werden. Dort war ich in meinem Element. Wie waren nur zu viert in einer Klasse, zwei Adlige, eine Französin und ich. Ich fing an, mich grell und auffällig zu kleiden. Ich tauchte immer mehr ab in die Welt der Rockmusik. Es waren die frühen Siebzigerjahre. Wishbone Ash, Emerson, Lake and Palmer, Led Zeppelin und The Doors waren meine Lieblingsbands. Zum Verdruss meiner Eltern hörte ich diese Musik immer schön laut in meinem Zimmer. Ich war auch fast die ganze Zeit bekifft. Mum und Dad schämten sich für mich. Meine Reise in die Welt der Drogen hatte begonnen. Erst nahm ich frei verkäufliche Aufputschmittel. Dann fing ich an, Hasch zu rauchen. Dann ging ich über zu Halluzinogenen wie LSD. »Acid« und seine Wirkung, den Kontrollverlust, mochte ich eigentlich gar nicht besonders. Aber ich nahm es trotzdem. Drogen gaben mir ein Gefühl von Identität. Ich fing an, unter Freunden zu dealen. Ich hatte wahnsinnig viel Unterricht versäumt und ging mit sechzehn und einem so schlechten Zeugnis von der Schule ab, wie es in Großbritannien seinerzeit gerade noch möglich war.

Mein Vater hegte zwei große Leidenschaften. Klavier und Katzen. Katzen sollten unsere einzige Verbindung sein, sie waren seine alleinige Möglichkeit, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Seinen Schülerinnen und Schülern gegenüber empfand ich Neid. Zu ihnen war er großzügig, oft dehnte er die geplante eine Stunde Unterricht auf drei Stunden aus. Ich befand mich häufig im Nachbarzimmer, wenn eine Musikstunde endlich abgeschlossen wurde, und konnte sehen, wie mein Vater seine Schüler anlächelte, sie lobte und ihnen gratulierte. Ich sehnte mich so sehr nach dieser Art von Anerkennung. Doch sobald die Schüler weg waren, verschwand mein Vater schnell wieder in sein Musikzimmer, schloss die doppelte Flügeltür hinter sich und übte selbst weiter.

Jedes Jahr gab mein Vater ein Konzert in der Wigmore Hall, einem Konzertsaal mitten in London. In dem Zusammenhang kam mir öfter die Aufgabe zu, im Foyer Programmhefte zu verteilen. Das waren die Gelegenheiten, bei denen ich das Gefühl hatte, wirklich seine Tochter zu sein, und ich schaffte es, zu tun, was von mir erwartet wurde. Er pflegte ein Ritual vor einem Konzert oder einer Aufnahme, in dessen Verlauf er mich sehr ernst fragte: »Wie werde ich heute spielen?« – als hätte ich einen Einfluss darauf. Meist antwortete ich das, was er hören wollte, aber einmal tat ich das nicht und plagte mich dann mit einem entsetzlich schlechten Gewissen, weil ich fürchtete, dafür verantwortlich zu sein, wenn er auch nur einen falschen Ton spielte. Ich hatte so gut wie immer das Gefühl, an allem schuld zu sein, und entwickelte ein derart schlechtes Benehmen, dass ich irgendwann zumindest wusste, warum mein Vater mich nicht mochte.

Mein Vater war nicht mit vielen lebenspraktischen Fähigkeiten ausgestattet, weshalb er sehr stark auf meine Mutter angewiesen war. Ich glaube, er empfand die Welt stets als fremd und beängstigend, und ich glaube nicht, dass er sich je an die britische Kultur gewöhnt hat. Er hasste es, sich ständig überall einschmeicheln zu müssen, was aber erforderlich war, um als Musiker Erfolg zu haben, und er litt darunter. Ich glaube, dass er eine Heidenangst davor hatte, abgewiesen zu werden. Verachtung und Kritik waren seine Schutzmechanismen. Im Grunde seines Herzens war er kein glücklicher Mann.

Sein Leben kreiste darum, Konzertpianist zu sein, und darum ließ er sich so wenig wie möglich auf die Welt ein. Er erfreute sich an unkomplizierten Ritualen wie dem Abschicken eines Briefes oder einem Gang zum Feinkostgeschäft um die Ecke. Den Rest überließ er meiner Mutter. Immer wenn er von einem seiner Ausflüge zurückkehrte, führte er meiner Mutter stolz seine Einkäufe vor und forderte erst sie und dann mich auf zu raten, was das alles gekostet hatte. Dieses Ratespiel wurde zum Sinnbild für seine tiefe Missbilligung der Ausgaben aller anderen. Niemand konnte sich je über ein Schnäppchen freuen, weil es in seinen Augen niemals billig genug gewesen war. Ich glaube nicht, dass mein Vater sich in seinem Leben viel gegönnt hat, und darum hatte er auch keinerlei Verständnis für die Bedürfnisse anderer.

Was auch immer mit ihm nicht stimmte, ich verinnerlichte es irgendwie, und während er stillschweigend Abneigung gegen mich hegte, rebellierte ich lautstark. Was zu vielen kritischen Blicken führte. Bestraft wurde ich auf unterschiedliche Weise. Er schrie und funkelte mich böse an, und da ich kein eigenes Zimmer hatte, in das er mich schicken konnte, verbannte er mich manchmal in sein Musikzimmer unter dem Dach. Auf dem Weg dorthin kam ich am oberen Ende der Treppe an einer Ecke vorbei, die mit einem Vorhang abgetrennt war. Mein Bruder hatte mich immer geärgert, indem er behauptete, hinter dem Vorhang würden sich Monster verstecken, und ich glaubte ihm. Ich wusste, dass irgendwo Monster lauerten.

Ich kann mich erinnern, dass ich einmal während einer dieser »Auszeiten« in seinem Zimmer wütend auf allen möglichen Notenblättern herumgekritzelt habe. Das kam gar nicht gut an. »Du bist unmöglich, Maya, dermaßen renitent!« Mein Bruder erzählte mir neulich, er erinnere sich an mich als ein permanent verwirrtes Kind. Und seine Wahrnehmung stimmte. Raphael ist fünf Jahre älter als ich, darum hatten wir nicht viel gemeinsam. Er schien viel leichter mit der Welt zurechtzukommen als ich, was ein in Familien von Überlebenden häufig zu beobachtendes Phänomen ist: Ein Kind absorbiert das Trauma, während das andere sich gut einzufügen scheint.

Hier spielen natürlich viele Faktoren eine Rolle. Meine Mutter fand es einfacher, einen Sohn großzuziehen, und die deutlich stabilere Persönlichkeit meines Bruders machte ihm das Leben um einiges leichter. Er wurde nicht nach einem toten Familienmitglied benannt, und ich glaube, dass dieser Umstand es ihm, wenn auch unbewusst, ermöglichte, ganz frei und er selbst zu sein, kein Ersatz für irgendjemanden. Ich habe ihn lange Jahre beneidet.

Unser Zuhause war kein Ort, mit dem ich Geborgenheit, Zufriedenheit oder Glück assoziierte. Die Atmosphäre war in erster Linie angespannt und unvorhersehbar. Ich weiß noch, dass ich sehr oft ängstlich war. Und dass mir klar war, ich musste damit umgehen lernen. Hauptursache meiner Ängste waren die Abwesenheiten meiner Mutter. Wenn ich heute darüber nachdenke, bin ich sicher, dass ich die Gefühle meines Vaters absorbiert habe, der auch unglücklich über das Fehlen meiner Mutter war. Die ganze Zeit hatte ich den Eindruck, eine Gratwanderung zu vollführen. Bei uns zu Hause war praktisch nichts normal. Immer wurde über Musik geredet. Aber ohne mich. Ich verstand das alles nicht und konnte mich nicht einbringen. Das Essen war nicht normal. Die Mahlzeiten verkrampft, manchmal traumatisch. Schweigen und finstere Blicke waren die Regel am Esstisch. Alles, was mir passierte, schien in Krisen zu passieren. Warum hatte ich ständig solche Angst? Ich wusste, dass meine Mutter mich liebte. Aber sie zeigte das nicht wie normale Mütter. Mit Zärtlichkeit konnte sie nichts anfangen. Heute weiß ich viel mehr darüber, wie das menschliche Gehirn funktioniert, heute stehen mir die sprachlichen Mittel zur Verfügung, mit denen ich meine frühen Lebenserfahrungen beschreiben kann. Ich kann sehen, dass ich bereits als kleines Kind »fest verdrahtet« war. Bestimmte Bereiche meines Gehirns, nämlich die, von denen wir heute wissen, dass sie mit Depressionen und Angst umgehen, waren ständig in Alarmbereitschaft und aktiv. Andere Bereiche meines Gehirns waren langsam und träge.

Viele Jahre lang war ich kraftlos, nicht in der Lage, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, immer wieder war ich »ein Problem«. Ich war kreuzunglücklich. Ich fand es ungeheuer schwer, auf der Welt zu sein. Ich hatte das Gefühl, gar keine Haut zu haben, nichts, das mich beschützt hätte, nichts, das es mir ermöglicht hätte, mit den ganz normalen Höhen und Tiefen fertig zu werden. Völlig alltägliche Herausforderungen, mit denen alle anderen ganz wunderbar zurechtzukommen schienen, warfen mich regelmäßig aus der Bahn. Meine Gefühle passten einfach nicht mit meinem Leben zusammen, aber da mir der Mut fehlte, es mir zu nehmen, musste ich eben irgendwie existieren. Dieses Überleben-Wollen konnte man schon im Alter von zwei Jahren an mir beobachten. Im weiteren Verlauf fand ich viele sehr unterschiedliche Fluchtwege, meist waren sie extrem und fast alle rechtswidrig. Ich entwickelte diverse Abhängigkeiten, nicht nur Drogen-, sondern auch Kaufsucht. Mit derlei Abhängigkeiten versucht man, innere Schäden von außen zu reparieren, und darum nehmen sie exzessive Ausmaße an. Die Opfermentalität ist eine zerstörerische Kraft.

Dann, endlich, nach vielen Jahren, Jahrzehnten, wurde mir klar, was ich tun musste. Ich musste eine neue Beziehung zu mir selbst aufbauen, und um aus der ewigen Opferrolle herauszukommen, musste ich eine Brücke schlagen zwischen meinem Ich und der Vergangenheit, aus der ich hervorgegangen war. Ich dachte immer mehr über meine Großeltern nach, darüber, wer sie eigentlich waren, wie sie in Breslau gelebt hatten und welchen Entsetzlichkeiten sie ausgesetzt waren. Ihr Leben unterschied sich so grundlegend von meinem – und doch spürte ich eine starke Verbindung. Als ich vor ein paar Jahren in Deutschland unterwegs war, dachte ich eines Tages ganz besonders intensiv an sie. Die Landschaft der Umgebung war herrlich, ich unternahm einen Spaziergang. Während ich über das Leben meiner Großeltern nachdachte, ging mir auf, dass ich nicht nur im Stillen nachdachte, sondern laut redete, mit meinen Großeltern redete. Ich hatte eine Form der Kommunikation mit ihnen gefunden. Ich wollte ihnen von ihrer Familie erzählen und von allem, was nach ihrem Tod passiert war, von der immensen Stärke ihrer Töchter und von dem Leben, das sie nach Kriegsende, nach dem Sieg über den Faschismus, führten. Aber ich wollte ihnen auch von der Welt heute erzählen und von den neuen Bedrohungen, denen wir uns gegenübersehen.

Ich beschloss, an meine Großeltern zu schreiben, obwohl sie im Jahr 1942 umgekommen waren. Ich dachte, wenn ich versuchte, eine Beziehung zur Vergangenheit herzustellen, würde ich in der Gegenwart besser zurechtkommen. Noch am selben Abend, kaum zurückgekehrt von meinem langen Spaziergang, begann ich zu schreiben, den ersten meiner Briefe nach Breslau.

Liebe Großeltern,

ich bin eure Enkelin Marianne (Maya), die Tochter eurer jüngsten Tochter Anita Lasker.

Ich wurde 1958 geboren, sechzehn Jahre nachdem ihr beide in Nazi-Deutschland ermordet wurdet. Mein Bruder, euer Enkel Raphael, kam fünf Jahre vor mir zur Welt.

Viel zu viele Jahre wurde in unserer Familie über Deutschland und das, was dort passiert war, nicht gesprochen. Dieses Schweigen war ein ständiger Begleiter des »normalen« Lebens, um das meine liebe Mutter sich so sehr bemühte, und es war trotz ihrer allerbesten Absichten sowohl undurchdringlich als auch verwirrend …

Zunächst möchte ich euch mehr von euren drei bemerkenswerten Töchtern erzählen, auf die ihr sicher sehr stolz gewesen wärt.

Eure letzten gemeinsamen Tage sind gut dokumentiert, und doch kann ich mir nicht vorstellen, wie sie für euch gewesen sein müssen. Was ich weiß, ist, dass sowohl Anita als auch Renate eine erstaunliche Würde und Kraft an den Tag gelegt haben, und ich glaube, dass diese Eigenschaften ihnen letztlich das Leben gerettet haben. Sie haben euch beiden damit alle Ehre gemacht.

Man kann auf vielerlei Art überleben, und man kann seiner Existenz auf unterschiedliche Weise ein Ende bereiten. Leben aber, und noch dazu gut leben, ist, so meine ich, eine ganz andere Angelegenheit. Optimistisch und voller Lebenslust zu bleiben, das war es, was eure Töchter, wie ihr sie kanntet, antrieb.

Mit diesem und den folgenden Briefen möchte ich euch und euer Leben würdigen und mir die Möglichkeit geben, doch noch mit euch ins Gespräch zu kommen. Die Möglichkeit, eine Beziehung zu euch aufzubauen.

In Liebe,

Maya