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FLORIAN LANGBEIN: „Friedensweide“ Roman
1. Auflage, November 2019, Periplaneta Berlin

© 2019 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
www.periplaneta.com

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes,
gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

Die Handlung und alle handelnden Personen sind erfunden. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Personen oder Ereignissen wäre rein zufällig.

Lektorat: Swantje Niemann
Coverfoto by skeeze on pixabay
Satz & Layout: Thomas Manegold

print ISBN: 978-3-95996-162-2
epub ISBN: 978-3-95996-163-9

Florian Langbein


Friedens

Weide

Roman

periplaneta

Vorwort

Nur am Teiche eine Weide

Steht gebeugt in stummer Klage,

Wie versenkt in tiefem Leide,

Daß sie nicht auch Früchte trage.

Athanasius Grün, 1869

Ich weiß nicht, ob der große Barde des Vormärz, Anton Alexander Graf von Auersperg, besser bekannt unter seinem Pseudonym Athanasius Grün, jemals hier war. Er ist jedenfalls sehr viel durch Deutschland gereist im neunzehnten Jahrhundert, und wie es aussieht, stand damals diese Weide hier. Der mächtige, traurige Baum wurde gefällt, als es Grenzstreitereien zwischen den beiden deutschen Staaten gab, aber er ist immer noch im Namen dieses Dorfes verewigt. Jetzt steht nur noch ein Stumpf mit einer Gedenktafel auf den Feldern vor dem Dorf. Mir gefällt der Gedanke, dass der reisende Dichter hier an dieser Weide gerastet hat, damals, als der Baum noch kräftig und grün war. Vielleicht hat er sich hier niedergelassen, um das Idyll zu schauen, das unser kleines Dorf ist, und hat seine ersten Verse über die Weide geschrieben. Vielleicht ist er dann jedoch ins Dorf gekommen und vielleicht hat er bei unseren Vorfahren die gleiche Niedertracht gefunden, die wir heute hier erleben. Vielleicht hat er deshalb die Ballade über den Weidenbaum geschrieben, in welcher König Artus auf ebenjenem Baum sitzt, um Königin Ginevra und Sir Lancelot beim Turteln zu belauschen. Die beiden haben jedoch den heimlichen Lauscher bemerkt und ergehen sich in gemeinsamen Treueschwüren gegenüber ihrem König. Artus ist der Gelackmeierte und lässt all diejenigen verhaften, die ihm von der Affäre seiner Königin mit Lancelot berichten. Die Übeltäter bleiben auf freiem Fuß.

Sei wachsam, werter Leser, denn genau so geht es zu in dem schönen kleinen Dorf, das seinen Namen von einer alten Weide hat: So geht es zu in Friedensweide!

Erster Akt

Mittwoch, 01.08.2018, 19:50

Kurt Stieger saß wie jeden Mittwoch im Sportheim, am runden Tisch in der Mitte des Raumes. Ihm gegenüber saß Horst Wildfuchs, rechts von ihm Helmut Niedernbuch und zu seiner Linken Matthias Rotlinger. Etwas beschämt legte Kurt die Herz-Neun in die Mitte. Er hatte schon wieder nicht darauf geachtet, wie viele Trümpfe gespielt worden waren. Das Spiel, das sie spielten, hieß Bierkopf. Immer die beiden, die sich gegenüber saßen, bildeten ein Team und spielten gegen die anderen beiden. Es war eine vereinfachte Version von Schafkopf oder von Skat. Horst blickte Kurt böse an, als Matthias links von ihm den Blatt-Ober spielte. Wütend warf er eine Eichel-Zehn in die Mitte und Kurt zog seinen langen Hals beschämt noch tiefer zwischen die Schultern.

„Der gehört uns!“, sagte Helmut mit seiner über achtzigjährigen Altmännerstimme und legte eine weitere Zehn oben drauf. Das häufig brechende, hohe Gefistel seiner Stimme klang immer ein bisschen spöttisch, als sei er in seinem beinahe biblischen Alter erhaben über die irdischen Dinge. Matthias nahm den Stapel grinsend vom Tisch, wobei er sich ächzend nach vorne beugte und die kurzen Arme streckte, so weit er konnte. Sein Bauch war so dick, dass er in weitem Abstand zum Tisch sitzen musste.

„Da habe ich wohl nicht aufgepasst“, sagte Kurt.

„Nicht aufgepasst! Du Traumtänzer! Das kann doch nicht so schwer sein, bis zwölf zu zählen! Noch dazu als Lehrer“, polterte Horst. Aber schon während des Wutanfalls grinste Matthias Kurt ermutigend zu und Kurt verdrehte lächelnd die Augen.

Horst hielt beim Kartenausgeben inne, wandte den Kopf und fragte: „Wo Erwin heute wohl bleibt?“

Es war zwar gänzlich unsinnig, sich zur Tür umzudrehen, da aufgrund der schwülen Augusthitze alle Fenster zur Straße hin geöffnet waren, aber dennoch taten es einige der Anwesenden im halb gefüllten Sportheim in regelmäßigen Abständen. Es war ungewöhnlich, wenn hier ungewöhnliche Dinge geschahen.

„Vielleicht lässt ihn seine Mutter heute nicht raus“, antwortete Helmut.

Am Nachbartisch lachte jemand, „Kann ich mir gut vorstellen nach letzter Woche“, kam von dort.

Letzte Woche war Erwin ein kleines Malheur beim Toilettengang passiert, und seine beige Hose mit dem dunkelbraunen, feuchten Fleck hatte die ganze Kneipe zum Lachen gebracht. Erwin schien nicht verstanden zu haben, dass alle sich über ihn lustig machten, und hatte mitgelacht. Einzig Matthias und Kurt waren stumm geblieben. Sie hatten Erwin bei der Hand genommen und ihn nach Hause gebracht.

„Vorhin hab ich ihn noch am Sportplatz herumlungern sehen“, sagte einer der Dorfbewohner vom Tresen aus. Es war Michael Schulz, genannt Michl, der Fußballtrainer der Jugendmannschaften. „Hat den Aichbacher Jungs beim Bolzen zugesehen.“

„Seltsam, dass er dann nicht hier ist.“, antwortete Horst, verärgert, dass jemand anderes mehr wusste als er. Die Kartenspiele an sämtlichen Tischen hatten aufgehört, alle lauschten nun den Mutmaßungen, wo Erwin geblieben sein könnte.

„Ja Leute, Ich würde mich nicht wundern, wenn Frau Hofmann ihren Sohn nicht mehr ins Sportheim lässt. Sie wird sich schon denken können, dass ihr ihn alle ausgelacht habt letzte Woche. Ihr habt ja auch nichts besseres zu tun, als euch über einen Behinderten lustig zu machen. Wenn das mein Sohn wäre, würde ich ihn auch nicht mehr hier her kommen lassen“, sagte Kurt streng. Auf diese Worte folgten ein paar betretene Blicke, aber noch mehr wütendes Gemurmel.

Plötzlich sprang jedoch die Tür des Sportheims auf und Kurts jüngster Sohn, Moritz, kam mit einem Freund hereingestürmt. Kurt meinte sich zu erinnern, dass er Felix hieß und aus einem der Nachbardörfer kam, aber da war er sich nicht ganz sicher. Die beiden rannten mit großen Augen direkt auf den Tisch zu, an dem Kurt saß. „Die Gisela hat uns hierher geschickt, wir sollten vorne herum laufen und nicht hinten am Sportplatz vorbei, also ganz schnell, ne.“ Moritz’ Stimme überschlug sich.

Der andere Junge unterbrach ihn: „Wir waren bei Gisela, weil wenn die am Fenster ist, gibt’s da doch immer Eis für Kinder …“

„Langsam, langsam, langsam!“, unterbrach Horst die beiden scharf.

„Immer schön der Reihe nach“, sagte auch Kurt, klang dabei aber wesentlich freundlicher. „Was ist passiert?“

„Was Schlimmes, sagt Gisela! Der Erwin wurde verdroschen, hinten am Sportplatz!“, rief Moritz.

„Wir müssen ihm helfen, sagt sie. Wir sollten euch deswegen Bescheid geben, so schnell wie möglich“, fiel der andere Junge ein.

Kurt war gleichzeitig mit Horst aufgesprungen. Horst wollte schon losstürmen, doch Kurt hielt ihn am Arm fest. „Ihr alle bleibt hier“, sagte er ruhig, aber laut. Das Stimmengewirr erstarb. „Horst und ich und … Michl, schließ die Kabinen auf, da ist bestimmt ein Erste-Hilfe-Kasten. Matthias …“

„Ich bleibe hier bei den Jungs“, sagte dieser, woraufhin Kurt kurz überlegte und dann knapp nickte. „Ihr bleibt hier bei Onkel Matthias“, sagte Kurt.

Damit rannten Kurt und Horst nach draußen, Michl hinterher, der bereits auf dem Weg zu den Umkleidekabinen war.

Mittwoch, 01.08.2018, 20:35

Sie fanden Erwin unter einer der Linden am Rand des Sport­platzes, wie er tapsig auf allen vieren herumkroch und sich mühte, hochzukommen. Schon von weitem konnte Kurt an den verkrampften, unbeholfenen Bewegungen erkennen, dass Erwin verletzt war. Sie erreichten ihn und Kurt kniete sich neben ihm auf den Boden.

Erwin schien zuerst gar nicht zu bemerken, dass da jemand war, doch als Kurt ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter legte, sah er ihn an. Sein linkes Auge war geschwollen und seine Lippe aufgeplatzt. Ein dünner Faden aus Speichel und Blut rann ihm auf die Brust. In seinem Gesicht waren Abdrücke von den dürren, stacheligen Grashalmen, und sein Schweiß vermischte sich mit dem Staub des trockenen Erdbodens. Er versuchte zu lächeln und sagte „Hnnnnn“, verzog aber dann schmerzerfüllt das Gesicht.

„Der soll sich hinlegen!“, sagte Horst. Michl war soeben auch mit einem Erste-Hilfe-Kasten unter dem Arm angekommen.

„Erwin, Hinlegen“, sagte Kurt langsam und legte die Hände neben seinem Ohr zusammen, wobei er die Augen schloss und den Kopf zur Seite neigte. Seine Kinder hatten diese Geste, als sie noch kleiner waren, als „Schlafen gehen“ verstanden. Erwin schien nicht zu begreifen, was er meinte, aber er fügte sich, als Kurt sanften Druck auf seine Schulter ausübte und Michl seine Arme zu sich zog. Schließlich lag er auf dem Rücken.

„Nun schaut euch diese Aasgeier an“, knurrte Horst und ruckte mit dem Kinn in Richtung Sportheim, vor dem sich eine Traube Menschen versammelt hatte, die neugierig zu ihnen blickte.

„Krankenwagen?“, fragte Kurt, an Michl gewandt. Der hatte ein Tuch mit Desinfektionsmittel getränkt und tupfte damit Erwins Blessuren ab. Dieser gab ein leises Wimmern von sich und strampelte mit den Füßen.

„Das Auge sieht böse aus“, sagte er, „Aber ich denke nicht, dass wirklich viel Dreck drin ist“. Er tastete Erwins Brust ab. Als er seitlich am Brustkorb sanft drückte, wimmerte Erwin wieder und machte Anstalten, sich zu erheben. „Die Rippe könnte gebrochen sein … Da müsste man ein Röntgenbild machen“, vermutete er. Er nahm seine Hände weg, woraufhin sich Erwin mit leichter Unterstützung von Kurt aufsetzte. „Er scheint aufstehen zu können“, stellte er fest. „Hoch!“, forderte er den Jungen auf. Dazu stand er schwungvoll auf und riss die Arme nach oben.

Erwin verstand und klatschte lachend in die Hände. Dabei riss der blutige Speichelfaden von seinem Kinn ab und kringelte sich auf seinem gelben T-Shirt. Gestützt von Kurt und Horst stand er auf.

„Sieht gut aus“, sagte Michl aufmunternd.

„Wir sollten zuerst seiner Mutter Bescheid geben, meinst du nicht?“, fragte Kurt und zückte sein Handy. „Hat jemand ihre Nummer?“ Sowohl Horst als auch Michl schüttelten die Köpfe. „Ich bringe ihn heim“, sagte Michl. „Muss ja nicht sein, dass wir Erwin jetzt von allen begaffen lassen, während wir die Nummer seiner Mutter rausfinden“

„Recht so“, knurrte Horst. „Die müssen nicht alles mitkriegen da drüben“.

Michl lief mit Erwin am Rand des Sportplatzes entlang, wobei er ihn sanft, aber bestimmt am Arm festhielt und beruhigend auf ihn einredete. Kurt lief mit Horst zum Sportheim zurück.

„Wenn ich den erwische, der das getan hat!“, wütete Horst.

Kurt sah auf die Uhr. Mit Schrecken stellte er fest, dass es bereits nach halb neun war. Es war immer noch fast genau so heiß wie am Nachmittag. Er beschleunigte seinen Schritt.

Alle standen vor dem Sportheim herum und glotzten Kurt und Horst an, die sich durch die Menge schoben. Nur Helmut, Matthias, Moritz und der andere Junge waren noch drinnen.

„Ihr müsst sofort nach Hause laufen“, sagte Kurt bestimmt, kaum dass er eingetreten war. „Beeilt euch. Und Moritz, sag Mama, dass sie … Felix nach Hause fahren soll.“

Die Jungen nickten ängstlich. Da keiner der Beiden eine Miene verzogen hatte, schien der Name zu stimmen.

„Los jetzt.“

Die beiden liefen nach draußen, während der Rest der Kneipenbesucher langsam wieder nach drinnen tröpfelte. Ulrich hatte Kurt, Horst, Matthias und Helmut schon jeweils ein neues Bier hingestellt, während die anderen ihm beim Hinsetzen mit leeren Gläsern zuwinkten. „Kann auch nicht hexen!“, brummte er und verzog sein pockennarbiges Gesicht.

Bevor er zum Zapfhahn zurückkehrte, schüttelte er eine Zigarette aus der Brusttasche seiner schmutzigen Schürze und zündete sie sich umständlich an. Das wurde vom Rest der Anwesenden als Zeichen verstanden, ebenfalls ihre Zigaretten hervorzukramen, obwohl im Sportheim normalerweise Rauchverbot herrschte.

„Was war los mit ihm?“, fragte einer.

Kurt und Horst blickten sich an. Horst nickte ihm zu. „Erwin ist verletzt“, begann Kurt. Im Sportheim war es mucksmäuschenstill. „Ihr habt es gesehen, er konnte aufstehen und laufen. Aber er hat Verletzungen im Gesicht und vielleicht auch im Brustkorb.“ Kurt machte eine Pause.

„Es sieht so aus, als hätte ihn jemand ganz übel zusammengeschlagen. Solche Verletzungen holt man sich nicht, wenn man stolpert“, fuhr Horst fort.

Kurt wäre es lieber gewesen, wenn Horst dies nicht gesagt hätte. Er wollte nicht, dass wilde Gerüchte die Runde machten. „Michl bringt ihn zu seiner Mutter. Die soll entscheiden, ob sie einen Krankenwagen ruft“, beeilte er sich, zu versichern.

„Einen Teufel tut die!“, rief jemand. Kurt erkannte ihn als Ede Hassknecht, den Betreiber des kleinen Dorfladens, wo man Eier, Hausmacherwurst, Mehl, Zeitungen und eigentlich alles andere Lebensnotwendige kaufen konnte. „Die verlässt nie das Haus und schottet sich völlig von uns ab. Kauft einmal in der Woche bei mir ein, und nicht mal da schafft sie es, mehr als ‚Guten Tag‘ zu sagen. Die wird sich hüten, das bei der Polizei anzuzeigen und hier einen Aufruhr anzuzetteln!“, erzählte er.

Kurt verdrehte die Augen. Er hatte lediglich ‚Krankenwagen‘ gesagt, die Polizei hatte er mit keiner Silbe erwähnt.

„Warum ist das so? Also – dass die sich so einigelt?“, fragte ein anderer und blickte dabei Helmut an. Er war der Älteste hier, deswegen fragte man am besten ihn wegen solcher Dinge.

„Das ist ein Sportheim, hier herrscht Rauchverbot!“, brüllte Ulrich an der brennenden Zigarette im Mundwinkel vorbei einen jungen Mann an, der sich im Eingangsbereich gerade eine Zigarette anzünden wollte.

„Das weiß ich nicht“, antwortete Helmut, ohne die Lacher zu beachten. Ein paar Leute neigten sich nach vorne, um ihn besser zu verstehen. Helmut schien die Aufmerksamkeit zu genießen. „Frau Hofmann ist in dem Haus geboren, in dem sie jetzt mit Erwin wohnt. Ich kannte ihre Eltern, als ich selbst noch ein Junge war. Tüchtige Leute. Sie selbst war ein ruhiges Mädchen. Wie sie schwanger wurde, weiß niemand. Ihre Eltern sind gestorben, sie ist mit ihrem Jungen im Elternhaus geblieben und immer scheuer geworden.“

„Man müsste mal Gisela fragen, die Alte weiß bestimmt mehr“, sagte Ede.

„Ja, ganz bestimmt“, rief ein anderer, „Die hört das Gras wachsen. Das passt doch wie Arsch auf Eimer, dass die gesehen hat, wer Erwin verdroschen hat. Die spioniert alle aus! Neulich hat sie mir erzählen wollen, dass ich nachmittags nicht düngen soll, weil dann die Tomaten eingehen. So ein Unfug! Das geht die Alte überhaupt nichts an, was ich in meinem Garten mache!“

Dieser Kommentar verursachte vereinzelte Lacher. Jedem hier war Giselas Neugier und ihre Neigung, ihre Nase in Dinge zu stecken, die sie nichts angingen, schon sauer aufgestoßen.

„Das ist echt kein Wunder, dass Gisela als Erste gesehen hat, was passiert ist“, sagte Helmut amüsiert. „Die hat von ihrem Wohnzimmerfenster aus den besten Blick auf den Sportplatz. Die weiß bestimmt auch schon, wer der Täter ist.“

Kurt war dieses Thema besonders unangenehm, dennoch konnte er nicht umhin, zu bewundern, wie geschickt Helmut die Gespräche nach seinem Interesse lenkte.

„Ich wette, das war einer von den Reutlinern!“, rief nun Frank Hassknecht, Edes Sohn. Trotz seiner Jugend war er einer der Lautesten hier im Dorf, was ihm in der Vergangenheit einiges an Prestige eingebracht hatte. Reutlin war das Nachbardorf.

„Das kann ich mir sogar ganz gut vorstellen“, sagte Horst langsam, „Das sieht denen doch ähnlich, sich an Schwachen zu vergreifen“.

Kurt verdrehte erneut die Augen. Horst war dem Geschwätz voll und ganz auf den Leim gegangen. „Nun aber mal langsam!“, rief er und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die halblauten Gespräche verstummten. „Es kann sein, es kann aber auch nicht sein. Wir sollten aufhören, hier schon Gerüchte zu verbreiten und Menschen zu verdächtigen“, sagte er streng. „Das ist Sache der Polizei, das herauszufinden, und es ist Sache von Erwins Mutter, den Fall zur Anzeige zu bringen.“

„Ja sicher, als ob die das tun würde …“, murmelte jemand halblaut, drehte sich aber weg, um Kurts Blick nicht zu begegnen.

„Ich werde morgen früh mit Frau Hofmann reden. Und bis dahin schulden wir dem armen Erwin Respekt und lassen ihn in Ruhe und zerreißen uns nicht die Mäuler über ihn.“ Mit diesen Worten wandte er sich Matthias zu, der ihm sowohl bestätigend als auch aufmunternd zunickte. „Komm, wir zahlen“, sagte er, woraufhin Matthias Anstalten machte, sich von seinem Stuhl zu erheben. „Macht’s gut, ihr beiden“, sagte Helmut grinsend. Er wirkte, als hätte er sehr viel Spaß, während die anderen Kurt eher feindselig musterten. Er ging mit Matthias nach draußen.

„Mach dir nichts draus, die beruhigen sich schon wieder“, sagte dieser, als die beiden die stille Straße entlangliefen und die Sonne schon halb hinter den Baumwipfeln verschwunden war.

„Ich hoffe nur, Erwin ist nicht schlimm verletzt“, antwortete Kurt.

„Das wirst du morgen schon noch herausfinden“, sagte Matthias und klopfte Kurt zum Abschied auf die Schulter, dann bog er auf den Feldweg ab, der an Kurts Garten vorbei zu seinem Grundstück führte.

Zwischenspiel

Mit diesem reichlich verwirrenden Abend hat die Tragödie nun also begonnen. Meine Rolle in diesem Schmierentheater verschweige ich besser. Für Sie, werte Leser, bin ich nichts als der Erzähler. Derjenige, der Sie in die Köpfe der Beteiligten blicken lässt und Ihnen die Handlung Stück für Stück so schildern wird, wie sich zugetragen hat.

Ich beginne am besten beim Ort der Handlung, einem kleinen Dorf namens Friedensweide, in der grünen Mitte Deutschlands. Eine Straße führt hinein in dieses Dorf, und dieselbe Straße führt auch wieder hinaus. Sie schlängelt sich einmal um den Sportplatz herum, der mit dem Sportheim zusammen das Zentrum bildet. Er ist von vielen uralten Linden umstanden. Das Sportheim ist die einzige Kneipe des Dorfes und somit der Mittelpunkt jeglichen Lebens. Lustigerweise gehen sämtliche Fenster des Sportheims zur Straße hinaus anstatt zum Sportplatz: Man könnte meinen, dass die Erbauer bereits gewusst hatten, dass es den Dorfbewohnern am wichtigsten sein würde, zu wissen, was die Nachbarn taten. Immer wenn also Heimspiel ist, stehen alle Dorfbewohner am schlammigen Rand des Sportplatzes und müssen jedes Mal, wenn sie ein neues Bier möchten, wieder bis zum Sportheim laufen, anstatt sich einfach von drinnen aus das Spiel anzusehen und beim Wirt ein neues zu bestellen. Von der Straße zweigen einige kleinere Sackgassen ab, eher Feldwege als Straßen. Das Sportheim liegt auf der einen Seite des Sportplatzes, auf der anderen Seite weiter dorfauswärts das Feuerwehrhaus.

In wenigen Tagen wird hier Kirchweih gefeiert, und das, obwohl es seit über hundert Jahren keine Kirche mehr gibt. Sie ist irgendwann im Ersten Weltkrieg abgebrannt und wurde nie wieder aufgebaut, dazu ist das Dorf wohl schlichtweg zu klein. Sie stand da, wo später das Feuerwehrhaus gebaut wurde, deswegen ist dort auch der Kirchweihplatz. Der Kirchweihbaum steht schon drohend auf der leeren Fläche wie ein erhobener Zeigefinger, der die Sünden der Dorfbewohner verurteilt.

Es ist nicht gerade unüblich, dass Dörfer untereinander verfeindet sind, aber zwischen dem Nachbardorf Reutlin und dem hiesigen Flecken ist die Feindschaft eine ganz besondere: Im letzten Jahr war in Reutlin eine Reportage mit dem Titel „Meine Nachbarn, die Nazis“ gedreht worden. Anscheinend hatte bei der letzten Wahl wohl die NPD die meisten Stimmen bekommen, woraufhin ein Fernsehsender sich genötigt sah, dieses „Dunkeldeutschland“ ins Rampenlicht zu zerren.

Einer der Dorfbewohner wurde vor seiner Scheune interviewt, auf der stand „Mein Opa war kein Verbrecher“. Die O-Töne waren alles in allem recht ähnlich: Die Flüchtlinge würden Frauen vergewaltigen, die sollten ihr eigenes Land wieder aufbauen, Merkel sei eine Verbrecherin, und so weiter. Mit schadenfrohem Grinsen hatte der Reporter dann gesagt, dass es sogar Versuche gäbe, Prominente aus der rechtsradikalen Szene nach Reutlin einzuladen, diese allerdings reihenweise abgesagt hatten.

In den umliegenden Dörfern wurde die Reportage mit sauertöpfischer Miene aufgenommen: Mit den Nazis wollte niemand etwas zu tun haben. Es traf sich daher auch ziemlich gut, dass die Reutliner nichts mit dem Rest der umliegenden Dörfer zu tun haben wollten. So konnte man in aller Ruhe auf ihnen herumhacken und sie zu Sündenböcken für alles erklären, was den Dorfbewohnern hier nicht passte. Wenn der Kohl in den Gärten nicht wuchs und der Regen ausblieb, waren die Reutliner schuld, genauso wie an Wildunfällen, Dürreperioden und Steuererhöhungen. Es war wie #DankeMerkel, nur umgedreht. Aber genauso hinterwäldlerisch. Wenn man nichts zu reden hat, sucht man sich eben Feinde, so ist das auf dem Dorf.

Wenige Monate, nachdem diese Reportage gesendet worden war, hatte eine alleinstehende, sehr reiche Frau namens Ulrike (ich weiß ihren Nachnamen nicht), die etwas außerhalb des Dorfes in einer pompösen Villa lebte, die Idee, vier syrische Flüchtlinge bei sich aufzunehmen. Dies wurde anfangs von den hiesigen Dorfbewohnern ziemlich übel aufgenommen. Als man hier jedoch mitbekam, dass die Reutliner in ganz großem Stil gegen die Flüchtlinge mobilisierten, waren plötzlich alle bereit, die vier Syrer willkommen zu heißen. Man wollte sich schließlich um jeden Preis von den Nazis da drüben abgrenzen. Wenn man über sie redete, nannte man sie hauptsächlich die Arabs. Wenn man sich über sie ärgerte, kam es mitunter auch mal vor, dass man Kameltreiber sagte.

Nun kommen wir aber zu den Handelnden: Im Mittelpunkt steht Kurt Stieger. Er ist 47 Jahre alt, verheiratet mit Marisa Stieger und hat drei Kinder: Leandra, 18, Valentin, 16, und Moritz, 10 Jahre. Er ist Lehrer für Deutsch und Geschichte. Kurt Stieger ist einer der ganz wenigen Menschen, die es als Makel betrachten, studiert zu haben. „Der Bub muss sein Leben lang nicht mehr arbeiten“, hatte sein Vater damals gesagt, als Kurt zum Studieren von zu Hause ausgezogen war. Nach sechseinhalb Jahren Studium, zwei Jahren Referendariat und vier Jahren Lehrerdasein in einer Großstadt kam er zurück in das Dorf, in dem er aufgewachsen war. Kurt hatte das Haus seiner Eltern geerbt und war dann auch in dieses eingezogen. Es war eines der stattlichsten Bauernhäuser direkt an der Hauptstraße; sämtliche anderen Häuser schienen zu ihm aufzublicken. Die Scheune hatte Kurt allerdings abreißen lassen, woraufhin sämtliche Bauern im Dorf den feinen Herrn von der Akademie, wie sie sagten, verspottet hatten. Aber das lag schon mehrere Jahre zurück und Kurt erfreute sich seitdem an einem weitläufigen Garten voller kleiner Apfelbäume, die er dahin gepflanzt hatte, wo früher die Scheune stand. Auch die Scham über die abgerissene Scheune war fast ganz vergangen.

In den vier Jahren in Kassel hatte er ständig das Gefühl gehabt, die Stadt verändere sich schneller, als er mit ihr Schritt halten konnte. Hier läuft dagegen alles in einem Tempo ab, das Kurt nicht verunsichert. Er ist 1,95 Meter groß und hat eine Glatze mit einem lustigen, wirren Haarkränzchen von den Ohren bis zum Genick. Als er es sich einmal abrasiert hatte, sagte seine Frau, dass er aussähe wie Arjen Robben, also hat er es sich wieder wachsen lassen. Meist steht er etwas vornübergebeugt, wegen eines Bandscheibenvorfalls vor einigen Jahren. Kurt ist der gewählte Dorfsprecher, im Vorstand des Sportvereins, Hauptorganisator der Kirchweih und im Mittelpunkt aller Ereignisse, die sich hier im Dorf abspielen.

Sein bester Freund und bedingungsloser Lakai, Matthias Rotlinger, saß auch mit am Tisch. Er ist gleich alt, sehr dick und hat sein ganzes Leben lang hier in diesem Dorf verbracht. Kurt und Matthias sind gleich alt und kennen sich, seitdem sie gemeinsam laufen gelernt haben. Die Dorfbewohner haben schon damals immer Witze über die beiden besten Freunde gemacht: Dick und Doof, hatten sie scherzhaft gesagt. Kurt war damals schon groß und schlaksig gewesen, Matthias damals schon klein und rund. Mittlerweile verschwinden im Sitzen aber beinahe seine Knie unter den Wülsten seines Bauches, und das dritte Kinn schafft es mit Müh und Not noch aus dem aufgeknöpften Kragen seines Poloshirts.

Horst Wildfuchs, eine hemdsärmelige, ehrfurchtgebietend bullige Gestalt, hat Friedensweide ebenfalls nie für längere Zeit verlassen. Er ist Kommandant der Feuerwehr und, wie Kurt, unfähig, sich mit der zweiten Reihe zu begnügen. Der Vierte am Tisch, Helmut Niedernbuch, ist der Repräsentant der Vergangenheit des Dorfes. Er hatte sämtliche Posten inne, die nun Horst und Kurt bekleiden. Die vier sitzen jeden Mittwoch am Stammtisch und spielen Karten. Nichts passiert hier ohne das Zutun dieser vier Menschen.

Normalerweise laufen die Mittwochabende immer genau gleich ab: Kurt, Horst, Matthias und Helmut spielten zwei Stunden ab 19:00 Karten. In dieser Zeit trinkt Kurt zwei Bier, Horst meistens drei und, wenn er gewinnt, mitunter vier. Das kommt allerdings selten vor, wenn er mit Kurt zusammen spielt. Helmut und Matthias trinken ebenfalls zwei Bier, Matthias manchmal drei, Helmut manchmal nur eines. Danach unterhalten sich die vier noch eine Stunde mit den anderen Dorfbewohnern, die ebenfalls Karten spielen oder sich einfach nur über den neuesten Dorfklatsch austauschen. Kurt trinkt zum Dorfklatsch sein drittes Bier, dann macht er sich auf den Heimweg, zweihundert Meter die Straße entlang.

Erwin sitzt meist an einem der Tische, an denen Karten gespielt wird, schaut zu, trinkt Fanta, klatscht lächelnd in die Hände, wenn er sieht, dass andere sich freuen, und antwortet auf alle Fragen mit einem freundlichen „Hnnnnnnnnnnnnnn“. Erwin ist fast 40 und trägt oft einen hellblauen Pulli mit Donald Duck darauf. „Der wurde zu heiß gebadet“ oder „Der ist als Kind vom Wickeltisch gefallen“, sagen die Alten im Dorf über ihn, wenn man sie fragt. Oft sagen sie das aber auch, wenn man sie nicht fragt.

Erwin lebt mit seiner Mutter in einem kleinen Häuschen am Rand des Dorfes, aber während diese das Haus so gut wie nie verlässt, stromert Erwin den ganzen Tag durch sämtliche Straßen und schaut den Bauern beim Arbeiten und den Kindern beim Spielen zu. Erwin ist jeden Mittwochabend im Sportheim, weil er weiß, dass Ulrich Berber, der Wirt, ihm dann eine Fanta spendiert. Aber vielleicht weiß er es auch nicht und sieht lediglich, dass an einem Abend in der Woche mehr Menschen als sonst zum Sportheim laufen, ohne überhaupt zu wissen, was „Mittwoch“ ist, oder „Abend“. Keiner der Dorfbewohner hat Erwin mehr sagen hören als „Hnnnnnn“.

Nun bleibt noch Michl, der Fußballtrainer. Er ist eine Sorte Mensch, die man in genau einem Wort beschreiben kann: „Fußballtrainer“. Gutaussehend, sportlich, beliebt, naiv und hilfsbereit. Aber auch solche Menschen braucht es auf dieser Welt. Wenn man mir den Kommentar gestattet, bereichern solche Menschen sie.

Ede Hassknecht und sein Sohn Frank betreiben die größte Landwirtschaft des Dorfes und einen kleinen Laden, der sämtliche Tante Emmas dieser Welt in den Schatten stellt. Es gibt bei ihnen Zigaretten, Brötchen, Zeitungen, selbstgemachte Wurst und Eier, auf Bestellung auch ein halbes Schwein, Klopapier, Putzmittel und sogar Tampons (wobei ich empfehle, diese dort nicht zu kaufen, sonst weiß am nächsten Tag das gesamte Dorf, wer gerade seine Tage hat).

Diese Geschwätzigkeit bringt mich zur letzten Person, die ich hier vorzustellen habe: Gisela Falkenstein. Sie wohnt gegenüber vom Sportplatz, hat von ihrem Küchenfenster aus einen ungehinderten Blick auf das Sportheim, ihre Ohren in jedem Wohnzimmer und ihre Augen in jedem Keller. Wer Tratsch sucht, geht zu ihr. Und hier suchen sehr viele Leute Tratsch. Seit ihr Mann gestorben ist, und das ist schon einige Jahre her, ist sie mit dem gesamten Dorf verheiratet, denn sie weiß über jeden Dorfbewohner so viel, wie andere erst nach fünfzigjähriger Ehe.

Die Figuren dieses Dramas haben sich nun auf der Bühne versammelt. Oder anders gesagt: Der Erzähler hat die Schachfiguren seiner Partie auf dem Feld verteilt. Seit Jahren schon werden die Alten immer älter, Junge kommen so gut wie keine hinzu. Unser Dorf rutscht weiter und weiter in die Vergangenheit, „… und weißt du noch, damals, als Helmut noch Dorfsprecher war, damals, da war Kurt noch gar nicht geboren, als der Misthansel gerade seine Scheune gebaut hat, da war ein ebenso heißer Sommer als jetzt“. Man misst die Zeit nicht in Stunden, Tagen und Jahren, sondern in Scheunen, Hasenställen und neu angelegten Beeten. Seit Jahren schon ist hier allerdings nichts mehr gebaut worden. Die Alten, die früher noch Landwirtschaft betrieben hatten, vererben die Höfe an ihre Söhne, und diese verkaufen sie oder lassen sie vermodern. Seit hier nicht mehr gebaut wird und alles zerfällt, ist auch die Zeit stehengeblieben. Seitdem kehren manche Dinge wieder, aber nichts Neues entsteht. Nur die Kirchweih und das Feuerwehrfest schaffen es jedes Jahr wieder, in einer nahezu biblischen Anstrengung, genug Helfer zu rekrutieren, um noch ein weiteres Mal stattzufinden.

Was hält mich noch hier? Es sind Erinnerungen. Ich habe keinen anderen Ort, an den ich gehen könnte, weil kein Ort für mich mit mehr Liebe angefüllt sein könnte als dieser. Es ist freilich eine einseitige Liebe. Ich habe viel für diesen Ort gegeben und sehr wenig zurückbekommen. Trotzdem war ich immer damit zufrieden, so vor mich hin zu existieren und diesem Dorf beim Sterben, seinen wenigen Kindern beim Aufwachsen zuzusehen. Liebe ohne Sehnsucht, ein selbstgenügsames Gefühl. Ein Stein hat keine Wahrnehmungsorgane, er steint einfach so vor sich hin, Millionen Jahre lang, und ist seine völlig eigene, empfindungslose Welt.

Es sind diese unangenehmen Momente, wie es jetzt einer ist, die mich von meiner Geschichte abschweifen und in Melancholie versinken lassen. Es wird langsam dunkel. Im Hintergrund pfeift Ennio Morricone eine Melodie und vor mir auf dem Tisch steht eine Flasche Cognac, die mir verführerisch zuzwinkert, als wollte sie heute noch ausgetrunken werden. Aber ich muss diese kräftige Brünette enttäuschen, ich werde heute allein schlafen gehen, nach einem kurzen Tanz mit der Schönen. Sie hat die Augen von Claudia Cardinale, aber ich bin gänzlich unempfindlich gegenüber ihren weiblichen Reizen.

Ich muss mich zusammenreißen, es geht nicht um mich in dieser Geschichte. Genau genommen ging es noch nie um mich, in keiner Geschichte, aber das lag daran, dass in diesem Dorf noch nie etwas passiert ist, das es wert war, aufgeschrieben zu werden. Oder vielleicht passieren ständig solche Dinge und ich bin schlicht und ergreifend nur zufällig gerade jetzt als Erzähler anwesend? Ich weiß es nicht. Ein kleiner Schwof mit Claudia Cardinale noch, dann werde ich schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag, der erzählt werden muss.

Mittwoch, 01.08.2018, 21:22

„Ich habe drei Mal versucht, dich auf dem Handy zu erreichen!“, begrüßte Marisa ihren Mann, während dieser im Hausflur seine Schuhe auszog.

„Du weißt doch, dass ich das auf lautlos habe beim Stammtisch“, sagte Kurt zerstreut und richtete sich auf. Marisas Lippen waren zusammengekniffen.

Kurt strich sich fahrig über seine wenigen Haare. „Weißt du …“, begann er.

„Schon gut, du musst nichts erklären“, sagte sie. „Moritz hat mir alles erzählt. Er ist schon im Bett.“

„Wo sind die anderen beiden?“, fragte Kurt.

Marisa drehte sich um und lief in das geräumige Wohnzimmer, dessen alte, schwere Holzmöbel nicht zu dem schwarzen Vinylfußboden in Marmoroptik und den LED-Deckenstrahlern passten. Ein nagelneues, hellgraues Sofa aus dem Möbelhaus nahm den größten Teil des Raumes ein, an der gegenüberliegenden Wand stand, passend zu den alten, wuchtigen Möbeln, die mit Blumen bemalt waren, ein Röhrenfernseher. Daneben stand eine kleine schwarze Box namens Alexa. Kurt hatte sie absichtlich dort platziert, in der Hoffnung, dass sie sich über den alten Fernseher ärgerte.

„Valentin ist oben in seinem Zimmer, Leandra übernachtet bei Tom. Sie hat dein Auto genommen.“

Valentin war 16 und machte eine Ausbildung zum Werkzeug­mechaniker in der nächstgrößeren Stadt, Leandra besuchte die zwölfte Klasse des dortigen Gymnasiums und war seit einem halben Jahr mit ihrem Klassenkameraden Tom zusammen.

„Du brauchst nicht nervös zu sein“, sagte Marisa freundlich, und das machte Kurt in seinem leicht angetrunkenen Zustand noch nervöser. Sie durchquerte das Wohnzimmer und setzte sich da auf die Terrasse, wo ein Weinglas und eine Flasche Rotwein auf dem Holztisch standen. Kurt folgte ihr.

Sie lachte. „Ach Kurt, du hast einen sitzen und trotzdem sofort bemerkt, dass ich mich über dich geärgert habe. Du weißt nicht warum, hast Schiss vor der Antwort und wünschst dir, dass du nüchtern wärst, um dich angemessen verteidigen zu können. Ich kenne dich doch.“ Mit diesen Worten beugte sie sich hinüber zu ihrem Mann und küsste ihn flüchtig am Hals.

„Du kennst mich und weißt, dass ich niemals mit Absicht etwas tun würde, das dich ärgert, Liebste“, antwortete er langsam und feierlich.

„Du hättest Moritz nach Hause begleiten sollen. Erwin wurde verdroschen, und du bist nicht auf die Idee gekommen, dass ein zehnjähriger Junge vielleicht nicht unbedingt abends alleine draußen sein sollte, solange der Täter noch frei herumläuft. Schlimm genug, dass Gisela unseren Jungen als Boten zu dir ins Sportheim geschickt hat.“

Kurt schrumpfte bei jedem ihrer Worte weiter in sich zusammen. Er war schockiert, weniger von Marisas Tadel, als davon, dass er nicht daran gedacht hatte. „Liebste, ich… Das tut mir leid, der Schock, als ich bei Erwin war, und Matthias war bei den Kindern und dann … Ich habe daran gar nicht gedacht“, sagte er kleinlaut.

„Ich weiß“, antwortete sie. „Es ist ja nichts passiert, Moritz liegt oben und schläft. Aber denk in Zukunft bitte an so etwas. Nur weil wir auf dem Dorf leben, heißt das nicht, dass unseren Kindern gar nichts geschehen kann.“

Darauf folgte lange Stille, während die Dämmerung den Garten nun vollends einnahm und die beiden den Grillen lauschten. Marisa nahm Kurts Hand.

„Du hast recht“, begann er. „Es tut mir leid. Ich hätte besser aufpassen und als erstes an meinen Sohn denken müssen. Es ist nur …“

„Du musstest mal wieder die Anstandsdame des Dorfes spielen, richtig?“

Kurt blickte beschämt zur Seite. Eine dicke Hummel brummte gemächlich um einen der Apfelbäume herum, dessen Früchte größer und größer wurden. In zwei Monaten würden sie reiche Ernte einfahren. „Ja“, sagte er.

Sein Handy, das er auf dem Heimweg wieder auf Laut gestellt hatte, klingelte. Marisa stöhnte auf. „Da habe ich meinen Herrn ‚Ich regel das‘-Stieger einmal so weit, dass er einen Fehler eingesteht, und nicht mal diesen Triumph lässt man mich auskosten!“, rief sie.

Kurt lächelte bedauernd. Das Handy klingelte immer noch. Er nahm es und sah, dass es Michl war.

„Ja?“, meldete er sich.

„Ich hab Erwin nach Hause gebracht“, kam es aus dem Hörer.

„Gut. Ist noch irgendwas passiert? Was sagt Frau Hofmann?“

„Nichts, wie erwartet. Sie hat Erwin in Empfang genommen. Ich konnte kaum richtig erzählen, was zur Hölle da eigentlich passiert ist, da hat sie die Tür schon wieder zuschlagen wollen.“ Im Hintergrund hörte Kurt Gesprächsfetzen und Gläserklirren. Auch aufgrund von Michls bräsiger, lauter Stimme vermutete er, dass dieser wieder ins Sportheim gegangen war, nachdem er Erwin nach Hause gebracht hatte.

„Hat sie gesagt, dass sie die Polizei einschalten will?“, fragte er.

„Nee.“ Michls Stimme wurde lauter, wie auch der Lärm im Hintergrund. Eigentlich hätte er gar kein Telefon benötigt, wenn er noch ein bisschen lauter geworden wäre, hätte Kurt nur das Fenster öffnen müssen, um seine Stimme vom Sportheim herüberschallen zu hören. „Aber mir ist da noch was eingefallen. Ich hab der Hofmann gesagt, dass sie mal Erwins Taschen durchsuchen soll, ob ihm da irgendwas geklaut wurde.“

„Mensch, guter Einfall, daran haben wir gar nicht gedacht!“, antwortete Kurt. „Und?“

„Dem ist nichts geklaut worden. Ein bisschen Münzgeld hat er einstecken gehabt und das Kärtchen mit seinem Namen und seiner Adresse, handgeschrieben von der Hofmann. Mit mehr geht der nicht aus dem Haus. Haustürschlüssel braucht er keinen, seine Mutter ist ja immer zu Hause.“

„Ich rede morgen nochmal mit ihr“, sagte Kurt. „Lass dir ein Bier auf meinen Deckel aufschreiben.“

„Schon geschehen“, schallte es aus dem Hörer, dann war das Gespräch weg.

Marisa hatte ihn während des ganzen Telefonats beobachtet. „Dir geht das nahe, nicht wahr?“, fragte sie.

Wieder wartete Kurt kurz mit der Antwort und sagte dann: „Ja. Wer auch immer das war, sollte bestraft werden. Ich rede morgen mal mit Frau Hofmann, dass sie den Fall zur Anzeige bringt.“

Marisa schwieg, also fuhr Kurt grimmig fort: „Und mit Gisela. Ich will wissen, was die gesehen hat.“

„Es ist nicht dein Job, hier auch noch Sheriff zu spielen“, sagte sie, „Du willst dem Dorf hier etwas zurückgeben von dem, was es dir gibt. Das verstehe ich. Dazu gehört es auch ab und zu mal, die anderen an die kurze Leine zu nehmen. Aber wir sind nicht in Hadleyville und du bist nicht Gary Cooper. Überlass das der Polizei.“

„Ich bezweifle, dass die Hofmann die Polizei einschalten wird.“

„Dann hat dich das nicht zu kümmern!“ Ihre Stimme war schärfer geworden.

Sie war eigentlich ein Großstadtkind, hatte sich in Kurt verliebt während ihres zweiten Semesters in Kunstgeschichte, aber während Kurt gerade erst in Kassel angekommen war und sichtlich überfordert damit war, eine Tram von einem Bus zu unterscheiden, hatte sie bereits ihr ganzes Leben dort verbracht. Nach ihrem Studium hatte sie zwei Jahre in New York gelebt und für ein Auktionshaus Chippendale-Möbel begutachtet. Sie war während der Zeit mit Kurt in Kontakt geblieben und hatte seinen Antrag angenommen, als sie im ersten Jahr zu Besuch in Deutschland war. Als Kurt nach der Beerdigung seiner Mutter schüchtern vorgeschlagen hatte, dass sie beide doch das Haus hier übernehmen könnten, hatte sie zugestimmt. Sie war ihm hierher gefolgt und hatte einen Bürojob in einer erbärmlichen kleinen Kunstsammlung in der nächstgrößeren Stadt angenommen, dem sie jedoch hauptsächlich von zu Hause aus nachkam. Seit sie Kinder hatten, machte sie den Großteil ihrer Arbeit im Homeoffice und fuhr nur gelegentlich ins Büro. Kurt fragte sich manchmal, ob es ihr guttat, so selten aus dem Dorf herauszukommen.

Sie hatte sich nie beschwert, als Kurt hier zu so einer Art Bürgermeister geworden war und mehr Zeit in Vereinssitzungen verbrachte als zu Hause bei ihr, im Gegenteil: Sie hatte ihn immer unterstützt, hatte den Kuchenverkauf bei der Kirchweih zu Gunsten der Kindersportgruppe organisiert, hatte sogar einen Lesekreis für Frauen ins Leben gerufen. Anfangs hatte sie sich gefragt, in welches patriarchale Jahrhundert sie hier zurückgestoßen worden war, aber diese Gedanken verstummten, als sie sah, wie glücklich ihre Kinder hier aufwuchsen. Sie war jedoch immer sehr darauf bedacht, ihren Mann an gewisse Grenzen zu erinnern, die er in seiner unendlichen Energie für das Ehrenamt häufig einfach übersah.

„Doch, das hat mich zu kümmern“, sagte Kurt ruhig und bestimmt. Die Nervosität von vorhin war von ihm abgefallen. „Ich möchte nicht, dass hier eine Hexenjagd eröffnet wird.“

Marisa sah ihn fragend an.

„Ach, du weißt schon, es hat keine zehn Minuten gedauert und dann kamen die Reutliner Nazis ins Spiel.“ Er verdrehte die Augen.

„Horst, nehme ich an?“, fragte Marisa spitz.

„Ausnahmsweise mal nicht, aber er ist als Erstes darauf angesprungen.“

„Das wundert mich nicht. Dass du mit dieser Dampfwalze immer noch Zeit verbringst!“

„Marisa, du weißt doch, ich brauche ihn. Und eigentlich ist er auch gar nicht so schlimm. Er ist nur häufig etwas … nun ja, unbedacht.“

Sie lachte auf. „Das hast du jetzt schön umschrieben.“

„Und ich weiß, er wird die Sau durchs Dorf treiben, dass die Reutliner Nazis Erwin zusammengeschlagen haben, wenn ich ihm nicht Einhalt gebiete und mich darum kümmere, dass das Ganze eine reguläre polizeiliche Ermittlung wird.“

„Jaja, Herr Stieger muss mal wieder verhindern, dass die Bauern Fackeln und Mistgabeln rausholen und die Hexe zum Scheiterhaufen zerren.“

„Du hast es erfasst, Liebste“, sagte Kurt und küsste sie nun ebenfalls am Hals, während sie den letzten Schluck aus ihrem Rotweinglas trank. „Ich kann es nicht zulassen, dass hier ein wütender Mob auf Reutlin losgeht, und das wird passieren. Dann werden die Reutliner mit gleicher Münze antworten – sie haben es satt, dass sie im Umland die Sündenböcke für alles sind. Ich habe keine Lust auf einen Kleinkrieg der Dörfer. Und hier geht es nicht nur um einen abgesägten Kirchweih-Baum oder ein paar geklaute Hühner, hier geht es um schwere Körperverletzung! Ich werde dafür sorgen, dass Frau Hofmann diesen Fall zur Anzeige bringt, und dann dürfte sich das für uns erledigt haben. Wenn dann herauskommt, dass es ein Reutliner war, dann wird er bestraft und wir brauchen keinen Mob mehr.“

Marisa stellte ihr Glas ab und grinste verschmitzt. Sie deutete mit dem Kinn nach drinnen und blinzelte kokett. Die beiden standen wortlos auf und gingen hinein. Die Terrassentür wurde geschlossen und das Mondlicht spiegelte sich in den Gläsern, während die Hummel immer noch träge um den Apfelbaum flog.

Zur selben Zeit

Als Horst nach Hause kam, war seine Mutter noch wach. Es brannte Licht im Flur und die Haustür war nur angelehnt. Normalerweise schlief sie schon, wenn Horst mittwochs vom Stammtisch kam. Auch war es ungewöhnlich, dass die Haustür noch offen stand. Mathilde Wildfuchs war eine ängstliche Frau, zu ängstlich für Horsts Geschmack, und sie verschloss normalerweise bei Einbruch der Dämmerung sämtliche Fenster und Türen.

Horst war betrunken. Er wollte nichts weiter als schlafen und hatte keine Lust, sich jetzt noch mit seiner alten Mutter auseinanderzusetzen. Morgen früh um halb sechs würde der Wecker klingeln, und dann ging es für ihn ins nahegelegene Ziegelwerk. Drei Jahre noch, dann konnte er in Rente gehen. Mathilde kam ihm schon im Flur entgegen gestelzt. Sie trug ihre grauen Haare immer noch frisiert und war voll bekleidet mit Strumpfhose, Rock, Bluse und Strickjacke.

„Was ist denn passiert, Horst, du musst mir sofort alles erzählen!“, rief sie schrill. Ihre faltigen Wangen zitterten, die hellen Augen waren weit aufgerissen.

„Was macht denn der Kompost hier im Flur?“, antwortete er mit einer Gegenfrage. Die Emaille-Schüssel mit den Tomatenresten, dem Kaffeesatz und den Kartoffelschalen müffelte unangenehm, das roch Horst selbst durch seinen Bieratem hindurch.

„Oh… ähm… den wollte ich vorhin noch nach draußen bringen“, sagte sie etwas ratlos.

„Deswegen wahrscheinlich auch die offene Haustür“, brummte Horst.

„Die war offen? Ach Gottchen, ich bin ganz zerstreut, das ist die Aufregung! Nun komm aber erstmal in die Stube.“ Sie öffnete die Tür zur Küche und winkte Horst energisch hinein.

„Mutter, ich will schlafen, ich muss morgen doch wieder raus.“

„Ach komm schon, ich hab dir sogar ein Bier kalt gestellt!“ Das war nun wirklich etwas Ungewöhnliches, sie mochte es eigentlich nicht, wenn ihr Sohn Bier trank. Am liebsten war es ihr, wenn er gar nicht das Haus verließ.

Horst betrat die unordentliche Küche, die nur von einer einzelnen Lampe aus olivgrünem Porzellan erhellt wurde. Die beigen Fliesen, die dunkelbraunen Schränke und die karmesinrote Polsterung der Eckbank schienen alles Licht zu schlucken. Aber das war auch besser so, denn überall lagen Bildzeitungen, längst ausgefüllte Kreuzworträtselhefte, Kaffeetassen und Nähzeug herum. Die Unordnung missfiel ihm.

Kaum dass Horst sich gesetzt hatte, stellte sie bereits zwei kleine Krüge und eine kalte Flasche Bier auf den Tisch. Horst öffnete sie mit einer Gabel, die er auf der Eckbank gefunden hatte. Er kam nicht dazu, zu fragen, was sie da verloren hatte, denn wieder stieg ihm der süßlich-muffige Geruch von Kompost in die Nase. „Jetzt steht der Kompost ja wieder hier in der Küche“, mäkelte er.