JACK D. SHACKLEFORD

 

Tanith

 

 

 

Roman

 

Apex Horror, Band 46

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

TANITH 

Vorbemerkung des Autors 

Vorspiel 

Erstes Kapitel 

Zweites Kapitel 

Drittes Kapitel 

Viertes Kapitel 

Fünftes Kapitel 

Sechstes Kapitel 

Siebtes Kapitel 

Achtes Kapitel 

Neuntes Kapitel 

Zehntes Kapitel 

Elftes Kapitel 

Zwölftes Kapitel 

Dreizehntes Kapitel 

Vierzehntes Kapitel 

Fünfzehntes Kapitel 

Sechzehntes Kapitel 

Siebzehntes Kapitel 

Achtzehntes Kapitel 

Neunzehntes Kapitel 

Zwanzigstes Kapitel 

Einundzwanzigstes Kapitel 

Zweiundzwanzigstes Kapitel 

Epilog 

 

Das Buch

 

 

Seltsame, nicht-menschliche Wesen scheinen die junge Virginia zu verfolgen. Immer wieder sieht sie zwischen den Bäumen von Gift's Hill gespenstische Gestalten. Nur bei ihrer Freundin Tanith findet Virginia Verständnis für ihre Ängste, die nicht in unsere Zeit passen.

Aber hinter der idyllischen Fassade von Virginias friedlichem englischen Dorf lauern die Schatten einer anderen, längst vergessenen Zeit: Tanith ist eine Hexe und hat Virginia als Opfer für das dämonische Volk im Hügel auserkoren...

 

Der Roman Tanith von Jack D. Shackleford (erstmals im Jahr 1977 veröffentlicht) gilt - wie auch Schwarzer Sommer aus der Feder desselben Autors - als Klassiker des Okkult-Horrors und erscheint als durchgesehene Neuausgabe in der Reihe APEX HORROR. 

  TANITH

 

 

 

 

 

Für Tricia

Für ihre Hilfe, ihr Vertrauen und ihre Liebe.

 

 

 

 

  Vorbemerkung des Autors

 

 

Woodwoses sollen tatsächlich existiert haben. Für sie gibt es ebenso gute Nachweise wie für andere Rassen des Kleinen Volkes, auch wenn sie weniger beachtet wurden als manche andere. Man frage die Landbevölkerung nach diesen Dingen, und sie wird eine Menge Geschichten zu erzählen haben. Selbst heute noch gibt es Gerüchte über Wechselbälge und seltsame Bündel aus Zweigen, die auf bestimmten Waldpfaden hinterlegt werden. Vielleichtsind die Woodwoses gar nicht ausgestorben. Gibt es sie noch, dann sind sie die einzigen Personen in dieser Geschichte, die nicht frei erfunden sind. 

 

 

 

 

  Vorspiel

 

 

Das Ritual war schon seit fast einer Stunde im Gange und näherte sich dem Höhepunkt.

Die Frau war nackt. Sie lag lang ausgestreckt mit dem Rücken auf dem niedrigen, rechteckigen Tisch, der als Altar diente. Die Geräte und Gefäße, die bei anderen Riten dort zum Gebrauch bereit standen, waren entfernt worden. Ihr Haar, silberhell und glatt, hing über die Kante des Tisches fast bis auf den Fußboden hinab. Dieser war mit den Symbolen und Hieroglyphen der Hohen Magie beschriftet. Kreis und Pentagramm umschlossen sie, und ihre Stirn trug in Rot das kabbalistische Siegel, das eine Weiterentwicklung des alten mystischen Hexagramms ist, das Siegel Salomonis.

Über ihr wurden die Zeichen vollführt. Die geheimen Zeichen, die sich an die vierundzwanzig erogenen Zonen der Frau richten. Sie malten ein sich wiederholendes Muster auf ihren Körper, obwohl der schwarze Stab mit der roten Spitze, mit dem sie vollzogen wurden, sie gar nicht berührte. Als die Zeremonie beendet war, begann eine barsche, raue Stimme, in der keine Spur einer verbalen Liebkosung lag, die Worte des Ritus zu intonieren. Für diese Art von Kontrolle, von Stimulation, von sexueller Eroberung wurde keine körperliche Berührung benötigt.

Die Einbeziehung der sexuellen Energie einer Frau in okkulte Rituale kann man im Grunde nicht Schwarze Magie nennen, obwohl das irrtümlicherweise oft geschehen ist. So wurde der Ausdruck Vama Marg schon mit Pfad zur Linken übersetzt, was gleichbedeutend mit der Anwendung Schwarze Magie ist, aber er heißt einfach Pfad der Frau oder Pfad der Göttin, und das bedeutet nichts weiter, als dass die Quelle der Macht bei diesem Ritual eher ihren Ursprung in der Frau auf dem Altar hat als in dem männlichen Zelebranten. Der Zelebrant ist so gut wie immer, abgesehen von den Fällen sexueller Abweichungen, männlichen Geschlechts, und seine Rolle ist nur die des Führers.

Bei jedem Ritual, das im Rahmen des Vama Marg vollzogen wird, kann es für die Frau, die seinen Brennpunkt bildet, keine Erlösung geben, bis die rechte Zeit gekommen ist, bis alle Bedingungen erfüllt sind.

Dieser Zeitpunkt war schon ganz nahe.

Die Frau verkörpert bei dem Ritus unter anderem die Jugend - obwohl sie höchstwahrscheinlich nicht sehr jung ist und es unmöglich ist, dass sie noch keine Erfahrungen hat. Jugend bedeutet in dem Fall die Fähigkeit, lange Zeit in einem Zustand äußerster sexueller Erregung zu verharren. Dagegen muss der Zelebrant als Meister des Ritus alt bleiben, wenigstens so lange, bis er seine Aufgabe vollendet hat. Das bedeutet, er muss sein eigenes Verlangen völlig unter Kontrolle haben. Gibt er ihm zu schnell nach und kommt es deshalb zu einer verfrühten Vereinigung mit der Frau - wenn dies der Höhepunkt des Rituals ist so verströmt die Macht, noch ehe das langsame, abgewogene Aufbauen psychischer und physischer Energie den kritischen Punkt erreicht hat.

Es handelt sich hierbei um eine ebenso heikle - und potentiell ebenso gefährliche - Operation wie das Einschalten eines Atomreaktors.

Als in dem mit harter Stimme gesprochenen Monolog eine Pause eintrat, stöhnte die Frau. Sie hatte schon vorher von Zeit zu Zeit keuchende Laute von sich gegeben, die auf ihre steigende sexuelle Erregung zurückzuführen waren. Doch diesmal war es ein Stöhnen der Enttäuschung und der Niederlage.

Sie war heute Morgen in ihre lunare Phase eingetreten, der geeignetste Zeitpunkt für diesen besonderen Ritus, der soeben vollzogen wurde. Aber jetzt merkte sie, dass sie versagte. Sie war nicht wie sonst imstande, das Eintreten der Menstruation willkürlich zurückzuhalten.

In ihrem Körper wucherte langsam und gnadenlos etwas Fremdes.

Und zerstörte sie.

Es hatte keinen Sinn mehr, das Ritual fortzusetzen. Beide wussten sie es, die Frau und der Mann, der über ihr stand.

»Ich werde dich nicht sterben lassen«, sagte er ein wenig später. Seine Stimme klang grimmig und zeugte von stahlharter Entschlossenheit. »Zunächst einmal bist du für meine Arbeit zu wichtig, und di weißt, dass ich jetzt nicht mehr zurück kann. Außerdem bedeutest du mir persönlich viel zu viel. Du kannst sicher sein, dass ich dich nicht sterben lassen werde. Es gibt einen Weg, wie wir wissen...«

Alphonse Louis Constant - der Magier Eliphas Levi - schrieb einmal über sich selbst: »Er hat in seinem Leben viele Dinge gewagt, und nie ist sein Verstand Gefangener seiner Furcht gewesen. Und trotzdem befasst er sich nur unter wohlbegründeten Ängsten mit der magischen Lehre.« 

In der gleichen Geisteshaltung traf der Mann seine Vorbereitungen. Es gab viel zu tun; Menschen und Umstände mussten manipuliert werden. Schon einmal hatte er dies seltsame Werk begonnen, und er hatte versagt.

Er würde eine weitere Frau brauchen. Eine, die denen, die IHR dienten, angeboten werden konnte.

Ein Leben für ein Leben.

Und so begann es.

 

 

 

 

  Erstes Kapitel

 

 

Es war beinahe dunkel. Eine leichte Brise hatte die entnervende Hitze des Tages abgelöst. Das leise Fächeln der Luft bewegte das dünne, schwarze Gewand der Frau, die mit dem Rücken zu dem niedrigen, anmutigen weißen Haus auf der Terrasse stand. Ihr Gesicht wandte sie den Wäldern zu. Unter dem Gewand war sie nackt.

In ihrer linken Hand hielt sie einen geraden Stab aus Eschenholz, der bis auf die beiden Enden schwarz angestrichen war. Das eine Ende war silberfarben, das andere ohne Bemalung.

Eine ganze Weile stand sie unbeweglich da, während die Dunkelheit um sie her zusammenfloss. Ein leichtes Stirnrunzeln störte die Ruhe ihres Gesichts.

Endlich hob sie beide Arme und begann, den Eschenstab in ihrer linken Hand hochhaltend, langsam und mit bewusster, königlicher Würde auf den Wald zuzugehen, auf die dunklen Bäume, deren oberste Blätter und Zweige in der Brise raschelten und flüsterten. Auf halbem Weg blieb sie stehen. Sie stieß einen seltsamen, kaum hörbaren, kehligen Laut aus, der dennoch weit trug. Vielleicht hatten die Jäger der am wenigsten bekannten Stämme des alten Afrika diesen Ruf erkannt und verstanden, vielleicht auch die stillen Mönche, die immer noch in der wilden Berggegend des einstigen Tibet umherwandern. Es war ein Ruf von Seele zu Seele oder, richtiger gesagt, ein Ruf des Blutes, der jede Entfernung überwand.

Er wurde von den kleinen, wachsamen Geschöpfen der Wälder, der Hecken und Hügel identifiziert und verstanden. Er reichte überallhin, auf die Lichtungen, in das Dickicht und in die Tiefen des Waldes. Tiere, die gerade auf der Jagd waren, hielten inne und prüften voller Unbehagen schnüffelnd die Luft; und solange der Ruf die Atmosphäre beeinflusste, würden sie warten, als stehe die Zeit für sie still.

Denn es gab noch andere Kreaturen unter den Bäumen. Sie schlüpften aus ihren moosigen Verstecken zwischen den Wurzeln der großen Eichen und bewegten sich zielstrebig vorwärts.

 

*

 

Auf dem Sockel des achteckigen Taufbeckens aus dem fünfzehnten Jahrhundert, das sich in der Kirche zu Happisburgh in Norfolk befindet, hocken sie zwischen sitzenden Löwen. Ihnen gehören diese merkwürdigen, bösen kleinen Gesichter, die listig aus den Schnitzereien des Chorgestühls an zahllosen anderen Orten lugen. Man kann sie auf alten Marktkreuzen, Brunnen und Friedhoftoren in Anglia, Wessex und im Süden finden. Nie treten sie klar in Erscheinung, halb versteckt lauern sie. Sie sind schon beinahe ganz in Vergessenheit geraten. Nur in der Erinnerung derjenigen, die sich mit den ältesten bäuerlichen Überlieferungen auskennen, leben sie weiter, diese wilden Männer vom Volk im Hügel.

Sie sind weder wirklich menschlich noch sind sie Tiere. Sie haben die Eigenschaften von beiden. Außerordentlich schlau sind sie, denn als Rasse haben sie lange gelebt. Sie sind in der Tat so alt wie die Berge und älter als die Bäume. Über die Jahrhunderte hinweg haben sie ihre Schläue und ihre Weisheit vermehrt. Auch wenn kaum noch jemand von ihnen weiß - die Zigeuner kennen sie, und hier und da, wo alte Männer und Frauen noch im Rhythmus der Erde und der Jahreszeiten leben, legen sie zu bestimmten Zeiten des Jahres Bündel von Zweigen auf die Waldpfade. Weißdorn, Holunder, Eiche und Buche werden mit geflochtenen Gräsern auf ganz bestimmte, komplizierte Art zusammengebunden. Es sind Opfergaben - aber für wen oder warum, das ist mit wenigen Ausnahmen von allen vergessen worden.

 

*

 

Durch die allermächtigste Magie in ihren Dienst gestellt, beantworteten die Kreaturen den flüsternden Ruf der Frau in dem schwarzen Gewand. Es waren acht, alle männlich.

Die Ältesten.

Manche Sprachen sind aus dem Land verschwunden, andere werden nicht mehr benutzt. Wieder andere sind niemals richtig bekannt geworden, da sie als Sprache, wie der Mensch sie versteht und anwendet, äußerst fremdartig sind. Zu ihnen gehört die Zunge der schrecklichen, abstoßenden, alten Rasse der tiefen Wälder. Sie gehört unmissverständlich der Erde an: ein hartes, zischendes Wispern. Dieses Geräusch dringt manchmal im Zwielicht, wenn die Wälder am stillsten sind, an die Ohren der Menschen. Liebende entfernten sich dann von einem verborgenen Platz, ohne recht zu wissen, warum - denn im Tageslicht schien es dort noch so lauschig und so sicher vor lauernden Blicken zu sein.

 

*

 

Die Frau in dem schwarzen Gewand hatte Anweisungen zu geben und einen Handel abzuschließen. Sie hatte für die Weisheit, für das geheime Wissen der Ältesten ein kostbares Geschenk - in gewissem Sinne ein Leben für ein Leben.

Es hatte begonnen.

- Du kennst unsere Not.

- Wie ihr die meine kennt.

- Schon einmal hast du uns ein Versprechen gegeben.

- Diesmal wird es anders sein. Wir bereiten uns jetzt vor. Wann werdet ihr soweit sein?

- Die Frau muss auf jede Art passend sein.

- Das wird sie. Ihr werdet nicht enttäuscht werden.

- Wir sind bereit, sobald wir Gewissheit haben.

- Dann könnt ihr eure Vorbereitungen treffen.

Bisher hatte nur einer gesprochen, aber nun berieten sich alle untereinander in aufgeregtem Zischen. Die Frau wartete. Nach einiger Zeit trat der Anführer der Ältesten näher.

- Sie machen sich Sorgen, dass es auch diesmal wieder zu einem Fehlschlag kommen könnte. Du musst verstehen, dass es hart für sie ist, Geduld zu üben. Du weißt, wie wichtig es für uns ist. Die Zeit ist schon so lang.

- Ja.

- Dann wirst du auch einsehen, dass du diesmal dein Versprechen voll erfüllen musst.

- Das werde ich. Auch für mich ist es wichtig. Die Zeit wird knapp.

- Wir werden uns vorbereiten. Alles wird fertig sein. Wir warten sehnsüchtig darauf, dass du den Zeitpunkt bestimmst. Wird es bald sein?

- Ja. In ein paar Tagen.

- Tage oder Monate, das ist gleich. Es ist genug, dass der Tag kommen wird. Möge alles gutgehen mit dir, Herrin.

- Und ebenso mit euch.

Der Anführer trat zur Seite, und die Ältesten schritten einer nachdem anderen auf die Frau zu. Jeder einzelne kniete nieder, presste sein Gesicht auf die Erde zwischen ihren nackten Füßen, erhob sich wieder und entfernte sich rückwärtsgehend, als verlasse er eine regierende Königin. Die sieben bildeten einen Halbkreis vor ihr. Erst als das geschehen war, trat der Anführer an sie heran.

Er kniete nicht nieder.

Er streckte seine Hand aus und zerriss das dünne, schwarze Gewand mit seinen erdschwarzen Fingernägeln vom Halsausschnitt bis zum Saum.

- Der Handel gilt. Dies wird mit einem Faden, den die Gefährtin des erwählten Mannes fertig, genäht werden, sobald du deinen Teil des Handels erfüllt hast. Dann wird das, was du suchst, dein sein. Verwahre das Kleidungsstück bis dahin gut.

 

Nichts blieb mehr zu sagen oder zu tun. In Sekundenschnelle waren die Ältesten verschwunden, sie verschmolzen mit der Dunkelheit, und die Frau war allein. Plötzlich erschauerte sie. Dann wandte sie sich ab und ging schnell zu ihrem Haus zurück.

 

 

 

 

  Zweites Kapitel

 

 

Voller Unbehagen stellte Virginia fest, dass sie zu lange in der Sonne gelegen hatte. Sie fühlte sich matt und verschwitzt, ihr Mund und ihre Zunge waren trocken, und ihr Rücken, der, während sie vor sich hin gedöst hatte, den sengenden Strahlen ausgesetzt gewesen war, brannte.

Sie stand zu schnell auf und schwankte. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie schloss die Augen, bis die plötzliche Schwäche vorüber war. Offensichtlich hatte sie es übertrieben, und nun musste sie für den Rest des Tages im Haus bleiben, was ein Jammer war. Vorsichtig bückte sie sich nach ihrer Zeitschrift und ihrer Flasche mit Sonnenöl. Ihr Handtuch ließ sie auf dem ausgedörrten Rasen liegen und begab sich ins kühle Haus. Was sie jetzt brauchte, war ein Drink. Ein großes Glas mit Gin und viel Eis...

Innen zog sie sofort ihren winzigen Bikini aus, patschte nackt in das kleine Badezimmer und wusch sich das Gesicht. Dann tupfte sie ihren Körper behutsam mit einem weichen Handtuch ab, um so viel wie möglich von dem klebrigen Schweiß zu entfernen. Ihr Rücken schmerzte, und bei der leisesten Berührung mit dem Handtuch zuckte sie zusammen. Wie hatte sie nur etwas so Dummes anstellen können! Immer noch nackt kehrte sie in die Küche zurück und mixte sich den Drink, den sie sich bereits ausgemalt hatte: Gin, Limonensaft und ein halbes Dutzend herrlicher Eiswürfel. Nach kurzem Nachdenken fügte sie noch einen kleinen Schuss Gin hinzu.

Zum Teufel mit Richard, dachte sie. Überhaupt zum Teufel mit allen Männern. Frauen sind vernünftig. Frauen können toben, schreien, mit Sachen werfen, bitterlich weinen und dann das Ganze vergessen. Männer brüten.

Also soll er brüten. Wo er auch stecken mag. Er muss allein damit fertig werden.

Zum Teufel mit ihm.

Sie trank ihr Glas aus und mixte sich einen zweiten Drink, ebenso stark wie der erste. Während sie die erfrischende Flüssigkeit trank, schoss es ihr durch den Kopf, dass sie seit beinahe vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen hatte. Na und? Wenn sie keine Lust hatte zu essen, brauchte sie es ja nicht.

Eine Stunde später begann sie die Wirkung des Gins zu spüren. Sie hatte vier Glas getrunken und war ein wenig beschwipst. Es war durchaus kein unangenehmes Gefühl, und ihr Rücken schien nicht mehr so schlimm zu brennen. Aber es gab nichts für sie zu tun, und sie langweilte sich. Außerdem war es furchtbar heiß, sogar in der Küche. Mit Abscheu blickte sie aus dem Fenster über den langen leeren Garten hin, und dann, hauptsächlich weil es sonst einfach nichts anderes zu sehen gab, dachte sie an die angrenzenden Wälder. Unter den Bäumen würde es kühl sein, kühl und ruhig. Ein grüner Schatten. Kurz überlegte sie, ob sie, nackt wie sie war, in den Wald laufen sollte. Dann erschien ihr der Einfall doch zu gewagt. Sie mochte auf Zigeuner oder lärmend umherstreifende Holzfäller stoßen. Kichernd stieg sie in ihre ausgefransten Shorts aus abgeschnittenen Jeans, zog mit großer Vorsicht ein knappes T-Shirt über ihre brennenden Schultern und fuhr mit den bloßen braunen Füßen in flache Sandalen. Beim Anblick ihres Spiegelbildes musste sie lächeln. Alles in allem genommen, könnte sie ebenso gut nackt sein. Sie zog sich selbst eine hämische Grimasse, weil sie daran gedacht hatte, eine Nachricht für Richard - zum Henker mit ihm! - zu hinterlassen, ging hinaus, verschloss die Küchentür und steckte den Schlüssel in die Hosentasche.

Bald entdeckte sie, dass es im Wald nicht richtig kühl war.

 

*

 

Virginia kam dieser Wald anders vor, als es sich gehörte. Vor allem schien er überhaupt keine Pfade zu besitzen; man suchte sich seinen Weg einfach zwischen den Bäumen hindurch. In ordentlichen Wäldern gab es ordentliche Pfade, aber hier - unter den Füßen hatte man Farnkraut und knackendes, trockenes Holz und Tausende von dornigen Zweigen, die einen unvorsichtigen Fuß kratzen und stechen konnten.

In ihrem beschwipsten Zustand entschied sie, dies wäre ein jämmerlicher und vernachlässigter Wald. Ziemlich hoffnungslos drang sie weiter vor. Da es keine Pfade gab, wanderte sie einige Zeit ziellos umher, und als sie merkte, dass sie sich verlaufen hatte, wurde sie von Selbstmitleid überflutet. Ein Baum glich ziemlich genau dem anderen, und es standen so viele um sie herum. Das Cottage konnte vor oder hinter ihr liegen, links oder rechts.

Sie hatte keinerlei Anhaltspunkt.

Es ist nur ein Wald, mahnte sie sich zur Vernunft. Kein Dschungel und kein Urwald, obwohl einige der stachligen Gewächse im Unterholz auf unangenehme Art urig zu sein schienen. Daher musste man, ganz gleich, welche Richtung man einschlug, schließlich wieder aus ihm herausfinden. Es waren doch gar nicht so viele Meilen bis London, und die zeitlose Ruhe ringsumher konnte sich höchstens auf ein Gebiet von einigen wenigen Hektar beschränken. Sie verdrängte den Gedanken, sie könnte noch einmal im Kreis herumlaufen, wie es ihr ja bereits passiert war.

Wenn es nur nicht so heiß wäre!

Die illusorische, vom Gin erzeugte Lebensfreude, die Virginia dazu veranlasst hatte, in den Wald zu laufen, war längst verflogen. Sie fühlte sich müde und steif. Ihr von den Sonnenstrahlen versengter Rücken brannte und stach, und selbst der leichte Druck des dünnen T-Shirts bereitete ihr unerträgliche Schmerzen. Ihre Füße waren wund. Ihr Mund war trocken, und sie lechzte nach einem Drink - auch wenn kein Gin darin sein sollte. Sie wollte einen Drink, ein kühles Bad und das stille Cottage.

Mehr als alles andere wünschte sie sich das Cottage, Darin lag Ironie, denn dieses Hauses wegen war es gestern Nachmittag zwischen ihr und Richard zu einem heftigen Streit gekommen.

Sie hätte Glück gehabt, es zu bekommen, hatte er behauptet. Für so wenig Geld und in so kurzer Frist.

Virginia konnte nicht verstehen, warum sie überhaupt von London hatten Weggehen müssen, von ihrem normalen Tagesablauf, von ihren Freunden.

»Darling, um Himmels willen, du weißt doch, warum. Wenn ich dies Buch nicht beende, haben wir kein Geld mehr, und in unserer schrecklichen Wohnung kam ich doch nicht weiter. Warum sollen wir nicht einen oder zwei Monate lang Frieden und Stille genießen? Was gefällt dir hier nicht?«

»Dass sich hier Fuchs und Hase gute Nacht sagen!«

Und so weiter.

Es war ihre Schuld gewesen. Sie hatte gewusst, dass er Probleme mit der Fertigstellung seines Buches hatte, und in Anbetracht dieser Tatsache hatte sie sich unvernünftig verhalten. Sie würde sich entschuldigen, würde es wiedergutmachen.

Falls er zurückkam.

Wo mochte er die Nacht verbracht haben? Er war in seiner Arbeitskleidung davongegangen, in Jeans, einem alten Hemd und seinen ausgelatschten Gummisandalen. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte er wohl seine Zigaretten mitgenommen, aber weder sein Feuerzeug noch Geld. Und er hatte den Wagen stehenlassen. Das bedeutete, dass er zu Fuß gegangen war, wohin auch immer. Das aber war etwas, das er verabscheute.

Oh, verdammt!

Richard war weg, und sie hatte sich in diesem blöden Wald verlaufen.

Das Cottage hatte ihr gefallen, als sie es zum ersten Mal gesehen hatte. Aber damit war es vorbei, seit das Geschrei einer Eule sie in der ersten Nacht wachgehalten und ihr zum Bewusstsein gebracht hatte, wie einsam und unheimlich es hier draußen war. Als dann Richard seine unangebrachte Bemerkung darüber machte, dass sie Glück gehabt hätten, war ihr das Haus schon regelrecht verhasst gewesen.

Aber jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher als das Cottage.

 

*

 

Sie fasste einen Entschluss. Sie wollte umkehren und immer weiter gehen, bis sie diese schrecklichen Bäume hinter sich hatte. Auch wenn sie von Hoffnungslosigkeit überwältigt war, konnte sie nichts Besseres tun. Also drehte sie sich um und wanderte los.

Bald gewann sie die Überzeugung, dass sie die falsche Richtung gewählt hatte. Sie konnte anfangs nicht verstehen, warum sie dessen so sicher war. Dann wurde es ihr klar. Sie hatte sich- im Flachland verirrt, aber jetzt stieg der Boden vor ihr an. Sie hatte den verkehrten Weg eingeschlagen. Es ging deutlich bergaufwärts.

Aus dem Selbstmitleid wurde Verzweiflung.

Zorn löste die Verzweiflung ab, Zorn auf sich selbst, dass sie gestern den Streit angefangen hatte, Zorn auf Richard, der kopflos davongerannt war und sie allein gelassen hatte. Aber dieser Zorn rettete sie. Sie kehrte um und ging bergab, bis sie wieder die Ebene erreicht hatte, und dann hielt sie einfach die gleiche Richtung ein. Sie wand sich zwischen den Bäumen hindurch, ohne die leiseste Vorstellung davon zu haben, auf welches Ziel sie zustrebte - und stieß auf einen schmalen, gewundenen Weg. Fast ohne zu zögern wandte sie sich nach rechts, und nach zwei- oder dreihundert Metern sah sie das Cottage vor sich liegen.

Sie schloss die Küchentür auf, stürzte ein Wasserglas voll Limonen-Likör hinunter und zündete sich eine Zigarette an. Darauf ließ sie, bewaffnet mit ihren Zigaretten und einem neuen Drink, ihren heißen, schmerzenden Körper in ein köstliches, kühles Bad sinken, und schließlich bedeckte sie ihren wunden Rücken dick mit Schutzcreme.

Sie war sich ziemlich sicher, dass Richard irgendwann im Laufe des Abends zurückkehren würde. Eine Nacht außer Haus mochte angehen, aber eine zweite war unvorstellbar. Das passte überhaupt nicht zu ihm. Erst jetzt kam ihr zu Bewusstsein, dass so etwas Richard gar nicht ähnlich sah. Bill, der Mann ihrer Freundin Laura, der ebenfalls Schriftsteller war, machte das öfters. Aus unerfindlichen Gründen verschwand er zuweilen für ein paar Tage. Aber doch nicht Richard! Richard war zuverlässig.

Irgendetwas musste ihm zugestoßen sein.

Als dieser schreckliche Gedanke einmal in ihr aufgestiegen war, konnte sie die Bilder nicht mehr verdrängen, die ihr Richard zeigte, wie er irgendwo lag. Verletzt. Vielleicht schwer verletzt.

Virginia schauderte. Sie dachte: Ich muss mich mit der Polizei in Verbindung setzen.

»Nicht einmal ein verdammtes Telefon gibt es hier!«, hatte sie gestern unter anderem geschrien. Und sie konnte nicht fahren, so dass der Wagen, der in der türlosen Garage, stand, für sie nutzlos wie ein Kinderspielzeug war. Sie konnte die Straße hinunter ins Dorf gehen, aber es war spät. Es dämmerte bereits, und die Dunkelheit auf dem Land war etwas ganz anderes als die Dunkelheit in London. Wenn sie irgendetwas unternehmen wollte, musste sie es morgen früh tun.

Virginia war sorgenzerquält und zerknirscht, aber vor allem war sie erschöpft. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass beide Türen und alle Fenster verschlossen und verriegelt waren, ging sie zu Bett. Zum ersten Mal seit Jahren holte sie sich ein Nachthemd hervor und zog es an.

Schlafen würde sie doch nicht können. Also machte sie es sich in der Mitte des Doppelbetts mit einem Berg Kissen im Rücken bequem und versuchte zu lesen.

Und plötzlich erwachte sie davon, dass jemand leise ihren Namen gerufen hatte.

»Ginny...«

Richard?

Sie hielt den Atem an, wartete darauf, dass der Ruf wiederholt würde, aber draußen herrschte düsteres Schweigen. Hatte sie wirklich etwas gehört, oder hatte sie nur geträumt?

Was es auch gewesen sein möchte, sie war jetzt unwiderruflich wach. Wach und allein. Außerdem verwundbar, unsicher und voller Weltschmerz. Sie war dumm, sie war schlecht gewesen.

Ruhelos und unfähig, sich zu entspannen, verließ sie das Bett und setzte sich vor den Spiegel der Frisierkommode, um ihr Haar zu bürsten. Ernsthaft betrachtete sie ihr Abbild, als suche sie nach einem flüchtigen Hinweis auf ihr inneres Sein. Sie sah eine schlanke, junge Frau mit ziemlich herben Gesichtszügen. Das kurze weiche mittelblonde Haar war hell gesträhnt. Große graue Augen blickten ihr ruhig entgegen. Die Strenge des Gesichts wurde durch den vollen, großzügigen Mund gemildert. Eher attraktiv als auf übliche Weise hübsch. Schön auf keinen Fall. Interessant, ja. Sogar sexy... Aber - besonders in diesem Augenblick - voller Spannung. Die Augen hatten einen merkwürdig flachen, verschatteten Ausdruck; es mangelte ihnen an Tiefe. Die Wangen waren unter der Sonnenbräune bleich und sahen hohl und eingefallen aus.

Ein angespanntes Gesicht.

Ein labiles Gesicht?

Um sich zu beschäftigen und dem Schwall von Selbstkritik zu entrinnen, ging sie in die Küche. Sie wollte sich einen Tee machen.

Die Nacht war klar. Der Silberschein des Mondes verwandelte den großen Garten hinter dem Cottage in einen unwirklichen, ganz und gar geheimnisvollen Ort. Zu beiden Seiten standen die Bäume Wache um das einsame Haus und warfen tiefe Schatten. Es war unwirklich, aber es war auch schön, und Virginia stand verzaubert am Fenster.

Plötzlich bemerkte sie unten am Ende des Gartens, zwei oder drei Meter vom Waldessaum entfernt, eine flinke Bewegung.

Es war etwas Kleines gewesen.

Ein Kind?

Was hatte ein Kind da draußen um ein Uhr morgens zu suchen?

Kein Kind.

Was dann? Sie starrte bestürzt hinaus, kniff die Augen zusammen, runzelte vor Konzentration die Stirn und versuchte, einem Schatten Substanz zu geben.

Und trat in Furcht und Schrecken zurück, weg vom Fenster, presste die Knöchel ihrer fest zusammengeballten Fäuste auf den Mund, um den Schrei zu unterdrücken, der in ihrer Kehle aufstieg und sie zu ersticken drohte.

 

*

 

Als sie endlich den Mut fand, ans Fenster zurückzukehren und erneut in den Garten zu schauen, zeigte sich ihren Augen nichts anderes mehr als die ruhige Schönheit des Mondlichts.

Aber es war da gewesen. Nur für einen Moment. Sie hatte es sich nicht eingebildet. Es war wirklich da gewesen.

Nach der ersten Reaktion - nach dem Entsetzen, dem Abscheu und der lähmenden Furcht - wurde Virginia beinahe klinisch ruhig. Sie goss sich einen großzügigen Drink ein und steckte sich eine Zigarette an. Dann holte sie sich von Richards Arbeitstisch im Wohnzimmer einen großen Block weißen Papiers und zwei scharf gespitzte Bleistifte. Sie setzte sich an den Küchentisch und begann zu zeichnen.

Früher einmal war sie ein vielversprechendes Talent gewesen, und sie hatte daran gedacht, ernsthaft Malerei zu studieren und ihre Fähigkeiten beruflich zu verwerten. Seitdem waren einige Jahre vergangen, in denen sie kaum Gebrauch davon gemacht hatte, und ihre ersten Bleistiftstriche waren sehr unsicher. Aber bald merkte sie, dass sie ihre Technik nicht verloren hatte. Mehrere Versuche, mit denen sie nicht zufrieden war, schob sie zur Seite; und sie arbeitete weiter, ohne sich der Zeit bewusst zu sein. Mit der Zunge zwischen den Zähnen und mit vor Eifer zusammengezogenen Brauen begann sie schließlich eine Zeichnung, die gut zu werden schien.

Sie widmete jeder Einzelheit größte Aufmerksamkeit. Ihr Vertrauen, dass sie das, was sie gesehen hatte, wiedergeben konnte, wuchs. Das Wesen stand vor dem Hintergrund aus Bäumen, Mondlicht und Schatten; unbeweglich wie eine Statue starrte es zum Cottage hin.

Als sie fertig war, betrachtete sie das Bild kritisch. Ja, dachte sie, genauso sah es aus. Niemand wird mir glauben, aber das habe ich gesehen.