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Die Autoren

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Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Helmut Fend, emeritierter Professor der Universität Zürich.

Arbeitsgebiete: Schulforschung, Entwicklungspsychologie, Lebenslaufforschung

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Prof. Dr. Fred Berger, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Innsbruck.

Arbeitsgebiete: Familienforschung, Jugendforschung, Bildungsforschung

Helmut Fend/Fred Berger

Die Erfindung der Erziehung

Eine Einführung in die Erziehungswissenschaft

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-034515-7

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-034516-4

epub:  ISBN 978-3-17-034517-1

mobi:  ISBN 978-3-17-034518-8

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. 1 Einleitung
  2. Das Mädchen Meret und seine »Correction«
  3. Fragestellungen, Leitideen und Aufbau des Lehrbuches
  4. 2 Phänomene und ihre theoretische Erschließung: Sozialisation, Erziehung, Unterricht und Bildung
  5. 2.1 Der Gegenstandsbereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaften
  6. 2.2 Stufen der Planung und bewussten Gestaltung: Methodisierung von Erziehung und Bildung
  7. Sozialisation
  8. Erziehung
  9. Unterricht und Bildung
  10. 2.3 Die Eigentümlichkeit pädagogischen Handelns
  11. 2.4 Die Umweltoffenheit und der auf Lernen angewiesene Mensch
  12. 2.4.1 Anthropologische Besonderheiten des Menschen
  13. 2.4.2 Bildsamkeit und Bestimmung
  14. 3 »Education Across Space«: Sozialisation und Erziehung im Kulturvergleich
  15. 3.1 Sozialisation im Kontext von Gesellschaft und Kultur
  16. 3.2 Aufwachsen in indigenen Kulturen – die kulturellen Labors der Welt
  17. 3.3 Kernelemente von Kulturen
  18. 3.4 Ein begrifflicher Rahmen zur Ordnung kultureller Phänomene
  19. 3.5 Erklärungsmuster für kulturelle Unterschiede in der Sozialisation und Erziehung
  20. 3.6 Sozialisation und Erziehung in weltweiter Sicht heute
  21. 3.6.1 Umgang mit Kindern in verschiedenen Kulturen
  22. 3.6.2 Mutterrolle in sechs Kulturen
  23. 3.6.3 Wie Kinder das Sozialisationsgeschehen beeinflussen
  24. 3.6.4 Universale Muster des Umgangs mit Kindern
  25. 3.6.5 Kulturunterschiede im Umgang mit Kindern
  26. 3.6.6 Sozial-strukturelle Erklärungen für die unterschiedlichen Umgangsformen mit Kindern
  27. 3.6.7 Die »Value of Children« Studie
  28. 3.7 Erziehung im Kontext religiöser Weltbilder
  29. 3.7.1 Unterschiedliche Modalitäten der Weltzuwendung in den Weltreligionen
  30. 3.7.2 Erziehung im Christentum
  31. 3.7.3 Der Einfluss von Religion auf die Erziehung in modernen Gesellschaften
  32. 4 »Education Across Time«: Sozialisation und Erziehung in historischer Perspektive
  33. 4.1 Aufwachsen in der Moderne: Eine Verfalls- oder eine Fortschrittsgeschichte?
  34. 4.2 Sozialgeschichte der Lebensverhältnisse im Wandel von der traditionalen zur modernen Gesellschaft
  35. 4.3 Aufwachsen in der Moderne als Fortschrittsgeschichte: Humanisierung und Emotionalisierung im Umgang mit Kindern
  36. 4.4 Welten des Aufwachsens und der Erziehung von der Antike bis in die Moderne
  37. 4.4.1 Kindheit in der Antike
  38. 4.4.2 Kindheit im Mittelalter
  39. 4.4.3 Kindheit und Erziehung in der Neuzeit
  40. 4.4.4 Erziehung im 19. Jahrhundert
  41. 4.4.5 Der Umgang mit Kindern im 20. Jahrhundert
  42. 4.5 Sozialer Wandel im Erfahrungsfeld Familie
  43. 5 Erziehung und Aufwachsen heute als Kontext der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen
  44. 5.1 Die Entstehung von Erziehung als Aufgabe und die Entdeckung des Kindes
  45. 5.2 Forschungen zur Wirkung unterschiedlicher Erziehungsformen
  46. 5.2.1 Erziehungsstilforschung von Kurt Lewin
  47. 5.2.2 Die Erziehungsstile von Diana Baumrind
  48. 5.2.3 Erziehung als bidirektionaler Prozess
  49. 5.2.4 Deutsche Forschungen zum Erziehungsverhalten von Eltern
  50. 5.3 Expansion des Erfahrungsfeldes der Peers und nonformaler Lernfelder
  51. 5.4 Medien als neues Erfahrungsfeld
  52. 5.5 Wandel der Schule als Erfahrungskontext und als Kontext der Humangenese
  53. 5.6 Wirkung schulischer Erfahrungen auf die Persönlichkeit Heranwachsender
  54. 6 Zusammenfassung: Methodisierung und Humanisierung des Aufwachsens in der Moderne
  55. Literaturverzeichnis

1          Einleitung

 

 

 

Wer Erziehungswissenschaft studiert, der beschäftigt sich mit einem der wichtigsten und unter die Haut gehenden Bereiche menschlichen Zusammenlebens: mit dem Heranwachsen von Menschenkindern in einer Kultur und Gesellschaft sowie den Anstrengungen und Einrichtungen der Erwachsenen und der Gesellschaft, dieses Heranwachsen zu unterstützen und zu gestalten.

Jede Gesellschaft entwickelt und »erfindet« Formen des Umgangs mit Kindern. Die erwachsene Generation, meist in der Gestalt der leiblichen Eltern, muss auf die faszinierenden neuen Menschenkinder reagieren, damit diese überleben. Sie erfordern viel Fürsorge, Pflege, Zuneigung, Belehrung, Beschäftigung. Eltern investieren heute für eine lange Lebensphase einen Großteil ihrer Kräfte in die Sorge um ihre Kinder. Millionen sind tagtäglich damit beschäftigt, das Leben mit Kindern zu organisieren, sie zu stützen, lenken und abzulenken, sie zur Entfaltung kommen zu lassen und ihnen vernünftige Lebenswege aufzuzeigen. Im Generationenverhältnis von Kindern und Erwachsenen gehen beide einen verbundenen und langen Lebensweg. Kinder werden unabhängig und erwachsen, Erwachsene sind unabhängig und werden häufig abhängig.

In diesem generationalen Verhältnis sind Eltern heute mit ihren Kindern nicht mehr allein. Eine schier unkontrollierbare Menge von Erlebnissen und Erfahrungen wirken auf die Kinder ein. Eltern können ihre Kinder zudem nicht allein auf ein selbstständiges Leben vorbereiten, so dass sie als Erwachsene handlungsfähige Mitglieder der Gesellschaft werden. Heute sind die Anforderungen an das gesellschaftliche und kulturelle Überleben von Individuen und ganzen Gesellschaften so anspruchsvoll geworden, dass dafür Einrichtungen notwendig sind, die eine jahrelange systematische Einübung von Motivationen, Wissen und Kompetenzen trainieren. In der Moderne geschieht dies in Bildungssystemen, die zu einem der größten gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereiche geworden sind. Allein in Deutschland sind etwa 800.000 Menschen in Schulen tätig.

Mit diesem Gesellschaftsbereich, mit Sozialisation, Erziehung und Bildung haben wir uns ein ganzes Berufsleben beschäftigt und mit wachsender Faszination erlebt, wie tief Sozialisation, Erziehung und Bildung in die mentalen und kulturellen Entwicklungen und Formen unseres Zusammenlebens eingebunden sind und zu welch fein gesponnenem Netz von systematischen Regelungen sie sich entwickelt haben. In dieser Einführung in das Fach der Erziehungswissenschaft möchten wir die Studierenden an dieser Begeisterung etwas teilhaben lassen. Dabei haben wir unzählige wunderbare Texte und Studien gefunden, die diesen Wirklichkeitsbereich dokumentieren und erschließen. Einen Teil dieses Schatzes möchten wir hier weitergeben.

Es ist ein guter Brauch, die Einführung in einen Wissenschaftsbereich mit interessanten Beispielen zu beginnen, durch die Kernaufgaben illustriert werden. Bei der Einführung in pädagogische Handlungsfelder dienen dazu in der Regel Beispiele gelungener Erziehung aus Vergangenheit und Gegenwart. Sie sollen helfen, eine gewissermaßen idealistische Stimmung zu erzeugen und zum Weiterlesen und Weiterleben mit pädagogischen Motivationen »verführen«.

Man lernt jedoch auch an schlechten Beispielen. Manchmal mehr als an guten. So auch bei der Erziehung. Wir möchten der Leserin und dem Leser ein solches Beispiel, eine leidvolle Geschichte zumuten, um Merkmale pädagogischer Erfindungen aufzuzeigen und zu Beginn schon eine Ahnung »guter Erziehung«, guter Erfindungen von Erziehung zu ermöglichen.

Das Mädchen Meret und seine »Correction«

Die Geschichte vom Mädchen »Meret« steht für ein Drama der Menschenformung. Sie hat uns tief berührt und uns nachdenklich gemacht, was man mit »Erziehung« anstellen kann.

Was hat es damit auf sich? Gottfried Keller, der berühmte Schweizer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, berichtet in seinem Bildungsroman »Der grüne Heinrich« (Keller, 1913) die Geschichte der »Verbesserung« des Mädchens Meret. Sie beginnt so:

»In einer Ecke der Kirchhofmauer war eine kleine steinerne Tafel eingelassen, welche nichts als ein halbverwittertes Wappen und die Jahrzahl 1713 trug. Die Leute nannten diesen Platz das Grab des Hexenkindes und erzählten allerlei abenteuerliche und fabelhafte Geschichten von demselben, wie es ein vornehmes Kind aus der Stadt, aber in das Pfarrhaus, in welchem dazumal ein gottesfürchtiger und strenger Mann wohnte, verbannt gewesen sei, um von seiner Gottlosigkeit und unbegreiflich frühzeitigen Hexerei geheilt zu werden. Dieses sei aber nicht gelungen; vorzüglich habe es nie dazu gebracht werden können, die drei Namen der höchsten Dreieinigkeit auszusprechen, und sei in dieser gottlosen Halsstarrigkeit verblieben und elendiglich verstorben. Es sei ein außerordentlich feines und kluges Mädchen in dem zarten Alter von sieben Jahren und dessenungeachtet die allerärgste Hexe gewesen. Besonders hätte es erwachsene Mannspersonen verführt und es ihnen angethan, wenn es sie nur angeblickt, daß selbe sich sterblich in das kleine Kind verliebt und seinetwegen böse Händel angefangen hätte. Sodann hätte es seinen Unfug mit dem Geflügel getrieben und insbesondere alle Tauben des Dorfes auf den Pfarrhof gelockt und selbst den frommen Herrn verhext, daß er dieselben öfters inbehalten, gebraten und zu seinem Schaden gespeist habe …

Die eigentliche Geschichte war nun die, daß das kleine Mädchen, einer adeligen, stolzen und höchst orthodoxen Familie angehörig, eine hartnäckige Abneigung gegen Gebet und Gottesdienst jeder Art zeigte, die Gebetbücher zerriß, welche man ihm gab, im Bette den Kopf in die Decke hüllte, wenn man ihm vorbetete, und kläglich zu schreien anfing, wenn man es in die düstere, kalte Kirche brachte, wo es sich vor dem schwarzen Manne auf der Kanzel zu fürchten vorgab. Es war ein Kind aus einer unglücklichen ersten Ehe und mochte sonst schon ein Stein des Anstoßes sein.

So beschloß man, als es durch keine Mittel von der unerklärlichen Unart abgebracht werden konnte, das Kind jenem wegen seiner Strenggläubigkeit berühmten Pfarrherrn versuchsweise in Pflege zu geben.

Wenn schon die Familie die Sache als ein befremdliches und ihrem Rufe Unehre bringendes Unglück auffaßte, so betrachtete der dumpfe, harte Mann dieselbe vollends als eine unheilvolle infernalische Erscheinung, welcher mit aller Kraft entgegen zu treten sei. Demgemäß nahm er seine Maßregeln, und ein altes vergilbtes ›Diarium‹, von ihm herrührend und im Pfarrhause aufbewahrt, enthält einige Notizen, welche über sein Verfahren, so wie das weitere Schicksal des unglücklichen Geschöpfes hinreichenden Aufschluss geben. Folgende Stellen habe ich mir ihres seltsamen Inhaltes wegen abgeschrieben und will sie diesen Blättern einverleiben und so die Erinnerung an jenes Kind in meinen eigenen Erinnerungen aufbewahren, da sie sonst verloren gehen würde.«

Hier beginnt nun das Protokoll einer »Korrekturgeschichte«, eines Erziehungsunternehmens:

Erste Phase der »Correction«

»Heute habe ich von der hochgeborenen und gottesfürchtigen Frau von M. das schuldende Kostgeld für das erste Quartal richtig erhalten, alsogleich quittiret und Bericht erstattet. Ferner der kleinen Meret (Emerentia) ihre wöchentlich zukommende Correction ertheilt und verscherpft, indeme sie auf die Bank legte und mit einer neuen Ruthen züchtigte, nicht ohne Lamentiren und Seufzen zum Herren, daß Er das traurige Werk zu einem guten Ende führen möge.«

Reaktionen des Kindes und deren Interpretation

»Hat die Kleine zwaren jämmerlich geschrieen und de- und wehmüthig um Pardon gebeten, aber nichts desto weniger nachher in ihrer Verstocktheit verharret und das Liederbuch verschmähet, so ich ihr zum Lernen vorgehalten. Habe sie derowegen kürzlich verschnauffen lassen und dann in Arrest gebracht in die dunkle Speckkammer, allwo sie gewimmert und geklaget, dann aber still geworden ist, bis sie urplötzlich zu singen und jubiliren angefangen, nicht anders, wie die drey seligen Männer im Feuerofen, und habe ich zugehöret und erkennt, daß sie die nämliche versificirten Psalmen gesungen, so sie sonsten zu lernen refusirete, aber in so unnützlicher und weltlicher Weise, wie die thörichten und einfältigen Ammen- und Kindslieder haben; so daß ich solches Gebahren für eine neue Schalkheit und Mißbrauch des Teufels zu nemen gezwungen ward.«

Einige Tage später:

»Ist ein höchst lamentables Schreiben arriviret von Madame, welche in Wahrheit eine fürtreffliche und rechtgläubige Person ist. Sie hat besagten Brief mit ihren Thränen benetzet und mir auch die große Bekümmerniß des Herren Gemahls vermeldet, daß es mit der kleinen Meret nicht besser gehen will.«

Eine Ursachensuche

»Und ist dieses gewißlich eine große Calamität, so diesem hochansehnlichen und berühmten Geschlecht zugestoßen und möchte man der Meinung seyn, mit Respect zu sagen, daß sich die Sünden des Herren Großpapa väterlicher Seits, welches ein gottloser Wütherich und schlimmer Cavalier ware, an diesem armseligen Geschöpflein vermerken lassen und rechen.«

Zweite Phase der »Correction«

»Habe mein Tractament mit der Kleinen changiret und will nunmehr die Hungerkur probiren. Auch habe ich ein Röcklein von grobem Sacktuch durch meine Ehefrau selbsten anfertigen lassen und verbothen der Meret ein ander Habit anzulegen, sintemal diese Bußkleidung ihr am besten conveniret. Verstocktheit auf dem gleichen Puncto.«

»Sahe mich heute gezwungen, die kleine Demoiselle von allem Verkehr und Unterhalt mit denen Baurenkindern abzusperren, weill sie mit selbigen in das Holz gelauffen, allda gebadet im Holzweiher, das Bußhemdlein, so ich ihr ordiniret, an einen Baumast gehenkt hat und nackent davor gesprungen und getanzt und auch ihre Gespanen zu frechem Spott und Unfug aufgereizet. Beträchtliche Correction.«

Reaktion des Kindes

»Vorgestern ist uns die kleine Meret desertiret und haben wir große Angst empfunden, bis daß sie heute Mittag um 12 Uhr zu obrist auf dem Buchenloo ausgespüret wurde, wo sie entkleidet auf ihrem Bußhabit an der Sonne saß und sich baß wärmete. Sie hatt’ ihr Haar ganz aufgeflochten und ein Kränzlein von Buchenlaub darauff gesetzet, so wie ein dito Scherpen um den Leib gehenkt, auch ein Quantum schöner Erdbeeren vor sich liegen gehabt, von denen sie ganz voll und rundlich gegessen war. Als sie unser ansichtig ward, wollte sie wiederum Reißaus nemen, schämete sich aber ihrer Blöße und wollte ihr Habitlein überziehen, dahero wir sie glücklich attrapiret. Sie ist nun krank und scheinet confuse zu seyn, da sie keine vernünftige Antwort giebet.«

Aufgabe der »Correction«

»Mit dem Meretlein gehet es wiederum besser, jedoch ist sie mehr und mehr verändert und wird des Gänzlichen dumm und stumm. Die Consultation des herbeygeruffenen Medici verlautet dahin, daß sie irr- oder blödsinnig werde und nunmehr der medicinischen Behandlung anheim zu stellen sey; er offerirte sich auch zu derselbigen und hat verheißen, das Kind wieder auf die Beine zu bringen, wenn es in seinem Hause placiret würde. Ich merke aber schon, daß es dem Monsieur Chirurgo nur um die gute Pension benebst denen Präsenten von Madame zu thun seye, und berichtete derohalb, was ich für gut befunden, nemlich daß der Herr seinen Plan nunmehr an ein Ende zu führen scheine mit seiner Creatur und daß Menschenhände hieran nichts changiren möchten und dürften, wie es in Wirklichkeit auch ist.«

Nach Überschlagung von fünf bis sechs Monaten heißt es weiter:

»Heut vor Tag schon muß das arme Meretlein aus seinem Bettlein entkommen, in die Bohnen hinauß geschlichen und dort verschieden seyn; denn wir haben sie alldort für todt gefunden in einem Grüblein, so sie in den Erdboden hinein gewühlet, als ob sie hineinschlüpfen wollen. Sie ist ganz gestabet gewesen und ihr Haar so wie ihr Hemdlein feucht und schwer vom Thau, als welcher auch in lauteren Tropfen auf ihren fast röthlichen Wänglein gelegen, nicht anders, denn auf einem Apfelblust.«

Ein Kind wird hier das Opfer spiritualistisch-religiöser Vorstellungen, aber auch blanker materieller Interessen und falscher rationalistischer Vorstellungen von der »Korrigierbarkeit« des Menschen. Es wird von der Stiefmutter als schwererziehbar zu einem Pfarrer abgeschoben und von diesem durch Nahrungsentzug, Arrest und Körperstrafen buchstäblich zu Tode gebracht. Eingekleidet wird die Geschichte in eine Sage. Deren romantischer Gehalt wird auf ihre realen Hintergründe hin transformiert und das Kind dabei zur Märtyrerin. Was schlichte kindliche Natur, was kindliche Verspieltheit und Trotz ist, wird zum Verdikt, zur teuflischen Besessenheit.

Aus der Geschichte des kleinen Mädchens Meret wird offenbar, dass Erziehung zur Gewalt an Kindern werden kann. Damit ist ein kritischer Horizont aufgespannt, der die Auseinandersetzung mit Fragen der Erziehung stets begleiten sollte.

Warum steht eine solche dramatische und ergreifende Geschichte hier am Beginn einer Einführung in die Erziehungs- und Bildungswissenschaften? Sie macht gerade in den Irrtümern und in den Grausamkeiten klar, was Erziehung und Bildung ist und wie darüber zu forschen und zu denken ist. Womit sich Gottfried Keller beschäftigt, ist eine Form der Menschengestaltung, hier »Correction« genannt, verallgemeinert aber als »Erziehung« benennbar. Die Erziehungs- und Bildungswissenschaften beschäftigen sich mit diesem Geschehen, das im Kern aus der gezielten »Gestaltung« heranwachsender Menschen besteht. Die obige »Correction« steht jedoch nicht im luftleeren Raum. Sie ist von kulturellen Ideen inspiriert, die aber kritisch zu reflektieren sind. Oben sind es Annahmen über die »verderbte« Natur dieses Kindes Meret, die es zu »corrigieren« gilt. Die methodische Zurichtung mündet in die Vernichtung. Pädagogisches Handeln entspringt hier aus irren Ideen und Fehleinschätzungen und hat grausame Folgen. Eine Geschichte pädagogischer Ideen darf sich nicht nur der lichten Seite des humanen Fortschritts widmen, sie muss auch die dunklen Seiten zutage bringen (Rutschky, 1993). Dabei geht es aber nicht nur um eine Ideengeschichte. Neben der kontextuellen Einbettung pädagogischer Ideen müssen wir auch dem faktischen pädagogischen Geschehen und seinen Wirkungen nachgehen.

Fragestellungen, Leitideen und Aufbau des Lehrbuches

Wie die Vielfalt an Lehrbüchern zur Erziehungswissenschaft zeigt, sind viele Formen denkbar, ein Lehrbuch aufzubauen. Wir hatten viele Varianten durchdacht, auch solche, die mit metatheoretischen Überlegungen beginnen.

Metatheoretische Überlegungen beschäftigen sich mit den Merkmalen einer wissenschaftlichen Disziplin. Danach wären zwei Fragen voranzustellen: einmal wäre zu fragen, welche Art von Wissenschaft zum Gegenstandsbereich des Aufwachsens und seiner Gestaltung durch die jeweilige Gesellschaft möglich und sinnvoll ist. Schließlich haben wir es mit einem sehr vielfältigen Phänomenbereich zu tun: mit Texten und Dokumenten aus früheren Jahrhunderten und der Gegenwart, mit Beobachtungsdaten, mit hoch standardisierten Tests, mit Interviews, mit Videomaterial usw. Kurz gesagt, wir haben es mit einem Humanbereich zu tun, mit kulturellen und gesellschaftlichen Phänomenen, die anders zu analysieren sind, als dies die Naturwissenschaften tun können und tun würden.

Eine zweite Frage schließt sich an und zielt auf die normativen Implikationen einer Wissenschaft. Wie können wir eine Wissenschaft konzipieren, die auch einen Zugang zur Frage eröffnet: Was können wir tun und was wäre gutes Handeln? Was ist die Eigenart pädagogischen Handelns und was ist ein »gutes« pädagogisches Handeln? Diese Einführung geht von der Berechtigung dieser beiden Grundfragen aus, ohne sie aber im Detail zu erläutern. Wir betonen dabei, dass es einen wissenschaftlichen Zugang zum Phänomenbereich »Sozialisation, Erziehung und Bildung« gibt. Er erfordert aber aus der Besonderheit dieses Gegenstandsbereichs einen multimethodischen Zugang. Dies bedeutet, dass ein quantitativer methodischer Zugang allein dem Phänomenbereich ebenso wenig gerecht wird wie einer, der sich ausschließlich mit der geisteswissenschaftlichen Rekonstruktion von Texten beschäftigt.

Die zweite Implikation ist ebenso folgenreich. Sie anerkennt die Forderung, dass der Phänomenbereich der Erziehung und Bildung nicht voll erschließbar ist, wenn man normative Fragen als nicht-wissenschaftlich ausschließt. Die normativen Implikationen im Erziehungs- und Bildungsprozess sind jeweils gleichzeitig zu untersuchen und die eigenen Wertungen dieser Prozesse sichtbar zu machen.

Diese Einführung in die Erziehungswissenschaft fühlt sich somit sowohl einer empirischen und erfahrungsgestützten als auch einer kritisch-reflektierenden wissenschaftlichen Position verpflichtet. Eine erfahrungsgestützte Position bedeutet, dass systematisch untersucht wird, wie Aufwachsen faktisch geschieht. Kritisch-reflektierend wird unsere Position dann, wenn die Realität mit Vorstellungen konfrontiert wird, wie Aufwachsen geschehen sollte. Diese Einführung möchte also in die Grundlagen von Sozialisation, Erziehung und Bildung einführen, indem sie den Umgang mit heranwachsenden Menschen in verschiedenen Gesellschaften und zu verschiedenen Zeiten in systematisch-vergleichender und historisch-kritischer Weise untersucht. Dazu soll der Blick einerseits in die Weite fremder Kulturen und andererseits in die Tiefe der eigenen Geschichte gerichtet werden. »Education across space« und »Education across time« könnte man diese beiden Sichtweisen nennen. Durch sie soll erkennbar werden, wie dicht verwoben mit gesellschaftlichen und kulturellen Phänomenen Erziehung, Sozialisation und Bildung sind. Im Umgang mit der nachwachsenden Generation kommen Kernelemente einer Kultur und Gesellschaft zum Vorschein. Es spiegeln sich darin ihre zentralen Werte, Welt- und Menschenbilder, Hoffnungen und Ängste, aber auch ihre Existenzbedingungen, Arbeitsbedingungen, politischen Herrschaftsformen und Formen der primären sozialen Organisationen wie Familien und Verwandtschaften.

Da Sozialisation, Erziehung und Bildung vom Menschen getragene und von ihnen geschaffene Wirklichkeiten sind, können sie auch weiterentwickelt werden. Jede Generation tut dies jeweils aufs Neue. Dabei zu helfen, steht als Anliegen im Hintergrund dieser Einführung. Sie ist damit nicht Selbstzweck, sondern möchte die heute mögliche und praktizierte Gestalt erzieherischen Handelns durch die Betrachtung verschiedener Kulturen, die Beschreibung historischer Entwicklungen und die Auseinandersetzung mit aktuellem wissenschaftlichem Wissen verständlicher machen. Ihre grundsätzliche Zielsetzung ist es, die Fähigkeit zur systematischen Reflexion und kritischen Analyse erzieherischer Prozesse zu befördern und so mitzuhelfen, die Kompetenzen jener zu entwickeln, die im Bildungsbereich aktiv tätig sind und sein werden.

Folgende Fragen leiten die Darstellung:

•  Wie gehen verschiedene Gesellschaften und Kulturen auf dieser Welt mit ihren Kindern und Heranwachsenden um?

•  Wie ist in der Geschichte des eigenen Kulturkreises mit Kindern und Jugendlichen umgegangen worden?

Der Blick in die geografischen Räume ist dabei insbesondere geeignet, um zu zeigen, wie das Aufwachsen des Menschen und der Umgang mit dem Nachwuchs in die gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte eines Landes oder einer Region eingebettet und davon abhängig sind (Education across space).

Der historische Rückblick ermöglicht es demgegenüber, die Entwicklungslinien der Erziehung innerhalb der eigenen Kultur nachzuzeichnen und herauszuarbeiten. Die abendländische Entwicklungslinie steht dabei im Mittelpunkt (Education across time).

Sie wird im Rahmen einer zentralen Leitidee dieses Buches ausgestaltet: Wir möchten aufzeigen, wie und warum in der abendländischen Kulturgeschichte aus wenig strukturierten alltäglichen Umgangsweisen mit Heranwachsenden methodisch arrangierte und immer durchdachtere Erziehungsformen entstanden sind, die eine umfassende Gestaltung des Menschseins im Auge haben. Die historische Entwicklung lässt sich damit ein Stück weit als Geschichte der Entwicklung von professionellem Erziehungs- und Unterrichtsverhalten, als Weg zur Professionalisierung von Erziehung oder auch als Weg zu methodisch-rationalem »Arbeiten« am werdenden Menschen lesen. Im Laufe des 20. Jahrhundert mündete diese Entwicklung in moderne Formen der empirischen Untersuchung der Erziehungswirklichkeit, in welchen danach gefragt wird, was »gute« Erziehung und »guter« Unterricht ist und wie Erziehung und Unterricht gelernt werden können.

Die Leitidee der zunehmenden Methodisierung und Rationalisierung allein würde die Geschichte der Erziehung nur unzureichend abbilden. Man kann auch schlechte Ziele höchst rational und methodisiert anstreben. Deshalb ist auch den Ideen Aufmerksamkeit zu schenken, die historisch entwickelt wurden, um Erziehung normativen Ansprüchen gemäß zu gestalten. Seit der Aufklärung, seit Rousseau, Kant, Schleiermacher u.v.a. wird das Kind zum Beispiel immer weniger als Objekt der methodischen Zurichtung gesehen. Das Kind wird vielmehr immer deutlicher als Subjekt definiert, das eigenen Entwicklungsgesetzen folgt, das zur eigenen Entfaltung strebt, die es wahrzunehmen gilt. Diese geänderte Wahrnehmung des Kindes wird in der Aufklärung im Rahmen des Konzepts des Individuums als vernunftfähigem und vernunftpflichtigem Wesen auch normativ gestützt. Das heranwachsende Menschenkind hat nicht nur Eigentendenzen, sondern auch das Recht – und später auch die Pflicht –, sich eigenverantwortlich und vernunftorientiert zu entwickeln.

Diese Thematik, dass sich die Wahrnehmung des Kindes und des Generationenverhältnisses historisch verändert haben, soll unter der normativen Leitidee der Humanisierung bearbeitet werden. Wir werden eine Entwicklungslinie im Auge haben, in der die Aufmerksamkeit für die Besonderheiten eines Kindes steigt, in der Erwachsene immer besser befähigt sind, die Kinder zu »lesen«, ihre Schwierigkeiten zu erkennen und ihre Potentiale zu entwickeln. Die Reformpädagogik mit der Parole der »Erziehung vom Kinde aus« war in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts historisch ein Höhepunkt der Etablierung dieser Perspektive (Nohl, 1963).

Wer heute Erziehungs- und Bildungswissenschaften studiert, sollte die historischen Wege der Methodisierung von Erziehung und Unterricht und die Wege ihrer Humanisierung kennen. Neben den historischen Entwicklungen, die im Rückblick als Fortschrittslinien verstanden werden können, müssen auch die historischen Irrtümer in der Einschätzung von Kindern und die aus heutiger Sicht unverständlichen Praktiken im Umgang mit ihnen sichtbar werden. Nicht jede historische Entwicklung war gut, wie das Beispiel von Meret zeigt. Erziehungsgeschichte ist auch immer eine Geschichte ihrer Irrtümer. Vieles resultiert aus falschen Annahmen darüber, »was Kinder sind«, und aus Praktiken, die uns heute unvorstellbar inhuman erscheinen. Freilich, wir müssen auch sie verstehen lernen und sie im Kontext ihrer Zeit und den jeweiligen Lebensbedingungen sehen.

Wir wollen es in dieser Einführung jedoch nicht mit der Beschreibung und Erklärung unterschiedlicher Formen der Erziehung und des Aufwachsens durch Kultur und Gesellschaft bewenden lassen, sondern die beiden Sichtweisen – die kulturvergleichende und die historische – vielmehr zum Ausgangspunkt nehmen, um in einem weiteren Schritt gegenwärtige Formen der Erziehung und des Aufwachsens besser verstehen zu können. Wie gestalten sich Erziehung und Aufwachsen heute und was weiß die Wissenschaft über deren Gelingensbedingungen? Welche Auswirkungen haben unterschiedliche Sozialisations- und Erziehungserfahrungen auf heranwachsende Menschen unter modernen Lebensbedingungen? Dies werden weitere leitende Fragestellungen sein (Education in modern times).

Bevor wir uns jedoch den großen Themen von »Education across space«, »Education across time« und »Education in modern times« zuwenden (image Kap. 3), möchten wir die Grundlagen zu deren besseren Verständnis vermitteln (image Kap. 2). So werden wir zunächst den Gegenstandsbereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaften eingrenzen (image Kap. 2.1) und den begrifflichen Rahmen definieren, auf dessen Grundlage wir später versuchen werden, die Vielfalt der zu schildernden kulturellen und historischen Phänomene des Erziehens und Aufwachsens zu fassen, zu vergleichen und zu strukturieren (image Kap. 2.2). Daran anschließend werden wir die Eigentümlichkeit pädagogischen Handelns herausarbeiten (image Kap. 2.3) und auf die Tatsache eingehen, dass der heranwachsende Mensch nicht nur Teil einer Kultur und Gesellschaft ist und werden soll, sondern als Wesen mit einem Körper auch Teil der Natur ist (image Kap. 2.4). Die Grundlage für die Aneignung von Kultur, von Wissen und von sozialen Regeln bilden neuronale Prozesse im Menschen. Motivationen werden durch hormonale Prozesse geregelt. Pädagogisches Handeln als kulturelle Erfindung muss deshalb die biologischen Bedürfnisse und Lernvoraussetzungen der heranwachsenden Generation kennen und berücksichtigen. Erziehung ist eine kulturelle Praxis, durch die »Kultur« und »Natur« vermittelt werden. Sie bedarf dementsprechend neben methodisch-rationalen Handlungskonzepten auch Vorstellungen, auf welche Ziele hin eine planvolle pädagogische Gestaltung ausgerichtet sein soll. Sie muss schließlich auf einem fundierten Wissen über die biologischen Entwicklungs- und Lernprozesse des Menschen aufbauen.

Pädagogische Ideen der Gestaltung des Heranwachsens stehen in diesem Spannungsverhältnis von biologischen bzw. anthropologischen Voraussetzungen des Menschseins und den Notwendigkeiten ihrer kulturellen Formung. Vom Verhältnis zwischen »Natur und Kultur«, von »Lernmöglichkeiten und kulturellen Lernnotwendigkeiten« resp. vom Verhältnis zwischen den biologischen Grundlagen der »Bildsamkeit« und der durch die Kultur definierten »Bestimmung« des Menschen (Roth, 1984b) soll deshalb auch in dieser Einführung ausgegangen werden. Marx hat in seiner Anthropologie die Besonderheit der kulturellen Formung menschlicher Tätigkeit und Entwicklung in Abgrenzung zum unmittelbaren Lebensbezug von Tieren so beschrieben: »Das Tier ist unmittelbar eins mit seiner Lebenstätigkeit. Es unterscheidet sich nicht von ihr. Der Mensch macht seine Lebenstätigkeit selbst zum Gegenstand seines Wollens und seines Bewußtseins« (Marx, 1966). Das soll auch hier geschehen. Die betrachtete Lebenstätigkeit ist hier jene von Erziehung und Bildung.

2          Phänomene und ihre theoretische Erschließung: Sozialisation, Erziehung, Unterricht und Bildung

 

 

 

Diese Einführung in die Erziehungswissenschaft ist von der Überzeugung inspiriert, dass man in einer ersten Phase eine breite Anschauung gewinnen sollte, wie Erziehung in dieser Welt aussieht und wie sie früher ausgesehen hat, um sich in einer zweiten Phase mit den gegenwärtigen Erziehungsbedingungen zu befassen. Man sollte die Phänomene kennen lernen. Dabei ist auch die Reflexion der selbst erlebten oder selbst praktizierten Erziehung hilfreich.

Die Phänomene des Erziehens und Aufwachsens an Beispielen und Berichten kennen zu lernen, bildet eine wichtige Voraussetzung, um sie verstehen zu können. Zur Anschauung muss jedoch auch die Theorie kommen. Sie öffnet die Augen, um überhaupt etwas zu sehen, und drängt zur Frage, warum etwas so ist, wie es ist. Warum also so erzogen wird, wie wir es sehen. Begriffe sind eine Basis dafür. Sie bringen Ordnung in die Vielfalt der Phänomene erzieherischen Geschehens. Auf die Anschauung, auf die Erzählung vom Mädchen Meret folgt deshalb auch hier eine erste Orientierung, wie wir den Gegenstandsbereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaften sowie den historisch und kulturell unterschiedlichen Umgang mit Kindern begrifflich fassen und ordnen wollen.

2.1       Der Gegenstandsbereich der Erziehungs- und Bildungswissenschaften

»Zwei Erfindungen der Menschen kann man wohl als die schwersten ansehen; die der Regierungs- und die der Erziehungskunst nämlich« (Kant, 1803, S. 12).

Wir beginnen mit einem Versuch zu definieren, welches der Gegenstandsbereich einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Erziehung und Bildung ist.

Zu den großen Tätigkeitsbereichen der menschlichen Existenzbewältigung gehören u. a.

•  Tätigkeiten der Herstellung von Gütern und Produkten,

•  Tätigkeiten des Umgangs mit Pflanzen und Tieren,

•  Tätigkeiten, die der Sicherung und Wiederherstellung der Gesundheit dienen,

•  Tätigkeiten zur Regelung eines friedlichen Zusammenlebens in Verbänden und Staaten,

•  Tätigkeiten der Sorge und Pflege für Menschen.

Zu letzteren Tätigkeiten zählen Handlungen, die auf die Einführung der jungen Generation in das Leben der bestehenden Gesellschaft gerichtet sind.

Hier kommt nun eine erste, kompliziert anmutende Umschreibung des Gegenstandsbereichs der Erziehungswissenschaft: Sie beschäftigt sich mit der kulturellen und gesellschaftlichen »Arbeit« an der Gestaltung von werdenden Menschen in deren langen Phasen des Aufwachsens. Darunter fallen alle Handlungen und Einrichtungen im sozialen Leben einer Gemeinschaft, die ihrem Sinn nach zum Aufbau jener psychischen Ausstattung der heranwachsenden Generation führen, die für ihre Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben notwendig sind und gleichzeitig dafür sorgen, dass die Gemeinschaft nach dem Tod einzelner wichtiger Träger sozial, kulturell und materiell fortbestehen und sich erneuern kann. In der »Arbeit am werdenden Menschen« bündeln sich damit alle Bemühungen eines Gemeinwesens, sowohl das Überleben seiner Individuen als auch des Kollektivs sicher zu stellen. Die »psychische Verfassung« besteht dann in Kenntnissen, Fähigkeiten, Motivationen und Wertorientierungen in der heranwachsenden Generation, die einerseits der sozialen und beruflichen Integration und Partizipation des Einzelnen und andererseits der Funktionsweise des Ganzen dienen. Da diese »Arbeit« aus kulturell variablen und sich historisch wandelnden sinnhaften Bestrebungen von Menschen besteht, stellt sie ein Kulturphänomen dar. Sie ist das Ergebnis von menschlichen Anstrengungen und »Erfindungen«. Die biologische Ausstattung des Menschen enthält eine große Variationsbreite der Gestaltung des Lebens. Aus den vielen Möglichkeiten des Menschseins werden durch »Erziehung« jeweils die kulturell und historisch erwünschten verstärkt und entwickelt, wodurch in der neuen Generation immer wieder neue Formen menschlichen Daseins entstehen.

Anschaulich zu sehen, wie unterschiedlich mit heranwachsenden Menschen an verschiedenen Orten der Welt und zu verschiedenen historischen Zeiten umgegangen wird, ist eine faszinierende Erfahrung. An ihr möchten wir die Leserin und den Leser hier teilhaben lassen. Sie zeigt dann auch in oft erschreckender Weise, was man aus dem Menschen machen kann. Der Mensch erträgt aber nicht alles gleichermaßen gut. So müssen wir auch tiefer blicken und nach den Folgen unterschiedlicher Erziehungsformen fragen. Vorab wird aber das Bedürfnis geweckt zu verstehen, warum die universelle gesellschaftliche Aufgabe, die junge Generation ins Leben einzuführen, so unterschiedlich gelöst und bewältigt wird.

Dabei werden wir eine Erfahrung machen, die typisch für eine Wissenschaft ist, die sich mit einem Kulturbereich beschäftigt. Wir sehen schnell, dass Menschen etwas nicht kopflos tun, sondern sich überlegen, warum sie etwas tun. So auch in der Erziehung. Wir finden rasch Begründungen für das realisierte und das unterlassene Handeln. Erziehung als menschliches Handeln ist sinnorientiert, von Ideen getragen.

Eine zweite Erfahrung drängt sich auf. Etwas Wichtiges überlässt eine kluge Gemeinschaft nicht dem Zufall oder wetterwendischen Neigungen und Stimmungen. Sie schafft Einrichtungen, die wichtige Handlungen auf Dauer sicherstellen, sie systematisch belohnen und in verbindliche Regelungen gießen. Wir nennen diese Einrichtungen Institutionen, in unserem Fall sind es besonders Bildungsinstitutionen.

Drei Kernbereiche der »Arbeit« am werdenden Menschen können somit unterschieden werden:

•  die pädagogische Lebenspraxis, die die alltäglichen pädagogischen Handlungen und Problemlösungen umfasst,

•  die pädagogischen Diskurse über Theorien und Ziele, wie erzogen und unterrichtet werden soll,

•  und die Objektivierungen und Institutionalisierungen pädagogischer Ideen und Vorstellungen z. B. in Form von Spielsachen, Lernmaterialien, gesetzlichen Regelungen für systematischen Unterricht, Schulgebäuden.

Die erziehungs- und bildungswissenschaftliche Forschung bewegt sich in allen diesen Bereichen des pädagogischen Handlungsfeldes. Sie untersucht und systematisiert sowohl die Formen des lebenspraktischen Umgangs mit dem Nachwuchs als auch die Vorstellungen und Diskurse über die Zielsetzungen der »Arbeit« am werdenden Menschen. Darüber hinaus befasst sie sich mit den Formen der Objektivierung und Institutionalisierung pädagogischer Ideen und Vorstellungen, die sich in jedem Gemeinwesen in unterschiedlichem Differenzierungs- und Perfektionierungsgrad finden lassen. In der Moderne sind solche pädagogischen Erfindungen vor allem in der Gestalt von Schulen zu einem der größten gesellschaftlichen Wirklichkeitsbereiche geworden.

2.2       Stufen der Planung und bewussten Gestaltung: Methodisierung von Erziehung und Bildung

Wie wir im Verlaufe dieser Einführung noch sehen werden, kann die pädagogische Arbeit mit Heranwachsenden in sehr unterschiedlichem Maße einem Plan und methodisch-rationalen Gesichtspunkten folgen. So können Kinder schlicht am Leben ihrer Umwelt teilnehmen und so in die Kultur hineinwachsen. Die gesamte Erfahrungswelt formt sie. Dieser Thematik werden wir mit dem Konzept der Sozialisation näher nachgehen. Erwachsene können aber auch planvoll in das Heranwachsen eingreifen und Lerngelegenheiten für die Kinder bewusst methodisch arrangieren. In unserer Kultur spricht man diesen Phänomenbereich mit dem Begriff der Erziehung an. Eine noch höhere Stufe der Planmäßigkeit finden wir bei der langfristigen institutionalisierten Vermittlung komplexer kultureller Gehalte, für die im deutschen Sprachraum die Begriffe von Unterricht und Bildung stehen.

Die Begriffe »Sozialisation«, »Erziehung«, »Unterricht« und »Bildung« repräsentieren damit unterschiedliche Grade der methodisch-rationalen »Arbeit« am heranwachsenden Menschen. Sie korrespondieren mit der Leitidee einer zunehmenden Intentionalität und Planung der »Arbeit« am heranwachsenden Menschen. Die im europäischen Kulturraum typischen historischen Etappen der Methodisierung werden hier vorgestellt.

Sozialisation

Das Konzept der Sozialisation – ein Leitmotiv des Erstautors dieser Einführung seit seiner Dissertation »Sozialisierung und Erziehung« (Fend, 1969) – hat in den letzten Jahrzehnten geholfen, die Aufmerksamkeit auf die ungeplanten Erfahrungen zu richten, die Kinder und Jugendliche im Verlauf ihres Aufwachsens machen. »Das Leben erzieht« – diese Formulierung enthält die Alltagserfahrung, dass vieles nicht absichtlich hergestellt werden kann und dass Formungsprozesse von ganz anderer Art als die gezielt und oft mühsam initiierten viel wichtiger sein können.

Aus dieser Kerneinsicht heraus hat sich ein ganz neuer Forschungszweig, die Sozialisationsforschung, entwickelt. Sie versucht systematisch, die gesamte Erfahrungswelt von Heranwachsenden in ihrer Wirksamkeit für den Kompetenzerwerb und die Persönlichkeitsentwicklung zu beschreiben und zu erklären. Sie macht somit vor allem darauf aufmerksam, was neben, vor und jenseits der oft gut gemeinten Absichten einfach geschieht und diese Anstrengungen entweder unterstützt oder zunichte macht.

Was »prägt« den heranwachsenden Menschen, ohne dass dies den Eltern oder Lehrpersonen, ja den Betroffenen selber, bewusst ist? Dies zu entdecken ist nicht einfach. Systematischer Forschung und Theoriebildung verdanken wir Einsichten dazu, die hier kurz vorgestellt werden sollen.

•  So hat uns die Lerntheorie die Augen dafür geöffnet, wie sich Gewohnheiten durch Wiederholungen von Erfahrungen, durch Verstärkungen und vor allem durch Beobachtungen der Umwelt herausbilden. Durch raffinierte Koppelungen können lange Reizketten erworben und über Verstärkungen die Wahrscheinlichkeiten des Verhaltens gezielt verändert werden (Bandura, 1986).

•  Die Psychoanalyse hat uns in die vorher unbekannten Gefilde des Seelischen geführt und den Blick dafür geschärft, welche frühen Erfahrungen, die Eltern nicht bewusst gestaltet haben, unsere Lebensorientierungen, unsere Unsicherheiten, unsere »Verklemmungen« und unsere Liebe zu uns selbst prägen. Unser Leben ist danach eine Geschichte von Objektbeziehungen (»Libido-Beziehungen« zu Menschen) und von unbewussten Ängsten (Blos, 1962; Freud, A., o.J.; Freud, S., 1905; Mahler, Pine & Bergman, 1978).

•  Als wichtiger empirischer Zugang, um nicht gezielt organisierte, aber dennoch prägende Erfahrungen für das Heranwachsen von Kindern zu entdecken, hat sich die Analyse unterschiedlicher Umwelten des Aufwachsens erwiesen. Der Vergleich von historischen Erfahrungsfeldern, etwa solchen in Kriegen, ist ein Beispiel. Aufwachsen in Armut, unter Bedingungen größtmöglicher Sparsamkeit und der Notwendigkeit, dass Kinder früh mitarbeiten müssen, um zu überleben, ist ein anderes Beispiel, das sichtbar macht, wie Tugenden und Lebensumstände korrespondieren (Elder & Caspi, 1990; Herrmann, 1991; Walper, 2008).

•  Vor allem die Entwicklungs- und Persönlichkeitspsychologien haben geholfen, die Bedeutung von unterschiedlichen Erfahrungsbereichen für die Humanentwicklung
Förderung