Über das Buch

Junge Frauen werden entführt – und trotz der Zahlung des Lösegelds ermordet. Ein Racheakt an ihren Vätern, die mit illegalen Geschäften ein Vermögen gemacht haben? Ein Jahr nach Tannenstein tritt der kriminell gewordene Ex-Polizist Alexander Born wieder auf den Plan. Gemeinsam mit seiner ehemaligen Kollegin Carla Diaz will er den Mann, der sich der Dunkle nennt, zur Strecke bringen. Doch in dem Spiel aus Lüge und Verrat ist nichts, wie es scheint, und hinter jeder Wahrheit verbirgt sich eine weitere.

 

 

 

 

Still, ganz still dringen sie in dein Haus ein und

rauben dir das Liebste. Reißen dein Herz heraus.

Wenn die Trauer übermächtig wird, nehmen sie dir auch

das Letzte – dein Leben.

Und es wird ein Akt der Gnade sein.

ER

Um ihn herum war nichts als Einsamkeit und Stille, und er konnte von beidem nicht genug bekommen. Die kalte Luft strömte in seine Lungen, und selbst in der Dunkelheit sah das Panorama der Bergwelt überwältigend aus. Die schroffen Felswände mit ihren hoch aufragenden Gipfeln, die noch ein wenig schwärzer waren als die Nacht dahinter.

Ab und zu schaute der Mond zwischen den Wolken hervor, als wollte er ihn im Auge behalten. Sein silbriger Schein traf auf eine Gruppe von Tannen, die es irgendwie geschafft hatte, sich auf dem felsigen Boden anzusiedeln. Tannen waren widerstandsfähige und hartnäckige Biester. Er mochte sie. Sollte er als Baum wiedergeboren werden, wollte er eine Tanne sein.

Ein Blick zur Uhr.

Noch zwölf Minuten.

Hoch über den Gipfeln kreiste ein Vogel. Ein großes Tier mit ausgebreiteten Schwingen, von dem in der Dunkelheit nur Umrisse zu erkennen waren. Dann stieß der Vogel einen Schrei aus, der wie das Kreischen einer Wahnsinnigen klang. Vielleicht ein Steinadler, vielleicht ein Bussard. Flogen Adler oder Bussarde überhaupt bei Nacht? Keine Ahnung. Er kannte sich mit Vögeln nicht aus, war kein Scheiß-Ornithologe, und wenn es nach ihm ging, konnte das Vieh ebenso gut gegen den nächsten Berg prallen und abstürzen.

Dann würde es noch stiller werden. Noch einsamer.

Seinen Standort hatte er schon vor Tagen gewählt. Von hier aus hatte er einen perfekten Blick auf das Tal und den Ort. Auf sein Ziel. Wenn alles nach Plan verlief, sollten sie in neun Minuten da sein. An dem Haus, das er ihnen in allen Einzelheiten beschrieben hatte.

Ein Kinderspiel.

Er lächelte, als ihm die Doppeldeutigkeit des Begriffs bewusst wurde.

Obwohl es bis zu ihrem Eintreffen noch dauern würde, griff er nach dem Fernglas und blickte auf das graue Band der Hauptstraße, welches den Ort in zwei Hälften teilte. Ein Auto fuhr gerade in seine Richtung, ein entgegenkommendes bremste, es sah aus wie das Aufflackern eines Glühwürmchens. Leider kollidierten sie nicht. Eine Sekunde lang schienen sie sich zu berühren, dann trennten sie sich wieder.

Der Ort hieß Felsenbrunn, und es war ein passender Name. Viele Besucher im Sommer, noch mehr Touristen im Winter. Dann kamen sie in Massen, fielen über alles her, fraßen, soffen und fickten, und wenn sie beim Après-Ski auf einen Einheimischen trafen, erzählten sie ihm, dass diese Gegend das Paradies sei. Sie sagten es, weil sie Idioten waren. Meist grauhaarige Männer, die zu laut lachten und deren Frauen aus von Botox erstarrten Gesichtern blickten.

Um zu verstehen, wie diese Gegend und ihre Menschen wirklich waren, musste man jetzt hier sein, im November. Die Gästebetten waren noch leer, die meisten Restaurants verwaist und viele Schaufenster mit Brettern vernagelt. Seit Tagen lag eine graue Wolkendecke wie ein Leichentuch über dem Tal, und selbst der Nebel war zu träge, um frühmorgens zu weichen. Die Berge wirkten in der Tristesse nicht mehr einladend, sondern bedrohlich und furchteinflößend; wie ein Schutzwall gegen das Böse.

Die meisten Menschen mochten den November nicht, nannten ihn grau und trostlos. Bei ihm war das anders. Ihm gefiel, dass der November der einzige Monat war, in dem das Tal sein wahres Gesicht zeigte.

Noch vier Minuten.

Wieder erreichte ein Auto den Ort. Erneut griff er zu seinem Fernglas, und dieses Mal erkannte er auch die charakteristischen Scheinwerfer des Pick-ups, auf den er gewartet hatte.

Die Berge würden das Böse nicht aufhalten können. Es war bereits da und näherte sich unaufhaltsam seinem Ziel. Eine Lawine, die, einmal in Gang gesetzt, eine Eigendynamik entwickelte und alles mitriss, was sich ihr in den Weg stellte.

Er ließ das Fernglas wieder sinken und atmete ein. Als er schließlich ausatmete, verließ eine durchsichtige Wolke seinen Mund, als ob seine Seele sich verflüchtigen würde.

Wenn er denn eine gehabt hätte.

Über Linus Geschke

Linus Geschke, 1970 in Köln geboren, arbeitet als freier Journalist für SPIEGEL ONLINE, das Manager Magazin und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Für seine Reisereportagen hat er zahlreiche Journalistenpreise gewonnen. Mit Tannenstein gelang ihm auf Anhieb der Sprung auf die SPIEGEL-Bestsellerliste. Finsterthal ist der zweite Teil seiner Trilogie um den Ex-Polizisten Alexander Born.

DER BLONDE, DER GROSSE UND DER DUNKLE

Phase eins.

Der Pick-up stoppte, und der Blonde stieg aus. Eine Viertelstunde, dann hatte er die Mauern überwunden, das Alarmsystem und die Kameras ausgeschaltet und das schmiedeeiserne Tor des Anwesens geöffnet. Anschließend ließ er den Wagen mit dem Großen und dem Dunklen durch, schloss das Tor und stieg wieder ein.

»Alles klar«, sagte er.

Der Dunkle nickte. Er war unverkennbar der Anführer des Trios. Sein Gesicht war kantiger und offener und besaß eine gewisse Ausstrahlung. Dennoch war er kein gut aussehender Mann, eher jemand, den man sofort wieder vergaß, nachdem man ihn gesehen hatte. Außer, man sah genauer hin. Dann erkannte man in seinen dunkelgrauen und etwas eng beieinander stehenden Augen ein Funkeln, das jedem sagte: Leg dich nicht mit mir an!

Die drei folgten der Zufahrt zum Hauptgebäude, die in einer leichten Linkskurve verlief und von hoch aufragenden Bäumen gesäumt war. Die Scheinwerfer des Pick-ups waren ausgeschaltet, der V8-Motor blubberte kaum hörbar im Leerlauf. Keiner redete, bis das mächtige Anwesen hinter den letzten Bäumen in Sicht kam. Eine durch Fachwerkfassade auf alt getrimmte Villa mit rechteckigem Grundriss, zwei Stockwerke hoch, darüber ein mit Steinen belegtes Satteldach.

Das Gebäude strahlte eine gewisse Wehrhaftigkeit aus, die es jedoch nicht hatte. Es gab keine Hunde auf dem Gelände und kein Wachpersonal – der Eigentümer hatte sich ausschließlich auf modernste Sicherheitstechnik verlassen, um das zu schützen, was er am meisten liebte.

Sein Kind.

Vor dem Haupteingang stoppte der Wagen, und sie stiegen aus. Dann legten sie ihre Hände übereinander, wie sie das in solchen Situationen immer taten. Es war ihr Ritual, es sollte Glück bringen. Keiner von ihnen vertraute auf das Glück, dennoch tat es gut, dieses Ritual zu haben. Es verband sie wie ein fest geschnürter Knoten, der von keinem Außenstehenden gelöst werden konnte.

Dann trennten sich ihre Hände wieder.

Phase zwei.

Sie griffen sich die Sporttaschen auf dem Rücksitz und zogen sich um. Ihre Straßenbekleidung verschwand unter weißen Nylonoveralls, ihre Haare unter Kapuzen und ihre Gesichter unter Masken. Die Stiefel steckten kurz darauf in Gummiüberschuhen, deren Sohlen aus Kork bestanden und die beim Gehen keine Geräusche erzeugten. Zum Schluss kamen die Hände dran. Latexhandschuhe, wie Mediziner. Danach sahen die drei Männer aus wie Aliens. Wie bösartige Wesen einer anderen Welt, denen alles Menschliche fremd war.

Die Haustür bereitete dem Blonden keine Probleme. Er knackte das Sicherheitsschloss in weniger als zwei Minuten und deutete mit einer übertriebenen Verbeugung ins Innere. Eine Aufforderung, der der Dunkle als Erster nachkam.

Nach wenigen Schritten blieb er stehen und wartete, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Dann sah er sich um. Alles war wie beschrieben, alles schrie nach Geld. Der Kronleuchter, die schweren Teppiche und die antiken Möbel, die im hereinfallenden Licht des Mondes einen Glanz ausstrahlten, der nur entsteht, wenn das Holz regelmäßig gepflegt und poliert wird.

Als die anderen zu ihm traten, hielten sie gemeinsam die Luft an und lauschten. Sie vernahmen kein Geräusch, keinen Laut. Es gab keinerlei Anzeichen, dass ihr Eindringen bemerkt worden war.

Phase drei begann.

Die des Dunklen.

Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Treppe, die links des Eingangsbereichs nach oben führte. Achtzehn Stufen hinauf in den ersten Stock, wo die Schlafzimmer des alleinerziehenden Vaters und seiner Tochter lagen.

Obwohl sie nie hier gewesen waren, kannten sie das Haus, als wenn es ihr Zuhause wäre. Sie wussten, wo welcher Raum lag und welche Tür zum Knarzen neigte. Vor allem aber wussten sie, dass der Besitzer des Hauses heute in München war, wo er den Abend mit seiner Geliebten im Theater verbrachte und für die Nacht ein Hotelzimmer gebucht hatte. Ein erlesenes Abendessen, ein wenig Kultur, zum Abschluss noch ein schweißtreibender Fick in einem mit Satin bezogenen Kingsize-Bett – der letzte Spaß, den er für lange Zeit haben würde.

Anders als sie.

Stufe um Stufe schlichen sie die Treppe hinauf, nicht mehr als helle Schemen im Dunkel. Traten dabei immer auf die Außenkanten der Treppe, um ein Knarzen des Holzes zu verhindern. Folgten dem Gang, der sie zu dem Zimmer führte, in dem sich ihr eigentliches Ziel befand.

Alice.

Vorsichtig drückte der Dunkle die Klinke hinunter und öffnete die Tür. Leise, so leise. Dann betraten sie den Raum und schauten auf das im Bett liegende Mädchen, das die Schwelle zwischen Kind und Frau gerade passiert hatte. Ihre hellblonden Haare umrahmten ein ebenmäßiges Gesicht, dazu ihr jugendlicher Körper, straff und fest.

Sie sah aus wie eine Prinzessin, siebzehn Jahre alt und sicherlich nicht mehr ungeküsst. Ihre Bettdecke ruhte verdreht auf den durchtrainierten Oberschenkeln, und ihr dünnes Trägertop war hochgerutscht, so dass man den Ansatz der Brustwarzen sah. Der Große stieß die Luft aus und knetete sich den Schritt – ein Zeichen der Vorfreude.

Unwillkürlich musste der Dunkle den Kopf schütteln.

Der Vater hätte das Mädchen in dieser Nacht nicht alleine lassen dürfen. Nie eigentlich. Sie war so jung, so unschuldig, so … unvorbereitet. Wahrscheinlich war sie in dem trügerischen Glauben aufgewachsen, dass die Schrecken der Welt ihr nichts anhaben konnten. Ein Irrtum, den die drei in Kürze korrigieren würden. In dieser Nacht und in den Nächten danach.

Dann trat der Dunkle neben das Bett und beugte sich über das Mädchen. Streichelte ihr Haar, wieder und wieder, um sie möglichst sanft zu wecken. So hatte er das immer gemacht. Es gab keinen Grund, in dieser Phase bereits auf Härte zu setzen; der Moment dafür würde noch früh genug kommen.

Aus Erfahrung wusste der Dunkle, dass es einige Sekunden dauern würde, bis Alice reagierte. Das menschliche Gehirn konnte Unerwartetes nur schwer verarbeiten. Selbst wenn Menschen in solchen Momenten die Augen aufschlugen, schauten sie einen meist nur regungslos an, während der Verstand zu begreifen versuchte, dass Fremde in ihr Haus eingedrungen waren.

Bevor er angefangen hatte, mit dem Großen und dem Blonden zu arbeiten, hatte er sogar Fälle erlebt, in denen das Opfer gar nicht reagierte. Es lag wie paralysiert da und wartete ergeben ab, was als Nächstes geschah. Er selbst fand diese Reaktion sonderbar: Wussten sie nicht, dass es mitunter besser war, man wusste gar nicht, was als Nächstes geschah?

Der Dunkle war gespannt, wie es mit ihr sein würde. Mit Alice, der Schönsten von allen.

Phase vier.

Alices Lider flackerten, dann öffnete sie die Augen. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu realisieren, was um sie herum geschah. Als es so weit war, riss sie den Mund auf und schrie.

Der Dunkle drückte ihren Kopf aufs Kissen und sagte: »Psst!«

Sie schrie weiter.

Er gab ihr eine Ohrfeige, dann sagte er wieder: »Psst!«, wobei er den Zeigefinger auf die Lippen legte.

Sie beruhigte sich.

Ein wenig zumindest.

»Wie heißt du?«, wollte er wissen, obwohl er die Antwort schon kannte.

»Ich … Alice«, stammelte sie.

»Hallo, Alice.« Seine Finger strichen über ihre Wange. »Willkommen im Wunderland!«

FELSENBRUNN

Born erreichte den Ort an einem nebligen Vormittag. Er lag inmitten eines tief eingeschnittenen Tals und war von einer Hauptstraße durchzogen, die ihn einmal in Längsrichtung teilte. Links lagen Hotels und edle Restaurants, rechts imposante Häuser und Chalets, hinter denen majestätisch die Alpen aufragten.

Nachdem er den Wagen abgestellt hatte, erkundete er zu Fuß das kleine Zentrum, um ein Gespür für die Gegend zu bekommen. Das Ganze dauerte keine halbe Stunde, dann hatte er alles gesehen, was es zu sehen gab. Den Marktplatz, die barocke Dorfkirche und die teuren Fachgeschäfte für Skifahrer, von denen die meisten jedoch bis zum Beginn der Skisaison geschlossen hatten.

Jede Straße war penibel sauber, die alten Häuser aufwendig renoviert, und dennoch gefiel Born der Ort nicht, was auch an dem fehlenden Licht lag. Selbst an einem sonnigeren Tag als heute musste es hier wegen der Berge, die die Gemeinde wie eine Klammer umschlossen, relativ dunkel sein. Ein Gefühl der Enge beschlich ihn, und er konnte nicht verstehen, warum jemand Millionen ausgab, um seinen Wohnsitz ausgerechnet in dieses Tal zu verlegen.

Aber was wusste er schon?

Vielleicht sollte er das dunkle Wesen fragen, welches ihm Nacht für Nacht durch die Träume folgte. Gut möglich, dass es sich hier heimisch fühlte.

Nach der Besichtigungstour stieg er in seinen Wagen und ließ sich vom Navi zu der Adresse führen, die Dimitri ihm genannt hatte. Sie lag am oberen Ende eines Hangs und in einer Straße, die von frei stehenden Anwesen gesäumt war, zwischen denen schmale Gassen in noch höhere Regionen führten. Hier war der Nebel dichter als im Tal, und die Bäume entlang der Straße sahen aus, als würden sie in einem Meer aus Milch schwimmen.

Vor einer mit einem schmiedeeisernen Zaun versperrten Einfahrt stoppte er und meldete sich über die Gegensprechanlage an. Eine oberhalb des Tores angebrachte Kamera schwenkte auf sein Gesicht und verharrte dort, bis die Torflügel sich wie von Geisterhand öffneten und eine kiesbedeckte Auffahrt freigaben, die direkt zum Haus führte.

Auf den ersten Blick wirkte das Anwesen wie eine Mischung aus einem bayerischen Landgasthof und einer zu groß geratenen Berghütte. Die Außenfassade war weiß verputzt und mit dunklen Holzbalken durchzogen, der erste Stock von einem umlaufenden Balkon gesäumt. Links und rechts der Sprossenfenster waren grün gestrichene Fensterläden angebracht, und über all dem thronte ein überstehendes Satteldach, das aussah, als würde das Haus darunter Schutz suchen.

Der Mann, der ihm kurz darauf die Tür öffnete, musste Peter de Vries sein. Born schätzte ihn auf Anfang fünfzig und eins fünfundachtzig Größe, womit er fast so groß wie er selbst war. Seine dunkelblonden Haare waren sauber geschnitten, aber ungekämmt, das Gesicht hoffnungslos übermüdet. Bekleidet war er mit einer grauen Stoffhose und einem verknitterten Pullover mit V-Ausschnitt, der aussah, als hätte er die Nacht darin verbracht. De Vries hielt sich bemüht aufrecht, und dennoch erkannte Born, dass unter der Fassade ein Mann kurz vor dem Zusammenbruch steckte.

»Sie sind Alexander Born?«, fragte de Vries mit rauer Stimme, der ein niederländischer Akzent anzuhören war.

Born nickte.

»Kommen Sie herein.«

De Vries führte ihn in einen Salon, in dem jeder Einrichtungsgegenstand Siehst du, wie teuer ich war? schrie. Sein Blick fiel auf kunstvoll verzierte Antikmöbel, auf eine mit champagnerfarbenem Leder bezogene Sitzgruppe und auf einen Kronleuchter, dessen geschliffene Gläser wie Diamanten funkelten.

Vielleicht waren es sogar welche.

De Vries deutete auf einen Sessel, und Born setzte sich. Dann nahm der Mann auf dem Sofa gegenüber Platz und sagte: »Dimitri hat mir erzählt, Sie sind Polizist gewesen. Ein Ermittler bei der Mordkommission.«

»Das stimmt.«

»Warum sind Sie jetzt kein Polizist mehr?«

»Mir haben die Dienstzeiten nicht gefallen. Also, Herr de Vries – was kann ich für Sie tun?«

Bis de Vries antwortete, vergingen ein paar Sekunden. »Meine Tochter ist vor vier Tagen entführt worden«, sagte er dann. »Alice. Sie ist siebzehn.«

»Dann gehen Sie zur Polizei. Die ist auf solche Fälle spezialisiert.«

»Da war ich. Nachdem ich das Lösegeld gezahlt hatte und Alice nicht zurückgekommen ist.«

»Warum nicht früher?«

»Die Entführer haben gesagt: keine Polizei.«

»Sagen sie das nicht immer?«

De Vries schaute zu Boden und schüttelte den Kopf; eine Reaktion, die Born kannte. Teufel, er hatte sie oft genug an sich selbst erlebt. Gewissenhafte Menschen hassten es, Fehler zu begehen. Nicht nur wegen ihres Egos, sondern weil manche Fehler Folgen hatten, mit denen gewissenhafte Menschen nur schwer leben konnten.

»Die Entführer haben eine Million Euro verlangt«, fuhr de Vries fort. »Zahlbar binnen vierundzwanzig Stunden. Ich habe das Geld beschafft und an dem vereinbarten Ort abgelegt, aber Alice ist nicht zurückgekehrt. Die Entführer haben sich danach nicht mehr gemeldet, und ich weiß nicht, was ich jetzt noch tun soll. Die Angst … Ich habe das Gefühl durchzudrehen, verstehen Sie?«

Born nickte. »Das tut mir aufrichtig leid«, sagte er sanft. »Dennoch weiß ich immer noch nicht, was genau Sie von mir erwarten.«

De Vries sah ihn an. »Helfen Sie mir, mein Kind gesund zurückzubekommen! Finden Sie die Schweine. Ich gebe Ihnen Geld, viel Geld, aber …«

»Herr de Vries …« Born beugte sich vor. »Ich behaupte nicht, in irgendeiner Weise nachvollziehen zu können, was Sie gerade durchmachen. Ich kann Ihnen nicht einmal Trost geben, aber ich kann Ihnen die Wahrheit sagen: Ich sehe keine Möglichkeit, wie ich Ihnen helfen kann, Ihre Tochter zurückzubekommen. Diese Macht habe ich nicht. Vertrauen Sie der Polizei und deren Erfahrung. Beten Sie, wenn Ihnen das hilft, und bedenken Sie, dass die meisten Entführungsfälle zu einem guten Ende gebracht werden.«

De Vries schüttelte den Kopf. »Vor drei Monaten hat ein Geschäftspartner das Gleiche durchgemacht. Sein Name ist Frank Brinkmann, und seine Tochter wurde ebenfalls entführt, unter ganz ähnlichen Umständen. Dieser Fall ging nicht gut aus. Die Täter haben … sie haben Lena …«

»Ich weiß«, sagte Born. »Dimitri hat mir davon erzählt.«

»Ihr Zustand war grauenhaft. Die Polizei hat sicher auch in dem Fall getan, was sie konnte, aber ohne Resultat. Brinkmanns Tochter ist tot, und diese Kerle laufen noch immer frei herum. Können Sie erahnen, wie sich das anfühlt? Welche Bilder ich im Kopf habe, wenn ich die Augen schließe?«

Born erwiderte nichts, weil es nichts zu erwidern gab, während sein Blick auf ein Sideboard fiel, auf dem ein gerahmtes Foto stand, wohl von Alice. Sie hatte volles blondes Haar, faszinierende, für ein Mädchen ihres Alters erstaunlich ausdrucksstarke Augen und dieses halb schiefe, unvergessliche Lächeln, das einem wie das Nachbild eines Blitzlichtes hinter den Augenlidern brannte.

»Ich will mein Kind wiederhaben«, fuhr de Vries fort, wobei seine Stimme fester klang. »Lebend und gesund, das ist das Wichtigste. Aber zusätzlich will ich auch die Männer zur Rechenschaft ziehen, die dafür verantwortlich sind. Die Schweine müssen für das bezahlen, was sie Alice angetan haben. Deshalb sind Sie hier.«

De Vries wollte Rache, dachte Born. Natürlich wollte er das. Niemand darf in das Haus einer Familie einbrechen, das Kind stehlen und glauben, dass diese Menschen dann nicht an Rache denken.

»Ich bin kein Killer«, sagte er.

»Das weiß ich«, erwiderte de Vries. »Aber Dimitri sagt, dass Sie jemand sind, der solche Männer aufspüren kann. Tun Sie das. Finden Sie meine Tochter, und finden Sie diese Schweine. Alles, was ich dann noch brauche, ist deren Adresse. Um den Rest kümmere ich mich.«

»Sie kümmern sich?«

De Vries schwieg.

Born schwieg ebenfalls und dachte über das Gehörte nach. Fand den Punkt, der nicht passte, und sagte: »Darf ich fragen, in welcher Branche Sie tätig sind?«

»Immobilien«, erwiderte de Vries nach kurzem Zögern. »Ich kaufe Häuser, saniere sie und veräußere sie wieder. In einer Gegend wie …«

»Ich meinte nicht Ihre offizielle Tätigkeit, Herr de Vries. Ich meine den Geschäftszweig, mit dem Sie das große Geld verdienen.«

»Ich verstehe nicht.«

»Natürlich tun Sie das.« Born beugte sich vor. »Ihre Tochter wurde entführt, und in nur vierundzwanzig Stunden schaffen Sie es, eine Million Euro in bar zu besorgen. Die Entführer lassen Alice daraufhin nicht frei, und Sie wollen den Fall nicht alleine der Polizei anvertrauen. Was Sie stattdessen wollen – neben Ihrer Tochter natürlich –, ist Rache. Deshalb rufen Sie jemanden wie Dimitri an, der sich dann mit mir in Verbindung setzt und mich anfleht, möglichst schnell zu Ihnen zu fahren. Und warum? Ist Dimitri Ihnen dankbar, weil er über Sie ein Immobilienschnäppchen gemacht hat?«

»Ich glaube kaum, dass meine Geschäfte hierbei eine Rolle spielen.«

»Oh doch, das tun sie, ganz sicher sogar. Der Name Ihrer Tochter ist nicht vom Himmel gefallen, ebenso wenig wie der von Lena Brinkmann. Die Entführer müssen gewusst haben, dass Sie binnen kürzester Zeit eine solche Summe Bargeld besorgen können, und den Grund dafür kennen Sie besser als ich.« Born schüttelte den Kopf. »Sie hätten gleich zur Polizei gehen sollen, Herr de Vries – ganz am Anfang, bevor Sie gezahlt haben. Das wäre das Beste gewesen.«

»Fünfzigtausend Euro, wenn Sie nach den Entführern suchen. Zweihunderttausend als Bonus, wenn Sie sie finden.«

Born stand auf. »Tut mir leid, ich bin nicht interessiert. Sie sollten Ihren Plan aufgeben, und wenn Sie das nicht können, müssen Sie sich an jemand anderen wenden. Ich bin raus, hoffe aber, dass Sie Ihre Tochter lebend und wohlbehalten zurückbekommen. Das hoffe ich wirklich.«

»Warten Sie!« Der Ruf erreichte ihn, als er gerade den Raum verlassen wollte. »Geben Sie mir noch fünf Minuten, ja? Ich möchte Ihnen etwas zeigen.«

ALICE

Sie wusste nicht, wie lange sie schon in diesem Raum gefangen war, der rund um die Uhr von einer trüben Glühbirne erleuchtet wurde, die sich noch nicht einmal die Mühe gab, eine Illusion von Sonnenlicht zu erzeugen. Der Boden, die Wände und die Decke bestanden aus Beton, und dennoch roch es ein wenig … keine Ahnung, nach Holz?

Jedes Geräusch, das im Inneren des Verlieses erzeugt wurde, brach sich an den Wänden, mäanderte und kam in Wellen wieder, weil es keinen Ausweg fand. Ihre Schreie, das Stöhnen der Männer, die sich an ihr vergingen, und ihr Schluchzen, wenn sie anschließend wieder allein war.

Bis auf ein Feldbett, einen kleinen Tisch und einen Holzstuhl war der Raum leer. Die Kälte, die Stille und die Feuchtigkeit gaben ihr das Gefühl, tief unter der Erde zu sein. Vielleicht war sie ja schon in der Hölle angekommen, nur dass die Hölle nicht heiß, sondern eisig kalt war.

Wenn dem so war, war sie selbst schuld. Warum nur hatte sie als Kind nicht jedes Mal aufgegessen? Warum hatte sie immer Widerworte geben müssen? Warum hatte sie sich von der Liebe ihres Vaters genervt gefühlt, anstatt sich über die Wärme und Geborgenheit zu freuen? Wie gerne würde sie die Uhr jetzt zurückdrehen, an einen x-beliebigen Zeitpunkt der Vergangenheit, an dem sie noch die Chance gehabt hätte, alles besser zu machen. Ein gutes Kind zu sein. Ein Mädchen, dem nicht passierte, was ihr gerade passierte.

Sie drehte sich auf die andere Seite, zog die Beine an und die graue Wolldecke bis über die Schultern hoch. Wenigstens stank es in dem Gewölbe nicht – die Männer leerten regelmäßig den Eimer, in dem sie ihre Notdurft verrichtete, und brachten frisches Wasser und einen Lappen mit, mit dem sie sich dann vor ihnen waschen sollte. Anfangs hatte sie sich geschämt, sich geweigert, dann abgewendet, mittlerweile war es ihr egal. Die Zeiten, in denen Scham und Selbstbestimmung noch etwas zählten, lagen hinter ihr. Es ging nur noch ums Überleben.

Und Alice wollte überleben.

Drei Dinge halfen ihr, in der Einsamkeit des Verlieses nicht völlig durchzudrehen. Als Erstes die Erinnerung an zu Hause und an den letzten Tag, an dem ihr Leben noch ein Leben gewesen war. Sie hatte an diesem Abend in ihrem Zimmer gelegen, die Tür stand offen, und sie hatte die Stimmen aus dem Erdgeschoss gehört – den Bass ihres Vaters, das Lachen seiner Geliebten und immer wieder das gemeinsame Flüstern, als würden sie ein Geheimnis miteinander teilen.

»Wir sind dann mal weg, Schatz«, hatte ihr Vater gerufen. »Mach dir einen schönen Abend, und geh nicht zu spät ins Bett, ja?«

Sie hatte nicht geantwortet, und wahrscheinlich hatte er auch keine Antwort erwartet. War in Gedanken schon bei dem, was er mit der Frau an seiner Seite unternehmen würde, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte und von der sie nur wusste, dass sie gerade einmal acht Jahre älter war als sie.

Für Alice war sie nur eine blöde Kuh in einer langen Reihe von blöden Kühen gewesen, belanglos und uninteressant wie die anderen Frauen, die ihr Vater vor ihr gehabt hatte. Es war nicht so, dass die zahlreichen Affären ihres Vaters sie störten – sie liebte ihn und ertrug sie einfach, wie man die Mücken im Sommer erträgt.

Nachdem die beiden das Haus verlassen hatten, hatte Alice den Fernseher eingeschaltet und sich eine Serie auf Netflix angeschaut. Eine Gruppe Teenager spielte darin die Hauptrolle, einer schlagfertiger als der andere, und immer schien die Sonne. Viele der Schauspielerinnen sahen Alice ähnlich, was sie witzig fand. Die gleichen Haare, die gleichen Klamotten und die gleichen Träume, obwohl sie auf der anderen Seite des Erdballs lebten.

Nach der ersten Folge war sie kurz durch Instagram und Facebook gesurft, hatte dann eine weitere Folge angesehen und war müde geworden. Ihr Gehirn versank langsam in einen Dämmerzustand, die Konturen der Bilder verschwammen. Ein Griff zur Fernbedienung, das Einstellen des Sleeptimers, das Schließen der Augen.

Aus.

Der zweite Punkt, der ihr Hoffnung gab, war das Verhalten des Dunkelhaarigen. Er war Anfang bis Mitte vierzig, gepflegt und zurückhaltend. Anders als die anderen Männer hatte er sich nicht an ihr vergangen, sie nicht einmal angefasst. Er war stets distanziert geblieben und schaute ihr immer in die Augen, als nähme er sie als Mensch wahr, nicht als Gebrauchsgegenstand. Als er ihr vor ein paar Stunden eine Dose Cola gebracht hatte, hatte sie sich mit leiser Stimme bedankt, und er hatte nickend »gerne« geantwortet – fast wie der Kellner in dem Restaurant, das sie mit ihrem Vater häufig besuchte.

Alice war siebzehn, aber sie war schon lange kein Kind mehr. Sie war in der Lage, Situationen analytisch zu betrachten und anzugehen. Wenn es ihr gelänge, zu einem der Entführer eine persönliche Beziehung aufzubauen, würde es ihre Überlebenschance erhöhen, und der Dunkelhaarige schien dafür am geeignetsten zu sein. Vielleicht war er ja wirklich nur am Geld interessiert und nicht daran, ihr etwas anzutun. Vielleicht mochte er sie sogar und hatte Sympathien entwickelt. Vielleicht jedoch – wer wusste das schon? – waren solche Gedanken auch nur die ersten Anzeichen des Stockholm-Syndroms, von dem sie mal gelesen hatte.

Der letzte und wichtigste Punkt, auf den sie in der Einsamkeit des Verlieses bauen konnte, war ihr Verstand. Die Männer mochten in ihren Körper eingedrungen sein, mit ihrem Kopf war ihnen das nicht gelungen. Er glich weiterhin einem Raum, zu dem nur sie den Schlüssel besaß, und solange sie darüber die Kontrolle hatte, gab es immer noch Hoffnung. Ihr Verstand war etwas, das nur ihr gehörte, und sie war entschlossen, ihn einzusetzen, sobald sich die Gelegenheit bot.

Wenn sie sich bot.

BERLIN
DREI TAGE SPÄTER

Alexander Born hatte in dieser Nacht Albträume. Wie schon in der vorherigen und wie in jener, die der vorherigen vorangegangen war.

Ein formloses Wesen war ihm wie ein Schatten durch die Träume gefolgt. Nie wurde es schneller, nie langsamer, ständig spazierte es im Gleichschritt hinter ihm her, schweigend wie eine Gefolgschaft aus Blut und Gewalt. Born wusste nicht, was das Wesen antrieb, aber er wusste, wo es geboren worden war: in der Justizvollzugsanstalt Tegel, in der er drei Jahre eingesessen hatte, weil er sich als Polizist an Kriminellen bereichert hatte, indem er sie ausraubte. Nicht die beste aller Ideen, aber auch nicht die schlechteste.

Dachte er, damals.

Bis zu dem Tag zumindest, an dem jemand seine Partnerin und Geliebte Lydia ermordete und es nichts gab, was er tun konnte, weil Gitterstäbe und Betonwände jeden Handlungsspielraum begrenzten. Es hatte ihn schier wahnsinnig gemacht, irgendetwas in ihm zerbrochen. Was immer in der Dunkelheit dieser Tage geboren wurde, blieb fortan ein Teil von ihm.

Nach seiner Entlassung war er von dem Gedanken besessen gewesen, Rache an dem zu nehmen, den er für Lydias Tod verantwortlich machte. Doch dieser Mann war jetzt auch tot. Born hatte gehofft, er könnte danach seinen Frieden und wieder zu sich selbst finden, aber das Wesen hatte ihn nicht mehr losgelassen.

Manchmal hatte er Angst, es würde ihn packen und verschlingen; manchmal ließ es ihn nachts vom Gefängnis träumen, von dem Gestank und der Angst dort. Bilder von schreienden Irren und gepeinigten Idioten geisterten durch seinen Kopf; von brutalen Gewaltorgien, empathielos ausgeführten Tritten und Schlägen. Er hörte das Geräusch, das Schädel machten, wenn sie gegen Betonwände krachten, sah zerschlagene Gesichter und konnte immer noch die allumfassende Einsamkeit spüren, die er mit Hunderten anderer teilte. Das Wesen erinnerte ihn daran, wie es war, keinen Millimeter Raum für sich zu haben, keine Sekunde allein zu sein. Und keine Spur von Schönheit, nirgends.

Der einzige Mensch, den er nach seiner Entlassung an sich rangelassen hatte, war Norah Bernsen gewesen. Eine Polizistin, in deren Person sich äußere und innere Schönheit verbanden.

Aber auch sie war wieder aus seinem Leben verschwunden. Vielleicht, weil er nie auf ihre Anrufe reagiert hatte; vielleicht, weil sie die Augen irgendwann nicht mehr vor dem verschließen konnte, was in ihm herrschte.

Er war jetzt achtunddreißig und allein auf der Welt.

Fast.

Er hatte ja immer noch das Wesen.

Als Born um neun Uhr aufstand, hatte der wolkenverhangene Himmel die satte, monochrome Sepiafarbe einer alten Fotoaufnahme. Er putzte sich die Zähne, trank einen Kaffee und zog Sportkleidung an. Dann verließ er die großzügig geschnittene Dreizimmerwohnung in Charlottenburg, die er von seinen Eltern geerbt hatte, und joggte los.

Nach zwei, drei Minuten hatte er sein Tempo gefunden. Er trabte durch baumgesäumte Straßen, die von renovierten Altbauten geprägt waren, vorbei an Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Da waren Frauen in Businesskostümen und Männer in Anzügen, unter denen er sich seltsam deplatziert vorkam. Er wusste, dass er nicht in dieses Viertel gehörte; nur ein Pirat war, der unter falscher Flagge segelte.

Berlin war seine Heimat, war es immer gewesen, aber das hier war nicht seine Stadt. Sein Berlin waren die heruntergekommenen Viertel, in denen er jede Straße und jede Gasse kannte. Ebenso die Dealer, die Zuhälter und das ganze lichtscheue Gesocks mit Augen, in denen entweder ein unbestimmter Groll auf die Welt oder blanke Dummheit glomm. In dieser Umgebung hatte er sich immer wohlgefühlt; wahrscheinlich, weil er beim Abschaum wusste, woran er war. Schlipsträger hatte er nie verstanden.

In seinem Berlin lag stets eine aggressive Stimmung in der Luft, penetrant wie der Geruch nach Urin, Schweiß und Müll. Dieses Berlin roch wie das Parfüm einer alten Hure, und dennoch liebte er es; selbst an heißen Sommertagen, wenn der Verkehr tobte und die Hundescheiße zum Himmel stank. Das war sein Hoheitsgebiet. Hier war er durch die Schule des Lebens gegangen, hier hatte er schon als Kind gelernt zu kämpfen und zu vergeben, hatte Streits angezettelt und beendet, den Dreck der Straße verachtet und geliebt.

Vor allem in den sieben Jahren, in denen er für die Sitte arbeitete, und den vier folgenden, die er beim Dezernat LKA 11 verbrachte, wo er es mit Tötungsdelikten und Entführungen zu tun gehabt hatte. Oft fragte er sich, warum das so war: warum das Gute inmitten all des Schmutzes besonders hell leuchtete.

Born joggte zwei Runden um das Olympiastadion, dann machte er sich auf den Rückweg, wo er nahe der Kreuzung Reichsstraße und Brixplatz an einem in zweiter Reihe geparkten Streifenwagen vorbeikam, hinter dem sich bereits der Verkehr staute. Der Fahrer saß gelangweilt am Steuer, während sein Kollege gerade auf eine nahe gelegene Bäckerei zumarschierte.

»Hey, Born!«

Er hörte den Ruf und stoppte.

»Sie können sich nicht mehr an mich erinnern, richtig?«

Er trat an den Streifenwagen heran und sah sich den Fahrer genauer an. Ein massiger Typ Anfang vierzig, der wahrscheinlich mal muskulös gewesen war, bevor zu viele Koteletts seinen Weg kreuzten. Trotz des trüben Wetters trug er eine verspiegelte Sonnenbrille, die ihm die Optik eines Pornostars verlieh, und irgendwie kam sein Gesicht Born bekannt vor – vielleicht hatte er bei einer Ermittlung mal die Tatortsicherung übernommen.

»Auf Anhieb nicht«, gab er zu.

»Kein Problem«, erwiderte Sonnenbrille mit einer Handbewegung, die alles Mögliche bedeuten konnte. »Welcher Zivilbeamte merkt sich schon jeden uniformierten Kollegen, mit dem er es mal zu tun gehabt hat? Passen Sie auf, ich helfe Ihnen auf die Sprünge: Es ging damals um einen Araber, der seine sechzehnjährige Schwester abgestochen hat, weil sie mit einem Deutschen ins Kino ging und damit die Ehre der Familie beschmutzte. So ’n verfickter Kleindealer, der ansonsten rund ums Kottbusser Tor Ecstasy vertickte.«

Irgendwas dämmerte.

»Ich kann mich noch erinnern, dass Sie damals für die meisten Kollegen fast so etwas wie ein Held waren«, fuhr der Streifenpolizist fort. »Das war allerdings, bevor rauskam, dass Sie selbst krumme Touren reiten. Mich persönlich hat das, ehrlich gesagt, nicht gewundert. Meiner Meinung nach waren Sie schon damals ein arrogantes Arschloch, das wahrscheinlich dachte, es käme mit allem durch.«

Born trat näher und legte eine Hand auf das Dach des Streifenwagens. »Den Eindruck habe ich auf Sie gemacht?«

Der Bulle grinste dümmlich. »Ein aufgeblasener, arroganter Wichser.«

Das war genau die Art von Diskussion, die Born nicht mehr führen wollte. Er hatte es so satt. »Tut mir leid«, sagte er und wandte sich zum Gehen. »Ich wünsche Ihnen dennoch einen schönen Tag.«

Der Polizist schien noch nicht fertig zu sein. Er nahm die Sonnenbrille ab und sagte: »Vielleicht zahlt Ihnen das ja mal jemand heim, was meinen Sie? Vielleicht wartet ja mal jemand vor der Tür, wenn Sie das Haus verlassen. Also immer schön aufpassen, verstanden?«

So langsam wurde Born sauer. »Sie?«

»Was?«

»Ich wollte wissen, ob Sie das sein wollen. Der Typ, der vor meinem Haus steht, um mich fertigzumachen. Wenn ja – warum dann warten? Warum nicht gleich jetzt und hier, Fettsack?«

Sonnenbrille starrte ihn stumm an.

»Dachte ich mir«, sagte Born, bevor er sich umdrehte und den Streifenpolizisten endgültig seinem Schicksal überließ.

Im Weggehen schaute er, einem inneren Reflex folgend, auf die Uhr. Es war erst 10.37 Uhr, er war schon so müde, und das lag an den Tagen, die in letzter Zeit sein Leben bestimmten.

Tage, die so ereignislos ineinander übergingen, dass plötzlich November war, obwohl der Kalender in der Küche immer noch Februar anzeigte.

In der folgenden Nacht wurde Born unsanft durch das schrille Klingeln des Handys geweckt. Sein Hirn war benebelt, die Gedanken schienen sich durch zähflüssiges Karamell zu bewegen. Dann blickte er zum Handy, das sich wie ein verendendes Tier vibrierend auf die Kante des Nachttisches zubewegte, um sich in selbstmörderischer Absicht in den Abgrund zu stürzen.

23.44 Uhr.

Er rettete es und meldete sich.

»Ich bin’s, Dimitri.« Die Stimme des Russen klang gehetzt. »Kannst du offen reden?«

»Klar. Ich bin allein.«

»Gut … das ist gut. Ich brauche deine Hilfe. Wir brauchen sie.«

Dimitri Saizew und er waren weder Feinde noch Freunde, ihr Verhältnis bewegte sich irgendwo dazwischen. Entscheidend war, dass der Russe zu den wenigen Menschen gehörte, denen Born vertraute, obwohl sie lange auf verschiedenen Seiten des Gesetzes gestanden hatten. Er gehörte zu der seltenen Spezies Mensch, bei der das gegebene Wort noch etwas galt und Vereinbarungen mit einem Handschlag besiegelt wurden.

Dimitri war über sechzig, ein ehemaliger KGB-Mann, der jetzt in Spreenähe ein Spezialitätenrestaurant betrieb, das Pasternak, welches aber in erster Linie als Fassade diente. Das meiste Geld nahm er mit Waffenhandel und einigen anderen Dingen ein, von denen Born lieber nichts wissen wollte. Fakt aber war: Als Born Dimitris Hilfe gebraucht hatte, hatte dieser sie ihm nicht verweigert, und wenn es nun umgekehrt war, würde Born auch für ihn da sein.

»Worum geht’s?«, fragte er schlaftrunken.

»Irgendwer ist da draußen. Er wandelt durch die Dunkelheit und hat es auf uns abgesehen.«

»Du redest in Rätseln, Dimitri. Was meinst du? Jetzt im Moment ist jemand vor deiner Tür?«

»Nicht jetzt und nicht bei mir. Irgendwo. Ein Mann … oder mehrere Männer. Sie rauben unsere Töchter und geben sie uns nur tot zurück. Kommst du jetzt endlich, oder muss ich noch mehr sagen?«

Es war kurz nach halb eins, als Born den Wagen vor dem Pasternak abstellte. Dieser Teil der Stadt unweit der Spree war schon nahezu karg. Der verfrühte Wintereinbruch hatte die Bäume entlaubt, und ein starker, unerbittlicher Wind fegte von Osten kommend über die Stadt. Der Himmel war klar und unendlich, gesprenkelt mit Tausenden Sternen unterschiedlicher Leuchtkraft, und die Luft so dünn, dass das Echo seiner Schritte auf dem Asphalt durch die Straßen hallte.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er nicht beobachtet wurde, betrat er die kleine Gasse, die zum Hintereingang führte, und klopfte an. Es dauerte keine drei Sekunden, bis die Tür aufging – Dimitri musste direkt dahinter gewartet haben. Im silbrigen Mondlicht konnte Born die wettergegerbten und harten Züge erkennen, die miteinander verschmolzen und das Gesicht des Russen formten. Es war ein Geflecht aus Falten, und die beiden dunklen Höhlen unter der imposanten Stirn ließen nur erahnen, wo seine Augen lagen. Born war schockiert, wie fertig er aussah.

»Was ist passiert?«, fragte er, nachdem sie sich in den dunklen Gastraum gesetzt hatten.

»Angefangen hat alles vor drei Monaten, hier in Berlin«, sagte Dimitri und rieb sich das Gesicht. »Damals wurde die Tochter eines Bekannten entführt, Lena Brinkmann. Ein nettes Mädchen, gerade mal sechzehn Jahre alt. Ihr Vater hat das Lösegeld bezahlt, sein Kind aber dennoch nicht wiederbekommen. Eine Woche später hat ein Förster ihre Leiche nahe des Ortes Bodenmais gefunden, mitten im Bayerischen Wald. Die Kerle haben sie erschossen, nachdem sie sie zuvor missbraucht haben. Vielleicht erinnerst du dich?«

Irgendetwas dämmerte. Born nickte.

»Vorhin hat mich Peter de Vries angerufen«, redete Dimitri weiter. »Ein holländischer Immobilienmakler, der jetzt in Felsenbrunn lebt – das ist irgendein Kaff nahe der österreichischen Grenze. Auch seine Tochter wurde entführt, vor drei Tagen erst. Am Tag darauf hat er das Lösegeld bezahlt, aber Alice nicht zurückbekommen. Jetzt hat er Angst, dass sie …, dass die Schweine ihr das Gleiche antun.«

»Warum geht er nicht zur Polizei?«

»Da war er, aber es geht hier um seine Tochter, verstehst du? Sein eigen Fleisch und Blut. Er will sämtliche Möglichkeiten ausschöpfen und hat mich gefragt, ob ich helfen kann.«

»Und was habe ich damit zu tun?«

»Fahr zu ihm, Alexander. Hör dir bitte an, was er zu sagen hat.«

Dimitris Bitte brachte Born in eine Zwickmühle. Einerseits war ihm nicht klar, was er in dem Fall unternehmen konnte, andererseits empfand er dem Russen gegenüber eine Bringschuld, vor der er sich nicht drücken wollte.

»Erzähl mir mehr«, forderte er nach kurzer Überlegung.

»Was willst du wissen?«

»Fangen wir mit dem Lösegeld an: Wie hoch war es?«

»Eine Million.«

»Und beide Männer sind Bekannte von dir?«

Dimitri nickte.

»Erläutere Bekannte

»Was willst du hören? Sie sind keine Freunde, aber gute Geschäftspartner. Unsere Unternehmungen berühren sich in einigen Punkten. Frank Brinkmann treffe ich häufiger, weil er in Berlin lebt. Bei Peter de Vries ist der Kontakt lockerer.«

»Und dennoch ruft er als Erstes dich an, wenn sein Kind entführt wird?«

Dimitri machte eine unbestimmte Geste. »Er weiß, dass ich gewisse Leute kenne. Männer, die dort ansetzen, wo die Polizei das nicht kann.«

Das war er also für Dimitri, dachte Born: gewisse Leute.

»Und dir kommt es nicht sonderbar vor, dass innerhalb kürzester Zeit zwei Mädchen entführt werden, deren Väter Geschäftspartner von dir sind?«

»Natürlich.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Wahrscheinlich nur ein Zufall.«

Born schaute Dimitri an. Lange. Dann schüttelte er den Kopf. »Verarsch mich nicht. Ich habe noch nie an Zufälle geglaubt, und ich werde sicher nicht heute damit anfangen.«

Die Augen des Russen wurden zu schmalen Schlitzen. »Warum greifst du mich an, Alexander? Warum behandelst du mich, als würde ich bei einem Verhör sitzen?«

»Weil ich innerlich noch immer ein Bulle bin. Weil du mich genau deswegen angerufen hast.«

Eine Zeit lang herrschte Schweigen. »Frag Peter de Vries«, sagte Dimitri dann. »Ich kann dir zu einer möglichen Verbindung zwischen den beiden Männern nichts sagen. Alles, worum ich dich bitte, ist, mir diesen Gefallen zu tun.«

»Und was genau erwartest du von mir?«

»Ich möchte, dass du einen Tag opferst – maximal zwei – und nach Bayern fährst, um mit Peter zu sprechen. Danach entscheidest du selbst, ob und wie es weitergeht. Tust du das für mich, Sascha?«

Immer wenn Dimitri melancholisch wurde, nannte er ihn Sascha – die russische Kurzform von Alexander.

»Mehr nicht?«

Der Russe schüttelte den Kopf.

»Warum ist dir das so wichtig?«, hakte Born nach. »Du hast mich noch nie um einen Gefallen gebeten und fängst jetzt ausgerechnet bei Leuten damit an, die du angeblich kaum kennst?«

»Es sind Kinder, die getötet werden, kapierst du das nicht? Unschuldige! Auch ich habe Kinder, Enkelkinder sogar. Ich möchte nachts ruhig schlafen, ohne vor Sorge halb durchzudrehen. Ist das so schwer zu verstehen?«

Nein.

War es nicht.

»In Ordnung«, gab Born nach. »Ich fahre zu diesem Peter de Vries und höre mir an, was er zu sagen hat. Mehr nicht. Ich wüsste sowieso nicht, was ich tun könnte, was die Polizei noch nicht getan hat.«

Dimitri beugte sich vor, griff nach seiner Hand und umschloss sie mit seiner eigenen. Die Haut des ehemaligen KGB-Mannes fühlte sich rau an, rau und trocken. Es waren Arbeiterhände, die Zeugnis ablegten, dass er nicht immer nur ein Restaurant geleitet hatte.

»Nachdem man Lena Brinkmann tot aufgefunden hat, haben die Entführer dem Vater ein Kleidungsstück des Mädchens geschickt. Ihren blutbefleckten Schlüpfer.« Der Russe seufzte. »Sascha … du weißt, wer ich bin, und du weißt einiges von dem, was ich gemacht habe. Kein Krimineller macht mir Angst, aber diese Männer sind keine normalen Kriminellen. Es sind Tiere, völlig unberechenbar. Schau dir nur an, was sie aus Peter gemacht haben.«

»Was ist denn …«

»Fahr zu ihm, Sascha. Sprich mit ihm. Dann verstehst du.«

BERLIN

Carla Diaz musste zugeben, dass der Joint wirklich erstklassig war, der zwischen ihr, Felix, Tom und Davide in einer runtergekommenen Kellerbar kreiste. Irgendein Stoff, der nicht ganz so wild auf einen möglichst hohen THC-Wert gezüchtet war und im Kopf für jenes warme, wattige Gefühl sorgte, das sie an ihre Jugend erinnerte.

Carla war sechsunddreißig und Kriminalkommissarin. Ein schlechtes Gewissen wegen des Joints hatte sie nicht, ebenso wenig wie ihre drei Kollegen. Sie waren ein eingeschworenes Team, und Carla liebte jeden der Jungs, als wären es ihre Brüder. Gute Brüder, wohlgemerkt; nicht solche, die man am liebsten nur von hinten sah.

Am Vormittag hatten sie noch Bernhard Aurich zu Grabe getragen, den Leiter der Dienststelle. Ein Schlaganfall hatte ihn kurz vor seinem neunundfünfzigsten Geburtstag dahingerafft, und Kollegen hatten ihn mit heruntergelassener Hose auf der Toilette des Präsidiums gefunden, was dem Anblick der Leiche etwas zutiefst Entwürdigendes verlieh.

Besonders nah ging ihnen sein Ableben nicht. Bernhard war nicht sonderlich beliebt gewesen, mehr Bürokrat als Bulle, und seine Versuche, die Gruppe zu sprengen, standen kurz davor, von Erfolg gekrönt zu sein.

Bis ihn der Blitz beim Scheißen getroffen hatte.

Karma, dachte Carla.

Sie nahm einen weiteren Zug und reichte den Joint an Felix weiter, der ihn umgehend Tom gab. Felix stand nicht aufs Kiffen – wahrscheinlich hatte er nur einmal an der Tüte gezogen, um den anderen zu signalisieren, dass ihr Verhalten für ihn okay war. Er war der Älteste von ihnen, ein Mann Ende vierzig mit grauer werdendem Haar, dem seine Familie über alles ging. Felix redete nur wenig, aber wenn er etwas sagte, ergaben seine Worte stets Sinn. Er war der ranghöchste Beamte und der Ruhepol der Gruppe, Tom hingegen die Gute-Laune-Abteilung: lange blonde Haare, Dauergrinsen, schlaksige Figur, Ende dreißig. Der Prototyp eines in die Jahre gekommenen Surfers, und Carla wusste, dass er insgeheim in sie verschossen war. Vor Jahren hatte er mal versucht, ihr die Zunge in den Mund zu stecken, sich dabei aber eine blutige Nase geholt, was weniger an seiner Person als an einem von Carlas Grundsätzen lag: Egal, wie scharf du gerade bist – never fuck the company!