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Jörg Armbrüster, geboren 1972, ist Journalist beim Südwestrundfunk und lebt in Wiesbaden. Er studierte Germanistik, Romanistik und Öffentliches Recht, absolvierte ein Volontariat beim NDR in Hamburg und arbeitet seitdem für Politik- und Kulturredaktionen in der ARD. Er hat bereits etliche Reisereportagen über Frankreich produziert. Nizza und die Côte d’Azur haben es ihm besonders angetan.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2020 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Westend61/Werner Dieterich

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-592-3

Originalausgabe

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Für Christa

Prolog

Langsam hebt er den Degen. Die Kapelle hat aufgehört zu spielen. In der Arena herrscht gespannte Stille. Louis Castilles konzentriert sich nur auf die Augen des Stiers vor sich, keine zwei Meter trennen die beiden.

Castilles kennt diesen Blick. Er hat ihn schon tausendmal gesehen. Der schwarze Koloss, der noch vor zehn Minuten voller Elan in die Arena gestürmt ist, spürt seine Kräfte schwinden. Die Banderillos in seinem Rücken schmerzen, Blut strömt aus den Wunden, läuft über seinen mächtigen Körper nach unten. Und doch flackert in den großen dunklen Augen des Stiers ein letzter Funken Kampfeswille. Die Lust, den Gegner auf die Hörner zu nehmen.

Ein herrliches Tier, denkt Louis Castilles. Er weiß genau, er muss es zu Ende bringen.

Ein paar schöne Bewegungen sind ihm gelungen. Fast schien es so, als tanze er mit dem Stier. Das Publikum in der ausverkauften Arena hat ihm zugejubelt, dem berühmten Matador, einem der wenigen Franzosen, die es in den Stierkampfolymp geschafft haben. Das erfüllt ihn mit Stolz.

Louis Castilles schiebt sein linkes Knie nach vorn. Den Degen hält er hoch in der Rechten, die Spitze nach vorn ausgerichtet, die rote Muleta in der Linken, das untere Ende liegt auf dem Boden. Der Stier steht jetzt richtig. Die Vorderbeine parallel, nicht zu eng beieinander. Er muss genau treffen, eine handtellergroße Fläche zwischen den Schulterblättern. Wenn ihm noch ein glatter Todesstoß gelingt, steht seinem Triumph heute nichts mehr im Weg.

Castilles spannt seinen Körper an. Ganz vorsichtig zieht er die Muleta ein wenig zurück. Der Stier fixiert das Tuch, senkt den Kopf. Alles ist bereit. Ein kleiner Schrei. Der Matador versetzt der Muleta einen Ruck. Der Stier greift an.

Castilles bewegt sich nach vorn, weicht den mächtigen Hörnern aus, indem er sein Gewicht aufs linke Bein verlagert. Und sticht zu. Sein Degen dringt in den Körper des Stiers ein. Ein Glücksgefühl durchströmt den Matador. Fast bis zum Schaft stößt er den Degen nach unten, begleitet von einem erlösten Raunen aus dem Publikum. Wieder einmal hat er es geschafft. Keiner beherrscht den Todesstoß so wie er. Der Stier brüllt auf. Einige der Toreros locken das Tier mit Schreien und ihren Capas. Der Stier wirbelt herum. Ein verzweifelter Versuch, die vielen Gegner abzuschütteln. Dann bleibt er stehen.

Das ist der Moment, den Castilles am meisten schätzt. Langsam bewegt er sich auf das Tier zu. Er weiß, mit seinem Degen hat er die Aorta durchtrennt. Es kann sich nur noch um Sekunden handeln.

Mit seiner rechten Hand berührt Castilles den mächtigen Kopf des Tieres, als wolle er ihm den letzten Segen geben. Wie oft hat er diese Pose vor dem Spiegel geprobt.

Der Stier bricht zusammen. Castilles rührt sich nicht. Die rechte Hand nach vorn gestreckt, den Körper bis in die letzte Muskelfaser gespannt, steht er einfach nur da. Und er hört, wie Jubel aufbrandet, immer stärker wird. Ohrenbetäubend. Weiße Tücher werden geschwenkt.

Castilles schaut jetzt auf. Lächelt breit. Er lebt für Momente wie diesen.

1

Er spürte es schon, dieses Stechen in den Seiten – und er war noch nicht mal beim Hotel »Negresco«. Merde! Mit Mitte vierzig müsste es doch zu schaffen sein, einmal die Promenade des Anglais am Meer entlangzujoggen, ohne außer Atem zu kommen.

Commandant Stéphane Matazzi fluchte leise in sich hinein. Wofür hatte er eigentlich mit dem Rauchen aufgehört? Und dann die ein, zwei Gläser Rotwein am Tag, das dürfte doch nicht zu viel sein, oder etwa doch? Das Seitenstechen wurde stärker. Die rote Kuppel des Luxushotels kam näher. Leider erschreckend langsam. Wenn er das »Negresco« erreicht hatte, das wusste er genau, waren es noch drei Kilometer.

Matazzi versuchte, die Schmerzen zu verdrängen. Ablenken, genau, eine gute Idee. Vielleicht den schlanken amerikanischen Joggerinnen in den eng anliegenden Trainingshosen hinterherschauen, die locker an ihm vorbeizogen. Nein, keine gute Idee. Frustrierend war das, von denen einfach so überholt zu werden. Lieber das Meer beobachten, die Wellen, deren Brandung gerade ungewöhnlich hoch war.

Wie so oft leuchtete das Meer in Nizza in den herrlichsten Farben. Matazzi liebte dieses Farbenspiel, von dunklem Azurblau draußen auf hoher See bis zum hellen Türkis am Strand. Und er liebte den unvergleichlichen Sound, den das Meerwasser erzeugte, wenn es sich über die dicken Kiesel hinweg wieder zurückzog, bevor die nächste Welle anbrandete. Ein steinernes, dunkles Klirren. Das hatte ihn schon als Kind fasziniert. Stundenlang hatte er damals auf einem der blauen Stühle an der Promenade gesessen, das Meer belauscht und beobachtet. Und er war glücklich dabei gewesen.

Die metallisch klingende Melodie von »Gente di mare« und das Surren in der Hosentasche rissen ihn aus seinen Gedanken. Matazzi war ganz froh, dass ihm das Telefon einen Grund gab, in ein gemächliches Schritttempo zu wechseln. Der Blick aufs Display verriet ihm, dass es dringend sein musste. Es war Sébastien, sein Assistent. Einmal noch atmete Matazzi tief durch, dann nahm er das Gespräch an.

»Oui, allo?«

»Was machst du da gerade, Stéph, du atmest ja so schwer? Bist du allein?«

Der amüsierte Unterton seines Assistenten, Lieutenant Sébastien Dallio, ging Matazzi auf die Nerven. Er sah ihn förmlich vor sich, wie er mit ironisch geschürzten Lippen ins Telefon sprach.

»Sehr witzig, ich jogge!« Seine Stimme klang immer noch atemlos.

»Wie? Seit wann joggst du denn?« Sébastien konnte sich das Lachen kaum noch verkneifen. »Und das morgens kurz vor acht. Das glaub ich jetzt nicht.«

Matazzi unterdrückte den ersten Impuls, seinen jungen Kollegen anzublaffen.

»Was ist los, Sébastien?«, fragte er in betont ruhigem Tonfall.

»Wir haben eine Leiche gefunden, Chef, am Strand, am Opéra Plage. So was habe ich noch nicht gesehen. Dem steckt ein Degen im Rücken.«

Matazzi schluckte schwer. Er war schon über zwanzig Jahre im Polizeidienst, viele Jahre davon in seiner Heimatstadt, und Nizza war wahrlich kein ruhiges Pflaster, aber das hatte er noch nie gehört.

»Ich bin gleich da«, sagte er und setzte sich wieder in Trab. »Laufe gerade am ›Negresco‹ vorbei. Es dauert vielleicht noch fünf Minuten.«

***

Der Opéra Plage nahe der Altstadt, einer der exquisitesten Strandabschnitte in Nizza, war bereits abgesperrt. Oben auf der Promenade, von der eine weiße Treppe hinunter zum Strand führte, hatte sich schon eine Menschentraube gebildet. Viele Leute waren blass im Gesicht, einige schüttelten entsetzt den Kopf.

Matazzi bahnte sich einen Weg durch die Menge zur Treppe und sah schon von der Strandmauer aus den notdürftig abgedeckten Leichnam. Der Mann lag mitten zwischen den zusammengeklappten Liegestühlen, etwa fünfzehn Meter von der Strandmauer entfernt, bäuchlings auf dem Kiesstrand. Und in seinem Rücken steckte auf Schulterhöhe ein Degen.

Touché, dachte Matazzi, zeigte den sichernden Beamten seinen Dienstausweis und stieg die Treppe hinunter. Die Steine und Kiesel knirschten unter seinen Sportschuhen, als er sich zu der Gruppe von Polizisten bewegte, die um den Leichnam herumstanden.

Da waren sein Assistent Sébastien, einige Mitarbeiter der Spurensicherung und Docteur Maxime Michel, ein altgedienter Pathologe der Police nationale in Nizza. Der Mediziner beugte sich gerade über den Toten und schaute auf, als er Matazzi kommen hörte. Ein leichtes Grinsen huschte über sein Gesicht.

»Ah, Monsieur le Commandant, kommen wir seit Neuestem ganz leger in Jogginghosen zur Arbeit?«

Matazzi setzte sein unbefangenstes Lächeln auf. »Nur bei ganz außergewöhnlichen Morden. Also Maxime, Selbstmord können wir ja wohl ausschließen. Es sieht ganz nach einer Hinrichtung aus, oder?«

Bevor Docteur Michel antworten konnte, nutzte Sébastien die Pause. »Sagtest du nicht, dass du in fünf Minuten hier seist? Ich meine, es müsste fast eine Viertelstunde gewesen sein.«

Matazzi bedachte ihn mit einem betont nachsichtigen Blick. »Vielleicht stimmt etwas nicht mit deinem Zeitgefühl. Und jetzt an die Arbeit, Messieurs!«

Matazzi betrachtete das Gesicht des Toten. Sein Kopf war auf die rechte Seite verdreht. Die dunklen Augen schauten ins Leere, wirkten fast ein wenig überrascht. Der Degen hatte eine massive Blutung ausgelöst, das weiße Hemd und der Kieselstrand unter der Leiche waren rot gefärbt. Die Arme hatte der Mann seitlich weit von sich gestreckt, als wolle er den Strand umarmen.

»Was wissen wir bislang über den Mord?«

Sébastien räusperte sich betont seriös. »Das Ding hat den Typen förmlich von hinten durchbohrt, am Brustbein vorn kommt die Spitze wieder raus. So einen Degen kenne ich nur aus alten Musketierfilmen. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas noch gibt. Der Name des Opfers ist Louis Castilles. Er muss wohl ein berühmter Stierkämpfer sein. Ich kannte ihn nicht, aber ein Kollege von der Spurensicherung interessiert sich für diese Tierquälerei und schwärmte nur so von Castilles. Er soll in der Arena einmalig gewesen sein.«

Matazzi nickte kurz. »Lebte er denn hier in Nizza?«

»Ja, ganz nobel, Mont Boron. Dort ist er gemeldet. Offenbar kann man mit Tierquälerei eine Menge Geld verdienen.«

»Bleib bitte bei den Fakten. Todeszeitpunkt, Maxime?«

Der Pathologe wiegte bedächtig den Kopf hin und her, die schon ergrauten Locken fielen ihm ins Gesicht. Mit einer kurzen Handbewegung strich er sie zurück.

»Heute Nacht, vermutlich gegen eins oder zwei.«

Matazzi runzelte die Stirn. »Und es ist niemandem aufgefallen, wenn einem Mann am Strand ein Degen in den Rücken gerammt wird? Bei dem Betrieb hier nachts?«

Er wusste nur zu gut, dass es in den Sommermonaten am Strand immer wieder kleine spontane Partys gab. Auch schon Anfang Juni. Menschen, die um ein Lagerfeuer saßen, Musik hörten, flirteten, knutschten. Er hatte das immer genossen, aber es war schon viele Jahre her.

»Ist er hier getötet worden?«

Sébastien zog leicht die Mundwinkel nach unten. »Das wissen wir noch nicht. Ich bin auch erst seit einer halben Stunde hier. Kurz nach sechs Uhr ging bei der Gendarmerie eine Meldung ein, dass am Strand ein Toter liegt.«

Matazzi blickte kurz aufs Meer hinaus. So ein Azurblau gab es nur hier in Nizza. Auch dafür liebte er diese Stadt.

»Hat die Presse schon Wind davon bekommen?«

»Noch nicht. Aber das kann nicht mehr lange dauern. Vielleicht kommt ja bald deine Ex-Frau vorbei.«

Matazzi rollte mit den Augen. »Wie oft soll ich dir das noch erklären? Wir sind nicht geschieden, nur getrennt. Vorübergehend. Und meine Frau arbeitet beim ›Nice Matin‹ in der Kulturredaktion, nicht als Polizeireporterin.«

Sébastien war klug genug, seinen Chef nicht weiter zu reizen. »Das war nur ein Witz. Entschuldige. Was machen wir jetzt?«

»Weißt du was: Wir verständigen die Presse. Die sollen melden, dass wir Zeugen suchen. Vielleicht hat ja irgendjemand heute Nacht am Strand etwas bemerkt. Außerdem will ich alles wissen über diesen Castilles. Und wir müssen wohl seine Familie verständigen.«

Er sah den Menschenauflauf schon von Weitem. Er war zu spät. Die Chancen waren auch recht gering gewesen, dass der Tote noch nicht bemerkt worden war. Aber er hatte es einfach versuchen müssen.

Wie hatte ihm dieser Fehler nur unterlaufen können? Warum hatte er nicht gleich seine Hosentaschen kontrolliert?

Er arbeitete sich vor bis zur Absperrung der Polizei. Ein Gendarm fixierte ihn, er blieb stehen. Nur kein Aufsehen erregen. Er beobachtete die Truppe, die sich um Castilles versammelt hatte. Wenn die wüssten, dass der Mörder ganz nah war. Er lachte in sich hinein.

Der Typ in der Jogginghose musste wohl der Chef sein. Er stellte den anderen Fragen, wirkte souverän. Aber warum war er im Freizeitlook hierhergekommen?

Er scannte den Kiesbereich rund um den Toten, konnte auf die Entfernung aber nichts entdecken. Es schmerzte ihn, sein Kleinod nicht mehr bei sich zu haben.

Er beobachtete, wie der Chef mit einem jungen Mann Richtung Strandaufgang ging. Sie kamen in einigen Metern Entfernung an ihm vorbei. Aber um ihn herum standen so viele Menschen, dass sich niemand an sein Gesicht erinnern würde.

Er schaute den beiden Polizisten nach. Das also waren jetzt seine Gegner.

2

Aus den Lautsprechern des Dienstwagens, einer komfortablen Peugeot-Limousine mit getönten Scheiben, dudelte ein Chanson von Charles Aznavour: »Emmenez-moi aux pays des merveilles …«

Matazzi mochte das Lied. Gern hätte er wie sonst den Refrain laut mitgesungen. Dabei war er nicht immer tonsicher, weshalb ihn seine kleine Tochter Carlotta gern neckte. Aber im Moment hatte Matazzi überhaupt keine Lust zu singen. Trotz seiner vielen Dienstjahre bereitete es ihm immer noch Unbehagen, wenn er Todesnachrichten überbringen musste. So ganz würde er sich wohl nie daran gewöhnen.

Er lenkte den Wagen die sich windenden Straßen des Mont Boron hinauf. Wer hier wohnte, hatte es geschafft. Von der Straße aus konnte man in gepflegte Parkanlangen blicken, in denen jetzt im Frühsommer Rhododendren und Bougainvilleen üppig blühten. Im Hintergrund standen prächtige Villen.

In der Avenue Germaine parkte er den Wagen vor Castilles’ Haus. Hinter dem bronzenen Eingangsportal führte ein von Pinien und Platanen gesäumter Kiesweg zum Hauptgebäude. Die Morgensonne tauchte das helle Anwesen in ein bezauberndes goldfarbenes Licht.

Sébastien war auf dem ganzen Weg erstaunlich still gewesen. Nun platzte es aus ihm heraus.

»Merde, eine nette Hütte ist das. Bezahlt mit Stierblut. Regt dich diese Barbarei denn gar nicht auf?«

Matazzi schnallte sich ab. »Hör mal, Kleiner. Ich bin seit fast zwanzig Jahren bei der Polizei, seit fünfzehn Jahren mit Mordfällen beschäftigt. Ich interessiere mich nicht für Stierkampf, weil ich in meinem Beruf schon genug Blut sehen muss. Aber ich respektiere Traditionen – und das ist eine hier bei uns im Süden.«

»Wieso denn das?« Sébastien schaute ihn irritiert an. »Das ist doch eine spanische Tradition, oder etwa nicht?«

Matazzi hätte seinem heißspornigen Assistenten erklären können, dass im 18. Jahrhundert eben auch in Südfrankreich eine Tradition begründet wurde, Corridas zu veranstalten – seit Prinzessin Eugenie, eine Spanierin, dieses grausame Spiel im Midi eingeführt hatte. Aber er wollte keine Zeit mehr verlieren.

»Konzentrieren wir uns lieber auf unseren Fall. Lass uns klingeln.«

Leise murrend öffnete Sébastien die Wagentür. Am großen Portal drückte Matazzi den Klingelknopf, weit entfernt hörte er leise eine Glocke schlagen. Die Gegensprechanlage fing zu schnarren an, eine Frauenstimme ertönte.

»Bonnschourr, qui äh là?«

Matazzi genügten diese vier Worte, um den russischen Akzent zu erkennen. Er mochte ihn nicht so sehr, zu oft hörte man diesen Zungenschlag mittlerweile in Nizza.

»Excusez-nous, Madame«, sprach er in den Lautsprecher, »wir sind von der Police nationale in Nizza. Mein Name ist Commandant Matazzi. Mein Kollege Lieutenant Dallio und ich würden gern mit Madame Castilles sprechen. Sind Sie das?«

Er hörte Überraschung in der Stimme. »Nein, ich bin die Hausangestellte. Haben Sie einen Ausweis?«

Matazzi zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche und hielt seinen Dienstausweis vor das dunkle Kamerafroschauge. Kurz darauf surrte die Tür.

Als sie bei der großen Eingangstür angelangt waren, öffnete eine Frau Ende fünfzig. Sie war klein und drahtig, mit kunstvoll aufgetürmtem silbrig dunklem Haar.

»Madame Castilles erwartet Sie bereits.«

Die russische Hausdame führte die beiden Männer von der großzügigen Eingangshalle an einem breiten Treppenaufgang vorbei in den Salon. Matazzi fiel ein schwarzer Stierkopf ins Auge, der direkt über der Salontür angebracht war. Er schien den Besucher anzustarren. Matazzi wandte sich ab, und sie folgten der Hausdame in den weitläufigen Raum.

Auch hier fanden sich zahlreiche Stierkampfbilder, darunter die berühmte Lithografie von Picasso: ein Torero mit hochgereckten Armen und mit rosettenverzierten Spießen in den Händen, der sich einem Stier entgegenwirft. An den Wänden hingen auch viele großformatige Fotografien: Castilles in der Arena, Castilles mit zwei blutigen Stierohren in beiden Händen bei der Ehrenrunde in der Arena, Castilles auf den Schultern seines Teams. Matazzi warf einen Seitenblick auf Sébastien, der mit säuerlichem Gesicht neben ihm herlief.

Am anderen Ende des Salons erhob sich eine Frau aus einer cremefarbenen Sitzgruppe und kam ihnen entgegen. Es musste Madame Castilles sein. Matazzi schätzte sie auf Anfang dreißig. Sie trug ein rotes, eng anliegendes Kleid, das pechschwarze Haar hatte sie streng nach hinten geknotet. Ihre dunklen Augen waren mit Kajal umrandet, ein dezentes Rouge auf Wangen und Lippen rundete das Bild der mediterranen Schönheit ab. Sébastien neben ihm straffte sich merklich.

Eine Frau, die genau weiß, wie sie auf Männer wirkt, dachte Matazzi.

Madame Castilles eröffnete das Gespräch mit einem wohldosierten Lächeln.

»Bonjour, Isabella Castilles, was kann ich für Sie tun?« Sie rollte hörbar das R. Matazzi tippte auf Italienerin. »Ist Louis wieder mal zu schnell gefahren? Ich sage ihm immer, Ferrari zu fahren heißt nicht, mit hundertachtzig über die Corniche zu rasen.«

Matazzi wehrte ab. »Nein, nein, Madame. Wir sind keine Verkehrspolizisten. Wir kümmern uns um andere Verbrechen. Ihr Mann Louis«, er atmete einmal tief durch und bemühte sich um einen angemessenen Gesichtsausdruck, »wurde heute Morgen tot aufgefunden, am Opéra Plage.« Wie er solche Momente hasste.

Isabella Castilles’ dunkle Augen bohrten sich einen Moment lang in die von Matazzi. Dann weiteten sie sich, und Madame Castilles brach mit einem kurzen Aufschrei zusammen. Sofort waren Matazzi und Sébastien bei ihr, griffen ihr unter die Arme und richteten sie halbwegs auf.

Sie begann zu wimmern. »Ma perchè? Mein Louis? Wie ist das passiert?«

»Wir wissen es noch nicht«, sagte Sébastien. »Alles, was wir wissen, ist, dass ihm ein Degen …«

»… dass er mit einem Degen getötet wurde.« Es schien Matazzi im Moment nicht angebracht, Isabella Castilles mit der ganzen grausamen Wahrheit zu konfrontieren. Die Gelegenheit dürfte sich auch später noch ergeben.

»Ein Degen? Madonna mia, warum ein Degen? Wer tut so etwas?« Sie schluchzte in sich hinein.

»Noch haben wir keine Spur vom Täter. Aber glauben Sie mir, wir werden eine bekommen. Schon bald. Unsere Spurensicherung dreht jeden Stein am Tatort um. Außerdem bin ich sicher, dass sich Zeugen der Tat finden werden.«

Madame Castilles’ Augen blitzten. »Finden Sie das Schwein! Ich will, dass er seine verdiente Strafe bekommt.«

»Sicher, wir tun, was wir können. Sagen Sie, Madame, haben Sie womöglich eine Ahnung, wer das getan hat?«

Isabella Castilles’ zuckte kraftlos mit den Schultern. »Nein, aber vielleicht waren es ja diese verrückten Tierfreunde, diese Fanatiker von der Anti-Corrida-Bewegung. Vor ein paar Wochen standen sie vor unserem Haus, haben ›Corrida – Torture!‹ geschrien, fast eine Stunde lang. Und sie haben Parolen auf die Gartenmauer geschmiert. ›Castilles – coup de mort‹, Todesstoß.« Sie stockte. »Damals haben wir das nicht ernst genommen. O dio mio, vielleicht war das ja eine Drohung! Louis hat die Polizei gerufen, und die hat dem Spuk ein Ende gemacht. Warten Sie, vor allem eine ältere Frau ist mir dabei aufgefallen, eine echte Sirene. Sie hat die Gruppe angeführt und schrie immer am lautesten.«

»Kennen Sie ihren Namen?«, fragte Sébastien.

»No, ich kann nicht mehr klar denken … aber Moment, die Gruppe nennt sich ›Alliance contre la Corrida‹.«

»Maman?« Eine noch verschlafene Jungenstimme war zu hören. »Was wollen die Männer von uns?«

Matazzi drehte sich um. Im Türrahmen stand ein kleiner Junge von etwa fünf Jahren und schaute sie fragend an.

»Keine Sorge, mon petit«, antwortete Matazzi und versuchte, möglichst vertrauenswürdig zu klingen, »wir wollen nur mit deiner Mutter sprechen. Wir sind von der Polizei.«

»Und warum habt ihr keine Uniformen?« Das verwuschelte schwarze Haar des Jungen war noch ungekämmt, offenbar war er gerade aufgestanden. Er kam auf die Gruppe zu.

»Nicht alle Polizisten tragen Uniform«, erwiderte Sébastien lächelnd.

Madame Castilles nahm ihren Jungen in den Arm. »Die Herren wollen nur mit mir reden, Luca. Geh ruhig nach oben, ich komme gleich nach.«

Matazzi räusperte sich. »Also, Madame Castilles, vielen Dank. Sie benötigen nun sicher Zeit für sich und Ihren Sohn. Aber bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung, wir brauchen Sie für die Ermittlungen. Und wir müssen Sie bitten, Ihren Mann zu identifizieren.«

Madame Castilles nickte nur kurz. Sie wirkte schlagartig erschöpft. Matazzi beneidete sie nicht um das, was ihr bevorstand. Wenn er seiner Tochter Carlotta erklären müsste, dass Marie … Er verscheuchte den Gedanken schnell.

Sie ließen sich noch Castilles’ Laptop aushändigen und verabschiedeten sich.

Matazzi war froh, als die Hausdame die Tür hinter ihnen schloss. Schweigend gingen sie zum Auto.

»Was hältst du von ihr?«, fragte Sébastien neugierig.

»Sie ist sicher Italienerin, eine stolze Italienerin aus dem Süden, vermute ich. Sie wirkte schwer getroffen, aber hatte sich schnell wieder im Griff. Eine starke Frau.«

»Und eine heiße nana«, ergänzte Sébastien grinsend.

Matazzi musste lächeln. Manchmal merkte man seinem Assistenten doch an, dass er erst Anfang dreißig war. Ein Mann Mitte vierzig hätte es sicher anders formuliert.

Aber Sébastien hatte durchaus recht. Auch Matazzi fand die Witwe attraktiv, vielleicht weil sie so süditalienisch wirkte. Ein Teil seiner Familie kam nämlich aus Sizilien. Sein Großvater war nach dem Ersten Weltkrieg an die Côte d’Azur ausgewandert, hatte zunächst als Kellner und Koch gearbeitet, dann in Nizza sein eigenes Restaurant eröffnet und eine echte Niçoise geheiratet. Auch in ihm, Stéphane Matazzi, floss also ein bisschen sizilianisches Blut – und irgendwie gefiel ihm das.

»Sie hat uns jedenfalls auf eine erste Spur gebracht«, antwortete er schließlich. »Lass uns der gleich nachgehen.«

3

Sie parkten den Dienstwagen im Innenhof der Polizeipräfektur. Das Gebäude der Police nationale befand sich in Saint-Laurent-du-Var, unweit des Flughafens. Ein steinerner Koloss, der ein wenig bedrohlich wirkte.

Matazzi hatte sich im Laufe der Jahre an den tristen Anblick von Waschbeton gewöhnt. Immerhin sah er von seinem großen Büro aus nicht in den grauen Innenhof, sondern über die Hauptstraße hinweg auf das kleine Flüsschen Var. Es floss Richtung Süden, um sich beim Flughafen ins Mittelmeer zu ergießen. Manchmal half ihm das fließende Wasser beim Denken. In den Sommermonaten war das Flussbett aber leider oft nur ein trauriges Rinnsal oder völlig ausgetrocknet.

»Bon, was haben wir also?«, fragte er mehr sich selbst, als er sich an seinen Schreibtisch gesetzt und sein kleines Team vor sich versammelt hatte.

Dazu gehörte Sébastien Dallio, sein Assistent, ein junger, aufstrebender Polizist mit exzellentem Abschluss an der Polizeihochschule. Seine blauen Augen wirkten stets frech und wach. Matazzi mochte Sébastien, denn er war intelligent, schnell und loyal, wenn auch etwas vorlaut. Und er war der Liebling seiner Tochter. Sie fand ihn »total schick«, wie sie es neulich formuliert hatte, weil er immer nach den neuesten Trends gekleidet war. Nicht selten lagen Modemagazine für Männer auf seinem Schreibtisch, was Matazzi ihm schon öfter amüsiert unter die Nase gerieben hatte.

Und dann war da noch Amel Bouchema, eine zierliche Polizistin Ende zwanzig mit algerischen Wurzeln, fein geschwungenen Augenbrauen und dunklen Korkenzieherlocken. Sie war Expertin für Internet und Social Media. Im Präsidium hatte sie zuvor in der Abteilung Cybersicherheit gearbeitet. Matazzi waren ihre Energie und ihr scharfer Verstand aufgefallen. Deshalb hatte er die junge Frau in sein Team geholt. Es war eine kleine, schlagkräftige Truppe, die schon viele knifflige Fälle gelöst hatte und in der Polizeipräfektur einen hervorragenden Ruf genoss.

Matazzi atmete hörbar ein. Das signalisierte seinen Mitarbeitern stets, dass er etwas Wichtiges mitzuteilen hatte.

»Wir haben einen toten Matador, einen alten Degen und eine erste Spur. Sébastien, du versuchst, alles über unseren Stierkämpfer herauszufinden, und hältst die Kollegen von der Spurensicherung auf Trab. Und du, Amel, stellst einen Kontakt her zu der Alliance contre la Corrida, den Stierkampfgegnern, und checkst natürlich den Laptop von Castilles auf verdächtige Mails, Bilder oder Ähnliches – auf alles eben, was Licht ins Dunkel bringen könnte, d’accord

Seine zwei Mitarbeiter nickten wortlos und kehrten zurück an ihre Schreibtische.

Bald war das ganze Büro von Tastaturgeklapper und Wortfetzen erfüllt. Sébastien krempelte die Ärmel seines Designerhemdes hoch, Amel bändigte ihre Locken zu einem Zopf. Die Luft im Raum wurde schnell stickig. Matazzi öffnete das Fenster und versorgte seine Mitarbeiter mit Kaffee und Schokolade. Nervennahrung. Das Team arbeitete hochkonzentriert.

Matazzi liebte diesen Moment, wenn ein Fall noch vor ihm lag, geheimnisvoll und herausfordernd. Er spürte wieder dieses leichte Fieber und süße Magengrummeln, das ihn immer am Anfang von Ermittlungen erfasste. Diese Anspannung, die sich erst wieder legen würde, wenn der Fall gelöst war. Er gestand es sich ungern ein, aber er war ein wenig süchtig nach diesem Gefühl.

Ihm kam das Bild von heute Morgen in den Sinn. Der Tote am Strand, die ausgestreckten Arme. Ein Degen im Rücken. Was für eine komische Art zu sterben für einen Matador! Eine Ironie des Schicksals. So viele Degen hatte Louis Castilles im Rücken von prächtigen Stieren versenkt, und nun hatte er das Gleiche erleiden müssen. Es sah alles nach einem Zeichen aus. Aber würden radikale Stierkampfgegner so weit gehen?

Matazzi erinnerte sich plötzlich an hitzige Diskussionen im regionalen Fernsehen auf »France 3«, mit der streitbaren Vorsitzenden der ACLC, der Alliance contre la Corrida. Er konnte die Frau gut verstehen. Es war furchtbar grausam, was in der Arena passierte, unfair sowieso. Auf der anderen Seite hatte er im südfranzösischen Nîmes schon mal eine Corrida miterlebt und war seltsam berührt aus der Arena gekommen. Dieses Spiel mit dem Tod, der tapfere Überlebenskampf des Stiers, die vollendeten Gesten der Toreros in ihren farbenprächtigen Kostümen, das alles hatte ihn zwar erschüttert, aber auch fasziniert.

Das muss wohl das Blut des Südens sein, das in mir fließt, sagte er sich.

Er klickte ein Internetportal an, suchte nach Videos von Castilles und wurde schnell fündig. Die Clips zeigten einen stolzen, wagemutigen Matador. Castilles ging mehr Risiken ein als andere Matadore, ließ den Stier näher an sich herankommen, drehte sich mit ihm im Kreis wie in einem tödlichen Tanz. Seine Spezialität war es, am Anfang der Corrida den noch unversehrten, wilden Stier auf Knien zu erwarten und den wütenden Koloss mit einer schnellen Bewegung des großes Tuches, der Capote, unmittelbar an sich vorbeirauschen und ins Leere laufen zu lassen, begleitet vom erstaunten Raunen des Publikums. Und Castilles war ein Meister der Estocada, des Todesstoßes, wie Matazzi in einem Onlineartikel las. So oft wie keinem anderen Matador gelang es ihm, den Stier mit nur einem Degenstoß in die Knie zu zwingen.

Ein triumphierender Aufschrei Amels ließ den Commandanten aufblicken. Sie starrte auf Castilles’ Laptop und winkte Matazzi zu sich heran. »Komm bitte mal her, ich habe eine interessante Mail gefunden.«

Als sich Matazzi über Amels Schulter beugte, stieg ihm ihr frisches Parfüm mit Pfirsicharoma in die Nase. Er roch es gern.

Matazzi las die Mail, die Castilles vor zwei Wochen bekommen hatte. Absender war eine gewisse Madeleine Rochefort von der ACLC. Das musste die Vorsitzende sein.

Die Nachricht war in formvollendetem Französisch geschrieben, so wie es gebildete ältere Damen verwendeten. Madame Rochefort beschwerte sich darin wortreich, wie Castilles als Franzose dazu käme, sich an so einem barbarischen Akt aus Spanien zu beteiligen, ihn in gewisser Weise sogar noch zu perfektionieren. Das widerspräche den höchsten Werten der Republik. Und dann traute Matazzi seinen Augen nicht. Die Mail gipfelte in einer handfesten Drohung:

Sollten Sie nicht von dieser Barbarei Abstand nehmen und damit als gutes Beispiel französischen Verantwortungsbewusstseins für Mensch und Kreatur vorangehen, sehen wir uns gezwungen, zu handeln – und zwar mit der gleichen Brutalität, mit der Sie die Stiere leiden lassen.

Mit vorzüglichen Grüßen, Madeleine Rochefort

Amel zog eine ihrer feinen Augenbrauen hoch. Matazzi mochte diese Geste an ihr. »Das sieht ganz nach einem Warnschuss aus, Chef, aber vornehm formuliert, das muss man ihr lassen.«

Matazzi nickte. »Mit der Dame sollten wir uns mal unterhalten. Hast du schon eine Ahnung, wo wir sie finden können?«

Amel hielt ihm einen Zettel unter die Nase. »Na klar, Madame Rochefort wohnt hier in Nizza, in der Rue Beethoven. Tatata, taaaaaa!«, setzte sie hinterher, das berühmte Schicksalsmotiv aus Beethovens fünfter Sinfonie imitierend.

Matazzi musste unwillkürlich an seine Frau denken. Marie liebte diese Sinfonie. Oft war der zweite, ruhigere Satz abends im Hintergrund gelaufen, wenn Marie und er noch bei einem Glas Wein auf der Terrasse saßen, nachdem sie Carlotta ins Bett gebracht hatten. Aber diese Schicksalstöne hatte er schon Monate nicht mehr gehört. Er unterdrückte ein Seufzen.

»Begleitest du mich zu der zornigen alten Dame, Amel? Vielleicht brauche ich ja deine weibliche Intuition.«

4

Das Innenstadtviertel Les musiciens gehörte zu den besseren Wohngebieten der Stadt, dominiert von stilvollen Altbauten aus der Belle Époque. Die Straßen waren nach berühmten Komponisten benannt, nach Berlioz, Rossini oder Mozart. Die Rue Beethoven lag direkt an einem kleinen Park.

Zufällig fand Matazzi in der Nähe des Wohnhauses einen Parkplatz. Er erinnerte sich gut daran, früher als Junge hier gespielt zu haben. Damals hatte er einen Freund in der nahen Rue Saint-Saëns gehabt. Auf der kleinen Rasenfläche des Parks hatten sie Frisbee-Scheiben fliegen lassen, oft zum Leidwesen der Parkgäste.

Matazzi war im direkt nördlich angrenzenden Viertel Libération aufgewachsen, nicht ganz so schick wie das Komponistenviertel, aber immer noch zentral und recht nah am Meer. Seine Eltern waren dort als junges Studentenpaar wegen der günstigen Mieten hingezogen und hatten das Quartier nie mehr verlassen, obwohl beide als Lehrer – er für französische Literatur, sie für Musik – ganz passabel verdienten.

Mittlerweile war das Viertel allerdings schwer angesagt und die großzügige Familienwohnung wohl deutlich mehr wert als beim Kauf. Ans Verkaufen aber hatte seine Mutter auch nach dem Tod seines Vaters nicht gedacht, zu viele Erinnerungen steckten in dem Apartment.

Matazzi kamen einige Bilder und Szenen aus seinen Kindertagen in den Sinn. Die Sonntagsessen, die er als Junge immer so langweilig gefunden hatte, das helle Lachen seiner Mutter, die Vorlesestunden mit seinem Vater, der als Einwandererkind die französische Literatur viel mehr schätzte als so mancher Franzose, dessen Familie schon seit Generationen hier lebte.

Amel hatte sich schon abgeschnallt und blickte ihn erwartungsvoll an. »Träumst du, Chef? Was ist los? Wir müssen auf in den Kampf, Torero.«

Matazzi intonierte als Antwort den Anfang des Toreroliedes aus der Bizet-Oper »Carmen«.

Sie stiegen aus dem Auto. Matazzis Gedanken schweiften auf dem Weg zum Haus noch einmal ab in seine Jugend.

Seine Eltern waren von der 68er-Bewegung beeinflusst gewesen, hatten ihm viel Freiräume gelassen und später auch akzeptiert, dass er eben kein Lehrer oder Wissenschaftler werden wollte, sondern Polizist. Er konnte sich noch gut an das Gesicht seines Vaters erinnern, als er ihm eröffnete, sich nach seinem Abschluss in Politikwissenschaft für eine Ausbildung an der Polizeihochschule, der École nationale supérieure des officiers de police, bei Lyon bewerben zu wollen. Damit hatte der linksliberale Literaturliebhaber Enzo Matazzi wohl niemals gerechnet. Und er wusste noch genau, wie ihn sein Vater nach einer kleinen Schrecksekunde in den Arm genommen und ihn ausdrücklich dafür gelobt hatte, eine selbstständige Entscheidung getroffen zu haben. Ein wichtiger Moment in seinem Leben.

Matazzi war seinen Eltern noch heute dankbar für ihre Unterstützung bei seiner Berufswahl, überhaupt für eine sorgenfreie Kindheit. Als Junge hatte er seine Freiheiten immer genossen. Er hatte es geliebt, nachmittags zur Promenade zu schlendern und dort, in eine Nische der Strandmauer gekauert, die wärmenden Sonnenstrahlen auf der Haut zu spüren und Badegäste zu beobachten, die bleichen Engländer oder die permanent schwatzenden Italiener.

Mittlerweile waren sie vor der Haustür der Stierkampfgegnerin angekommen. Die helle Junisonne entwickelte am Mittag bereits mächtig Kraft. Matazzi hatte zwar am Morgen seinen Joggingdress gegen eine leichte helle Baumwollhose und ein rotes Polohemd getauscht, aber er spürte, wie sich auf seinem Rücken kleine Schweißperlen bildeten, zumal er sich noch ein leichtes Jackett übergeworfen hatte.

Madame Rochefort war zu Hause und wirkte über die Gegensprechanlage gar nicht mal überrascht, dass die Police nationale vor der Tür stand.

Als die beiden Polizisten in den angenehm kühlen Hausflur des Gebäudes traten, fiel ihr Blick zunächst auf eine bodentiefe Spiegelfront. Matazzi musterte sich kurz. Zeigte sein morgendliches Sportprogramm, das er seit einigen Wochen relativ konsequent verfolgte, schon Wirkung? Von den Speckpolstern an Bauch und Hüften war jedenfalls nicht viel zu sehen. Könnte aber auch an dem gut geschnittenen Jackett liegen. Er sah, dass sein Gesicht Farbe bekommen hatte. Die leicht gebräunte Haut, die braunen Augen, der Dreitagebart – gar nicht mal so übel, der Typ, dachte er belustigt und bemerkte erst dann Amels Blick, der auf ihm ruhte. Als sich ihre Augen im Spiegel trafen, drehte sie schnell den Kopf beiseite und drückte den Knopf, um den Fahrstuhl zu holen. Schweigend fuhren sie hoch in die vierte Etage.

Als Matazzi das gusseiserne Gitter des Fahrstuhls aufstieß, stand Madeleine Rochefort bereits im Türrahmen ihres Apartments. Sie war jünger als erwartet, etwa Mitte fünfzig, und präsentierte sich elegant in einem beigefarbenen Chanel-Kostüm und mit perfekt arrangiertem graublonden Kurzhaarschnitt. Ihr Schmuck war schlicht, aber teuer, wie Matazzi vermutete.

»Bonjour, Madame, verzeihen Sie die Störung, wir hätten ein paar Fragen an Sie.«

Madame Rocheforts Mundwinkel zuckten leicht. Matazzi fiel auf, dass ihre Mundpartie einen bitteren Zug hatte. »Ich befürchte, ich kann Ihnen im Fall Castilles nicht weiterhelfen.«

»Woher wissen Sie, Madame …?«

»Ich habe es im Radio gehört. Schrecklich, so sein Leben beenden zu müssen. Aber es entbehrt nicht einer gewissen Ironie.«

Nun schaltete sich Amel ein. »Ironie? Der Mann wurde hinterrücks ermordet.«

Madeleine Rocheforts Augen verengten sich leicht. »So wie er es selbst bei Tausenden Stieren getan hat. Mein Mitleid hält sich also in Grenzen, wenn Sie verzeihen.«

»Vielleicht können wir das Gespräch in Ihrer Wohnung fortsetzen?« Matazzi ging die distinguierte Kälte der Frau schon jetzt auf die Nerven.

Madeleine Rochefort machte eine einladende Handbewegung und ließ die Polizisten eintreten.

Die Wohnung passt zu ihr, dachte Matazzi. Alles war penibel aufgeräumt, die Möbel waren antik und exquisit, aber die hohen, stuckverzierten Räume wirkten steril.

Madame Rochefort bot Getränke und Plätzchen an, was Matazzi und Amel dankend ablehnten.

»Wir würden gern erfahren, wo Sie gestern Nacht waren.«

Madame Rochefort verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Aha, der Commandant vermutet also, ich hätte dem armen Matador den Degen höchstpersönlich in den Rücken gerammt, n’est ce pas? Nun, ich war hier zu Hause, wenn Sie es genau wissen wollen.«

»Sie leben hier ganz allein?«

»In der Tat, mein Mann hat mich vor drei Jahren verlassen, mir aber zumindest die Wohnung überlassen. Und so schnell kommt mir hier kein anderer Mann über die Türschwelle.«

Wenn es denn überhaupt Bewerber gibt, dachte Matazzi. Die Frau ließ ihn frösteln.

»Wir haben eine Mail von Ihnen auf dem Laptop von Louis Castilles entdeckt. Darin drohen Sie ihm unmissverständlich. Was hatten Sie denn vor, wenn er dem Stierkampf nicht abschwört?«

»Jedenfalls wollten wir ihn nicht töten. Unsere Organisation hat sich den Tierschutz auf die Fahnen geschrieben, insbesondere den Kampf gegen diese barbarische Corrida. Ich wollte Castilles mit dieser Mail nur erschrecken, auch wenn Ihnen das komisch oder lächerlich vorkommen mag. Er sollte Angst bekommen und vielleicht mal über das nachdenken, was er den Tieren antut.« Ihre Augen funkelten angriffslustig.

War diese Frau fähig, einen Mord zu begehen? Matazzi betrachtete sie eingehend. Sie war nur einen Kopf kleiner als er, maß also etwa einen Meter siebzig, wirkte schlank und drahtig. Einen Degen könnte sie sicher gut führen. Womöglich hatte sie Castilles aufgelauert, ihn zur Rede stellen wollen, und als er sich dann umdrehte und sie stehen ließ – zack! Vom Pathologen wusste er, dass es nur einen leicht erweiterten Einstich gab. Der Mörder hatte Castilles also den Degen mit voller Wucht von hinten in den Rücken gerammt und noch mal ein wenig umgedreht. Ein einziger Hieb. Ein perfekter Todesstoß.

»Haben Sie Castilles mal persönlich getroffen?«

Madame Rochefort schüttelte den Kopf. »Nein, und offen gestanden habe ich darauf auch keinen Wert gelegt.«

»Madame, was hat Ihr Verein mit der Aktion vor Castilles’ Haus bezweckt, dieser Demonstration und den Schmierereien auf der Gartenmauer?«, fragte Amel.

»Wir wollten Druck auf ihn ausüben, zeigen, dass es Widerstand gibt in diesem Land gegen solche Grausamkeiten. Und wir wollten, dass jeder sieht: Hier wohnt ein Tierschänder, ein verabscheuungswürdiges Individuum. Hat seine Frau uns angeschwärzt? Diese arrogante Person hat uns wegen der Aktion die Polizei auf den Hals gehetzt.«

Matazzi antwortete nicht darauf, er hatte langsam genug von der resoluten Dame. »Sie sind die Vorsitzende des Vereins, ich hätte gern eine Liste aller weiteren Vorstandsmitglieder von Ihnen, überhaupt von allen Mitgliedern. Wie viele sind das?«

»Insgesamt haben wir über vierhundert Mitglieder. Aber hier in Nizza sind es, warten Sie mal, etwa fünfunddreißig Personen. Bis wann brauchen Sie die Namen und Adressen?«

»Bis heute Abend – und bitte verlassen Sie in den nächsten Tagen nicht die Stadt. Ich denke, wir werden noch mal auf Sie zukommen.« Matazzi reichte ihr seine Karte.

Sie verabschiedeten sich. Madeleine Rochefort geleitete sie noch zur Tür und schloss sie mit einem spärlichen Lächeln hinter ihnen.

Als sie im Aufzug hinunterfuhren, pfiff Amel leise durch die Zähne. »Mon dieu, der würde ich nur ungern den Rücken zuwenden, vor allem, wenn ich Torero wäre. Was denkst du?«

»Das wollte ich doch eigentlich von meiner Frau fürs Intuitive wissen. Also wenn Blicke töten könnten, dann wäre sie sicher die Täterin. Fest steht, dass sie kein überzeugendes Alibi hat. Und hinter der feinen Fassade steckt ein entschlossener, überaus kämpferischer Geist. Ich denke, wir sollten sie auf jeden Fall«, er blinzelte Amel zu, »im Auge behalten.«

Die Aufzugtüren öffneten sich. Beim Hinausgehen sah Matazzi wieder in den Spiegel, aber dieses Mal schaute er nicht auf sich, sondern auf Amel, deren Gang auf einmal viel beschwingter wirkte.

Er lag ganz still auf dem Bett. Nur einatmen und ausatmen. Die Ruhe tat ihm gut. Er war vom Strand schnellstmöglich nach Hause gegangen. Er wollte zurück ins Bett. Was für eine Nacht. Der Schrei gellte noch in seinen Ohren. So einen Schrei hatte er zuvor noch nie gehört. Fast unmenschlich. So wie ein sterbender Stier in der Arena, dachte er. Und dann musste er lächeln. Dieser kleine Bastard Castilles hatte es nicht anders verdient. Kein Zweifel, er hatte das Richtige getan. Und wie geschickt er den großen Matador in die Falle gelockt hatte.

Jetzt würde alles besser werden.

Wer genau hinsah, wer die richtigen Schlüsse zog, der konnte Menschen manipulieren.

Sie wollen gelten, sie wollen Anerkennung. Und wenn du ihnen das alles vorgaukelst, vertrauen sie dir.

Wie oft hatte er sich diese Erkenntnis zunutze gemacht.

Mit diesem guten Gefühl dämmerte er langsam in einen schweren Schlaf, aus dem er erst wieder am Abend erwachen sollte.

5

Als sie draußen die Mittagshitze empfing, packten Matazzi plötzlich der Hunger und die Lust auf ein schattiges Plätzchen. Er schlug vor, in seinem Lieblingsrestaurant in der nicht weit entfernten Altstadt einen Happen zu essen. Amel zeigte mit hochgereckten Daumen ihr Einverständnis.

Ein kurzer Anruf bei Sébastien – und zwanzig Minuten später saßen alle drei im »Rizzoli«, einem Restaurant am Place du Jésus in der Altstadt, mit traditioneller »Cuisine niçoise«, wie es auf der Holztafel am Eingang zu Recht versprochen wurde.

Es kam öfter vor, dass das »Team Matazzi«, wie es Amel gern formulierte, die Kantine im Polizeipräsidium umging und mittags auswärts speiste. Zum einen fand Matazzi die Kantine kulinarisch grenzwertig, aber er liebte es auch, mit seinen jüngeren Kollegen dem Polizeibunker mal für eine Stunde entfliehen zu können. Ihn inspirierte der Ortswechsel, um bei schwierigen Fällen auf neue Ideen zu kommen, und seine Mitarbeiter hatten das von ihm übernommen.