I
DER BLAUE ENGEL

»Und wenn Haiti den USA den Krieg erklärt?« Die Frage tauchte urplötzlich am zehnten Tag des Irakkriegs auf. Am 29. März 2003. Hervorgesprudelt wie ein schwarzer Spermastrahl aus den Eingeweiden einer Ölquelle unter hohem Druck. In Port-au-Prince war es die Frage der letzten Chance. Die zu Ende gehende Trockenzeit hatte alles sonnengelb gebrannt. Tiere und Pflanzen blickten starr zum Himmel in der Hoffnung auf ein Zeichen oder sonst irgendetwas von oben, seien es auch Bomben oder gar Fallschirmjäger. Eben irgendetwas, damit das Treten auf der Stelle aufhörte, von dem man wahnsinnig wird, wenn es sich ewig in die Länge zieht. Auch die Menschen hatten alles zu gewinnen und nichts zu verlieren, denn das letzte Mittel konnte nur vom Himmel kommen. Aber wählerisch sein kam nicht in Frage, man nimmt, was runterkommt, mitsamt den dazugehörigen Kollateralschäden. Irakkrieg ist Irakkrieg.

Allerdings teilte sich die Menschheit mit Fernsehzugang an diesem Tag in zwei Gruppen. Da war zunächst jene Gruppe, die sich nur für die am Morgen dieses zehnten Kriegstages verkündete Selbstverständlichkeit interessierte. Sie waren hingerissen oder betrübt, aber der als proper, präzise, punktuell (ppp4) und blitzschnell hingestellte Irakkrieg zog sich hin und würde sich weiter hinziehen. Donald Rumsfeld schien an diesem Tag völlig daneben zu liegen mit seinen vier Divisionen von zwanzigtausend Mann, die, Blume im Gewehrlauf und Blumenketten um den Hals, zügig Richtung Bagdad marschierten: aufrecht gegen den Wind, feiner Sand und bei jeder Mahlzeit heiße Hamburger mit Spiegelei, wie es bei den lustigen Marines Tradition ist. Es fehlten im Film freilich die Massen von jubelnden Statisten zu beiden Seiten des tausend Kilometer langen, aus dem Persischen Golf erstandenen Bandes, das durch dreitausend Jahre mesopotamische Geschichte hindurch nach Norden führt. Babylon, oh Babylon. Und der Tigris und der Euphrat! Sogar den Technikern, Fotografen, Journalisten und Kameraleuten, die in die Truppe aufgenommen worden waren, um für die Dauer von allerhöchstens einer Woche der ganzen Welt täglich Kino vorzuspielen, wurde die Zeit lang und der Atem kurz.

In den zehn Tagen war klar geworden, dass es ein schmutziger Krieg werden würde, so schmutzig wie alle Kriege, und dass es noch niemals saubere gegeben hatte. Schläge unter die Gürtellinie, die man austeilte und schnell vergaß, und Schläge unter die eigene Gürtellinie, an die man sich lange erinnerte. Ein kurzer Krieg möglicherweise, aber mit Sicherheit ein langer Schlamassel, in dem man lange feststecken würde. Man würde jahrhundertealte Streitigkeiten schlichten, allen zweimal täglich zu Essen geben, immer alles und jedes und vor allem das Schlimmste unter jeder Dschellaba und jedem Boubou befürchten müssen, ohne dass man deswegen allgemeine Nacktheit anordnen konnte. Man würde ein ganzes besiegtes Volk überwachen müssen, und dieses würde in Genf auf einmal entdecken, dass es verbriefte Rechte besaß, Rechte, von denen es sich unter der Diktatur Saddams niemals hatte träumen lassen, nicht einmal in seinen kühnsten Träumen. Am zehnten Tag war alles vollzogen und kein Fernseher musste mehr rund um die Uhr laufen. Nein, hingerissen oder betrübt, aber das, was es sonst noch aus dem Irak zu sagen und zu hören gab, konnte bis zu den üblichen Nachrichten warten oder ins normale Programm eingeschoben werden.

Und dann war da die andere Gruppe vor denselben Bildschirmen, die nur Augen und Ohren für die ausgewogenen Ernährungsrationen des WFP, des Welternährungsprogramms, und für die arbeitsplatzträchtigen Wiederaufbauverträge hatte: endlich Arbeit für alle nach einem Leben in Arbeitslosigkeit. Ganz zu schweigen von den ressourcenstrotzenden humanitären Organisationen, die eine Lawine von Schul- und Krankenhausbauten niedergehen lassen würden, dem gemeinnützigen Sektor mit seinem dicken Portemonnaie, der das gelockerte soziale Gefüge wieder festzurren, und dem Nichtregierungssektor, der, mit Mitteln reichlich ausgestattet, alles Unverträgliche unter einen Hut und alles ziellos Herumschweifende auf Kurs bringen würde. Was für eine Goldgrube! Und für all das brauchte man nur einen kleinen Krieg gegen reiche Bekehrungswütige wie die Amerikaner zu verlieren, denn es gibt nichts Schlimmeres, als einen Krieg gegen kleinliche und knausrige Nationen zu verlieren, wie es so oft Völkern geschieht, denen das Glück nicht hold ist. Read on my lips. Sie müssen zugeben, dass das schon dazu angetan war, dieser weder hingerissenen noch betrübten, sondern einfach nur ausgehungerten und verarmten Mehrheit von Fernsehzuschauern, die sich nur noch extremen Hoffnungen hingeben konnte, den Mund wässrig zu machen. Und wenn Ihnen als Gutmenschen, bevor Sie dies hier gelesen haben, noch nie in den Sinn gekommen ist, dass neunhundertneunundneunzig Tausendstel der Menschheit möglicherweise davon träumen, dass ihre Regierung einen beschissenen Krieg wie diesen verliert, um endlich ihren Kindern zu essen geben, sie auf die Schule schicken und ärztlich behandeln lassen zu können, um nicht mehr massakriert zu werden und nicht mehr unter entsetzlichen Qualen zu sterben – dann welcome hinter Ihrem Spiegel. Auf der Seite der Völker.

Die Idee mit diesem Krieg, den Haiti den USA erklären würde, war also unter dem Stapel von all dem Zeug entsprungen, das sich in zehn Tagen aufgehäuft hatte. Und wie bei allen neuen Ideen, die in der Lage sind, grässlichen Hunger zu stillen, musste man sich beeilen, damit sie einem nicht gestohlen wurde. Der Wettbewerb könnte hart werden, so zahlreich waren die Kandidaten in verzweifelter Lage, mit kaschierten Hungersnöten, zerstörten Infrastrukturen und verbotenen Hoffnungen, denen nur ein ppp-Krieg made in USA Aussicht auf das Manna verleihen könnte, das gleich nach den Bomben vom Himmel fallen würde. Allerdings musste man dafür einen Krieg ermöglichen und ihn so verlieren, wie es sich gehört, nämlich jubelnd. So verlangt es dieser Sieger, der kein großes Talent für den Umgang mit den verletzten Seelen der Besiegten besitzt. Und dann würde es endlich zur Kasse gehen.

An diesem Samstagmorgen des zehnten Tages saßen sich Magritte und Grant auf der Terrasse des Ange Bleu vis-a-vis der Kirche Sacré-Coeur de Turgeau gegenüber. Beide taten so, als konzentrierten sie sich auf eine Schale dicken, heißen Kakao mit ein wenig Milch, die Spezialität des Hauses, so dass von ihrem Gespräch nichts zu hören war, nicht einmal die leiseste Änderung der Stimmlage. Die Chefin, die ein Mariengelübde abgelegt hatte und sich daher in Blau kleidete, behauptete, dass ihr Kakao im Himmel von den Engeln als Begrüßungstrunk gereicht werde. Daher der Name Ange Bleu, Blauer Engel, ein Name, ersonnen für einen schicken Salon mit lokalen Getränken und feinen französischen Patisserien. Namen sind in Haiti niemals einfach, und der volkstümliche Witz hatte bald durchschaut, welches doppelte Geheimnis hinter diesem hier steckte, und die Fassade des Lokals mit blauen Graffiti in Form von Rauten in Kakaotassen verziert. Als gute Christin und versierte Geschäftsfrau, welche ihr Gewerbe gegenüber der Kirche betrieb, hatte die Chefin sehr gut begriffen, welchen Vorteil sie daraus ziehen konnte, dass ihr Kakao mit Viagra assoziiert wurde, zumal ihre Kundschaft ältere bürgerliche Herrschaften aus den benachbarten vornehmen Vierteln Turgeau, Babiole und Pacôt waren … Sie beklagte sich bei ihren Kunden tagelang mit koketter Schnute über diesen schmeichelhaften Vandalismus, den sie nie entfernen ließ. Nach einer Weile verdächtigte man sie, Urheberin der Graffiti zu sein.

Wäre Magritte nicht im Einsatz gewesen, hätte sie nicht mit Grant im Ange Bleu sitzen können, aber nichts verbot ihr, dies für ihre Geschäfte auszunutzen, und Grant musste einfach noch am selben Abend eine ausführliche Notiz über das Treffen zwischen dem amerikanischen Botschafter in Haiti und der »Mutter aller Schlachten« im angesagtesten Salon von Port-au-Prince an das State Department kabeln. In dieser winzig kleinen Welt kam das einer Pressekonferenz gleich. Am Turm von Sacré-Coeur schlug es acht Uhr morgens, als die zwei auseinandergingen. Sie wussten beide aus Erfahrung, dass sie nur einige kurze Stunden Vorsprung hatten, um persönlichen Profit aus den sich ankündigenden Ereignissen zu schlagen; danach würde der Massenansturm losgehen.

 

 

4 Mit PPP wurden in Haiti die Petits Projets de la Présidence bezeichnet, am Staatshaushalt vorbei finanzierte Regierungsprojekte während der Präsidentschaft von Jean-Bertrand Aristide, die für das hohe Defizit mitverantwortlich gemacht wurden. Ansonsten steht PPP aber auch für Partenariat Public-Privé (öffentlich-private Partnerschaft).

II
MUTTER COURTAGE

Eine vertrauenswürdige Person erwartete Magritte bei ihr zu Hause, Rue Rigaud Nummer 4 in Bois Verna, weniger als zehn Minuten vom Ange Bleu entfernt. Sie hatte präzise Befehle für die Entgegennahme der Mikrokassette mit dem Wortlaut der Unterhaltung, die natürlich heimlich aufgezeichnet worden war. Grant hatte seinerseits alles aufgenommen und höchstwahrscheinlich mit einem Gerät derselben Marke, denn beide stammten aus der Zeit, als der eine Lieferant der anderen war. Der einzige Unterschied war, dass sie es entsprechend den jeweiligen Gebrauchsanweisungen für Männer und Frauen sicherlich nicht an derselben intimen Stelle trugen. Magritte machte unterwegs in der kleinen Gasse La Fleur du Chêne in den Galéries Vanités halt. Sie benachrichtigte die Geschäftsführerin, zog sich mit ihr ins Hinterzimmer zurück, gab Befehle, erklärte wenig und machte sich wieder auf den Weg.

Altagrace, die Geschäftsführerin, hatte, als sie die Besitzerin kommen sah, Sodbrennen bekommen wie immer, wenn sie zugegen war. Manchmal meldete ihr dieses Sodbrennen sogar, dass die andere in der Nähe war, noch bevor sie sie wirklich bemerkt hatte. Ihr Körper hatte somit gegenüber Magritte allergische Reaktionen entwickelt, die sogar dem Bewusstsein von Magritte vorausgingen. Während sie sich Pepto-Bismol auf einen Löffel goss – sie hatte für den Fall, dass ihre Chefin unerwartet erschien, immer eine Flasche dabei –,rekapitulierte Altagrace im Geiste, was sie nun den Tag über tun sollte.

Sie hatte Order erhalten, sich eilig in die Unterstadt zu begeben, sämtliche Grossisten abzuklappern und die gesamten Bestände an Stoff in den Farben der amerikanischen und haitianischen Flagge aufzukaufen. Ein solcher Auftrag war für sie nichts Neues, sie hatte so etwas bestimmt schon fünf- oder sechsmal gemacht, um Festpodien zu dekorieren oder Wandbehänge mit den beiden verschränkten Flaggen anzufertigen. Hundert Meter Stoff reichten dafür normalerweise aus. Aber diesmal musste sie sämtliche verfügbaren Stoffballen aufkaufen, egal wie viel Stoff vorrätig war. Und zwar schnell und auf einen Schlag, damit diese massive und unerwartete Nachfrage nicht die Preise nach oben trieb. Um zwölf Uhr musste alles abgeschlossen sein.

Sie musste anschließend sicherstellen, dass sämtliche Näherinnen, die gelegentlich für die Boutique arbeiteten, sich zwischen Montag, dem 31. März und Sonntag, dem 6. April für einen Spezialauftrag über 2500 Gourde für hundert Stunden Arbeit in sieben Tagen frei nahmen. In dieser schwierigen Periode war es ein Glücksfall für die etwa hundert jungen Damen, je zehntausend Fahnen zu nähen, drei mal sechs Zoll, Bezahlung auf der Grundlage von 36 Sekunden pro genähte Fahne und 25 Gourde pro Stunde; früher waren das fünf amerikanische Dollar, aber durch die fortwährende Abwertung der Gourde entsprach es nur mehr etwas unter fünfzig Cent pro Stunde. Damit stimmte die Rechnung: eine Million Fahnen zum Schwenken, hundert Werkstätten, jede zehntausend Stück. Nun galt es nur noch, die Stapel in den haitianischen und die in den amerikanischen Farben sorgfältig zu trennen und sie irgendwie an einer Million noch aufzutreibender einheitlicher Stangen zu befestigen. Das übernahm Magritte. Sie wusste, dass es ihr in der Hitze des Gefechtes gelingen würde, die Stangen zu finden, auch wenn sie im Moment weder wusste wo noch wie.

Zwei große fünfhunderttausendköpfige Menschenfluten würden einbestellt. Die erste mit den haitianischen Flaggen, um gegen den imperialistischen Krieg und die Landung der US-Marines zu protestieren, die dritte in weniger als hundert Jahren. Die zweite sollte, nachdem die Feindseligkeiten richtig losgegangen waren, die Marines als Befreier empfangen, ihr Sternenbanner schwenken und sich dabei so genau wie möglich an das halten, was man von Paris 1944 auf den Bildschirmen gesehen hatte, jenes Remake von volkstümlichen Liebesbeweisen, das die US-Armee trotz hunderter militärischer Interventionen bei ebenso vielen undankbaren Völkern ein halbes Jahrhundert lang nicht mehr hatte erleben dürfen. Es wurde wirklich frustrierend. Wenn die Hoffnung auf Dankbarkeit sich irgendwo vor Kameras Ausdruck verschaffen konnte, dann hier, aber unter bestimmten, baren Bedingungen, welche, so regte Magritte an, flexibel mit der richtigen Gesprächspartnerin ausgehandelt werden mussten, denn wenn sich Armut mit Nationalismus paart, wird sie schnell hochmütig.

Blieb noch die Frage, welches Ministerium für die Rechnung aufkommen würde. Ein Ministerium mit ausreichendem Budget, um nichts von der Gewinnmarge pro Flagge abknapsen und den Profit nicht mit zu vielen Zwischenhändlern teilen zu müssen. Warum also nicht gleich das Finanzministerium angesichts der Tatsache, dass man auch Vergütungen für die Mobilisierung einer so großen Teilnehmerzahl bei den beiden Riesendemonstrationen vorsehen musste. Zuschlag erteilt! Aber man musste auch das Umweltministerium zur Kasse bitten, denn die Manie der Massen, ihre Freude kundzutun, indem sie die Zweige der wenigen Bäume abrissen, die in dieser kahlen Stadt noch überlebt hatten, wirkte verheerend. Zwei Riesendemonstrationen, und um das, was an Büschen und Bäumchen in Port-au-Prince noch übrig war, war es geschehen; das Umweltministerium konnte daher ruhig für eine kleine zusätzliche Aufmerksamkeit an das Fahnenmeer seine Taschen umkehren. Magritte rechnete zusammen.

Den Sonntag würden Altagrace, die Geschäftsführerin, und die zwei dafür in Beschlag genommenen Verkäuferinnen mit dem Zuschneiden der Stoffe verbringen. Für sie war es immer ein Glücksfall, auf diese Weise ohne Vorwarnung für dringende Aufgaben verpflichtet zu werden. Der Bonus, der dabei heraussprang, war schon immer ein Segen in diesem Land, in dem siebzig Prozent der Haushaltsvorstände Frauen sind. Sie würden alle für die Siebentagewoche kämpfen. Mit so vielen Überstunden wie möglich, jeden Tag.