Über Shaun Prescott

Shaun Prescott lebt in den Blue Mountains in New South Wales, Australien. Im Selbstverlag hat er verschiedene Bücher veröffentlicht und er ist der Herausgeber des Crawlspace Magazines. »Die Ortschaft« ist sein Debütroman und erscheint in mehr als einem halben Dutzend Ländern.

Benjamin Mildner, Jahrgang 1984, hat Anglistik und Literatur studiert. Er lebt als freier Lektor und Übersetzer in Berlin.

Informationen zum Buch

»Eine kraftvolle Vision davon, wie unsere Welt zu Ende geht, nicht mit einem Knall, sondern mit einem leisen Wimmern.« The Guardian

Wir befinden uns in Australien, in einem namenlosen Ort im Outback. Das Hotel hat keine Gäste, am Bahnhof halten keine Züge, der öffentliche Bus dreht einsam seine Runden, das Radio sendet ins Nirgendwo. Ein junger Autor reist hierher, um das Phänomen von Siedlungen zu erforschen, die verschwinden, ohne das es einen besonderen Grund dafür gäbe. Er findet einen Verbund unzähliger Nicht-Ort vor – und die letzten Bewohner, denen auf der Suche nach der Wahrheit ihrer Vergangenheit die Zeit davonläuft. Denn was soll mit ihnen geschehen, wenn ihre Realität verschwindet?

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Shaun Prescott

Ortschaft

Roman

Aus dem australischen Englisch
von Benjamin Mildner

Inhaltsübersicht

Über Shaun Prescott

Informationen zum Buch

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1 Der Ort

2 Die verschwindende Ortschaft

3 Die enttäuschende Stadt

Danksagung

Impressum

1
Der Ort

Die gesamten Ausmaße der Ortschaft sah man erst, wenn man bereits viele Jahre dort verbracht hatte. Erst dann konnte man die Begrenzungen erkennen, wie sie an den Rändern schimmerten, und verstehen, was diese Ränder bedeuteten.

Wie seltsam bestimmte Aspekte vertrauter Anblicke waren, offenbarte sich einem erst nach vielen Jahren in der Ortschaft. Erst dann konnte man an einem Ende einer ruhigen Straße stehen und, zu einer bestimmten Tageszeit und aus einem ganz speziellen Blickwinkel, sich einbilden, man sei woanders. Man konnte am Fuße des alten Gaswerks stehen und nach oben blicken und sich vorstellen, man hätte für einen kurzen Moment Zutritt erhalten zu einer der mutmaßlichen Welten außerhalb der Ortschaft.

In manchen Orten verschwindet der Rest der Welt. Und so leuchtet es auch nur ein, dass für den Rest der Welt manche Orte für immer im Verschwinden begriffen sind – oder sie erscheinen wie ein Phantasiegebilde, oder ein Geisterort, oder lediglich als dekorativer Fleck auf einer Landkarte. Ein Fleck, den ein Kartograph behutsam dort platziert hat, um eine einsame Leere zu füllen.

* * *

Als ich in die Ortschaft kam, machte ich mich auf die Suche nach einem Café, in dem ich regelmäßig sitzen könnte und das als zentrale Anlaufstelle für meine Freunde dienen würde, sobald ich welche hätte. Ich lief in einem Einkaufszentrum umher und entschied mich für eine Michel’s Patisserie in Sichtweite eines Big W. Oben an der Rolltreppe verkaufte ein Mann Kühlschrankmagnete und Geschirrtücher mit der australischen Flagge darauf. Ich saß im Café und dachte: So, das ist doch schon mal ein Anfang. Ich habe jetzt einen Platz, an dem ich mich mit Leuten treffen kann, wenn ich welche kennengelernt habe, und er ist ganz passabel.

Das Einkaufszentrum war typisch für die Orte im mittleren Westen und gehörte zu einer der beiden großen Firmen, die in der Gegend um die Marktherrschaft kämpften. Ich trank meinen ersten Kaffee und dachte über meine Reise nach, um meinem alten Ich Anerkennung dafür zu zollen, dass ich damals, vor wenigen Stunden, insgeheim noch befürchtet hatte, ich würde nirgendwo ankommen.

Später schlenderte ich durch das Einkaufszentrum. Ich sah einen Sanity und dachte über die CDs nach, die ich mir kaufen würde, sobald ich einen Job hätte. Ich stöberte in einem Angus & Robertson und machte mir im Geiste Notizen zu den Büchern, die ich kaufen und lesen und über die ich mit den Leuten im Café gegenüber vom Big W diskutieren würde, wenn ich sie erst einmal kennengelernt hätte. Dann kaufte ich mir bei Bakers Delight ein Käse-Schinken-Brötchen und setzte mich damit an einen der Tische.

Die Hauptstraße im Ort erstreckte sich über fünf Häuserblocks, die jeweils durch kleinere, ebenfalls mit Geschäften gesäumte Querstraßen unterteilt waren. Ich hatte schon mal von diesem Ort geträumt. In dem Traum hatte es in einer der Querstraßen eine Wohnung im zweiten Stock gegeben. Von der Wohnung aus schaute man auf eine Tankstelle, und ich saß zusammen mit einer Frau auf dem Balkon. Wir rauchten dort Zigaretten und tranken Bier aus großen Gläsern. Wahrscheinlich war dieser Traum ein Resultat der früheren Reisen gewesen, die mich durch diesen Ort geführt hatten, die Hauptstraße entlang, auf dem Weg von einer Ortschaft zur nächsten, ohne je anzuhalten, noch nicht mal, um mich irgendwo zu stärken.

Dieser Traum hatte meine Ankunft in dem Ort nicht beschleunigt, aber als ich an jenem Tag ankam, redete ich mir ein, es sei doch so. Es war ein wichtiger Traum, erinnere ich mich, gedacht zu haben, um dem Ereignis Bedeutung zu verleihen, obwohl mir schon damals klar war, dass ich mich selbst belog. Es war jedoch eine harmlose Lüge.

* * *

Ich zog bei einer Person namens Rob ein. Er vermietete mir ein Zimmer in seinem Haus unweit der Schule, das er in der Lokalzeitung inseriert hatte. Obwohl ich unbedingt Leute kennenlernen wollte, wollte ich Rob nicht unbedingt besser kennenlernen, denn er war sehr sportbegeistert. Er fragte mich, für welche Mannschaft ich sei, und ich sagte Australien. Hin und wieder lud Rob ein paar Freunde ein, um mit ihnen im Wohnzimmer ein Spiel zu schauen und Bier zu trinken. Sie tauschten ernste Analysen zu jedem einzelnen Spieler aus und sprachen von diesen Spielern, als hätten sie im echten Leben schon mit ihnen zu tun gehabt.

Ich zahlte meine Miete direkt an Rob, der sie an seine Eltern weitergab. Jede Woche legte ich einen verschlossenen und mit »Miete« beschrifteten Umschlag in die Küchenschublade. Hin und wieder, wenn sich ein direkter Kontakt mit Rob nicht vermeiden ließ, redeten wir über unsere Pläne fürs Wochenende, auch wenn es erst Dienstag war. Einmal erzählte ich ihm, ich schriebe ein Buch über die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen von New South Wales. Er sagte, er werde sich jetzt ein Bier holen.

Rob interessierte sich überhaupt nicht für mich, bis er eines Tages nach irgendeinem wichtigen Endspiel spätabends nach Hause kam, während ich in der Küche mein Abendessen kochte. Es wundere ihn, wie selten ich das Haus verlasse, sagte er, und so ein Endspiel sei doch die perfekte Gelegenheit, »unter Leute zu kommen«. Ich log, heute sei der Todestag meines Vaters, und außerdem wolle ich an meinem Buch über die verschwindenden Ortschaften arbeiten. Diesmal schien er mich dafür zu bewundern, dass ich ein Buch zu schreiben versuchte, und fragte mich, ob er es irgendwann einmal lesen dürfe. Ich sagte ihm, es sei zwar noch nicht fertig, er sei aber jederzeit herzlich eingeladen, es zu lesen. Dieses Buch floss nämlich in seiner endgültigen Fassung, wie ich damals dachte, aus meinen Gedanken aufs Papier. Ich bezweifelte, dass ich es auch nur würde überarbeiten, geschweige denn einen zweiten Entwurf würde schreiben müssen, so leicht ging mir dieses Buch von der Hand. Es würde kein Meisterwerk werden, aber doch auf jeden Fall ein Buch. Rob sagte, er würde gerne jetzt, in dieser Sekunde, ein Stück von meinem Buch lesen, also ging ich mit ihm in mein Zimmer, setzte ihn vor meinen Computer und scrollte zu einer Passage, die ich für besonders interessant hielt.

In der Passage ging es um die Ortschaft Meranburn. Ich hatte sie in einer gewissen Geistesabwesenheit geschrieben, vor ein paar Tagen, in dem Gefühl, als säße ich im Schneidersitz auf dem Lehmboden vor der verlassenen Bahnstation von Meranburn. Rob las sie und wollte dann wissen, wo Meranburn liege, woraufhin ich ihm sagte, man müsse von Meranburn in der Vergangenheit sprechen, da es nicht mehr existiere. Er folgerte daraus, es sei eine Geisterstadt, worauf ich antwortete, es sei keine, zumindest sei es nicht das, was er unter einer Geisterstadt verstehe. Meranburn sei nicht heruntergewirtschaftet worden, seine Einwohner seien nicht auf der Suche nach Arbeit in die nächstgelegenen Orte abgewandert, die Gebäude seien nicht abgerissen worden. Meranburn sei einfach verschwunden. Daher der Name, sagte Rob, Die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen. Er sagte nicht, ob ihm die Passage gefallen hatte oder nicht, nur, dass er jetzt gerne mehr über Meranburn erfahren würde. Und außerdem, sagte er, sei Meranburn doch eigentlich keine verschwindende Ortschaft. Sondern eine verschwundene.

* * *

Ich besorgte mir einen Job als Regalauffüller bei Woolworths. Ich kaufte mir ein Diktiergerät, um mich zu Hause beim Vorlesen aufzunehmen und mir die Aufnahmen beim Einsortieren der Waren anzuhören. Als Regalauffüller brauchte ich nicht groß mit anderen Menschen zu kommunizieren, auch wenn mich immer wieder Kunden fragten, wo sie dieses oder jenes Produkt finden könnten, worauf ich immer antwortete, dass ich das auch nicht wisse.

Manchmal war ich unzufrieden mit meinem Buch, während ich mir im Supermarkt meine Aufnahmen anhörte. Ich wollte, dass es in meinem Buch einen Teil gäbe, oder ein Kapitel, oder wenigstens einen Absatz, der die Menschen zutiefst entsetzen würde. Ich wollte, dass es in meinem schriftstellerischen Schaffen etwas gäbe, das den Leser mit Grauen erfüllte. Ich wollte, dass es wenigstens einen kleinen Absatz gäbe, der meine vage Vorstellung davon widerspiegelte, dass die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen von New South Wales für den Leser von genauso großer Bedeutung sein müssten, wie sie es für mich waren. Während dieser Unzufriedenheitsanfälle tauchte vor meinem inneren Auge immer wieder ein bestimmtes Bild auf: eine satte grüne Wiese, auf der nackte Menschen standen, denen von einer vermummten Gestalt die Haut abgezogen wurde. Während ich Abend für Abend die Regale auffüllte, dachte ich, es wäre interessant, das Buch mit dieser Szene zu beenden, sie könnte der Kulminationspunkt der vielen in sich geschlossenen Kapitel über die einzelnen Orte sein. Vielleicht war jeder Einwohner jeder dieser Ortschaften entführt und auf irgendeinem abgelegenen Feld Richtung Dubbo gehäutet worden. Dieses Feld lag immer an derselben Stelle: Es war da, wo die grünen Hänge und Ebenen aufhören und das bräunlichere Flachland anfängt, das sich noch weit ins Landesinnere zieht. Das Buch würde acht Kapitel nüchterner, journalistischer Prosa enthalten, die beschrieben, was in diesen verschwundenen Ortschaften im mittleren Westen geschehen sein könnte. Keine dieser acht Spekulationen wäre besonders gewaltsam oder auch nur interessant, aber dann würde das Buch mit diesem neunten Kapitel über die nackten Menschen, die von der vermummten Gestalt gehäutet wurden, enden, und so würde der Eindruck entstehen, diese überzeugend dargestellte Szene stünde auf irgendeine Weise in einem inhaltlichen Zusammenhang mit allem, was ihr vorangegangen war. Es würde nie erklärt werden, aber es wäre wahr. Der Leser würde glauben, dieses Kapitel sei intrinsisch mit den Geschichten über die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen von New South Wales verknüpft.

* * *

Nachdem ich ein paar Tage in dem Ort verbracht hatte, ging ich in die Bücherei. Ich suchte nach Büchern über den Ort selbst, aber ich hoffte, ich würde auch Bücher über Orte finden, die verschwunden waren.

Ich durchforstete die Regale und Bücherstapel und fragte dann einen Mitarbeiter nach der Heimatkunde-Abteilung. Der Mann hinter dem Tresen fragte mich, weshalb ich zur Heimatkunde-Abteilung wolle, also erzählte ich ihm, ich schriebe ein Buch über die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen von New South Wales. Ich wolle so viele Bücher wie möglich über die Geschichte dieses Ortes ausleihen.

Der Bibliothekar fragte mich, ob ich denn glaube, dieser Ort sei verschwunden. Ich sagte, das sei schon möglich, aber unwahrscheinlich, da Ortschaften heutzutage nicht mehr verschwänden, es sei denn, sie erfüllten keinen Zweck, was dieser Ort ja sicher tue. In der Heimatkunde-Abteilung hoffte ich etwas über diesen Zweck zu erfahren. Der Ort sei doch sicher aus einem bestimmten Grund erbaut worden. Wenn es keinen solchen Grund gäbe, warum dann ausgerechnet hier, an dieser Stelle?

Es gibt keine Bücher über diesen Ort, sagte der Bibliothekar. Eigentlich brauchen wir jemanden wie Sie, der eins schreibt. Allerdings würde es nicht gerade ein Bestseller werden. In diesem Ort ist nie etwas Erwähnenswertes passiert, und wenn es dann passiert, wird es keinen Sinn mehr haben, sich daran zu erinnern.

Der Bibliothekar erklärte mir, viele vergleichbare Orte könnten mit Gründungsgeschichten aufwarten und mit Geschichten darüber, welchem höheren Zweck sie früher einmal gedient hätten. Es gebe sogar Orte, in deren Straßen fiktive Geschichten spielten. Dieser Ort aber sei einfach nur da. Niemand wisse, wie er entstanden sei oder warum seine Gründer ihn errichtet hätten, außer vielleicht die ganz alten Leute, die schon zu verwirrt seien, um in zusammenhängenden Sätzen zu sprechen. Über diesen Ort gebe es keine Bücher, weil niemand einen Grund nennen könnte, warum man ihn kennen sollte. Bücher handelten in der Regel von Phänomenen, sagte er, und dieser Ort hier habe nichts Phänomenales an sich.

Er gestand mir, dass er selbst schon einmal vergeblich versucht hatte, ein Buch über den Ort zu schreiben. Er habe den Ort nie leiden können, schon als Kind nicht. Er habe immer gehofft, eines Tages weggehen zu können, in die Stadt oder in ein anderes Land, aber das sei ausgeschlossen, und nun sei er eben hier, in der Bücherei.

Er hatte in seinem Leben nichts erlebt, das es ihm ermöglicht hätte, ein Buch über irgendetwas anderes zu schreiben, deshalb hatte er sich entschieden, ein Buch über den Ort zu schreiben, weil er sein gesamtes Leben hier verbracht hatte. Es wäre ganz einfach, hatte er gedacht, alles, was er brauchte, war direkt vor seiner Nase, und es gab viele alte Leute, die man interviewen konnte. Vor allem aber hatte noch nie jemand ein Buch über den Ort geschrieben. Vielleicht würden ja in den Gegenden, die sonst in Büchern vorkamen, die Menschen sein Buch lesen und sich über diesen Ort sehr wundern.

Anfangs wusste er noch nicht, was es für ein Buch werden würde – ein sachliches Geschichtsbuch oder eher so etwas wie eine Autobiographie –, aber er glaubte, dieses Buch würde ihm die Möglichkeit geben, einige persönliche Probleme anzugehen, die ihm seit Jahren zu schaffen machten – zum Beispiel, dass er uninteressant und daher einsam war. Er würde dem Leser durch seine Schreibweise versuchen zu vermitteln, dass er einsam war. Es wäre zwar vordergründig eine Geschichte oder eine Biographie des Ortes, tatsächlich aber ein Buch über seine Einsamkeit. Es würde nicht ausgesprochen werden, aber das wäre das Thema, auf das Kritiker und besondere Leser anspringen würden, und er hoffte, eines Tages würde ein Rezensent in der Großstadt, oder vielleicht sogar im Ausland, in einer Zeitung oder einem Magazin sein Buch als entscheidende Abhandlung über die Einsamkeit bezeichnen.

Noch bevor er zu schreiben begann, dachte er allerdings zu lange und zu angestrengt über das Buch nach, und so verlor er die Hoffnung, dass jemals jemand Wichtiges es lesen würde. Aber vielleicht würde es wenigstens bei den Leuten im Ort auf Interesse stoßen. Monatelang recherchierte er, bevor er auch nur einen Satz schrieb. Er lernte dabei viel Neues, aber nichts davon war interessant. Er erfuhr zum Beispiel, dass der Lokalabgeordnete an einem Lungenkollaps gestorben war, und er fand heraus, welche Geschäfte es früher auf der Hauptstraße gegeben hatte. Im Archiv des Gemeinderats las er Aufzeichnungen über Eröffnungen von Schulen und Banken. Er fand Fotos von altmodisch gekleideten Männern und Frauen, die auf der Hauptstraße standen und mit leerem Blick in die Kamera starrten, während irgendein Politiker ein Band durchschnitt. Er las von Disputen über den Bau von Straßen und Einkaufszentren. Er fand Anekdoten über gewisse wohlhabende Bauernfamilien, die nur für die Nachkommen jener Familien interessant sein konnten.

Ihm wurde schnell klar, dass es unmöglich war, mit der Geschichte des Ortes bei seinen Lesern die Gefühle hervorzurufen, die er hervorrufen wollte. Die Leute würden schon auf der ersten Seite merken, wie unglaublich langweilig das gesamte Buch sein würde. Er konnte nicht beginnen mit »der Ort wurde im Jahre soundso von dem und dem Entdecker oder Siedler gegründet«, weil diese Informationen nirgendwo zu finden waren. Er konnte nicht mal eine ungefähre Schätzung abgeben.

Er war überzeugt davon, wenigstens diese grundlegenden Fakten kennen zu müssen, um die Geschichte des Ortes aufschreiben zu können. Und er konnte sein Buch nicht mit der ältesten Nachricht beginnen, die er gefunden hatte, weil es eine besonders langweilige war: dass es im Jahre 1932 eine Dürre gegeben und Joe McGee sein gesamtes Vieh verloren hatte. Seiner Meinung nach musste der Anfang eines Buches, offensichtlich oder unterschwellig, signalisieren, worum es in dem Buch ging. In dem Buch, das er schreiben wollte, hatte totes Vieh nichts zu suchen.

Er verlegte sich also auf den autobiographischen Ansatz, stieß dabei jedoch auf ähnliche Probleme, vor allem, dass er keine interessante Person war. Er war geboren worden, in die Grundschule gegangen, dann auf die Oberschule, hatte dann zunächst als Hilfskraft angefangen in der Bücherei zu arbeiten und war später zum Bibliothekar befördert worden. Sein Leben war anstrengend gewesen, ermüdend, ohne besondere Hochgefühle, aber auch ohne die diversen harten Kämpfe, über die Leser so gerne lasen.

Zweifellos hatte er viele Empfindungen gehabt, vieles gesehen, und manches davon hatte einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen. Eine Weile lang bildete er sich ein, er könnte diese Erlebnisse und Gefühle so aufbereiten, dass es andere Menschen berühren würde. Es gab viele Details aus seinem Leben, die ihm im Nachhinein wie aus einem Traum erschienen, prickelnd und denkwürdig, wie eine Liedzeile, in der die Essenz von allem zu liegen scheint. Wenn die Bewohner des Ortes etwas mehr Kunstsinn gehabt hätten, hätte er vielleicht ein Buch nur über diese kleinen Details geschrieben, aber sie hatten keinen Kunstsinn. In seinem Buch würden Dinge passieren müssen. Interessante Dinge.

Doch er merkte bald, dass er unfähig war, sich gute Geschichten auszudenken. Einer seiner missratenen Entwürfe handelte von einer politischen Verschwörung, in die mehrere Geschäfte auf der Hauptstraße verwickelt waren, und er bildete sich ein, er könne damit im Ort einen Skandal auslösen und dabei gleichzeitig über seine Einsamkeit schreiben. Er würde seiner winzigen Leserschaft eine Freude machen, einfach indem er auf die ein oder andere Weise über sie schrieb. Vor Spannung würden sie sein Buch bis zur letzten Seite lesen, bis sie am Schluss das Thema Einsamkeit nicht mehr ignorieren könnten. Aber er hatte von Politik keine Ahnung, und er wusste auch nicht, wie man Dialoge schrieb oder spannende Handlungsstränge konstruierte. Letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er wahrscheinlich kein Schriftsteller war.

Dummerweise hatte er jetzt immer noch nichts, wo er seine Einsamkeit hintun konnte. Sie war einfach nur in ihm, ohne jeden Zweck. Er konnte seine Einsamkeit gar nicht richtig genießen, weil sie keinen Nutzen für ihn hatte, und mit einem einfühlsamen Leser konnte er sie auch nicht teilen. Mit mir darüber zu reden, reiche noch nicht, sagte er – und ich erinnere mich, wie er in diesem Moment etwas zu energisch auf mich zeigte –, denn er wolle die Einsamkeit in etwas Bedeutungsvolles verwandeln. Doch die Zeit, in der jemand wie er ein Buch wie dieses hätte schreiben können, sei lange vorbei. Man schreibe eigentlich überhaupt keine Bücher mehr, sagte er, es sei denn, sie spiegelten die Zerstörung von weit entfernten Städten wider, kleinen wie großen, Orten, an denen die Last des Untergangs der Welt spürbar werde als langsamer, qualvoller Verfall. Nicht wie in diesem Ort, wo ein solches Trauma wahrscheinlich überhaupt nicht wahrgenommen würde, höchstens als Fiktion oder als eine Abfolge nackter Zahlen und Tabellen.

Ein anderer Besucher kam in die Bücherei, und der Bibliothekar wandte sich ihm zu. Ich war hier sowieso fertig, es gab ja keine Heimatkunde-Abteilung. Es gab allerdings viele Bücher über die große Stadt an der Küste, voller Schwarz-Weiß-Fotos von Männern und Frauen am Strand, von Rettungsschwimmern, die vor ihren Hütten standen, und von ernsten Frauen, die in Strandbuden Fish and Chips verkauften.

* * *

Am frühen Nachmittag saß ich meist im Pub am Ende der Straße und trank ein Bier. Der Pub war wie die meisten Pubs im Ort: klebriger Teppichboden mit Blumenmuster, eine Ecke für Sportwetten, Bistromobiliar aus Hartplastik. Der Bistroteil in diesem Pub wurde jedoch nicht bewirtschaftet. Die Barkeeperin war eine Frau namens Jenny, und von Jenny erfuhr ich vieles von dem, was es über den Ort zu wissen gab.

Ich saß immer in Hörweite von Jenny. Bei meinem ersten Besuch fragte sie mich, von wo ich sei, und ich log, ich sei aus einem anderen Bundesstaat hergezogen. Sie fragte mich, weshalb ich hier sei, und ich sagte ihr, ich arbeitete an einem Buch über die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen von New South Wales.

Jenny interessierte sich nicht für mein Buch, und sie tat auch nicht so, als würde sie sich für Meranburn interessieren, als ich ihr davon erzählte. Ich listete ihr auf, was ich seit meiner Ankunft über den Ort in Erfahrung gebracht hatte – hauptsächlich, dass es darüber nichts zu wissen gab. Da stimmte sie mir zu.

Jenny hielt sich oft lange im Keller auf und werkelte an den Zapfanlagen herum. Manchmal klopfte sie auch den Staub aus der Bettwäsche in den Zimmern über dem Pub, die sie vermietete. In Jennys Pub gab es keine Gäste. Niemand hörte dem Lokalradio zu, das leise aus den versteckten Lautsprechern drang, oder dem Gebimmel der Pokerautomaten oder den Pferderennen im Fernsehen. Auf einem Bingo-Bildschirm in einer Ecke blitzten scheinbar wahllos Zahlen auf und gaben den nicht anwesenden Spielern zu verstehen, dass es gerade um viel ging.

Meine Gespräche mit Jenny waren geprägt von ihrem Widerwillen. Ich fragte sie etwas über den Ort und reimte mir die Antwort aus dem zusammen, was sie angeblich nicht wusste. Sie tat so, als würde alles, was ich sagte, ihren Standpunkt unterstreichen, selbst wenn wir gegensätzliche Meinungen hatten oder wenn sie überhaupt keine Meinung vertrat. Ihr war vollkommen egal, weshalb ich mich für den Ort interessierte.

Ich fragte Jenny, wann und wie der Ort gegründet worden sei, doch sie sagte, er sei nicht gegründet worden. Zu glauben, ein Ort sei gegründet worden, sei für sie der Gipfel der Arroganz. Irgendwann hätten eben Leute angefangen, hier zu leben.

Ich überlegte, dass man sich vielleicht wegen irgendeiner geographischen Gegebenheit hier niedergelassen hatte – zum Beispiel dem kleinen Bach hinter dem KFC und den angrenzenden Tankstellen. Sie gab zu, dass ich recht haben könne, der Bach sei für die Leute früher vielleicht wichtig gewesen. Vielleicht habe man damals direkt aus dem Bach getrunken.

Dazwischen gab es lange Phasen des Schweigens. Jenny wischte die Theke ab und polierte die Gläser oder schaute in die Münzschalen der Pokerautomaten, während ich mein Bier trank. Dann stellte ich eine Frage, und wir fingen an, uns zu streiten.

Sie wusste nicht, wie alt der Pub war. Sie vermutete, ihr Vater habe ihn von irgendjemandem gekauft, und jetzt war sie eben hier. Warum wollte ich das überhaupt wissen?

Ich sagte, ich wolle halt herausfinden, wie alt der Ort sei.

Sie machte eine Geste, dass das genau ihr Punkt sei. Du stellst eine Frage, keifte sie, und erwartest eine völlig andere Antwort. Und du willst ein Sachbuch schreiben!

An manchen Tagen sagten wir gar nichts, außer um die Transaktion rund um das Bier abzuwickeln. Obwohl der Pub immer leer war, schien sich Jenny keine Gedanken um ihre Existenz zu machen, und sie behandelte mich auch nicht mit irgendeiner Form von Dankbarkeit. Sie ging ihrer Arbeit nach, als wäre Stille der natürliche Zustand des Pubs, und wenn sie mir ein Bier zapfte, tat sie es so, als würden noch andere Gäste warten. Jenny hatte sich ihr Auftreten als Barkeeperin sicher irgendwann mal in Gegenwart vieler Gäste angeeignet und dabei wahrscheinlich auch alle Arten von Klatsch und Tratsch mitbekommen, die mit dieser Arbeit einhergingen. Keine noch so idiotische Unterhaltung war ihr fremd – sie hatte schon alles gehört und anscheinend gelernt, nachsichtig zu sein gegenüber dem Gewäsch, das Biertrinker von sich gaben. Meine Gespräche mit ihr fielen allerdings nur selten in diese Kategorie.

Eines Tages erzählte sie mir in einem plötzlichen Anfall von Redseligkeit, dass der Ort gleichzeitig schrumpfe und sich ausdehne. Genauer gesagt: Der Orte dehne sich nach außen hin aus, während die Zahl der Einwohner sinke. Ich fragte sie, woher sie das wisse, aber sie konnte mir keine genauen Zahlen nennen und knallte die Kasse zu.

Ein paar Tage später führte Jenny den Gedanken weiter aus. Sie hatte beobachtet, dass sich der Ort immer leerer anfühlte. Sie wusste nicht, wo die Leute waren. Vielleicht blieben sie nur öfter zu Hause. Vielleicht zogen sie weg. Sie zündete sich eine Zigarette an, was hieß, dass sie jetzt etwas erzählen wollte.

Es habe eine Zeit gegeben, da hätten ältere Männer und Frauen bei ihr an der Bar gesessen und ihr stundenlang ein Ohr abgekaut, über Football, über Streitigkeiten im Ort, manchmal sogar über das große Weltgeschehen. Das ganze Gerede hatte die Tage schneller vergehen lassen, und obwohl sie selbst nie zu Wort gekommen war – selbst wenn sie gewollt hätte –, hatte sie es irgendwie ganz interessant gefunden, was die alten Leute zu den wichtigen Themen des Tages zu sagen gehabt hatten.

Aber dann, scheinbar im Laufe von nur einer Woche, hatten die Leute zu sterben begonnen. Erst war Ron Fenton an einem Schlaganfall gestorben. Dann war Rhonda Gardner tödlich gestürzt. Dann waren verschiedenste Krebserkrankungen diagnostiziert worden und Herzleiden, die eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung erfordert hatten, und Zimmer in Pflegeheimen waren gebucht worden, und die wenigen Männer und Frauen, die dann noch in den Pub gekommen waren, waren zu verstört gewesen, um entspannt über die Probleme des Tages zu sprechen. Sie hatten sich eingeigelt, hatten in nachdenklicher Stille auf ihren Stühlen gesessen und waren irgendwann einfach nicht mehr gekommen. Das Leben war abstoßend geworden. Es schien kein besonderes Interesse an ihrem Wohlergehen zu haben.

Jenny vermutete, die Leute im Ort hatten bis dahin geglaubt, die natürliche Ordnung arbeite zu ihren Gunsten und ihnen selbst würde womöglich nie etwas Schlimmes zustoßen. Aber die Generation der alten Menschen war nach und nach gestorben, oftmals ohne jede Würde, entweder vereinsamt oder infolge einer langwierigen, erbarmungslosen Krankheit, und niemand von ihnen hatte je damit gerechnet, dass so etwas passieren könnte. Aber es war passiert. Die schrecklichen Dinge aus dem Fernsehen und aus den Zeitungen schienen auf einmal näher gerückt zu sein. Diese Menschen hatten in einer Zeit gelebt, in der nie etwas Schlimmes passiert war, weder in diesem Ort noch im Rest des Landes. Schlimme Dinge waren nur den Menschen in weiter Ferne zugestoßen. Das Alter und der nahende Tod hätten diese Wahrnehmung verändert, wie es wahrscheinlich, so überlegte Jenny, bei allen alten Menschen der Fall sei. Dazu komme, dass die Welt tatsächlich immer lebensfeindlicher werde. Aber nicht hier. Sie deutete in Richtung der Pferderennen im Fernsehen. Noch nicht.

Während meiner Sitzungen in Jennys Pub trank ich nie sehr viel. Ich wusste nicht, wie man sich betrank. Jedes Mal stieg mir nach drei Gläsern Bier der Alkohol in den Kopf, und ich ging nach Hause und legte mich hin oder schrieb die Unterhaltungen auf, die ich mit Jenny im Pub geführt hatte, bevor ich zur Arbeit im Woolworths ging. Alles, was Jenny gesagt hatte, schien falsch, sobald ich es aufgeschrieben hatte.

Eines Tages erzählte ich Jenny, ich tränke deshalb nie mehr als drei Bier, weil ich nicht wisse, wie man sich betrinke.

Du kommst ganz offensichtlich nicht von hier, sagte sie.

* * *

Sonntagmorgens lag der Ort wie verlassen da. Die meisten Läden blieben geschlossen, und in den wenigen, die aufmachten, waren keine Kunden. Nur an den Tankstellen und in den Fast-Food-Restaurants entlang des Highways war etwas los.

Der Highway war die eigentliche Hauptstraße des Ortes. Autos verstopften die Drive-ins und die Parkplätze der KFC- und McDonald’s-Filialen, während an den Tankstellen die Tankwarte umherliefen, die Zapfsäulen bedienten und Heuschrecken-Innereien von Windschutzscheiben kratzten. Besucher fuhren mit einer gewissen Zwiespältigkeit durch den Ort. Nur wenige bogen nach links oder rechts in Richtung Ortszentrum ab, aber diese wenigen erwartete eine kaum spürbare Traurigkeit. Der Ort schien sonntagmorgens in der Landschaft zu verschwinden, und die Untätigkeit der Bewohner bekam etwas Bemitleidenswertes. Wenn man auf einer langen Fahrt vom Land in die Stadt durch den Ort kam, wirkte die Welt auf einmal noch größer und unbegreiflicher. Wie waren diese Menschen hierhergekommen, und warum blieben sie hier?

Der vierspurige Highway führte von der Stadt bis in das Zentrum des Kontinents. Der Ort konnte sich glücklich schätzen, hier zu liegen, verbunden mit einem Woanders. Und trotzdem sahen nur wenige Bewohner in dem viel befahrenen Highway einen wirklichen Weg aus dem Ort hinaus, in die Ferne. Er war vielmehr die Richtung, aus der Menschen hierherkamen.

Rob arbeitete an einer der fünf oder sechs Tankstellen, die am Highway lagen. Er konnte schon aus der Entfernung erkennen, ob jemand vom Land kam oder aus der Stadt. Wenn sie vom Land kamen, waren ihre Windschutzscheiben und ihre Scheinwerfer mit Heuschrecken verkrustet. An den Autos der Stadtbewohner klebte der Stadtschmutz. Man kann mit den Fingern tiefe Furchen in diesen Schmutz graben, sagte er. Abgase und Dreck.

Alle Besucher stellten für die Ortsbewohner eine diffuse Bedrohung dar, die weit in der Ferne lag, doch unbestritten war. Denen aus der Stadt konnte man nicht trauen, und von denen aus dem tieferen Hinterland glaubte man, sie könnten einen authentischeren Anspruch auf den Status als Landbevölkerung geltend machen als man selbst. Die Stadt war immer die Stadt, während das Land – das weit westlich gelegene Land – hoffnungslos und abgeschieden war. Die Stadt bestand außen aus dichten Vororten und innen aus großen Häusern, das Land hingegen war nur ein Schemen aus flachen bräunlichen Wiesen und Schotterpisten. Der Ort war irgendwas dazwischen. Es gab daran nichts auszusetzen.

Aus der Stadt kommen nur Araber, Asiaten und Kanaken, erklärte Rob. Normale weiße Leute, Bauern, Unternehmer, Sozialschmarotzer, die kommen alle vom Land, und dabei zeigte er in Richtung Westen. Besonders die Sozialschmarotzer.

An zwei Sonntagen hintereinander entschloss ich mich, zu Fuß an dem Highway entlangzulaufen, einmal nach Westen und einmal nach Osten. In westlicher Richtung dünnte der Ort immer weiter aus, bis hin zu einem einsamen Autohaus, dessen verblichene bunte Fähnchen schlaff in der Hitze hingen. Als ich weiter nach Westen sah, erkannte ich in der Ferne das Schimmern, einen unheilvollen Dunst am Horizont, der eine unüberwindbare Grenze zu verschleiern schien. Wenn man nach Osten lief, lockten einen die Straßenschilder mit ihren dreistelligen Zahlen, die die Entfernung zur Küstenstadt in Kilometern anzeigten. Auf den Schildern standen auch die Namen anderer Orte, aber keiner davon sagte mir etwas. Hatte irgendjemand mal nachgeschaut, ob es sie überhaupt gab?

Das sind Ortschaften, sagte Jenny. Natürlich gibt es die.

Sonntagmorgens wusste ich im Ort nie etwas mit mir anzufangen. Man konnte ein paar Stunden des Tages damit totschlagen, aus dem Fenster zu starren. Manche Leute grillten mittags vielleicht in ihren Gärten, andere guckten Football. Ich konnte nichts tun, außer Bier zu trinken und die Lokalzeitung zu durchforsten nach Hinweisen zur Entstehung des Ortes oder, besser noch, auf dessen Zukunft.

Jenny sagte, sie wisse weder, wie viele Einwohner der Ort habe, noch, wie alt er sei, oder was sein Name bedeute, wie viele Häuser es hier gebe, was seine Einwohner dächten oder was seine Lieblingsfarbe sei. Es ist nur irgendein scheiß Ort, keifte sie mich an, drehte bei den Pferderennen den Ton lauter und verließ den Raum.

Abends, wenn ich das Gefühl hatte, ungestört umhergehen zu können, suchte ich in den Straßen nach Anzeichen dafür, dass ich hierhergehören könnte. In manchen Momenten schienen mir bestimmte Umgebungen aus bestimmten Winkeln zu suggerieren, dass dies vielleicht ein Ort war, von dem ich irgendwie ein Teil werden könnte. Die grünliche Wand eines zweistöckigen Reihenhauses, die dem Gehweg zugewandt war, auf dem vor allem nachts noch die Überreste einer gewissen Feuchtigkeit zu spüren waren, schien zu einem Ort zu gehören, an dem ich möglicherweise meine Wurzeln finden würde. Es erforderte ein hohes Maß an Konzentration, diese Hinweise zu erkennen, schemenhaft, wie sie waren. Sie offenbarten sich mir meist, wenn ich in den sternenhellen Nächten die Ziegeldächer der ältesten Gebäude im Ort anschaute. Diese Eindrücke entstanden immer am Rand irgendeines Gebäudes, und immer, wenn man dann versuchte, die gesamte Umgebung zu überschauen, ging dabei dieses seltsam angenehme Gefühl verloren, bereits dort gewesen zu sein. Ich hatte schon länger vermutet, dass Willenskraft allein nicht ausreichte, um eine bedrückende Umgebung in eine einladende zu verwandeln, doch die seltenen kleinen Erfolge, so vergänglich und unbefriedigend sie auch waren, ließen es mich weiter versuchen.

Meine Bemühungen, diese Empfindungen zu konservieren, um sie dann sporadisch auf die Fläche der gesamten Ortschaft anzuwenden, scheiterten jedes Mal. Ich hatte noch die geringe Hoffnung, dass, wenn diese kleinen Lichtblicke existierten, diese leuchtenden Winkel, sie dann vielleicht schon ihren eigenen Kampf führten gegen die kalte, undeutliche Ausdehnung. Vielleicht gab es innerhalb der Ortschaft noch eine andere, parallele Ortschaft, spärlich bevölkert von verloren umherstreifenden Menschen, die beschäftigt waren mit ihrer eigenen Suche nach einem versteckten Winkel, der ihnen eine Erinnerung an ihr Zuhause ermöglichte.

* * *

Ciara war Robs Freundin, und sie kam aus dem Ort. Rob legte Wert darauf, zu sagen, dass sie aus dem Ort kam. Er lebte nur in dem Reihenhaus, weil es zufällig seinen Eltern gehörte, und neben seiner Arbeit an der Tankstelle am Highway studierte er an der Technischen Hochschule.

Rob erzählte mir, er und Ciara seien ein ungewöhnliches Paar, weil es für Studenten der Technischen Hochschule nicht sehr erstrebenswert sei, mit Leuten aus dem Ort Beziehungen zu haben. Es sei in Ordnung, Beziehungen mit Frauen aus anderen Ortschaften zu haben, aber am angesehensten sei es, Beziehungen mit Frauen aus der Stadt zu haben. Allerdings gestand mir Rob, er habe noch nie jemanden aus der Stadt kennengelernt.

Sie ist schon ’ne ganz schön Einheimische, aber das juckt mich nicht, sagte Rob manchmal.

Ciara war oft bei uns, und wir verstanden uns gut. Sie schien sich immer dafür zu interessieren, was ich gerade tat. Wenn ich zum Beispiel in der Küche stand und mir Abendessen kochte, sagte sie so was wie, Und du kochst dir also grad was zu Essen, verstehe, und begann dann eine ausführliche Diskussion darüber, welches das beste Abendessen sei. Solches Geplauder führte dann jedes Mal zu langen, interessanteren Gesprächen. Ciara stellte mir so viele Fragen, dass ich irgendwann das Gefühl hatte, sie versuche, mich zu verstehen.

Eines Tages kam sie ins Haus, als ich gerade aus meinem Schlafzimmer ins Wohnzimmer ging. Sie fragte mich, was ich den Tag über gemacht hätte, und ich sagte ihr, ich hätte an meinem Buch über die verschwindenden Ortschaften im mittleren Westen von New South Wales gearbeitet. Ihre Reaktion darauf werde ich nie vergessen: Sie war von der Tatsache, dass ich ein Buch schrieb, beeindruckter als irgendwer sonst, den ich jemals getroffen hatte. Sie fragte mich, wann sie mein Buch lesen könne, und ich sagte ihr, sie sei jederzeit herzlich eingeladen, es zu lesen, wann immer sie wolle, auch genau jetzt, wenn sie es wünsche. Sie sagte, ich solle ihr eine Kopie machen und sie würde es dann später lesen.

Rob fragte mich ab und zu, ob es mich nerve, dass Ciara immer bei uns sei. Und es stimmte zwar, sie verbrachte viel Zeit bei uns, aber das störte mich nicht. Solange sie mich nicht an meiner Arbeit am Buch hindert, sagte ich, kann sie machen, was sie will. Rob sah weniger fern, wenn sie da war, und bevor sie vorbeikam, rasierte er sich sogar. Aus diesem Verhalten schloss ich, dass er in sie verliebt war.

Der Essiggeruch in Robs Haus wurde nur von dem Schimmelgeruch übertroffen. Hinter klebrigen Jalousien häuften sich auf den Fensterbrettern die Körper toter Fliegen, und staubige Spinnweben hingen von der Decke, von wo aus sie dem Teppichboden jeden Tag ein Stückchen näher kamen. Die beiden schien das nicht zu kümmern. Der Dreck war eine Übergangserscheinung, fast eine Notwendigkeit. Rob – und wahrscheinlich auch Ciara – wollte niemandem hinterherputzen, am wenigsten sich selbst. Jetzt gerade war zum Putzen keine Zeit, und während die Tage und Wochen verstrichen, schien der richtige Zeitpunkt dafür in immer weitere Ferne zu rücken, schien immer vermeidbarer. Es war ja schon lange nicht mehr klar, was im Leben von einem erwartet wurde. Bei älteren Menschen hätte der Schmutz etwas Depressives gehabt, doch bei Rob und Ciara wirkte er wie ein Akt der Rebellion. Manchmal lachte Ciara darüber. Als ich eines Abends gerade in die Küche kam, um mir Brot zu holen, sah ich sie, wie sie die zermatschten Nudelreste im Abflusssieb betrachtete und lächelte.

Das ist das Chaos, sagte sie. Du kannst alles haben, ein Dach und mehrere Wände, Strom, so viel Gas, wie du brauchst, fließendes Wasser, die Speisekammer voller Fertiggerichte, den Kühlschrank voller luxuriös prickelnder Getränke, ein Telefon für Notfälle, aber die Essensreste in deiner Spüle machen alles zunichte. Sie drehte den Wasserhahn voll auf und quetschte die Nudeln mit dem Zeigefinger in den Abfluss.

Sie fand den Schmutz witzig, weil er alles infrage stellte. Ihr gefiel die Boshaftigkeit des Schmutzes. Sie erzählte, es gebe in der Stadt so viele Kakerlaken, dass ganze Zimmer wirkten, als würden sie atmen, wie eine schwarze Lunge, bevor das Ungeziefer durch das Betätigen eines Lichtschalters auseinandergetrieben würde. Für die Städte sei der Dreck wichtig, durch ihn würde eine Stadt zur Stadt. Gleichzeitig erwarte man aber von den Städten, zivilisiert zu sein, sie müssten Vorteile haben, die Menschen wie wir aus der Ferne bewundern könnten. Diese Spüle hier – sie drehte das Wasser zu und wischte sich ihre Hände an ihrer Jeans ab – wäre wahnsinnig gerne eine Stadt-Spüle. Wenn man aus diesem Fenster – und sie zeigte auf das Fenster über der Spüle – auf viel höhere Gebäude blicken würde, auf eine Welt, in der die Dichte der Haushalte so groß wäre, dass das Chaos, rein statistisch gesehen, nur einen Steinwurf entfernt wäre. Das Chaos in diesem Ort hier existiert, wenn überhaupt, nur in den Abflusssieben, in den Zimmerecken, in dem Dreck unter den Kühlschränken, in den verlorenen Socken zwischen den Sofakissen, in den alten Gartenschuppen, die vollgestellt sind mit nutzlosen alten Geräten und Möbeln. Es ist ein erbärmliches Chaos, aber man kann kein Mitleid damit haben, man kann nur darüber lachen.

Nach ein paar Wochen hatte ich keine Lust mehr, immer nur auf Ciaras Fragen zu antworten, immer nur zuzuhören, wie sie sich über irgendwelche Probleme in der Welt erging, um die Stille zu überbrücken. Wenn ich nicht gleichgültig wirken wollte, musste ich ihr auch Fragen stellen.

Ich fragte sie, ob sie finde, der Ort sei mysteriös. Fand sie nicht. Ich fragte, ob sie jemals ein Buch über den Ort gelesen habe. Sie hatte noch nie ein Sachbuch gelesen. Sie las nur die Zeitung, weil sie der Auffassung war, die Aufgabe einer Zeitung bestehe darin, die merkwürdigsten und gewaltsamsten Ereignisse eines Ortes zusammenzutragen. Aber abgesehen von gelegentlichen Raub- oder Gewaltdelikten unter Alkoholeinfluss gab es in dem Ort keine Geheimnisse wie jene, über die in den größeren Zeitungen berichtet wurde. Dabei holte sie eine Ausgabe des Sydney Morning Herald von vor einer Woche hervor.

Eines Tages kam Ciara zu uns nach Hause und klopfte an meine Zimmertür. Sie sagte mir, sie habe die Auszüge aus meinem Buch über die verschwindenden Ortschaften gelesen, die ich ihr ausgedruckt hatte. Sie wollte sich setzen, um ihre Gedanken besser formulieren zu können, also bat ich sie herein und bot ihr meinen Schreibtischstuhl an. Ich war nicht nervös im Hinblick auf ihre Kritik, weil sie selbst ja keine Bücher schrieb.

Ihr Urteil fiel nicht gut aus. Sie könne nicht sagen, ob es in dem Buch um wahre Begebenheiten gehe oder um ausgedachte. Es sei zwar gut geschrieben, aber es wirke zu sehr, als wollte ich eine Erkenntnis aus dem Verschwinden der Ortschaften ableiten, wüsste letztendlich aber gar nicht, wie sie lauten könnte. Eigentlich überließe ich es also anderen, in den verschwindenden Ortschaften etwas Wichtiges zu erkennen, und sie befürchte, ich vergeudete damit nur deren Zeit.

Ciara fragte, was denn so wichtig sei an den verschwindenden Ortschaften. Ich sagte ihr, an den verschwindenden Ortschaften sei überhaupt nichts wichtig. Die verschwindenden Ortschaften waren das Gegenteil von wichtig, weil niemand von ihrer Existenz wusste und niemand, selbst wenn sie existierten, bisher ein Interesse daran gehabt hatte, über sie zu schreiben. Es gab keine Daten zu den verschwindenden Ortschaften, nur beiläufige Hinweise in den Büchern über größere Ortschaften, die nicht verschwunden waren, und verfallene Bahnhöfe an den Bahnstrecken, die ins Landesinnere führten. Hier und da gab es einen alten Wassertank oder ein einsames, von Ochsenmaul überwuchertes Kolonialgebäude oder einen zugenagelten Brunnenschacht oder eine Lichtung mit den Überresten eines Unterbaus, die auf eine schmale Hauptstraße hindeuteten. Es gab keine Erinnerungen, aber es gab Ortsnamen, die auf den Landkarten gestanden hatten.

Stell dir vor, sagte ich, dieser Ort hier würde in hundert Jahren verschwinden. Alles, wofür er steht oder was er darstellt, würde zu Staub zerfallen. Alles, was in diesem Ort jetzt von Bedeutung ist, würde in Vergessenheit geraten. Du kannst es dir nicht vorstellen, sagte ich. Du könntest ebenso gut glauben, es sei nicht wahr.

Das spiegelte zwar nicht die gesamte Bandbreite meiner Gefühle gegenüber den verschwindenden Ortschaften wider, aber Ciara nickte, wenn auch skeptisch. Ich hoffte, sie würde sich für nicht kompetent genug halten, um mein Buch zu verstehen, aber sie fuhr fort.

Sie erklärte, es könne kein Sachbuch sein, weil alles darin erfunden sei.

Das stimmte, ich hatte über viele Themen eigentlich nur Spekulationen angestellt, aber dadurch wurde das Buch nicht zwangsläufig fiktional. Nur weil etwas nicht überprüft werden konnte, war es nicht unbedingt ausgedacht.

Ich erwartete weitere Fragen zu meinem Buch, aber sie schien zu glauben, dass sie schon verstanden hatte. Sie tat so, als hätte ich sie überzeugt, und fragte mich dann, was ich sonst so den Tag über getrieben hätte.

* * *

Zu Anfang verließ ich nur selten die Gegend um den Ortskern. Weiter draußen, in den langen symmetrischen Rastern, wohnten die älteren und wohlhabenderen Leute, in diesen breiten Straßen, die bis auf die geparkten Limousinen vollkommen leer waren. Hier reihten sich Einfamilienhäuser, Tankstellen und asphaltierte Parkplätze aneinander, dazwischen einige modernere einstöckige Wohnhäuser.

In den Außenbezirken wirkte der Ort unorganisiert. Die Straßen schlängelten sich zwischen Backstein-Wohnsiedlungen und unbebautem Land hindurch und mündeten dann in großen Brachflächen, die übersät waren von kaputten Haushaltsgeräten und gefällten Eukalyptusbäumen. Es gab keinen Ausweg aus diesem Labyrinth, außer in die Richtung, aus der man gekommen war. Die Sonne brannte ungehindert auf alles nieder, bis es braun war und grau und jede andere stumpfe Farbe dazwischen angenommen hatte.

Ich fragte Rob, ob er diese tentakelartigen Straßen schon einmal erkundet habe, aber er wusste nicht mal, dass es sie überhaupt gab. Seit er denken konnte, besaß seine Familie ein prächtiges Kolonialgebäude in den Ausläufern des Ortszentrums, wo die Straßen von eigens importierten Laubbäumen gesäumt waren.

Ich fragte Jenny, warum diese Tentakelstraßen in den Randbezirken so seltsam verliefen, aber sie antwortete mir nur, das sei nun mal so.

Was interessierst du dich überhaupt so für Straßen, fragte sie.

Für diejenigen, die kein Auto hatten, gab es im Ort nur einen Bus. Er fuhr morgens um halb neun im Zentrum los und steuerte dann eine Stunde lang im südlichen Teil der Ortschaft verschiedene markante Punkte an. Dann fuhr er jede einzelne der Tentakelstraßen entlang, rumpelte durch den Norden des Ortes und war rechtzeitig für ein spätes Mittagessen zurück an der Endstation. Von da aus fuhr er danach dieselbe Route noch einmal ab.

Der Busfahrer war ein Mann namens Tom. Er fuhr, öffnete an den Haltestellen die Türen, wartete zehn Sekunden und fuhr dann weiter.

Eines Tages wartete ich an einer dieser Haltestellen. Tom fragte, wohin ich wolle, und ich sagte, ich wolle nirgendwohin. Ich wolle mir nur mal von einem Bus aus einen Überblick über den Ort verschaffen.

Nun, das ist die beste Art hier, den gesamten Ort zu sehen, sagte er. Der Bus fährt überallhin. Die Route ist sehr weitläufig, allerdings leider auch völlig nutzlos. Vom Ende jeder Straße dauert es zwei Stunden, um zu Fuß bis zum Ortszentrum zu laufen, während es mit dem Bus von jedem Punkt auf der Strecke zweieinhalb Stunden dauert, um den gleichen Weg zurückzulegen. Es wäre sinnvoll, wenn es noch einen Bus und eine zweite Buslinie gäbe, sagte Tom. Noch sinnvoller wäre es, wenn es zwei weitere Busse und insgesamt drei Buslinien gäbe. Aber da selbst mit diesem Bus hier niemand fährt, weigert sich die Ortsverwaltung, mehr Busse zu kaufen oder weitere Busfahrer einzustellen.

Die Tentakelstraßen schienen nicht wirklich zum Ort zu gehören. Viele der Gebäude waren nur Musterhäuser, und im Gegensatz zum Ortszentrum gab es hier kaum Bäume, nur ein paar beschnittene Büsche und verkrüppelte Baumstümpfe.