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Wiener Vorlesungen

Band 196
Herausgegeben für Stadt Wien Kultur
von Daniel Löcker

Jahrespublikation 2019

Copyright © 2020 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Informationen zu den Wiener Vorlesungen unter
www.wienervorlesungen.at

Informationen über das aktuelle Programm
des Picus Verlags und Veranstaltungen unter
www.picus.at

Petra Schaper Rinkel ist Politikwissenschaftlerin und Innovationsforscherin. Seit Oktober 2019 ist sie Professorin für Wissenschafts- und Technikforschung des digitalen Wandels und Vizerektorin für Digitalisierung an der Karl-Franzens-Universität Graz. Forschungsschwerpunkte: Digitalisierung, Zukunftstechnologien und die Praxen des »Zukunft-Machens« – Utopien, partizipative Zukunftsprozesse, Szenarien und Meta-Narrative der Zukunft. Ihre Publikationen und Vorträge verbinden gesellschaftstheoretische Fragen mit Ansätzen der Gestaltung und Gestaltbarkeit von Zukunftstechnologien.

Petra Schaper Rinkel

Fünf Prinzipien
für die Utopien von Morgen

Picus Verlag Wien

Inhalt

Vorwort

Vorbemerkung

Einleitung

Literatur

Die Wiener Vorlesungen

Vor mehr als dreißig Jahren wurde ein ebenso unverwechselbares wie hochkarätiges Wissenschaftsformat ins Leben gerufen: die Wiener Vorlesungen. Fächerübergreifend setzen sie sich mit den großen wissenschaftlichen und intellektuellen Fragen unserer Zeit auseinander und bereichern so den Kulturkalender der Stadt Wien um einen wichtigen Erkenntnisraum.

Als Forschungsstandort und Universitätsstadt hat Wien eine Spitzenposition im mitteleuropäischen Raum inne und sieht es auch in ihrer Verantwortung, Impulsgeberin für aktuelle und zukunftsrelevante Fragestellungen zu sein. Die gesellschaftspolitische Relevanz von Wissenschaft steht dabei außer Frage: Bildung und Wissen sind wesentliche Grundlagen für ein selbstbestimmtes Leben und für eine funktionierende demokratische Zivilgesellschaft. Als ein sich ständig weiterentwickelndes Projekt der Aufklärung waren und sind die Wiener Vorlesungen »geistiger Initialzünder« für einen offenen und öffentlichen Diskurs, der nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Zirkel geführt wird, sondern ein breites Publikum als Beitrag für eine offene Gesellschaft erreicht.

Auch nach drei Jahrzehnten geben die Wiener Vorlesungen Anstöße für Kontroversen und behandeln jene Themen, die für die Stadt und ihre Bewohnerinnen und Bewohner besonders relevant sind. Ein an Fakten und Informationen übersättigter Raum, die oft rasche Folge wissenschaftlicher Erkenntnisse und die mitunter damit einhergehenden Problematiken verlangen einen stärkeren öffentlichen Diskurs über die Voraussetzungen und Folgen von Forschung. Hier bietet das lebendige und innovative Veranstaltungsformat der Wiener Vorlesungen ein Navigationssystem und fungiert als »Informationskatalysator« für neue Erkenntnisse aus zeitgenössischen Forschungswerkstätten und Labors. Es kann dazu beitragen, Dimensionen abzuschätzen, Fragen zu bewerten und Entscheidungen zu treffen. Und vielleicht auch zum richtigen Handeln in unübersichtlichen Zeiten zu kommen.

Die Wiener Vorlesungen werden künftig insbesondere Wissenschaftlerinnen noch stärker einbeziehen. Der weiblichen Stimme der Forschung Gehör zu verschaffen, ist bedauerlicherweise nach wie vor keine Selbstverständlichkeit. Wir arbeiten daran, auch in diesem Bereich Vorurteile abzubauen.

Die Schauplätze der Wiener Vorlesungen sind vielfältig wie das Programm selbst: Sie verwandeln das Rathaus in eine temporäre offene Stadtuniversität ebenso wie sie eine Vielzahl anderer Orte in vielen Bezirken der Stadt zu Stätten der Bildung und des aktiven Austauschs transformieren.

Im Fokus der Wiener Vorlesungen steht mehr denn je die Kommunikation mit einem offenen und neugierigen Publikum. Es werden daher prominente Denkerinnen und Denker im Sinne einer zeitgemäßen Wissenschaftsvermittlung eingeladen, ihre Erkenntnisse und Einsichten mit der Bevölkerung zu teilen und einen offenen Dialog zu führen. Dazu ist kein Studium nötig, das ideale Publikum hat kein Alter, keine Titel, aber eine große Wachheit und eine unbändige Neugier auf das Neue, das Unbekannte und brennende gesellschaftliche Fragen.

So bieten die Wiener Vorlesungen einen faszinierenden Einblick in die Werkstatt der Wissenschaft, der die Vielfalt des Gesellschafts- und Geisteslebens unserer Zeit widerspiegelt und den Blick für die Differenziertheit und Diversität der Gegenwart schärft.

Veronica Kaup-Hasler

Stadträtin für Kultur und Wissenschaft

Vorwort

Das Jahresthema der Wiener Vorlesungen 2019 frei nach dem Motto »Wien 2050« war den Möglichkeiten, Chancen und Herausforderungen, die uns in den nächsten Jahrzehnten erwarten können, und dem vorstellbaren Wandel von Arbeits- und Lebenswelten gewidmet, die diese utopischen, aber auch dystopischen Möglichkeitsräume eröffnen. Dabei wurde deutlich, wie wichtig es ist, sich nicht nur mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern auch mit ihrer sinnvollen Vermittlung zu befassen. Die Stadt Wien als eine der führenden Universitätsstädte Europas, als größte im deutschen Sprachraum, aber auch mit ihren zahlreichen außeruniversitären Forschungseinrichtungen spielt dabei eine gewichtige Rolle. Einer der Förderungsschwerpunkte ist daher derzeit auch die Wissenschaftsvermittlung. Einzelne Initiativen betreiben interaktiv, kostenlos und zunehmend über die verschiedenen Wiener Bezirke verteilt eine wertvolle Vermittlungstätigkeit, insbesondere für die jüngere Generation. Auch die Wiener Vorlesungen und das Wissenschaftsreferat der Stadt Wien leisten einen verantwortungsvollen Beitrag dazu, Wissenschaft für neue Zielgruppen zu öffnen.

Im Rahmen des Jahresthemas »Utopie und Dystopie« wurde ein umfassender Bogen von heute noch utopisch anmutenden Ideen der Lebensführung bis zu den Möglichkeiten und Gefahren der genetischen Forschung gespannt, von der Frage nach einer digitalen Ethik und nachhaltigen Wirtschaftsmodellen in Anbetracht des Klimawandels bis zur literarischen Denkform der Utopie. Was wird, was soll uns künftig erwarten?

Die vorliegende Publikation greift einige dieser Fragen noch einmal auf und arbeitet die Wichtigkeit und die Prämissen heraus, Utopien als ernst gemeinte Gedankenexperimente zu verstehen.

Was hat uns nun die intensive Auseinandersetzung mit Aspekten zum Thema aus unterschiedlichsten Perspektiven gebracht? Es ist vielleicht die Erkenntnis, dass es die eine große, alles verändernde Utopie, auf die wir hinarbeiten und die die Lösung aller Probleme verspricht, nicht gibt. Von dieser Idee müssen wir uns wohl verabschieden. Diese Vorstellung verhindert ohnehin nur, dass wir selbst aktiv werden müssen. Aber wenn wir davon ausgehen, dass jeder und jede Einzelne von uns mit den individuellen Handlungsräumen, die uns zur Verfügung stehen, jeden Tag für ein heute vielleicht noch utopisch anmutendes Morgen eintreten können, sehen die Dinge anders aus. Viele kleine gute Ideen, zahlreiche zukunftsweisende Aktionen machen den Unterschied. Und dies auch vor dem Hintergrund eines »magischen Dreiecks«, das unsere Zukunft bestimmen wird: Klimawandel, Digitalisierung und soziale Nachhaltigkeit; ein Spannungsfeld, das Christoph Thun-Hohenstein im Katalog zur Vienna Biennale for Change 2019 beschreibt: Klimawandel und die damit verbundenen Maßnahmen des Menschen, den Planeten zu schützen, Digitalisierung als Motor gesellschaftlicher Veränderung und die Frage nach einer sozialen Nachhaltigkeit, einem gelungenen Zusammenleben in völlig neuen Arbeits- und Lebenswelten, einer notwendigen radikalen Umkehr auch beim Thema Klimaschutz. Alle drei Themenkreise beeinflussen einander wechselseitig, unsere Zukunft scheint davon abzuhängen, künstliche Intelligenz positiv zu nutzen und die aufgehende Schere zwischen der ökologischen und der sozialen Nachhaltigkeit in den Griff zu bekommen.

Dafür braucht es die Bereitschaft, sich einzumischen und mitzugestalten, Verantwortung übernehmen und einen Beitrag leisten zu wollen. Mit der Orientierung nach vorne wird Zukunft veränder- und machbar. »›Echte Zukunft‹ ist ein Prozess des Gestaltens und erfordert gestaltendes Handeln«, wie Petra Schaper Rinkel im vorliegenden Band schreibt. Von Menschen, die im Zentrum stehen, auch in Anbetracht eines mitunter uns selbst zu überholen scheinenden technischen Fortschritts, im Sinne einer gerechten und demokratischen Gesellschaftsordnung, den Werten von Aufklärung und Humanismus verpflichtet.

Daniel Löcker

Vorbemerkung

Ich danke der Wissenschafts- und Forschungsförderung der Kulturabteilung der Stadt Wien (MA 7), deren Förderung dieses Buch ermöglicht hat. Es ist ein Ergebnis des Projekts »Wiener Utopien & das utopische Wien« (http://utopien.wien), in dessen Rahmen wir uns intensiv mit Utopien auseinandersetzen konnten und mit vielen klugen Wienerinnen und Wienern Interviews zum utopischen Denken heute geführt haben, von denen einige im Folgenden auch zu Wort kommen.1 Und dieses Buch wäre nicht entstanden ohne Dorothee Frank, von deren grandioser Ö1-Radiokolleg-Serie »Glanz und Elend der Utopien« ich Teil sein durfte; die mich damit wieder zu dem Thema Utopien zurückgebracht hat und diesen Text durch intensives Feedback sehr bereichert hat. Und ich danke Dana Wasserbacher, Georg Schöllhammer und Barbara Streicher, die mir als utopistische Mitdenkerinnen im Projekt »Wiener Utopien« vielfältige Anregungen gegeben haben.

Petra Schaper Rinkel

1Die Interviews wurden von Dorothee Frank unter Teilnahme wechselnder UtopistInnen & MitdenkerInnen des Projekts geführt.

Fünf Prinzipien
für die Utopien von Morgen

Einleitung

Das Thema Utopien befindet sich im Aufschwung. Die Aktualität der Utopie ist offenkundig: Mit den spürbaren gesellschaftlichen Umbrüchen im Kontext von Digitalisierung, Automatisierung und Klimawandel stellt sich die Frage nach einer Zukunft, die sich von der Gegenwart fundamental unterscheiden könnte. In den frühen achtziger Jahren proklamierte Margaret Thatcher als eiserne Lady des Neoliberalismus: »There is no alternative.« Netze sozialer Sicherheit waren unter konservativ-neoliberaler Herrschaft schnell ruiniert, das Tafelsilber öffentlicher Infrastrukturen schnell privatisiert und der politischen Gestaltung fortan entzogen; doch schon Anfang der zweitausender Jahre hieß das Motto des Weltsozialforums: »Another world is possible.« Wie kann diese andere Welt aussehen? In gängigen Bildern der Zukunft sind die Hochhausstädte begrünt und die Fabriken menschenleer. Die Zukunft erscheint als feststehende Welt, auf die hin es sich selbst zu entwerfen gilt. Doch »echte Zukunft«2 ist ein Prozess des Gestaltens und dieses erfordert politisches Handeln. Und Handeln hin auf die gemeinsame Welt (und nicht den individuellen Schrebergarten) braucht Praxen, sich über mögliche Zukünfte und wie sie gestaltbar sind zu verständigen. Politische Utopien sind seit über fünfhundert Jahren das Medium für diese Verständigung: Erzählungen davon, wie Menschen in diesen hypothetischen Welten ganz konkret anders leben, lieben, wohnen, essen, arbeiten und Politik machen.

Heute wird weltweit ein ungeheurer Reichtum erzeugt: Der materielle Überfluss, der in weiten Teilen Europas und auf den Reichtumsinseln der Schwellenländer Alltag geworden ist, stellt alles in den Schatten, was in den Utopien der Vergangenheit vorstellbar war. Die fantastischen Technologien – mit der Automatisierung von fast allem – ebenfalls. Trotz des globalen Überflusses haben Hunderte Millionen Mädchen und Jungen keinen Zugang zu Bildung und keine ausreichende medizinische Versorgung. Ihre absolute ökonomische Abhängigkeit bedeutet Sklaverei; Menschenrechte gelten in weiten Teilen der Welt nicht. Damit stellen sich die gleichen Fragen, die die Utopien der Vergangenheit gestellt haben: Wie kann Freiheit und eine gerechte Verteilung von materiellen Gütern, von Bildung und Arbeit erreicht werden? Und wie können Institutionen aufgebaut sein, die Freiheit und ein gerechtes Zusammenleben ermöglichen? Auch wenn die Fragen denen der Vergangenheit ähneln, müssen die Antworten andere sein: Die Mechanismen der Produktion von Gewalt, Ungleichheit und Ungerechtigkeit haben sich verändert. Die globale Verallgemeinerung eines materiell verschwenderischen Lebens ist als hegemoniales Entwicklungsmodell mit dem Klimawandel an dessen Grenzen gekommen; und die hohen Ansprüche an individuelle Freiheit sind unhintergehbar. Heute geht es darum, mit der Beschleunigung und Globalisierung des technologischen und kulturellen Wandels adäquate Formen für demokratische Prozesse und Institutionen zu (er-)finden, um innerhalb der planetaren Grenzen der Erde zu wirtschaften, zugleich der Heterogenität individueller und kollektiver Wünsche gerecht zu werden und dabei in Freiheit handeln zu können3. Mit dieser Herkulesaufgabe steht nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Elmar Altvater »nicht weniger als die Transformation des Gesamtzusammenhangs von Natur und Gesellschaft des Planeten Erde auf der Agenda«.4