Unter der Sonne

 

 

Unter der Sonne

Teil 3: Horizont

 

 

Jannika Hauch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Buch & Autorin

 

Nichts regt sich unter der erbarmungslosen Hitze der Sonne. Fast nichts. Denn auf der Erdoberfläche kämpfen die letzten Menschen einen erbitterten Kampf um das Wasser - die letzte Hoffnung auf Leben. Melekai sieht der Sonne entgegen. In ihrem Licht erkennt er die Realität und Tiriin, die ihn in ihren Bann schlägt. Nun muss Melekai eine Entscheidung treffen ... (Teil 3 von 3)

 

Jannika Hauch studierte in Hamburg Psychologie. Nach ausgedehnten Reisen durch die ganze Welt ist sie nun angehende Psychotherapeutin und arbeitet mit traumatisierten Menschen.

Sie schreibt Science-Fiction und Gegenwartsliteratur mit einer Vorliebe für dystopische Stoffe.

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2019

In Farbe und Bunt Verlags-UG (haftungsbeschränkt)

Kruppstraße 82 - 100 | 45145 Essen

www.ifub-verlag.de

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte, auch die der Übersetzung, des Nachdrucks und der Veröffentlichung des Buches, oder Teilen daraus, sind vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Mike Hillenbrand

verantwortlicher Redakteur: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: E. M. Cedes

E-Book-Erstellung: E. M. Cedes

 

ISBN: 978-3-95936-179-8 (Ebook)

ISBN: 978-3-95936-180-4 (Print)

Das Fährhaus

 

»Leg ihm die Infusionsnadel an den anderen Arm, dann können wir ihm etwas Aufpäppelndes zu den Antikörpern spritzen.«

»Hast du das Spritzbesteck ausgekocht?«

»Hab ich, Mylka, liegt alles vorbereitet auf der Kommode.«

Ein kuppelförmiges Zelt aus Kunststofffolie breitete sich über ihm aus. Die Gestalten dahinter waren verschwommen zu sehen und erschienen durch die Falten in der Folie wie in Streifen geschnitten. Finger tasteten an seiner linken Armbeuge entlang, und er zuckte zusammen.

»Keine Angst«, sagte eine melodische Frauenstimme, und für einen kurzen Augenblick kam ein Gesicht so dicht an die durchsichtige Zeltwand heran, dass er Einzelheiten erkennen konnte. Glasblaue Augen, die Stirn von braunem Haar umrahmt, ein weinrotes Tuch um den Hals. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Er wollte sich die Arme um den Leib schlingen, fror aus unerfindlichen Gründen, doch Hände in Gummihandschuhen drückten seine Arme sanft zurück auf die Matte. Erst jetzt bemerkte er, dass er nackt war, dass das Schwindelgefühl verschwunden und das Brennen seiner Haut einem Spannungsgefühl gewichen war. Das leise Brummen eines Motors ließ ihn den Kopf heben.

»Bleib einfach ruhig liegen«, sagte sie mit Nachdruck, und die Hände legten sich an seine Schläfen und drückten seinen Kopf zurück auf die Matte.

»Willkommen im modernsten Sauerstoffzelt der Welt«, scherzte die zweite Stimme, und eine weitere Frau, kleiner als die andere, trat an sein Lager. »Die Sauerstoffdosierungsanlage ist zwar nicht mehr als ein gereinigter Filter mit Ventilator, aber sie erfüllt ihren Zweck.«

Die Frau war alt, ihr Haar mit grauen Strähnen durchzogen, der Rücken gebeugt. Ihr Gesicht kam so nah an die Folie heran, dass Melekai sehen konnte, wie sich die Falten um ihre Augen und ihren Mund zu einem Lächeln verzogen. Die Umrisse der anderen blieben unscharf.

»Ich werde dir gleich die letzte Dosis Antikörper spritzen, und wenn sich deine Atemleistung weiter verbessert, kannst du bald aus dem Zelt«, erklärte die Alte.

Er stöhnte, ein schwaches Hauchen nur, während sie seinen Arm festhielt und ein kurzer Schmerz die Nadel in seinem Arm ankündigte. Er wand sich, und die Hände fassten wieder an seinen Kopf.

»Du kannst ganz entspannt sein«, raunte die jüngere der beiden, und die glasblauen Augen trafen seinen Blick. »Wir wollen dir helfen.«

Er spürte die Flüssigkeit in seine Vene rinnen, dann den Schmerz, als die Nadel aus seiner Armbeuge gezogen wurde. Schüttelfrost überkam ihn, und Schweiß rann ihm von der Stirn.

»Warum reagiert er bloß so heftig auf die Immunisierung?«, murmelte sie. Melekais Oberschenkelmuskeln krampften sich zusammen, ein weiterer Kälteschauer überkam ihn. Er schaffte es nicht, den Blick zu fixieren, um irgendetwas in seinem Umfeld zu erkennen.

»Vielleicht ist er noch nie mit den Grippeviren in Berührung gekommen«, überlegte die Alte, deren runzliges Lächeln immer noch deutlich an der Kunststofffolie zu sehen war. Die Zeltwand ähnelte eher einem Flickenteppich aus Plastiktüten.

»Er war zu lange der Sonne ausgesetzt. Vermutlich ist sein Kreislauf deshalb zusammengebrochen«, sagte sie.

»Aber die Symptome ähneln denen, die die Trucker aus den Schichten zeigen, wenn sie zum ersten Mal nach oben kommen«, überlegte die Jüngere und hielt weiterhin seine Schultern fest, damit er nicht von der Matte fiel. »Als wäre er nicht an den höheren Sauerstoffanteil gewöhnt.«

»Deshalb lassen wir ihn noch eine Weile im Sauerstoffzelt. Du siehst ja selbst, dass er noch nicht genesen ist.«

»Wie lange dauert es noch, bis er aufstehen kann?«

»Frag ihn doch selbst, Tiriin. Ich muss mich jetzt um den Ofen kümmern. In zwei Stunden geht die Sonne unter.«

»Wann kannst du aufstehen?«, fragte Tiriin, und ihre blauen Augen kamen näher an die Zeltwand. Ihre Haut war heller als die der Alten, ihre Lippen entspannt, kein Lächeln. Durch ein winziges Loch in der Folie sah er einen Ausschnitt ihres linken Ohrläppchens und hellbraunes Haar. Erneut verkrampften sich seine Beine, und er zog sich stöhnend vor Schmerz zusammen.

»Hilfe«, flüsterte er und schlang sich die Arme um den bebenden Leib.

»Offenbar kommst du mit der Außenluft noch nicht zurecht«, entgegnete sie ungerührt und drückte ihn grob in eine gerade Position zurück. »Aber das hört bald auf. Die Sauerstoffdosierung gewöhnt dich ganz langsam an unsere Luft. Dann vergehen die Krämpfe und der Schwindel.«

Die Hände ließen von ihm ab, und ihr Gesicht verschwand.

Irgendwo ging eine Tür, und Wind ließ die Kunststofffolie knistern, wölbte Teile der Folie nach innen und berührte seine Haut.

»Hey Santo«, grüßte Tiriin.

»Kommt er zu sich?«, fragte der eintreffende Gast.

»Er braucht noch einige Zeit, bis er sich regeneriert hat. Die pralle Sonne scheint ihm den Rest gegeben zu haben«, antwortete sie.

»Was macht der Typ auch ohne Schutzkleidung da draußen? Wir hätten ihn überfahren können«, brummte der Mann, den Tiriin Santo genannt hatte.

»Vielleicht ein Nomade? Schicken die Verbände nicht auch hin und wieder jemanden auf Erkundungsgang voraus?«, überlegte sie.

Melekai konnte ihren Blick auf seinem Körper spüren.

»Nomaden sind seit Jahren nicht mehr in unserem Territorium aufgetaucht«, sagte Santo. Etwas klirrte.

»Immunisiert habt ihr ihn auch schon? Wir wissen nicht mal, wer das ist, und ihr verschwendet schon Medikamente an ihn?«

Tiriin seufzte.

»Wir verschwenden nicht mehr Ressourcen als du, wenn du das Feuer auf unbewaffnete Trucker eröffnest. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«

»Die Trucker vorgestern haben versucht, sich uns zu widersetzen.«

»Wenn sie ihre Drohung in die Tat umsetzen und wirklich beim nächsten Überfall die Grenzpolizei einschalten, haben wir ein größeres Problem als ein paar aufmüpfige Bauarbeiter. Willst du riskieren, dass das Basislager militarisiert wird? Meinst du, dann haben wir noch irgendeine Chance auf deren Vorräte?«

Melekai spürte ein kaltes Tuch, das Tiriin auf seine Stirn legte.

»Mach den Mund auf«, befahl sie, und wenig später floss Wasser über seine trockenen Lippen. Er trank gierig. Das Wasser hauchte ihm Leben ein. Sein Blick stellte sich scharf. Santo war ein breitschultriger Schatten mit nackten Oberarmen und kurz getrimmtem Irokesen-Haarschnitt, die Arme vor der Brust verschränkt. Er und diese Frau hatten ihn gefunden. Wo hatten sie ihn hingebracht? Offensichtlich war er nicht in einem der Container vom Basislager; der Raum um ihn her war weiter, die Decke mit Lichtspalten durchlöchert.

»Nach Sonnenuntergang trifft sich das Camp, um die Ausbeute unseres Einsatzes zu verteilen«, verkündete Santo. »Ich hoffe, bis dahin habt ihr euch einen anderen Schlafplatz für unseren Gast ausgedacht.«

»Der ist doch noch nicht mal bei vollem Bewusstsein, Santo, und du weißt ebenso gut wie ich, dass wir das Sauerstoffzelt nirgendwo sonst aufbauen können«, gab Tiriin zurück. Melekai griff mit der Hand ins Leere, ein Gefühl von Schwerelosigkeit; die Fingerspitzen berührten die Kunststofffolie.

»Melekai«, brachte er heraus, ohne den Kiefer zu bewegen.

Seine beiden Wächter beugten sich vor, die Gesichter dicht an der Plastikfolie, wie Zoobesucher.

»Spricht er überhaupt unsere Sprache?«, fragte Santo.

»Ich heiße Melekai«, er musste kurz pausieren, »Gormock.«

»Ich bin Santo«, stellte der Irokese sich vor, »und das ist Tiriin. Wir haben dich bei unserem Einsatz im Sand liegen sehen, in einem üblen Zustand, Mann. Gut, dass du endlich zu dir kommst.«

»Bin ich wieder in Eins?«, murmelte Melekai.

»Wo?«, fragte Santo und runzelte die furchige Stirn.

»Ich muss zu Amir Hadi«, brummte Melekai. »Von dort aus reise ich nach Hause.«

»Nein, nicht in Eins«, antwortete Tiriin und wandte sich Santo zu. »Er denkt, wir sind in der Erde, in der ersten Schicht. In Eins.«

»Bullshit«, stieß dieser hervor. »Wo kommst du her, Gormock? Was hast du ganz allein im Basislager der Hauptpipeline gesucht?«, wollte er wissen.

Melekais Blick verschwamm, und wieder begann er zu fliegen; Schüttelfrost wechselte Hitzewellen ab. Er würgte, doch sein Magen war leer. Schlotternd vor Kälte zog er die Beine an den Leib und presste die Stirn an die Knie. Ellis erschien vor seinem inneren Auge, ein Lächeln wie damals, als sie ihr Gesicht in seine Schlafröhre gesteckt hatte. Idris, die sich so dicht neben ihn setzte, dass sich ihre Hüften berührten, das Gefühl, wenn sie ihre Arme um ihn schlang und ihn an sich drückte, ohne Grund. Dann Jokke, der allein im Torbogen einer Metrostation stand, das gelbe Käppi in die Stirn gezogen. Oder war es ein Fremder? »Nächstes Mal wird’s besser«, flüsterte er, und Melekai streckte den Arm nach ihm aus.

 

Ω

 

Das Nächste, was er wahrnahm, war ein fremdartiger, rauchiger Geruch und das Gewirr vieler Stimmen. Jemand hatte ihm eine Wolldecke übergelegt. Er atmete tief ein und aus. Endlich fühlte er sich nicht mehr vergiftet von dieser kalten Luft. Im vorderen Teil des großen Raumes, hinter der Kunststofffolie nur verschwommen zu sehen, brannte ein Feuer, um das eine Menge Menschen saßen. Melekai setzte sich auf. Ein altes Feldbett, das auf zersprungenen Kacheln und festgeklopftem Buntstein stand. Eine Kanne voll trüben Wassers stand am Kopfende seines Lagers, und er leerte sie, ohne nachzudenken.

»Das ist nicht genug!«, meldete sich eine Frau unter den Versammelten zu Wort, und er erkannte die Stimme der Alten mit dem gebeugten Rücken. Melekais Lager stand weit genug entfernt von der Versammlung, dass niemand ihn bemerkte. Die Gespräche erstarben, als die Alte das Wort ergriff.

»Die letzten fünf Überfälle haben mehr als doppelt so viel Gewinn gebracht, und selbst damit kam es zu Engpässen in der Versorgung. Ein Karton Antibiotika und Wodkaflaschen. Das wird uns nicht über die nächsten Monate bringen, selbst wenn ich nur Notfälle behandele. Und was ist mit dem Wasser?«

»Die Grenzpolizei ist aufmerksam geworden«, sagte jemand, und ein Schatten erhob sich aus dem Kreis am Feuer. »Mit jedem weiteren Überfall steigt das Risiko eines Angriffs auf unser Camp.«

»Das hängt davon ab, wie eure Einheit den Überfall plant, Mars«, gab die Alte zurück. »Im Basislager sind mehr als genug Medikamente und Nährstoffpräparate gelagert, um die gesamte Belegschaft zwei bis drei Jahre durchzubringen.«

»Aber in die gepanzerten Transporter kommen wir nicht rein«, rief ein Mädchen dazwischen.

»Das entscheidet der Führer deiner Einheit, Tilde. Ich stelle nur fest, dass ihr es trotzdem versuchen müsst. Denn unser Vorrat reicht nicht. Die Ernte fällt dieses Jahr miserabel aus. Wir warten seit Wochen auf Regen. Die Panzerdepots dürfen schlicht und ergreifend kein Hindernis für euch darstellen«, machte die Alte klar, und das Mädchen namens Tilde setzte sich wieder.

Melekai beugte sich vor, um die Plane aus Plastiktüten anzuheben. Ihm war kalt, trotz der Wolldecke. Der Schein des lodernden Feuers malte Schattenwesen in den großen Raum. Risse fraßen sich durch die Wände, und an vielen Stellen schälte sich die Tapete vom Mörtel. Morsches Dachgebälk, verhangen mit Tüchern. Melekais Lager stand auf einer Empore, fünf Stufen höher als der übrige Raum. Dort unten in einem Kreis aus Stühlen und Bänken saß eine große Gruppe um einen kleinen Kamin versammelt. Dahinter blickten hohe, teils gesprungene, teils unbeschädigte Fenster ins schwarze Nichts. In einem Wintergarten standen Möbel vollgestellt mit Dosen, Fläschchen und Werkzeug. Hinter Melekai türmten sich Regale. Beim zweiten Blick begriff Melekai, dass es Bücher waren, mit denen die Regale gefüllt waren. Bücher voller Seiten aus Papier. Nie zuvor hatte er so viele Kostbarkeiten an einem Ort gesehen. Unmöglich konnte er in der Erde sein. Im Gebälk der Decke konnte er das Rauschen des Windes vernehmen, ein leises Flüstern nur.

»Was ist mit dem Fremden? War er nicht bewusstlos, Mylka? Du hast uns versprochen, dass …«

Alle Köpfe wandten sich ihm zu. Ihre Gesichter waren schwarze Masken im Schein des Feuers.

»Nathan, hol dem Mann ein Hemd und Hosen!«, befahl die Alte, und ein Junge sprang auf. Wenige Momente später brachte der magere kleine Junge Melekai Kleidung, stellte außerdem eine Kerze neben ihn. Fasziniert berührte Melekai die kleine Flamme mit einer Fingerspitze, und als er vor der plötzlichen Hitze der Flamme zurück zuckte, hörte er den Jungen verhalten lachen.

»Melekai Gormock.« Das war die Stimme von Tiriin, der Frau, die ihm Wasser gegeben hatte. »Der Mann trägt einen Doppelnamen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass wir einen Hybriden in unserer Mitte haben.«

Unruhe entstand unter den Anwesenden. Aus tiefen Augenhöhlen blickte der Junge Melekai an, als er ihm die Kleidung auf den Schoß legte, wie ein Tierpfleger, der dem Tiger das Fleisch in den Käfig legt, wachsam.

»Danke«, flüsterte Melekai ihm zu, und er wich zurück.

Gemurmel und Rufe wurden lauter. Melekai war zu schwach, um Angst zu bekommen, zu verwirrt, um zu realisieren, was hier geschah. Er zog sich an. Das verwaschene Baumwollshirt wies an vielen Stellen Brandlöcher auf. Irgendwann einmal hatte wohl ein Markenname darauf geklebt. An der Krageninnenseite fand er das „Maid once“ Schildchen, und seine Muskeln verkrampften sich. Wankend kam er in den Stand, konzentrierte sich darauf, das Gleichgewicht zu halten und nicht zu stürzen. Der kleine Junge lauerte in seiner Nähe, begleitete jeden Schritt, den Melekai machte. Niemand grüßte ihn, während er mit kaltem Schweiß auf der Stirn in den Kreis der Versammlung trat. Erst jetzt ging ihm auf, dass er möglicherweise ein Gefangener war, dass diese Menschen ihm nicht freundlich gesonnen waren.

»Gebt ihm Wasser und eine Schale Linsen«, sagte Mylka. Er sah sie am gegenüberliegenden Ende des Kreises in einem Korbstuhl sitzen. Über mehreren Schichten zerschlissener Kleider trug sie einen bodenlangen Mantel aus Flicken alter Regenjacken. Die Schulterpartie und Kapuze musste einmal zur gelben Wachsjacke eines Seelotsen gehört haben. Melekai kannte sie nur aus Filmen. Dieses Gelb, greller als jedes andere Kleidungsstück im Raum, verlieh der alten Frau das Aussehen einer Herrscherin.

Seufzend musterte sie ihn, während ein Mann mit Messern am Gürtel ihm Platz auf einer Bank machte. Melekai bekam einen Metallbecher mit trübem Wasser und eine zerbeulte Schale voll grauer Linsen in den Schoß gedrückt. Mit zitternden Fingern trank er und würgte unter den Blicken der Umstehenden den faden Eintopf hinunter.

»Wer hat ihn gefunden?«, fragte jemand, und die Versammelten wandten ihre Köpfe zu Mylka.

»Tiriin und ich haben gemeinsam beschlossen, den Mann zu retten«, meldete sich Santo und trat in den schwachen Schein des Ofens.

»Wir sind davon ausgegangen, dass er heimatlos ist«, fügte Tiriin hinzu, und Melekai sah sie hinter Mylkas Korbstuhl stehen, die Hände in den Hosentaschen, das weinrote Tuch halb um den Kopf, halb um ihre Schultern geschlungen.

»Er war dehydriert und wehrlos«, sagte Santo und sah Melekai fest in die Augen. »Ist wehrlos«, korrigierte er.

Die Blicke ruhten auf Melekai. Im Schein des Feuers erkannte er Gesichter, wettergegerbte Haut, dunkle Schatten unter den Augen. Die meisten trugen verschlissene Tücher um Hals oder Kopf und nur notdürftig geflickte Kleidung. Die wenigen Kinder, die Melekai zählte, waren dünn, ihre Körper ausgezehrt. Einer Frau in einem weiten blauen Wickelkleid fehlte ein Arm. Auf den Wangen eines Mannes prangten tiefe Narben. Sie erschienen verwahrlost, von Hunger und Entbehrung gezeichnet. Jeder einzelne betrachtete ihn aufmerksam, wie ein fremdartiges, verirrtes Tier.

»Aber er ist von unten«, sagte Tiriin, und das Feuer knackte, während sie ihre Hände auf die Lehne des Korbstuhls legte.

»Oder irre ich mich, Melekai Gormock?«

Ihre Augen funkelten wie Glassteine, die Iris durchsichtig. Sie sah ihm nicht in die Augen, wohl wissend, dass Melekai sie musterte, sondern ließ ihren Blick über die Anwesenden gleiten. Stille trat ein, die Frau mit dem fehlenden Arm nahm ihm Schale und Becher ab.

»Ich komme aus Drei«, begann er, und als er die irritierten Gesichtsausdrücke bemerkte, fuhr er fort: »Ich komme aus der dritten Erdschicht. Vor einigen Tagen bin ich durch die zweite und erste Schicht gereist. Mir ist einiges klar geworden über die Abschottung unserer Grenzen, den Menschenschmuggel und die Armut in Eins.«

»Die Armut in Eins«, schnaufte Santo, und einige Umstehende schüttelten den Kopf. Unbeirrt sprach er weiter, fühlte zum ersten Mal seit Tagen, wie das Geschehene Gestalt annahm, wie es Wirklichkeit wurde.

»An der Grenze hat die Polizei meinen Freund erschossen. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie es passiert ist. Alles, was ich weiß, ist, dass er tot ist und dass ich die Sonne sehen muss, weil sonst alles umsonst war.«

Ein Mann lachte verdrossen, und andere stimmten mit ein.

»Die Sonne sehen?«, fragte Santo. Auch um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln. »Du kommst aus der dritten Erdschicht hierher zu uns, nur um die verdammte Sonne zu sehen?« Zweifelnd verschränkte er die muskulösen Arme vor der Brust.

»Ich kenne sie nicht«, erwiderte Melekai und betrachtete den Kreis in seiner Handinnenfläche. Mehr Leute begannen zu lachen.

»Auf mich macht er einen harmlosen Eindruck«, unterbrach Mylka den Tumult schließlich.

»Er kommt aus der Erde«, rief eine Frau mit krausem Lockenhaar. »Harmlos oder nicht.«

»Er hat uns weder angegriffen, noch trägt er Funkgeräte oder Waffen bei sich, Emma. Erinnere dich an unseren Kodex. Wir ermorden keine Wehrlosen. Wir vergeuden unsere Patronen nicht für sinnlose Gewalt.«

Mylka lehnte sich vor und zeigte auf Melekai, als würde sie den anderen die Richtung weisen.

»Hat man sowas schon gesehen? Das pure Resultat hochtechnologisierter Fortpflanzung. Ein gezüchtetes Exemplar menschlicher Laboratorien. Was für Ressourcen an einen von denen verschwendet worden sind. Was für Ressourcen er dort unten zur Verfügung haben muss.«

Jemand befühlte sein Haar. Ein leises Flüstern ging um.

»Wer seid ihr?«, brachte Melekai endlich hervor. »Wo bin ich hier? Bin ich ein Gefangener?«

»Du bist im Camp der letzten Menschen, Gormock«, antwortete Santo. Die tiefen Falten auf seiner Stirn glätteten sich, und er trat auf Melekai zu.

»Auf der Erde, im ehemaligen Europa oder dem Schrotthaufen, der von diesem Kontinent übrig geblieben ist.«

»Aber das ist unmöglich, die Erdoberfläche ist unbewohnbar«, flüsterte Melekai erstarrt. »Niemand kann unter der Sonne leben.«

»Ist es das, was sie euch da unten eintrichtern?«, lachte Tiriin.

»Die Erdoberfläche ist in der Tat unbewohnbar, Gormock«, sagte ein Mann mit schwarzen Locken direkt neben ihm. »Siehst du uns nicht an, dass wir unter der Sonne nicht leben, sondern nur überleben können?« Melekai erkannte ihn. Es war einer der Männer, die das Basislager überfallen hatten, der, den Tiriin und die anderen Mars genannt hatten.

»Diese Reagenzglaszüchtung hat bei uns nichts zu suchen!«, rief die einarmige Frau dazwischen, und einige klatschten Beifall.

»Die Regierung verstößt uns, stellt nicht einmal unsere Grundversorgung sicher, lässt uns verrecken wie die Fliegen, um privilegierten kleinen Maden wie dem hier ihr übersattes Konsumleben zu ermöglichen!«, pflichtete ein anderer ihr bei, und abermals brach johlender Applaus aus.

»Sie denken, Wasser besitzen zu dürfen, und stehlen es uns, um Maschinen wie dem hier Schwimmhallen und Duschen in vielen Kilometern Tiefe zu bauen«, rief Mars und musterte Melekai mit dunklen Augen. »Und so etwas sollen wir unter uns dulden? Habt ihr denn gar keinen Stolz?«

Die Umstehenden blickten nun zu Melekai, als forderten sie eine Rechtfertigung von ihm. In vielen Gesichtern stand Verachtung, in anderen blanke Wut geschrieben.

»Selbst wenn er ein Nomade auf Streifzug wäre, hätten wir kaum Nahrung übrig, die wir mit ihm teilen könnten«, brauste der Mann mit den Messern auf. »Warum also einem Hybriden, der nicht mal auf natürlichem Wege gezeugt worden ist, Obdach gewähren?«

»Weil er vieles weiß!«, donnerte Santo schließlich und hieb mit einem Metallbecher an den Kamin. Das laute Geräusch brachte den Trubel schlagartig zum Erliegen.

»Weil er den Weg kennt und Zugang zu den Schichten hat! Vielleicht kennt er andere Hybriden, die wohlhabend sind?«

Melekai stand auf, denn Santo war mit ausladenden Schritten auf ihn zugegangen.

»Wir wissen nichts von Menschen wie euch«, sagte Melekai und hob die Hände. »Niemand dort unten hat eine Vorstellung von diesem Ort. Ich wusste nicht einmal, dass überhaupt irgendein Mensch oben auf der Erde lebt, dass die Sonne so nah ist.«

»Das ist sie nicht, Melekai Gormock«, raunte Mylka, und Santo drehte sich zu ihr um. »Und du, der du bereits vor ihrer Macht in die Knie gegangen bist, solltest unsere Wut verstehen. Es überrascht mich nicht, dass die Schichtmenschen so ahnungslos sind. Sie wollten ja wegsehen, deshalb sind sie ins Innere der Erde gestiegen.«

»In Drei weiß man nicht mal von den Flüchtlingen, die durch Abwasserrohre tauchen, einem Suizid gleich, nur um in unsere Schicht vorzudringen«, gab Melekai zurück.

Sein Hirn formte die Erkenntnis wie aus dichten Nebelwolken. Sein Herz begann zu rasen. Er war auf der Erdoberfläche, und um ihn herrschte Dunkelheit nicht wegen der fehlenden Elektrizität, sondern weil es Nacht war. Der Luftzug, der an seinen Knöcheln leckte, kam nicht von Ventilatoren; es war der Wind, der den Geruch einer fremden Welt mit sich brachte, der Welt der letzten Menschen.

»Im Radio bringen sie manchmal Nachrichten von den Flüchtlingskatastrophen in der ersten Erdschicht«, bemerkte Mylka und faltete die gichtigen Hände im Schoß. »Die Einwanderungswelle in die inneren Schichten soll abgeklungen sein, nachdem das Schussverbot der Grenzpolizei aufgehoben wurde. Nun sind die Grenzen in alle vier Schichten abgeschottet, und die Schlepperbanden verdienen sich eine goldene Nase. Nicht wahr?«

Sie zog ihr kariertes Schultertuch fester um ihren Hals. Ruhe kehrte unter den Versammelten ein. Soweit Melekai es beurteilen konnte, war Mylka die einzige Greisin in dieser Runde.

»Aber wir zählen nicht zu den würdelosen Opfern dieser Epoche, die bettelnd an den Toren einer Welt stehen, die nicht für uns errichtet wurde.«

Melekai senkte den Blick.

»Betrachte uns als das gefallene Laub eines Baumes, dessen Wurzeln zwar tief in die Erde reichen, der aber keine neuen Triebe mehr ausbilden wird. Niemand hat mehr Interesse an den letzten Menschen. Das Laub ist vertrocknet, in alle Windrichtungen verweht. Zu kämpfen, um in die Erde einzuwandern, haben wir lange aufgegeben. Wir gehören nicht zu den Wurzeln, den Auswüchsen des Untergrundes, wir sind übrig geblieben, wie gefallenes Laub. Das Erdinnere ist für unsereins so unerreichbar, wie es für dich die Sonne gewesen ist, Melekai Gormock. Und trotzdem wollen wir leben.«