image

Für Janina und Aaron

Allgemeiner Hinweis:

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit haben wir uns entschlossen, durchgängig die männliche (neutrale) Anredeform zu nutzen, die selbstverständlich die weibliche mit einschließt.

Das vorliegende Buch wurde sorgfältig erarbeitet. Dennoch erfolgen alle Angaben ohne Gewähr. Weder der Autor noch der Verlag können für eventuelle Nachteile oder Schäden, die aus den im Buch vorgestellten Informationen resultieren, Haftung übernehmen.

ADRIAN FRANKE

AMERICAN
FOOTBALL

image DIE GRÖSSTEN LEGENDEN image

Porträts, Geschichten und Skandale in der NFL

image

American Football – Die größten Legenden

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie das Recht der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form – durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren – ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, gespeichert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© 2020 by Meyer & Meyer Verlag, Aachen

image Member of the World Sport Publishers’ Association (WSPA)

9783840313110

INHALT

Einleitung

I Brett Favre: Der größte Gunslinger aller Zeiten

II Joe Montana: Die Revolution auf leichten Füßen

III Otto Graham: Automatic Otto und die Entstehung der Cleveland Browns

IV Lawrence Taylor: Ein Wahnsinniger verändert das Spiel

V Walter Payton: Sweetness

VI Joe Namath: Das Versprechen

VII Bart Starr: Aus einer anderen Zeit

VIII Jim Brown: Der ungemütliche Held

IX Johnny Unitas: Sechs US-Dollar und viel Staub

X Barry Sanders: Das Rätsel

XI Roger Staubach: Captain America

XII O. J. Simpson: Mord

XIII Deion Sanders: Das Streben nach Glück

XIV Dan Marino: Eine Karriere für einen Ring?

XV Jerry Rice: Der unangefochtene GOAT

XVI Peyton Manning: Der Sheriff

Anhang

1 Literaturverzeichnis

2 Bildnachweis

image

EINLEITUNG

„Football ist der ultimative Mannschaftssport.“

Vermutlich haben die allermeisten Footballfans diesen Spruch früher oder später schon einmal gehört. Ein wahrer Kern ist darin zu finden: Der beste Wide Receiver wird Probleme haben, wenn ihm ein schlechter Quarterback den Ball zuwerfen soll. Ein Running Back kann noch so agil und schnell sein – spielt er hinter einer schlechten Offensive Line, wird er sehr häufig sehr schnell zu vielen gegnerischen Verteidigern gegenüberstehen. Der beste Left Tackle der Welt kann jeden einzelnen Block gewinnen; wenn neben ihm der Left Guard konstant geschlagen wird, funktioniert die Offense trotzdem nicht.

Sicher, den Quarterback kann man ein Stück weit ausnehmen. Er ist der Spieler, der am ehesten Fehler seiner Mitspieler ausbügeln kann. Doch auch der Quarterback stößt an seine Grenzen, wenn die Receiver die Bälle fallen lassen, wenn sich niemand freiläuft, oder wenn er bei jedem Snap von drei Verteidigern überrannt wird.

Diese direkte Abhängigkeit der einzelnen Spieler voneinander macht Football besonders. Der langjährige Chargers-Quarterback Dan Fouts hat dieses Gefühl einmal so beschrieben: „Wenn man da draußen auf dem Feld ist, dann stehen da elf wütende Männer gegen elf wütende Männer. Es ist eine einzigartige Situation.“

Aber gleichzeitig ist auch unbestreitbar, dass einige einzelne Spieler den Sport und die NFL signifikant geprägt haben. Wer weiß, ob Bill Walshs revolutionäre Offense so nachhaltig die Footballwelt verändert hätte, hätte er in Joe Montana nicht den perfekten Quarterback für seine Idee gefunden? Womöglich wäre der Zusammenschluss der NFL und der AFL unter ganz anderen Umständen erfolgt, hätte Joe Namath nicht sein legendäres Versprechen abgegeben – und eingehalten.

Johnny Unitas hat die Art und Weise, wie Quarterbacks den Ball werfen, verändert; Lawrence Taylor war kokainabhängig und ließ sich von Donald Trump reinlegen. Trotzdem hat er einen neuen Pass-Rush-Typen kreiert, auf den Offenses wiederum reagieren mussten.

Und manche Spieler haben schlicht Franchises und ganze Städte nachhaltig verändert. So wie Bart Starr und Brett Favre in Green Bay, Peyton Manning in Indianapolis, Dan Marino in Miami oder auch Jim Brown in Cleveland.

Um all diese Spieler geht es in diesem Buch.

Je länger ich mich selbst mit Football befasse, desto größer wird mein Interesse an den taktischen Feinheiten, den Schemes, den Play-Designs, oder auch: der Frage danach, wie und warum das Spiel funktioniert.

Aber auch mein Interesse an den großen Spielern wuchs. Aus sportlicher Sicht, klar; aber auch aus menschlicher Sicht. Wie erlebte Lawrence Taylor seine Drogenabhängigkeit? Wie kam Brett Favre aus der Schmerzmittelsucht raus? Und wieso trat Barry Sanders als einer der größten Running Backs aller Zeiten lange vor dem Ende seiner Prime zurück?

Anders gefragt: Welche Geschichten begleiteten die größten Spieler, und wie wurden sie dennoch – oder deswegen – zu diesen lebenden Legenden, die für ein paar Momente größer schienen als das Spiel selbst?

Mein Wunsch ist es, mit diesem Buch die Begeisterung für das Sportliche mit der Begeisterung für die Geschichten zu kombinieren, und diese Begeisterung auch bei Ihnen, dem Leser, zu wecken. Indem all die Anekdoten, der Schmerz und der Triumph der Protagonisten für manche Leser nochmals, für andere zum ersten Mal ein kleines bisschen greifbarer werden und man sie noch besser verstehen kann. Denn wenn Titel und Statistiken in der Vergangenheit verblassen und einstmals moderne Taktikideen längst zum alten Eisen gehören, dann bleiben vor allem die Spieler und deren Geschichten. Spieler, die Teams geprägt haben, die eine Ära geprägt haben. Spieler, über die Fans noch Jahrzehnte später im Stadion und auf der heimischen Couch philosophieren. Spieler, wegen denen man überhaupt erst Fan eines Teams wurde.

In diesem Fall halte ich es mit dem leider viel zu jung verstorbenen Schauspieler Alan Rickman, der einst sagte:

„Geschichten erzählt zu bekommen, ist ein menschliches Bedürfnis. Je mehr wir von Idioten regiert werden und keine Kontrolle über unser Schicksal haben, desto wichtiger ist es, dass wir uns gegenseitig Geschichten darüber erzählen, wer wir sind, warum wir sind, wo wir herkommen und was vielleicht möglich sein könnte.“

imageIimage

BRETT FAVRE: DER GRÖSSTE GUNSLINGER ALLER ZEITEN

image

„Wenn du denkst, dass du selbst zu gut bist, um für einen Running Back zu blocken oder selbst ein First Down rauszuholen, dann werden die anderen Jungs in deinem Team über dich denken: ‚Zur Hölle mit ihm!‘“

Brett Favre

Pablo Picasso hat einmal gesagt: „Hinter jedem großen Mann stand immer eine liebende Frau und es ist viel Wahrheit in dem Ausspruch, dass ein Mann nicht größer werden kann, als die Frau, die er liebt, ihn sein lässt.“

Mit Sicherheit gibt es, wie bei jedem schlauen Spruch, Beispiele, die das Gegenteil belegen können und vielleicht fühlt sich manch ein Mann davon gar angegriffen. Brett Favre dürfte kaum in diese Kategorie fallen. „Ich kann mich sehr glücklich schätzen, dass sie bei mir geblieben ist und dass sie bis heute die gleiche unerschütterliche, starke Frau ist. Die findet man nur sehr selten“, hat Favre selbst in der Dokumentation A football life einmal gesagt.

Man kann mit großer Gewissheit behaupten, dass seine NFL-Karriere wohl deutlich anders verlaufen wäre, hätte Brett seine Deanna nicht gehabt.

Wenn man mit seiner späteren Frau schon seit der Highschool zusammen ist, entsteht nicht nur – im Idealfall – ein tiefes Vertrauen, das eine Selbstverständlichkeit einnimmt, die nur schwer zu erklären ist. Man hat auch unweigerlich sehr verschiedene Herausforderungen im Leben gemeinsam gemeistert.

Wie etwa das Aufrechterhalten der Beziehung, obwohl man an unterschiedlichen Colleges studiert. Oder die Herausforderung des ersten gemeinsamen Kindes, ohne Geld und ohne Schulabschluss: Tochter Brittany kam 1989 auf die Welt, als Deanna gerade 19 Jahre alt war. Favre war da in seinem dritten Collegejahr und noch weit von der NFL entfernt und Deanna musste ihr Sportstipendium aufgeben.

Oder im Fall der Favres die Herausforderung, dem Ehemann dabei zu helfen, eine schwere Abhängigkeit von Schmerzmitteln zu überwinden. Erst Deanna brachte Brett 1996 an den Punkt, an dem er sich selbst eingestand, dass er ein Problem hatte und erst sie war es, die ihn davon überzeugte, sich professionelle Hilfe zu suchen und diese auch anzunehmen.

Denn in gewisser Weise lebte Favre sein Leben lange auf die gleiche Art und Weise, wie er auch Football spielte: rücksichtslos im Umgang mit sich selbst, die Bedeutung des Wortes „Risiko“ scheinbar nicht kennend. Er warf seinen Körper in Verteidiger, um Blocks für Mitspieler zu setzen, er improvisierte regelmäßig mit dem Ball in der Hand, er hatte vor keinem noch so kleinen Wurffenster Angst.

„Ich will derjenige sein, der dieses Team in den kritischsten Momenten anführt“, hat Favre einmal gesagt. Und es besteht kein Zweifel daran, dass er genau das in Green Bay für sehr lange Zeit getan hat.

EIN KATER IM HUDDLE

Wie häufig und wie eindrucksvoll sich Favre auf dem Weg dahin allerdings selbst im Weg stand, illustriert sein Collegedebüt auf spektakuläre Art und Weise.

Es war der Abend des 18. September 1987, und Favre sowie Mitspieler Chris Ryals hatten die nächsten Stunden genau einem Thema untergeordnet: Bier. Bis in die frühen Morgenstunden tranken die beiden ein Bier nach dem anderen, in der sicheren Annahme, dass sie im Spiel gegen Tulane am Nachmittag des nächsten Tages sowieso keine Rolle spielen würden.

„Als wir aufs Feld liefen“, erinnerte sich Ryals, der einen Kopf größer und mehrere dutzend Kilo schwerer war als Favre, im Journal Sentinel, „ging er direkt an die Mauer am Spielfeldrand und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Er sah aus, als würde er beim Aufwärmen umkippen. Er schwitzte und war so weiß wie eine Wand.“ Die Temperaturen von etwa 35° C halfen wenig; viele Jahre später würde Favre einmal zugeben, dass er, als der Wecker am Morgen klingelte, nicht verkatert, sondern noch betrunken war.

Es kam, was kommen musste: Die Offense spielte schlecht und Head Coach Jim Carmody wollte etwas verändern. Also teilte er Offensive Coordinator Jack White mit, dass er den 17-jährigen Favre bringen will, was diesen legendären Austausch zur Folge hatte (Pearlman, 2017, S. 62-63):

Carmody: „Wir bringen Favor.“

White: „Meinst du Favre?“

Carmody: „Ja, Favre. Er kommt jetzt rein.“

White: „Bist du sicher?“

Carmody: „Bring ihn.“

White: „Coach, er weiß noch nicht einmal, wo ihm der Kopf steht.“

Carmody: „Bring ihn.“

White: „Coach, er kennt das Playbook noch gar nicht richtig.“

Carmody: „Mache dir keine Sorgen. Das wird funktionieren.“

White: „Ich dachte, er soll dieses Jahr gar nicht spielen?“

Carmody: „Der Plan hat sich geändert.“

White: „Coach, ich denke nicht, dass das fair ihm gegenüber ist.“

Carmody: „Wir bringen ihn jetzt. Die Jungs lieben ihn. Sie werden auf ihn aufpassen.“

Carmodys nächste Amtshandlung bestand darin, dem mit seinem Magen kämpfenden und im nächsten Moment geschockten Favre mitzuteilen, dass er sich aufwärmen soll.

Die Fans auf den Rängen wussten von der durchzechten Nacht natürlich nichts, doch da Favre nur etwa 80 Kilometer südlich auf die Highschool gegangen war, brach plötzlich Jubel auf den Rängen aus. Und der wurde nur noch lauter, als Southern Mississippi seinen offensiven Game Plan komplett über den Haufen warf und plötzlich anfing, den Ball zu werfen.

Favre brillierte und führte die Offense zu einem 31:24-Comebacksieg. Damit war er der neue Starting-Quarterback.

Man könnte sagen, dass in gewisser Weise hier die Legende des größten Gunslingers aller Zeiten ihren Anfang nahm. Es fällt zumindest schwer, sich einen passenderen Vorboten für seine weitere Karriere auszumalen. Ein Debüt mit Kater für das einzige College, das ihn haben wollte, in einem Spiel, das er mit seinem rechten Arm entscheidet? Ja, das klingt nach Brett Favre.

Es war nicht so, dass die großen Colleges kein Interesse hatten, oder dass sie Favres Stil, Charakter oder sonst irgendetwas nicht mochten. Vielmehr, entgegen einiger Gerüchte über vermeintliches Interesse von Alabama oder LSU, war das Problem ein ganz anderes: Niemand kannte den Jungen aus dem 2.000-Seelen-Dorf Kiln im tiefsten Mississippi. Keine Scouts kamen zu seinen Highschoolspielen, kein College hatte ihn auf der Recruitingliste, als Favre in sein letztes Jahr an der Highschool ging.

Und die Offense, die sein Coach und Vater Irv spielen ließ, war keine Hilfe. Über die ersten drei Spiele in seiner letzten Saison hatte Favre 17 Pässe geworfen – insgesamt. Die Offense bestand nahezu ausschließlich aus dem Run Game, und obwohl Brett selbst und auch seine Brüder Vater Irv irgendwann ganz offen baten, Brett doch ein paar Pässe werfen zu lassen, um zumindest seine Armstärke zu beweisen, änderte sich zunächst nichts.

Die Geschichte, wie Southern Miss – immerhin ein Division I College – auf Favre aufmerksam wurde, ist für die einen ein ganz fantastisches Beispiel für die große Rolle, die der Zufall im Sport spielt. Für die anderen ein Musterbeispiel für Situationen, in denen das Schicksal eingreift.

Mark McHale hatte als neuer Offensive Line Coach bei Southern Miss übernommen und sollte auch direkt Recruitingaufgaben in dem riesigen Gebiet der Golfküste übernehmen. Das wäre für einen erfahrenen Scout, der die Schulen, Lehrer und Spieler der Gegend kannte, schon eine große Aufgabe. McHale war vorher noch nie überhaupt in Mississippi gewesen. Mit einer notdürftig zusammengestellten Liste fing er also an, die Schulen abzuklappern – und hörte von den örtlichen Coaches immer wieder einen Namen: Brett Favre. Die Storys waren meist sehr ähnlich; ja, Favre durfte im Spiel kaum werfen, aber wer ihn nur beim Aufwärmen sah, der konnte das Potenzial in diesem rechten Arm schon erkennen.

McHale hatte eigentlich keine Zeit für einen Quarterback in einer Wishbone-Offense, der maximal eine Handvoll Pässe pro Spiel warf. Aber die Geschichten häuften sich, und schließlich rief er Irv Favre an, um einen Termin zu vereinbaren. Der war zwar begeistert, doch schien er nicht so richtig zu verstehen, was McHale sehen wollte. Das Tape bestand größtenteils aus Hand-offs zu Running Back Charles Burton, der eigentliche Star des Teams. McHale stimmte trotzdem zu, sich beim nächsten Spiel selbst vor Ort ein Bild zu machen; und in gewisser Weise erlebte er genau das, was die Coaches ihm gesagt hatten: Favres Pässe beim Aufwärmen begeisterten McHale. Im Spiel warf der junge Quarterback dann fünf Pässe.

Zum Glück aller Beteiligten gab McHale aber immer noch nicht auf, zu faszinierend war dieser große Junge vom Land, der den Ball mit einer Kraft warf, die man so nicht häufig sah. Als Favre dann seine Hawks mit einigen spektakulären Pässen zum Sieg über Long Beach High führte, nachdem Burton wegen eines verbotenen Tackles vom Platz geflogen war, und wenig später gegen George County eine Rakete von einem 21-Yard-Touchdown-Pass warf, war McHale endgültig überzeugt. Nach einiger interner Überzeugungsarbeit bot Southern Miss, als einziges Division I College, Favre ein Stipendium an. Als Defensive Back zwar zunächst, Favre hatte in der Highschool auch Safety gespielt. Aber vor allem war er dabei (Pearlman, 2017, S. 39-46).

Favre begann seine Collegekarriere als Defensive Back und Nummer-Fünf-Quarterback im Kader von Southern Mississippi. Direkte Starterchancen auf der Position, die er selbst unbedingt spielen wollte, waren also überschaubar; doch ähnlich wie schon die anderen Highschoolcoaches McHale überhaupt erst auf Favre aufmerksam gemacht hatten, redeten jetzt Favres neue Mitspieler miteinander. Favres Armstärke wurde schnell von einem Trainingsphänomen zum Mythos, und bei den Elf-gegen-Elf-Spielen im Training wurde es auch für die Coaches immer schwieriger, Favre zu ignorieren. Auch deshalb vollzog Coach Carmody bereits im zweiten Spiel der 1987er-Saison, Favres erstem Collegejahr, in dem er eigentlich überhaupt nicht spielen sollte, so selbstbewusst den Quarterbacktausch.

Dass weder der Moment noch die Aufgabe für Favre zu groß waren, merkten seine Coaches schnell. „Die meisten Jungs in dieser Offense waren schon seit einer ganzen Weile dabei. Brett war 17 Jahre alt und sah aus, als wäre er 13. Und trotzdem hat er sie, wenn es nötig war, angeschnauzt: ‚Haltet die Klappe. Ich habe jetzt hier das Sagen!‘“, verriet John Fox, der über Jahre die Spiele des Teams kommentierte und begleitete.

Und Favre wurde besser. 1988 war seine beste Collegesaison, ein vorsichtiger Heisman-Trophy-Hype begann ihn zu begleiten. Southern Mississippi gewann 1988 zehn Spiele. Auch 1989 spiele Favre nicht schlecht, die Fehler nahmen aber zu und aus zehn wurden nur noch fünf Siege.

Dann, am 14. Juli 1990, hätte alles vorbei sein können.

DER UNFALL

Die Favre-Brüder Brett und Scott sowie zwei Mitspieler aus Southern Miss hatten den Sommertag auf einem Boot im Golf von Mexiko verbracht. Die Männer angelten, sie genossen die Sonne. Und sie tranken Bier. Zum Abendessen waren Brett, Scott und Favres Teamkollege Keith Loescher – der andere Mitspieler Toby Watts wohnte in einem Hotel an der Küste – mit den Favre-Eltern in Kiln verabredet, und so machten sie sich am späten Nachmittag auf den Heimweg.

Scott und Keith fuhren gemeinsam in einem Auto, Brett in seinem eigenen. Was genau dann passierte, lässt sich mit Sicherheit nicht sagen. Favre selbst hat über die Jahre verschiedene Varianten erzählt; das eine Mal wurde er von Scheinwerfern auf der Gegenspur geblendet, ein anderes Mal kam er nur leicht von der Straße ab und verlor so die Kontrolle über den Wagen und in einer wieder anderen Version war von losen Schotterstücken auf der Straße die Rede.

Loescher, der den Unfall aus dem anderen Auto beobachtet hatte, nahm den Unfall so wahr: „Brett fuhr etwa 95 Kilometer die Stunde (umgerechnet, erlaubt waren rund 56 km/h) und ist einfach von der Straße abgekommen. Er hat zu stark korrigiert, und dann hat sein Auto sich seitlich überschlagen. An einem Telefonmast kam es zum Stehen“ (Pearlman, 2017, S. 98).

Bretts Bruder Scott zog ihn aus dem Auto und legten ihn auf den Boden. Die beiden riefen Bretts Namen. Keine Reaktion.

„Ich dachte, dass er tot sein könnte“, verriet Loescher später. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe der blutende, benommene Brett erst zusammenhanglos, dann zunehmend klarer antwortete. Die Eltern waren schnell am Unfallort, da konnte Favre seine Mutter schon wieder beruhigen. Wenngleich die Schmerzen viel größer waren, als er damals zugegeben hätte.

76 Zentimeter seines Dünndarms mussten die Ärzte Favre während der anschließenden Operation entnehmen. Eine Anklage wegen des Fahrens unter Alkoholeinfluss gab es im Süden Mississippis, in dem Footballstars mal schnell den Status eines Halbgotts haben können, für Favre nicht.

In den kommenden Wochen war Favre stattdessen das zentrale Thema, wenn es in Mississippi um Football ging. Würde er die kommende Saison spielen können? Sollte die Schule ihn nach dem schweren Unfall überhaupt spielen lassen?

Am 21. August stand Favre wieder auf dem Trainingsplatz. Ohne das Trikot mit der Nummer 4 auf dem Rücken hätte man ihn vielleicht gar nicht erkannt, so schmal war er geworden; über 15 Kilo hatte er infolge des Unfalls und der Operation verloren, die Schultern waren schmaler, die Beine dünner. Aber er stand wieder auf dem Platz. Das erste Saisonspiel verpasste er zwar noch, umso legendärer sollte allerdings der 8. September 1990 werden.

Knapp 76.000 Fans waren ins Legion Field zu Birmingham, Alabama, gepilgert. Es war der Saisonauftakt für das Collegeschwergewicht Alabama mit dem neuen Head Coach Gene Stallings, und das kleine Southern Miss sollte eigentlich ein willkommener Auftaktgegner werden, um die neue Ära einzuläuten.

Nur spielte der vermeintliche Aufbaugegner da nicht mit.

Alabama ging früh in Führung, Southern Mississippi blieb aber dran. Zur Halbzeit stand es lediglich 17:10 für Bama, im dritten Viertel ging der haushohe Underdog erstmals in Führung. Alabama glich mit einem 60-Yard-Touchdown aus, worauf Favre mit seinem besten Pass des Tages antwortete: Ein 34-Yard-Wurf zu Receiver Michael Jackson, mit dem Southern Miss an Alabamas 32-Yard-Line stand. Dreieinhalb Minuten waren noch zu spielen, als Kicker Jim Taylor den entscheidenden Schuss zum 27:24 verwandelte.

Noch zweimal schaffte es Alabama in den folgenden Minuten bis in die Hälfte des Gegners, eine Interception beendete den ersten Versuch, beim zweiten Mal lief dann die Zeit ab, ehe die Hausherren in Field-Goal-Reichweite waren.

„Ich wollte für dieses Spiel unbedingt zurückkommen“, sollte Favre nach der Partie sagen. Und das tat er: Keine zwei Monate nach seinem beinahe tödlichen Unfall stand er gegen Alabama auf dem Platz, warf 17 Pässe für 125 Yards. „Zwei, drei Sachen haben nicht so funktioniert, wie wir uns das erhofft hatten. Aber unsere harte Arbeit wurde heute belohnt“, fügte er hinzu.“Wir haben uns heute über Wert geschlagen. Aber wir haben ein starkes Team.“

Stallings, der als erster Bama-Coach seit Bear Bryant sein Auftaktspiel verloren hatte, zog ein ernüchterndes Fazit: „Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass wir kein Eliteteam sind. Wir müssen jede Woche hart arbeiten und dürfen uns nicht derart viele Turnover leisten.“ Zumindest da war es schwer, ihm zu widersprechen, hatte Alabama doch vier eigene Turnover sowie über 50 weitere Yards durch Strafen kassiert. Der haushohe Favorit war undiszipliniert und überheblich in das Spiel gegangen und hatte den Preis dafür bezahlt.

Für Southern Miss war dieser komplett überraschende Sieg allerdings auch nicht der Auftakt für eine große Saison. Die nächsten beiden Spiele verlor man gegen Georgia und Mississippi State, Favre blieb 1990 deutlich unter den Zahlen, die er 1988 und 1989 aufgelegt hatte. Acht Siege reichten am Ende dennoch für ein Bowl Game – welches Southern Mississippi gegen North Carolina State haarscharf verlor.

Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Wind um Favre zumindest in Teilen der NFL-Welt bereits gedreht. Aus dem einstigen Collegephänomen und Heisman-Trophy-Kandidaten war in den Augen der Scouts ein inkonstanter Quarterback geworden. Ein Quarterback mit einem guten Arm, keine Frage; doch die schmalere Statur im Vergleich zu den anderen Top-College-Prospects sowie ein Pre-Draft-Prozess mit Hochs und Tiefs relativierten die Begeisterung über den Arm wieder.

VON ATLANTA NACH GREEN BAY

Im Frühjahr 2019 war Favre als Redner in einer Schule in Tennessee zugegen, anschließend beantwortete er auch einige Fragen. Unter anderem über den Schritt vom College in die NFL:

„Was mir beim Draft am meisten geholfen hat, war meine Naivität. Ich wusste nicht, wie klein die Chancen sind. Ich wusste nur, dass ich es allen zeigen würde, wenn ich eine Chance bekomme. Ich war weder vor, noch nach dem College häufig verletzt. Aber im East-West Shrine Game, mein letztes Collegespiel, habe ich mich an der Hüfte verletzt, woraufhin Knochennekrose in meiner Hüfte diagnostiziert wurde. Ich hatte keine Ahnung, was das ist, aber ich wusste, dass das die Karriere von Bo Jackson beendet hatte. Vor dem Draft war ich in Seattle, Oakland, und ich glaube auch bei den Jets durch den Medizincheck gefallen.“

Die Prognosen vor dem Draft hatten eine riesige Bandbreite. Einige prognostizierten, dass Favre als erster Quarterback ausgewählt werden würde. Andere befürchteten unter anderem aufgrund der Hüftprobleme ein Abrutschen. Dass Favre aber nach Todd Marinovich ausgewählt werden würde, dessen Drogenkonsum in der Highschool genauso wenig ein Geheimnis war wie die Tatsache, dass er im College wegen des Schwänzens seiner Kurse eine Suspendierung erhalten hatte, oder dass er wenige Monate vor dem Draft mit einer größeren Menge Kokain in seinem Besitz in Kalifornien festgenommen worden war. Das kam dann doch überraschend. Die Los Angeles Raiders wählten den USC-Quarterback mit dem 24. Pick in der ersten Runde.

Auch die ersten Picks der zweiten Runde musste Favre noch über sich ergehen lassen, bis die New York Jets ihn anriefen. Ron Wolf, damals noch in New York, wollte Favre unbedingt, Gerüchten zufolge hatte er sogar noch versucht, vor den Falcons zu traden. Als das nicht klappte, rief er Favre an, um ihm zu versichern, dass die Jets ihn direkt nach Atlanta nehmen würden, sollte er dann noch da sein.

Er sollte nicht.

Zwar herrschte bei den Falcons intern Zwiespalt darüber, ob man überhaupt einen Quarterback nehmen sollte, und wenn ja, ob die Wahl nicht lieber auf Louisvilles Browning Nagle fallen sollte. Die Favre-Fraktion setzte sich durch, die Jets nahmen mit dem nächsten Pick Nagle und Favre sagte dem „Clarion-Ledger“ ganz unverhohlen: „Ich bin immer noch der Meinung, dass ich der beste Quarterback in diesem Draft bin. Ich bin enttäuscht darüber, dass ich nicht als erster Quarterback ausgewählt wurde, vor allem wegen Marinovich. Er hat nur zwei Jahre gespielt. Aber es ist nicht das Ende der Welt. Joe Montana und Boomer Esiason wurden auch nicht in der ersten Runde ausgewählt, und deren Erfolge sind ja bekannt.“

Die nachträgliche Aufarbeitung dessen, was genau über das nächste Jahr in Atlanta passierte, ist schon fast lächerlich chaotisch. „Favre hätte für diesen Coach (Jerry Glanville, der Head Coach der Falcons in jener Zeit) niemals gespielt. Als ich gedraftet habe, wollte ich Spieler für den Coach draften, damit die auch zusammenarbeiten können. In dem Fall aber hat sich von Anfang an eine Feindseligkeit aufgebaut“, erzählte der damalige Falcons-Verantwortliche Ken Herock Jahre später ESPN.

Weiter fuhr er fort: „Als ich Favre ausgewählt habe, wollte Glanville ihn nicht haben. Es war mir egal, weil ich dachte, dass wir einen großartigen Spieler bekommen. Was während des Jahres passierte, war zum Teil seine Schuld: Favre kam zu spät zu Meetings, er hat viel Alkohol getrunken und kannte nicht einmal die Spielzüge des Scout-Teams. Ich war mehrere Tage die Woche für Scoutingaufgaben unterwegs, und immer, wenn ich zurückkam, wurde mir gesagt, was ‚mein Typ‘ gemacht hat. Es war nie ‚unser Typ‘, sondern ‚mein Typ‘.“

Glanville reagierte auf Herocks Aussagen auf eine Art und Weise, die einen ganz gut erahnen lässt, wie toxisch es damals in Atlanta zuging: „Wenn man im Wörterbuch das Wort ‚Dummschwätzer‘ sucht, findet man Herocks Bild genau da. Was er da gesagt hat, ist zu 100 Prozent falsch. Wenn sich seine Lippen bewegen, kommt selten eine wahre Aussage raus. Er ist jemand, der sich selbst gut darstellen will. Leider hatte ich weder die Macht, diesen Trade durchzuführen, noch die Macht, ihn zu draften. Aber plötzlich, im Nachhinein, soll ich all diese Macht gehabt haben.“

Glanvilles Version lautet so: „Ich mochte Favre, aber ich habe gesagt, dass wir zuerst einen Wide Receiver brauchen (Atlanta wählte mit dem 13. Pick der ersten Runde Wide Receiver Mike Pritchard). Daraufhin hat jeder gesagt, dass wir Favre dann niemals bekommen – und siehe da, als wir in der zweiten Runde dran waren, war Favre noch da. Ich wollte ihn in der zweiten Runde unbedingt haben, und im Nachhinein war ich der Meinung, dass wir einen sehr guten Draft hatten. Jeder, der sagt, dass ich Favre nicht wollte, ist ein eiskalter Lügner.“

Unbestreitbar ist, dass Favre keinen leichten Stand hatte. Die Falcons hatten in Chris Miller einen fähigen Starter, der erst 26 Jahre alt war; Hinter Miller und Backup Billy Joe Tolliver war Favre lediglich die Nummer drei. Und Glanville, einerlei, was er später sagte, machte Favre das Leben zusätzlich schwer.

Es geschah wohl auf Glanvilles Drängen hin, dass die Falcons wenige Tage vor dem Start der 1991er-Saison Tolliver überhaupt erst verpflichteten, indem sie einen Viert-Runden-Pick nach San Diego schickten. Herock ging davon aus, dass Tolliver die Nummer drei sein würde; noch vor dem zweiten Saisonspiel änderte Glanville die Depth Chart und führte Favre als neue Nummer drei und Tolliver als Nummer zwei auf. Vor einem Spiel grinste der Coach Favre an und, während laufende Kameras auf ihn gerichtet waren, rief er: „Hey, Mississippi, spielst du heute? Ich sag dir was: Wenn wir zwei Flugzeugabstürze haben und sich vier Quarterbacks verletzen, bist du dabei!“

Favre selbst bezeichnete seine Rolle bei den Falcons in der Dokumentation A football life als „Wanderzirkus“. Glanvilles einzige Verwendung für ihn? „Er hat mit anderen Jungs gewettet, dass ich den Ball in den Oberrang des jeweiligen Stadions werfen kann.“

Unbestreitbar ist auch, dass Herock mit seinen Aussagen vermutlich noch untertrieben hatte. Favre war in Atlanta kilometerweit von dem Verhalten eines Profis entfernt. Er feierte bis spät in die Nacht, er schlief in Meetings ein, er trank viel zu viel und viel zu häufig und dadurch alleine kam er auf die schwarze Liste seines Head Coachs, der bekannt dafür war, seinen Spielern als oberste Prioritäten Pünktlichkeit und Vorbereitung einzuimpfen. Selbst zum Mannschaftsfoto kam Favre zu spät, mit der Entschuldigung, dass er hinter einem Autounfall habe warten müssen. Glanville antwortete: „Junge, du bist ein Autounfall.“

Den Falcons muss es wie eine glückliche Schicksalsfügung vorgekommen sein, als sie nach der 1991er-Saison einen Anruf aus Green Bay erhielten. Die Packers hatten Interesse an Brett Favre, und boten zunächst einen Zweit-Runden-Draft-Pick, aus dem Atlanta nach einigen Verhandlungen einen Erst-Runden-Pick machen konnte. Herock informierte die Falcons von dem Angebot, woraufhin Glanville angeblich mit den Worten reagierte: „Oh, mein Gott. Du wärst ein Genie. Ein Erst-Runden-Pick für diesen Typen?!“ (Pearlman, 2017, S. 144)

Ron Wolf war am 10. Februar 1992 in seiner neuen Rolle als Geschäftsführer der Green Bay Packers gerade einmal 75 Tage im Amt, und er hatte soeben einen Erst-Runden-Pick für einen Backup-Quarterback getradet, der einigen Schätzungen zufolge die Hälfte seines Rookiejahres alkoholisiert zugebracht hatte. Aber er hatte endlich den Quarterback, den er schon im Jahr zuvor im Draft nach New York holen wollte, und von dem er so sehr überzeugt war.

Favre saß in der Küche seiner Eltern, als er einen Anruf von June Jones, seinem Offensive Coordinator bei den Falcons, erhielt, der anrief, um sich zu verabschieden – und Favre so gleichzeitig die Nachricht überbrachte, dass er getradet worden war. Minuten später rief Wolf an, um Favre in Green Bay willkommen zu heißen.

Wolf wollte Favre so sehr, dass er sogar zu einer äußerst ungewöhnlichen Maßnahme griff: Er ließ bei dem Trade die eigentlich übliche Klausel aus dem Vertrag streichen, wonach ein Trade platzen kann, wenn der Spieler den Medizincheck beim neuen Team nicht passiert. Was, selbstverständlich, genau das war, was passierte.

Mark Schiefelbein, der damals in der PR-Abteilung der Packers arbeitete, erzählte bei ESPN: „Wir haben also diesen Trade durchgeführt, und dann kamen die Ärzte und haben gesagt, dass es Probleme mit seiner Hüfte gibt. Ron war geschockt. Er sagte, dass die Ärzte sein Büro verlassen haben, er seine Bürotür geschlossen hat und einen Moment brauchte. Er war sehr emotional und dachte, dass er damit womöglich seine Karriere beendet hat.“

Wolf überstimmte die mittel- und langfristigen Bedenken der Mediziner, an diesem Punkt hatte er ohnehin kaum noch eine andere Wahl. Zwei Wochen später stellte Wolf ein neues medizinisches Team vor. Der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte.

Favres 297 Starts in Serie – 321, wenn man die Play-offs mitzählt – sind bis heute ein unerreichter Rekord. Es ist eine Bestmarke, die vielleicht niemals fallen wird.

GREEN BAY

Zwar hatten die Packers einen Erst-Runden-Pick in Favre investiert und Ron Wolf war im Frühjahr 1992 vermutlich der größte Favre-Fan, den man in der gesamten NFL finden konnte; als sofortiger Starter war der junge Quarterback dennoch nicht vorgesehen. Vor ihm in der Hackordnung stand Routinier Don Majkowski, der bereits seit 1987 in Green Bay war und 1989 selbst den Startplatz erobert sowie eine der besten Saisons für einen Packers-Quarterback seit Jahren hingelegt hatte. Doch der Wind drehte sich schnell.

Linebacker George Koonce war 1992 ebenfalls neu nach Green Bay gekommen und gab später zu: „Ich war geschockt davon, wie wenig Kraft Don im Arm hatte. Er und Brett, da lagen Welten dazwischen.“ Running Back Darrell Thompson fügte hinzu: „Don hatte einige Hits einstecken müssen. Und dann kam Brett, der den Ball wie eine Wurfmaschine rausfeuern konnte. Er war nicht einfach nur zufrieden, dass er jetzt in Green Bay war. Er wollte spielen“ (Pearlman, 2017, S. 153).

Majkowski begann die Saison als Starter, doch bereits im zweiten Saisonspiel gegen Tampa Bay wechselte Head Coach Mike Holmgren Favre in der Halbzeitpause beim Stand von 0:17 ein, frustriert von einem schlechten Auftritt der Offense. Favre hatte Fortschritte in puncto Spielverständnis, im Lesen der Defense und im Verstehen von Route-Kombinationen gemacht; auch wenn er zu jenem Zeitpunkt noch nicht wusste, was eine Nickel-Defense ist. Erst Jahre später, nachdem Holmgren ihn im Spiel unzählige Male über das Headset darüber informiert hatte, dass die Defense in ihrem Nickel-Paket auf dem Feld war, erfuhr er auf Nachfrage, dass es sich dabei um einen zusätzlichen Defensive Back auf dem Platz handelt. Favre machte also Fortschritte – aber wie weit war er schon?

Favre brachte acht Bälle für 73 Yards in der zweiten Hälfte an, aus dem 0:17 wurde ein 3:31-Endstand. Die Fans im Stadion forderten im Laufe der zweiten Hälfte lautstark, dass Nummer-drei-Quarterback Ty Detmer statt Favre spielen sollte. Majkowski derweil explodierte auf der anschließenden Pressekonferenz. Holmgren habe ihm gesagt, „dass er etwas ausprobieren wollte. Natürlich bin ich darüber nicht glücklich. Ich dachte nicht, dass er ein Coach ist, der eine kurze Zündschnur hat. Ich habe schon häufiger 17-Punkte-Rückstände in der zweiten Halbzeit aufgeholt. Die Entscheidung, die er getroffen hat, hat keinen Unterschied gemacht. Ich bin stinksauer!“ (Pearlman, 2017, S. 155)

Eine Woche später, im Spiel gegen die Cincinnati Bengals, spielte das keine Rolle mehr.

Bei einem tiefen Dropback brachen die Verteidiger blitzartig durch die Offensive Line, mehrere von ihnen trafen sich bei Majkowski. Sein linker Knöchel war unter zwei Verteidigern verdreht und begraben worden, nach minutenlanger Behandlung auf dem Feld wurde er schließlich vom Platz gestützt, unfähig, das linke Bein noch irgendwie zu belasten. Favres Stunde hatte, wenn auch zwangsläufig, geschlagen.

Im Vergleich zum Auftritt gegen Tampa Bay war bereits eine Entwicklung zu sehen, Favre spielte besser und Green Bay blieb im Spiel. Und dennoch führte Cincinnati kurz vor dem Ende mit 23:17. Etwas über eine Minute hatten die Packers, um 92 Yards zu überbrücken. Favre hatte keine Time-outs mehr, aber er war voll in seinem Element.

Ohne groß zu überlegen, konnte er den Ball über das Feld feuern und innerhalb weniger Plays hatte er die Packers bis in die Bengals-Hälfte geführt. Es ist nicht einfach zu beschreiben, aber man konnte den Unterschied in dieser über die ersten Saisonspiele so trostlosen Offense förmlich greifen. Favre war furchtlos in der Pocket und er hatte die Armstärke, um die Zone Coverage der Bengals gezielt außen zu attackieren. Der Ball flog mit einer Power – und in diesem letzten Drive auch mit einer Präzision – durch die Luft, die das altehrwürdige Lambeau Field schon seit einer langen Zeit nicht mehr gesehen hatte. Eine 40-Yard-Bombe auf Kitrick Taylor, welche den Receiver perfekt im Lauf zwischen zwei Verteidigern traf, machte die Sensation perfekt. „Das war wie eine Rakete“, staunte Center James Campen noch nach dem Spiel. Der 40-Yard-Pass auf Taylor sowie ein 42-Yard-Pass zu Sterling Sharpe im gleichen Drive waren die beiden längsten Completions in der noch jungen Mike-Holmgren-Ära. Es war auch der erste Sieg für Holmgren in Green Bay.

Im folgenden Spiel gegen Pittsburgh startete Favre anstatt des verletzten Majkowski. Es war das erste Spiel seiner 321 Starts in Serie, die Packers schlugen ein starkes Steelers-Team deutlich zu Hause.

Aber eine Sache fällt immer wieder auf, wenn man sich nur wenige Stunden mit Favres ersten Jahren in Green Bay auseinandersetzt: die beeindruckende Geschwindigkeit, mit welcher er nicht nur der Anführer, sondern auch ein charismatischer Kumpeltyp innerhalb des Teams genau wie für die Fans wurde. „Die Spieler lieben es, für so jemanden zu spielen. Er ist der klare Anführer, der alles einstecken kann und das nötige Talent mitbringt“, brachte es Packers-Legende Paul Hornung einmal auf den Punkt.

Niemand war vor seinen Scherzen sicher. Nicht nur einmal kam es vor, dass ein Packers-Spieler in der Kabine gerade auf der Toilette saß, und plötzlich über die Kabinentür ein gesamter Eimer mit eiskaltem Wasser über ihm ausgeleert wurde. Favre war irgendwann so sehr dafür berüchtigt, dass Neuzugänge davor gewarnt wurden. Jared Allen, der bei den Vikings mit und gegen Favre gespielt hat, verriet Sportingnews: „Brett konnte dich so hart mit der flachen Hand auf den Hintern hauen, dass ein Handabdruck blieb und du dann zu Hause deiner Frau erklären musstest, was es damit auf sich hatte. Er war ein großartiger Mitspieler, mit dem man jede Menge Spaß haben konnte. Die Energie und die Leidenschaft, die man auf dem Feld gesehen hat, zeigte er jeden Tag.“

Andrew Brandt kannte die schwierige Seite des Geschäfts ganz genau, ab 1999 war er in Green Bay vor allem für Spielerverträge und die finanzielle Seite verantwortlich, neun Jahre arbeitete er für die Packers. „Man trifft im Leben manchmal Menschen, bei denen es einfach Spaß macht, Zeit mit ihnen zu verbringen“, verriet er der Sports Illustrated einmal.

„Brett war so jemand. Ein paar Beispiele: Er und sein Kumpel Frank Winters haben bei jedem Teamflug den gleichen Scherz wiederholt, während sie ihre Kreuzworträtsel gemacht haben. Frank rief jedes Mal durch den Flieger: ‚Hey, Brett, wie buchstabiert man Mississippi?‘ Woraufhin Brett antwortete: ‚Den Fluss oder den State?‘ Einmal hatte ich im Stadion eine Wildlederjacke an und während des Aufwärmens kam er zu mir gelaufen und sagte: ‚Andrew, tolle Jacke! Woraus ist die gemacht?‘ Dann ist er mit seiner Hand meinen Rücken rauf- und runtergefahren, hat gerufen: ‚Filz!‘, und ist wieder weggerannt. Er hatte die Fähigkeit, jede Situation mit Humor zu entspannen.“

Nicht einmal die Unparteiischen waren vor ihm sicher. Als die Packers 2003 gegen Denver spielten, hatte sich Broncos-Coach Mike Shanahan schon im Vorfeld darüber beschwert, dass mit Bill Carollo ein Schiedsrichter aus Wisconsin für die Partie angesetzt worden war. Das war Favre selbstverständlich komplett bewusst, als er während eines langen Touchdown-Runs der Packers zu Carollo lief und den Schiedsrichter auf penetranteste Art und Weise dazu bekommen wollte, mit ihm den Touchdown zu feiern.

„Brett hat nicht aufgehört, mich zu schubsen und zu sagen: ‚Carollo, schlag ein! Schlag ein!‘‚ Er wollte ein High-Five von mir und ich habe ihm klargemacht, dass das nicht geht“, erzählte der bemitleidenswerte Bill Carollo später dem Milwaukee Journal Sentinel, „aber er hat nicht aufgehört. Er hat mir auf den Hintern geklopft, auf die Schulter, auf den Rücken und gerufen: ‚Er läuft bis in die Endzone! Schlag ein!‘ Ich habe mich weggeduckt und ihn angeschrien, dass ich ihm kein High-Five geben kann. Wir liefen dann direkt an Shanahan vorbei, und der brüllte mich an: ‚Carollo, ich habe dir gesagt, dass du dieses Spiel nicht machen solltest!‘“

Und dann gab es natürlich auch die andere, die ernste Seite. Die kam nicht häufig zum Vorschein, aber Favre verschloss sich nicht vor seinen Mitspielern. Und er zeigte sich auch von seiner verletzlichen Seite.

Nie wurde das deutlicher als am 22. Dezember 2003.

Die Packers hatten ein Monday-Night-Spiel bei den Oakland Raiders vor der Brust, also eine Partie auf landesweiter Bühne, zur Primetime. Und Green Bay brauchte einen Sieg, um noch von den Play-offs träumen zu können; nur acht der ersten 14 Spiele hatten die Packers gewonnen, weitere Ausrutscher waren tabu.

Am Sonntag vor dem Spiel erhielt Favre einen Anruf von seiner Frau: Sein Vater Irvin war im Alter von 58 Jahren völlig unerwartet infolge eines Herzinfarkts gestorben.

Hochemotional kam Favre zurück ins Mannschaftshotel und es ist kaum vorstellbar, was in jenen Stunden in ihm vorgegangen sein muss. Coach Mike Sherman erzählte der Sportingnews, was dann passierte:

„Ich hatte die Gelegenheit, zu ihm reinzukommen und mit ihm zu reden. Ich habe ihm gesagt: ‚Du kannst heimfliegen. Du musst nicht spielen.‘ Diese Option musste er sich zumindest durch den Kopf gehen lassen. Ich weiß nicht, was er genau gedacht hat, aber er musste an seine Familie denken. Also haben wir weitergeredet, und dann hat er gesagt, dass er spielen will. Ich habe noch mal betont, dass er nicht spielen muss und dass wir andere Wege finden können, um das Spiel zu gewinnen. Ich habe ihm auch gesagt, dass die Jungs unten darauf warten, dass ich ihnen ein Update gebe und habe Brett gefragt, ob er zu ihnen sprechen will. Er willigte ein, und als wir in den Raum kamen, war es komplett still. Brett war nie jemand, der gerne vor das Team tritt und spricht; er fühlte sich im Huddle wohler. Aber in dem Moment sprach er über Football, und wie wichtig ihm das war. Er hat darüber gesprochen, dass er die Jungs liebt und darüber, wie sehr er seinen Vater geliebt hat und was für eine große Rolle er in seinem Leben gespielt hat. Keiner hat in dem Zimmer seine Tränen zurückhalten können. Als er fertig war, hat er mir gesagt, dass er spielen will.“

Der nächste Tag war nur bedingt einfacher. Inzwischen wusste auch die Öffentlichkeit, was passiert war und dass Favre spielen würde. Das resultierte in einer merkwürdigen Mischung aus Interesse auf der einen, aber auch einer gewissen Erwartungshaltung auf der anderen Seite: Favre würde ein gutes Spiel zu Ehren seines Vaters spielen, so der Tenor. Nicht gerade der Druck, den der Quarterback zusätzlich noch gebrauchen konnte. Das war auch Sherman aufgefallen:

„Ich erinnere mich noch, wie er vor dem Spiel drauf war. Normalerweise machte er da seine Scherze, was mich oft genug genervt hat. Aber dieses Mal saß er einfach nur vor seinem Spind, mit sehr ernster Miene, und hat kaum etwas gesagt. So hatte ich ihn noch nie gesehen, also wurde ich doch noch mal etwas nervöser und sagte ihm, dass er nicht spielen muss. Aber er antwortete: ‚Nein, nein, ich bin bereit.‘ Als er dann auf das Feld lief, erhielt er von den Fans stehende Ovationen – nicht gerade etwas, das man in Oakland erwartet. Aber die Fans haben die Situation genau verstanden und haben Mitgefühl gezeigt. Ich denke, Brett wird deshalb immer einen Platz in seinem Herzen für Oakland habe.“

Favre spielte ein Spiel für die Ewigkeit. Zur Halbzeitpause stand er bereits bei 311 Yards und vier Touchdown-Pässen, sodass Green Bay in der zweiten Hälfte weitestgehend aufs Run Game setzte. Teilweise wirkte es, als würde Favre durch das Spiel nur so gleiten, getragen, und nicht etwa belastet, durch seine Emotionen.

Erst nach dem Spiel würde er zugeben: „Ich hatte große Angst davor, ein schlechtes Spiel zu spielen. Zu sagen, dass ich nervös war, wäre eine ziemliche Untertreibung. Ich war niemals nervöser. Mein Vater war seit der fünften Klasse bei jedem meiner Spiele und war mein Coach in der Highschool. Man erwartet nie, dass es so passiert. Ich werde ihn vermissen.“

Als alles vorbei war und die Packers Oakland mit 41:7 abgefertigt hatten, flog er mit seiner Frau Deanna in die Heimat nach Mississippi.

DIE HEIMKEHR DER VINCE-LOMBARDI-TROPHY

Auf dem Platz wurde in Favres erster Saison in Green Bay immer klarer, dass man mit dem Trade für den jungen Quarterback alles richtig gemacht hatte. Favre spielte eine gute 1992er-Saison und wurde, als jüngster Quarterback aller Zeiten, in den Pro Bowl gewählt. 1993 legten die Packers einen Fehlstart hin, gewannen aber acht der letzten zwölf Saisonspiele und zogen so in die Play-offs ein – zum ersten Mal seit 1982 und zum zweiten Mal seit 1973. Die 1994er-Saison, vor welcher Favre mit einem neuen Vertrag ausgestattet wurde, verlief ganz ähnlich, wieder brauchte es eine späte Aufholjagd im letzten Saisondrittel, um noch auf neun Siege zu kommen. Wieder reichte das für die Play-offs, wieder wurden in der ersten Runde die Lions geschlagen. Und wieder war gegen die Cowboys eine Woche später Endstation.

Die ersten Jahre mit Favre waren, wie so viele seiner Spiele für sich betrachtet, eine Achterbahnfahrt. Favre konnte unglaubliche Würfe 30, 40, 50 Yards tief an den Mitspieler bringen, kleinste Wurffenster treffen und Bälle an Verteidigern vorbeifliegen lassen, dass jedem Scout der Mund wässrig wurde. Favres Arm konnte ein Spiel innerhalb weniger Sekunden auf den Kopf stellen – allerdings in beide Richtungen. In gewisser Weise machte das sein Spiel über seine gesamte Karriere aus, ein wenig Achterbahn und der Wille, den unmöglichen Wurf anzubringen, war bei Favre immer gegeben. In seinen ersten Jahren waren die Leistungskurven aber noch ein gutes Stück schwankender.

So schwankend, dass Holmgren im Oktober 1994 ernsthaft über einen Quarterback-Tausch nachdachte, der vermutlich die Geschichte verändert hätte.

Favres Spielstil, so spektakulär er auch sein konnte, resultierte schlicht in zu vielen unnötigen Turnovern. Die erhofften Fortschritte in seinem Spiel waren bislang ausgeblieben, und mit dem 1993 in der fünften Runde gedrafteten Mark Brunell hatte Holmgren inzwischen eine mögliche Alternative an der Hand.

Wie haarscharf Green Bay am Ende der Favre-Ära, bevor sie überhaupt wirklich begonnen hatte, vorbeischrammte? Holmgren fragte nach einer 10:13-Niederlage gegen die Vikings, während welcher Favre angeschlagen rausmusste und Brunell prompt einen Touchdown-Drive hingelegt hatte, seine Coaches, wer von ihnen dafür war, einen Quarterback-Tausch zu vollziehen. Die Mehrzahl stimmte dafür; Holmgren aber konnte es nicht. Er bestellte Favre stattdessen einige Abende später in sein Büro und teilte ihm ganz offen mit: „Du bist zu dickköpfig. Du hörst nicht zu, du spielst dumm. Aber du bist mein Quarterback, und wir sitzen im selben Boot. Also, lass uns das zusammen hinbekommen! Entweder schaffen wir den ganz großen Wurf, oder wir sitzen auf der Straße. Ich setze alles auf dich“ (Pearlman, 2017, S. 185).

Weder Holmgren noch Favre saßen am Ende der 1995er-Saison auf der Straße. Stattdessen markierte diese Saison den Wendepunkt.

Die Packers gewannen 1995 ihre Division, die damalige NFC Central, zum ersten Mal seit 1972. Sie gewannen zum ersten Mal seit 1966 wieder mehr als zehn Spiele. Favre führte die Liga in Yards (4.413) und Touchdown-Pässen (38) an, während er die Turnover runterschrauben konnte. So gewann er seinen ersten von drei aufeinanderfolgenden MVP-Titeln.

Selbst in den Play-offs ging es im Januar 1996 noch einen Schritt weiter als in den beiden Jahren davor. Zwar hatte Favre die Packers zwei Jahre zuvor gegen Detroit mit einem 40-Yard-Touchdown-Laser eine Minute vor dem Ende zum ersten Play-off-Sieg seit elf Jahren geführt; doch auch hier merkte man Favres Reifeprozess, als er gegen die Falcons zwar nur 199 Yards, aber auch drei Touchdowns auflegte und Green Bay so zu einem komfortablen 37:20-Heimsieg cruiste. Die Reifeprüfung stand aber in der Woche danach an.

Die Packers mussten zum Titelverteidiger San Francisco, das Quarterback-Duell zwischen Favre und Steve Young ging eindeutig an Green Bay. Favre leistete sich bei 28 Pässen nur sieben Incompletions, warf zwei weitere Touchdown-Pässe und nachdem Green Bay früh mit 14:0 in Führung gegangen war, verwalteten die Packers ihren Vorsprung bis zum Schluss.