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Der Autor

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Professor Dr. Bernd Ahrbeck ist Lehrstuhlinhaber für Psychoanalytische Pädagogik an der Internationalen Psychoanalytischen Universität (IPU-Berlin).

Bernd Ahrbeck

Was Erziehung heute leisten kann

Pädagogik jenseits der Illusionen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036925-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-036926-9

epub:    ISBN 978-3-17-036927-6

mobi:    ISBN 978-3-17-036928-3

Inhalt

 

 

 

  1. 1 Einleitung
  2. 2 Erziehung, Vergangenheitsbewältigung und politische Korrektheit
  3. 2.1 Erziehung als anthropologische Notwendigkeit
  4. 2.2 Vergangenheitsbewältigung
  5. 2.3 Politische Korrektheit
  6. 3 Sonderpädagogik
  7. 3.1 Nationalsozialismus und Gegenwart – heftige Kontroversen
  8. 3.2 Hänsels Beitrag zur Geschichte der Sonderpädagogik
  9. 3.3 Inklusion: Sonderpädagogik als Hindernis?
  10. 3.4 Schumanns Streitschrift
  11. 3.5 Der Weimarer Kongress – Dialog oder Spaltung?
  12. 4 Vermeintliche Gewissheiten. Oder: die pädophile Grenzlosigkeit
  13. 5 Gender: Die Befreiung aus alten Fesseln und das Anlegen neuer
  14. 5.1 Einführung
  15. 5.2 Gender als soziale Konstruktion
  16. 5.3 Gendergerechte Pädagogik
  17. 5.4 Bedenken
  18. 6 Inklusion. Oder: das Verschwinden des Menschen
  19. 6.1 Behinderung und Vielfalt
  20. 6.2 Die ›namenlose‹ Behinderung
  21. 6.3 Der Verlust der Leistungsdimension
  22. 7 Pädagogische Illusionen
  23. 7.1 Erziehung als Selbstentfaltung
  24. 7.2 Grenzauflösung als Befreiungsakt
  25. 8 Was Erziehung heute leisten kann und muss
  26. Literatur

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Einleitung

 

»Jedes Zeitalter ist der Sklave seiner Konventionen. Und unsere Epoche ist in dieser Hinsicht nur noch schlimmer, weil sie sich einbildet, sie habe mit sämtlichen Konventionen abgeschlossen.«
Pierre Manent

Erziehung ist eine anthropologische Notwendigkeit. Sie leistet für die Entwicklung des Kindes Unentbehrliches und sichert zugleich den gesellschaftlichen Bestand. Erziehung öffnet die Welt des Kindes: Sie weist einen Weg in das Erwachsenenleben und führt dazu, dass ein Zugang zu Lebensbereichen und Erfahrungswelten möglich wird, der ansonsten verschlossen bleibt. Die ehemals Kleinen werden dadurch groß, emotional und sozial erfahren, wissender und urteilsfähiger. Ohne Erziehung bleiben sie in sich gefangen, den Beschränkungen des Kindseins ausgeliefert. Ihre Potenziale liegen brach, sie verkümmern.

Dabei sind sie auf Erwachsene angewiesen, die sie nicht nur passiv begleiten, sondern aktiv auf sie einwirken, die eine Vorstellung davon haben, wohin sich das Kind entwickeln soll. Erziehung entfaltet sich zwischen zwei Polen: Neben Anerkennung, Ermunterung, Unterstützung stehen Lenkung, Begrenzung, Zwang. Die Erziehenden changieren zwischen der Identifikation mit dem Kind, das seinen unmittelbaren Bedürfnissen folgen möchte, und den Erziehungszielen, die darüber hinausgehen. Die große Hoffnung der Erziehung ist, dass die Pflicht zur Neigung wird, wie es bei Kant heißt, gekleidet in die Frage: »Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?« (Kant, 1803, S. 32). Das ehemals Fremde, von außen Entgegengebrachte und Erzwungene soll in einen inneren Besitz münden, der Abgrenzung und Unabhängigkeit ermöglicht, eigenständiges Denken und Handeln garantiert und der persönlichen Freiheit verpflichtet ist.

Dem entspricht die gesellschaftliche Erwartung an Erziehung. Erfahrungen von Bindung und Geborgenheit sollen zu einer inneren Sicherheit führen, die es erlaubt, dass Bewährtes tradiert wird. Zugleich wird angestrebt, dass die nächste Generation ausgetretene Pfade verlässt, neue Impulse setzt und eigene Wege beschreitet, die den Älteren nicht möglich waren. Verändern und Bewahren, in welchem Verhältnis auch immer, das ist das erzieherische Ziel.

Der Weg dorthin ist nicht immer ein einfacher, das wissen Eltern und Kinder seit Generationen. Die einschlägigen Erziehungsratgeber, die heute die Buchhandlungen füllen, zeugen davon. Die philosophischen und erziehungswissenschaftlichen Reflektionen, die sich durch die Jahrzehnte und Jahrhunderte ziehen, belegen ebenfalls, dass das Erziehungsgeschäft ein schwieriges ist, durchzogen von Antinomien, Spannungen und Widersprüchen. »Bildung lässt sich nicht erzeugen« (Tenorth, 2013, S. 8). Bereits Freud sprach von den drei unmöglichen Berufen, zu denen neben dem Psychoanalysieren und dem Regieren auch das Erziehen zählte. Er schrieb:

»Es hat doch beinahe den Anschein, als wäre das Analysieren der dritte jener ›unmöglichen‹ Berufe, in denen man des ungenügenden Erfolges von vornherein sicher sein kann. Die beiden anderen, weit länger bekannten, sind das Erziehen und das Regieren« (Freud, 1937, S. 94).

Eltern, Erzieher und Lehrkräfte müssen sich damit auseinandersetzen, dass sie sich auf unsicherem Terrain bewegen: Das Gutgemeinte kann in das Gegenteil umschlagen, hehre Absichten können ohne Erfolg bleiben. Eine Gewissheit gibt es hinsichtlich der eingesetzten Mittel nicht, wie Freuds (1933b, S. 160) berühmt gewordener Satz verdeutlicht:

»Die Erziehung hat also ihren Weg zu suchen zwischen der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens. Wenn die Aufgabe nicht überhaupt unlösbar ist, muss ein Optimum für die Erziehung aufzufinden sein, wie sie am meisten leisten und am wenigsten schaden kann.«

An Reformbemühungen hat es in der Geschichte der Erziehung wahrlich nicht gefehlt. Einige haben sich als ertragreich und unverzichtbar erwiesen, andere wurden über kurz oder lang als Irrwege entlarvt. In den letzten Jahrzehnten haben sich institutionelle Veränderungen potenziert, mit unterschiedlichem Erfolg, wie die gegenwärtige Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium zeigt. Insgesamt wurde ihnen ein zu großes Gewicht beigemessen, wie ein kritischer Rückblick ergibt.

»›Die Deutschen haben die falsche Diskussion geführt‹ sagt Jürgen Baumert, Präsident des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin […]: ›Sie haben Glaubenskriege über die richtige Schulform geführt, statt sich darum zu kümmern, wie man Kinder klüger macht‹« (Fleischhauer, 2010, S. 113).

Den Hintergrund für einen solchen Reformeifer, so viel Getriebenheit und Unruhe, bilden diverse Anforderungen, die sich an die Schule und das Schulsystem richten. Nach der ersten PISA-Studie, die Deutschland niedrige Leistungen attestierte, war die Aufregung groß, gleichsam ein Schock eingetreten, der keine schnelle Heilung versprach. Zur Forderung nach allgemeiner Leistungssteigerung, die permanent überprüft werden soll, gesellte sich eine weitere, emotional noch stärker besetzte: die nach Chancengleichheit. Die Schule soll dafür sorgen, dass die soziale Herkunft für Bildungserfolge nur noch eine geringe oder gar keine Rolle mehr spielt. Von Ganztagschulen wird ein entsprechender kompensatorischer Beitrag erhofft. Bemerkenswert an dieser Forderung ist die Heftigkeit, mit der sie vorgebracht und bis heute vertreten wird. Selbst dann noch, wenn empirische Befunde dem deutschen Schulsystem im internationalen Vergleich gar keine besondere soziale Selektivität bescheinigen.

Mit der Inklusion trat eine weitere Herausforderung hinzu. Noch stärker als bei der Chancengleichheit werden hier grundsätzliche Fragen aufgeworfen. Die Erwartungen, die sich an die Inklusion knüpfen, sind immens: Die Schule soll sich auf jeden einzelnen Schüler, auf jede einzelne Schülerin einstellen, sie in ihrer Vielfalt begrüßen und eine Gerechtigkeit walten lassen, die es bisher noch nicht gegeben hat. Pädagogisch werden erhebliche Veränderungen eingefordert, bis hin zu der Vorstellung, nunmehr könne ein neues Zeitalter der Pädagogik beginnen, mit der Schule als Vorläufer einer grundlegend gewandelten, wahrhaft humanen Gesellschaft. Die Diskussionen darüber werden hierzulande besonders intensiv geführt. Sie sind affektiv stark aufgeladen, mit hohen bis höchsten Idealen versehen und einer ausgeprägten Bereitschaft, diejenigen zu entwerten, die diesen weitreichenden Entwurf in Frage stellen. Speck (2010, S. 7) spricht von einem »ideologischen Minenfeld«.

Große gesellschaftliche Entwicklungen wie der schnelle, oft schwer durchschaubare politische und kulturelle Wandel machen auch vor den pädagogischen Diskursen nicht halt. Die dominierenden Erziehungshaltungen haben sich vom Autoritären zum Partnerschaftlichen hin entwickelt, das Verhältnis zwischen den Generationen und den Geschlechtern ist ein anderes und die Lebensformen sind vielfältiger geworden. Die Aufgaben, die dadurch entstehen, lassen sich nicht immer leicht lösen, wie die Diskussionen um das Schwinden der Erziehungsdimension bezeugen.

In den letzten, vielleicht zwanzig Jahren haben sich zudem weitere Veränderungen eingestellt, die weit darüber hinaus reichen. Bisherige Selbstverständlichkeiten sind auf breiter Ebene infrage gestellt worden, in einer Weise, die zuvor kaum vorstellbar war. Die Gender-Theorien sind ein prominentes Beispiel dafür. Bis in die schulische Praxis hineinwirkend sind damit Vorstellungen aufgerufen, die sich von der tradierten Polarität Mann – Frau längst verabschiedet haben. Das Thema ist jetzt nicht mehr in erster Linie, in welcher Beziehung Männer und Frauen zueinanderstehen, wie sich ihre Rollen, ihr Erleben, Verhalten und Selbstverständnis kulturell wandeln und welche Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern herrschen. Der Fokus hat sich auf ein ganz anderes Feld verschoben: Auf ein Reich zwischen den Geschlechtern, gestützt auf die Annahme einer sozialen und biologischen Unbestimmheit des Menschen, die den Selbstkonstruktionskräften des Einzelnen unterworfen ist. Damit wird wirkungsmächtig und stark interessengeleitet eine neue Anthropologie in Szene gesetzt, mit weitreichenden Folgen, die sich nicht nur auf die Sexualerziehung erstrecken. Sie tragen, durchaus gewollt, zur Verwirrung und Erschütterung mehrheitlich präferierter Lebensformen bei.

Trotz eines verbreiteten Unwohlseins erhebt sich dagegen vor allem akademisch kaum Widerspruch. Aus der Furcht heraus, Minderheiten könnten sich diskriminiert fühlen, aufgrund der Sorge, ihr berechtigtes Anliegen zu verletzen, durch die Befürchtung, selbst nicht auf der Höhe der Zeit zu sein und als ewig Gestriger abgestempelt zu werden. Es verhält sich hier ähnlich wie im Inklusionsdiskurs, wo sich Spielräume verengt haben und »insbesondere ›Inklusions‹-Dogmatiker den Fahrtwind der breiten gesellschaftlichen Anti-Diskriminierungsforderungen nutzen, um auch schon skeptische Rückfragen oder Verweise auf uneindeutige Befunde pauschal als Vorurteile abtun zu können« (Schimank, 2013, S. 173). Vieles wird deshalb ohne innere Überzeugung übernommen oder kommentarlos stehen gelassen, eine Abgrenzung erfolgt häufig nicht, obgleich die Gründe dafür auf der Hand liegen.

Im Hintergrund steht ein gesellschaftliches Klima, das einerseits Offenheit und Toleranz verspricht, jeden Einzelnen als Teil einer begrüßenswerten Vielfalt anerkennen will und sich darin für ungemein aufgeklärt hält. Auf der anderen Seite findet sich eine neue Normativität von erheblicher Strenge, die unnachsichtig in das einteilt, was gedacht und gesagt werden darf – oder eben auch nicht. Dieses einflussreiche System wirkt in unterschiedliche Lebensbereiche hinein, so auch – bemerkt oder unbemerkt – in den Wissenschaftsraum. So frei, wie sie gern wäre, ist die Wissenschaft nicht.

»Schnell kann es passieren, dass eine wissenschaftliche Diskussion nicht mehr möglich ist, sobald Äußerungen den Verdacht aufkommen lassen, dass der Vortragende möglicherweise nicht die richtige politische Gesinnung hat. Dann richtet sich die Kritik nicht mehr auf die Stringenz der Argumentation, die Adäquatheit der Darstellung und die Aufarbeitung des Forschungsstandes, sondern wird in der Terminologie einer manichäischen Zivilreligion artikuliert, als Warnung vor ›Beifall von der falschen Seite‹ oder ›rechtem, also bösem Gedankengut formuliert‹« (Lotter, 2019, S. 9).

Die Spaltungen, die damit einhergehen, und die Unbekümmertheit, mit der sie vorgenommen werden, sind erstaunlich. Lautet doch das langwährende Motto, im Ringen um eine offene Gesellschaft müsse jeder Achtung und Anerkennung finden, auch wenn er besonders ist oder sich als unbequem erweist. Niemand dürfte außerhalb des Toleranzrahmens gestellt werden. Andererseits sind die Hemmungen, genau dieses zu tun, sehr gering, wenn berechtigt erscheinende Begründungen dafür gefunden werden. Das Böse wird dann projektiv im Anderen untergebracht, als sei es dort in Reinkultur vorhanden, und sodann durchaus lustvoll und selbstwertstärkend bekämpft.

Eine wichtige Rolle spielt dabei die politische Korrektheit, die im angloamerikanischen Sprachraum ihren Ursprung hat. Sie fließt in spezieller Weise in die Verarbeitung der deutschen Geschichte ein. Gerade in jüngerer Zeit sind heftige Vorwürfe gegen die Sonderpädagogik erhoben oder erneuert worden: Sie nähre sich aus der nationalsozialistischen Zeit und setze fast ungebrochen ihr ideelles Erbe fort. Die Sonderschulen seien Ausdruck eben dieser Verpflichtung. Um dieses System zu schützen, werde in Kauf genommen, dass sich Deutschland völkerrechtlichen Verbindlichkeiten entzieht, die mit der UN-Behindertenrechtskonvention einhergehen. Zwingend pädagogisch notwendig sowie allein ethisch und juristisch legitimierbar sei eine ›Schule für alle‹, die jegliche institutionelle Differenzierung aufgibt, wie sie von Hänsel (2015) und Schumann (2018b) vehement eingefordert wird. Man sollte sich dabei nicht täuschen: Derart radikale Positionen, solche einfachen Lösungen genießen durchaus Ansehen, beanspruchen sie doch für sich, allein auf der Seite der moralisch Guten zu stehen – bei heftiger Entwertung Andersdenkender. Ihr Einfluss ist beträchtlich, er erstreckt sich bis in den Kern des pädagogischen und sonderpädagogischen Selbstverständnisses hinein.

Im Hintergrund dieser Entwicklung steht die Vorstellung, es könne eine Pädagogik geben, die auf gänzlich anderen Voraussetzungen fußt als die bisherige. Eine Pädagogik, die in ein neues Land der Freiheit eintritt, in dem sie die Zwänge der bürgerlichen Gesellschaft ablegt. Der Individualität wird dabei höchste Bedeutung eingeräumt. Niemand soll mehr benachteiligt sein oder sich so fühlen, Kränkungen soll es keine mehr geben. Eine Individualisierung des Unterrichts, die sich nach den Bedürfnissen jedes Kindes ausrichtet, ist dazu ein zentrales Stichwort.

Im Inklusionsdiskurs finden sich gewichtige Stimmen, die das Leistungsprinzip weitgehend liquidieren wollen, damit sich der Einzelne frei von äußeren Vorgaben entfalten kann. Kränkungen sollen auch dadurch entfallen, dass die Grenzen zwischen Behinderung und Nicht-Behinderung zerfließen. Auf der sozialen Ebene korrespondiert damit der Wunsch danach und die Überzeugung, eine umfassende Gerechtigkeit sei nunmehr möglich. Der soziale Hintergrund soll durch staatliche Eingriffe weitgehend an Bedeutung verlieren, elterliche Einflüsse zurückgeschraubt werden und sich ein allgemeiner Einstellungswandel vollziehen.

Das Interessante dabei ist, dass der utopische Charakter solcher Forderungen gar nicht wahrgenommen wird. Sie gelten als vernünftige, durchaus realisierbare Ziele. Wieder aufgenommen und fortgeführt werden alte Erziehungsphilosophien, solche aus der Zeit nach 1968 sowie neuere, mehr oder weniger pädagogiknahe Theorien. Rousseaus Erziehungsbild spielt als Hintergrundfolie nach wie vor eine wichtige Rolle. Eine ›gute‹, sich möglichst zurücknehmende Erziehung kann demnach die kindliche Unschuld erhalten. Als störender Faktor wird eine Gesellschaft ausgemacht, die Kinder mit Anforderungen, Verpflichtungen und Vergleichen konfrontiert. Gäbe es sie nicht, könne sich die Persönlichkeit frei entfalteten, indem die natürlichen kindlichen Bedürfnisse so lange wie möglich unangetastet bleiben. Ganz dem Gegenwärtigen verpflichtet und von der Last der Zukunft befreit. Der Traum vom ›neuen Menschen‹, der dahintersteckt, soll damit seiner Erfüllung nahekommen.

Vieles von dem findet sich später in den hohen Erwartungen wieder, die sich an eine weitgehend repressionsfreie, primär an den kindlichen Bedürfnissen orientierte Erziehung knüpfen. Diese Erwartungen speisen sich aus unterschiedlichen Quellen, häufig mit stark humanistisch-psychologischer Unterfütterung. Ihr Einfluss währt bis in die heutige Zeit. Als ein Meilenstein können die Arbeiten Alice Millers (1979; 1983) gelten, die hier paradigmatisch herangezogen werden. Millers zentrales Thema ist die Schädigung, die kleine Kinder erleiden können, wenn sie in ihrem ureigenen Erleben nicht wahrgenommen, verstanden und anerkannt werden. Unbemerkt in das Korsett fremder Wünsche gepresst und einer verständnislosen Umwelt ausgesetzt, verliert das Kind sein ›wahres Selbst‹, zu seinem eigenen Inneren kann es nicht finden. Erziehung wird deshalb zu einer gefährlichen Angelegenheit erklärt. Sie soll sich mit Verpflichtungen zurückzuhalten, Kinder gewähren lassen, damit sie sich frei, von den Erwartungen anderer geschont, aus sich selbst heraus entfalten können.

Heute sind es sozial-konstruktivistische Theorien, die auf innere Selbstentfaltungskräfte setzen und an der Gesellschaft all das bannen wollen, was sie für gefährlich halten. Und das ist nicht wenig.

An pädagogischen Illusionen und Ideologien, die eine neue Freiheit beschwören, mangelt es also wahrlich nicht. Sie blühen nicht weniger als zu früheren Zeiten, sondern noch stärker als zuvor. Heftige Emotionalisierungen sind die Folge. Die Gewissheit, im Besitz einer endgültigen Aufklärung zu sein, führt dazu, dass die eigenen Positionen unerbittlich vertreten und diejenigen massiv entwertet werden, die ihnen nicht folgen können oder wollen. Das Spektrum dessen, was gesagt werden darf, engt sich dadurch beträchtlich ein.

Es kommt also darauf an, dass starre Polarisierung und Spaltungen überwunden und offene Dialoge wieder möglich werden. Das setzt voraus, dass unterschiedliche Sichtweisen frei formuliert werden können, ohne dass sie unter den Verdacht der Inkorrektheit und des moralisch Unzulässigen gestellt werden. Ein solcher Austausch ist allerdings für diejenigen nicht ganz ungefährlich, die sich hinter Korrektheitsformeln verschanzen und dadurch einer argumentativen Auseinandersetzung entziehen wollen. Denn dann würde deutlich werden, wie brüchig viele der vorgebrachten ›Errungenschaften‹ sind, wie begrenzt ihr wissenschaftlicher Gehalt ist und wie problematisch ihre pädagogischen und gesellschaftlichen Folgen ausfallen. Die Erziehung ist also gut beraten, wenn sie kritisch bleibt und das, was sie gegenwärtig leistet und zukünftig leisten kann, nicht leichtfertig gefährdet.

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Erziehung, Vergangenheitsbewältigung und politische Korrektheit

2.1       Erziehung als anthropologische Notwendigkeit

In Zeiten eines schnellen kulturellen Wandels, den wir gegenwärtig erleben, ändern sich Erziehungsstile und Erziehungsziele fortwährend. Erziehungsnotwendigkeiten selbst werden dadurch jedoch nicht infrage gestellt. Sie existieren nach wie vor und bedienen sich nur anderer Inhalte.

Diverse Modernisierungs- und Globalisierungstheorien beschreiben und analysieren, wie sich die gegenwärtigen Lebensbedingungen psychisch und sozial auswirken, worin sie sich von den früheren unterscheiden, wie sie sich weiterentwickeln können und welche Rahmenbedingungen sich daraus für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen herleiten lassen. Sie enthalten dabei mehr oder weniger großflächige Entwürfe, die in der Regel weitreichende Aussagen über die ganze Kultur beinhalten.

So steht das Individualisierungstheorem und die »Risikogesellschaft« (Beck, 1986) neben Sennetts (1998) flexiblem Menschen, das »Zeitalter des Narzissmus« (Lasch, 1986) trifft auf die »Autistische Gesellschaft« (Lempp, 1996), die »Erregte Gesellschaft« (Türcke, 2002) begegnet dem »erschöpfte[n] Selbst« des von der Modernisierung überforderten Menschen (Ehrenberg, 2008) und die »Multioptionsgesellschaft« (Gross, 1994) hat in Bröcklings (2007) »Unternehmerische[m] Selbst« eine Ergänzung gefunden. Bei aller Unterschiedlichkeit eint sie die Gewissheit, dass eine statische, traditionsgelenkte durch eine bewegliche, dynamische Gesellschaft abgelöst wurde, auf die sich der Einzelne einstellen und die Erziehung reagieren muss.

Viele der in den Modernisierungs- und Globalisierungstheorien enthaltenen Überlegungen, die pädagogisch beachtenswert sind, zwingen dazu, über die neuen Herausforderungen nachzudenken. Kinder und Jugendliche sind heute einer bislang unbekannten Reizflut und medialen Informationsdichte ausgesetzt, die von einer allgemeinen Beschleunigung der Lebensverhältnisse begleitet wird. Sie sollen früh selbständig werden und Verantwortung für sich übernehmen, sich individualisieren und in Distanz zu althergebrachten Vorgaben eigene Wege gehen. Erwartet wird, dass sie all diesen Anforderungen gewachsen sind. Zudem sollen sie auf sich aufmerksam machen, sich präsentieren und zeigen, wer sie sind und was sie möchten. Viele weitere Anforderungen und Erwartungen ließen sich ausführen und auf ihre inneren Spannungsbögen, teils auch Widersprüche hin befragen.

Inwieweit es neben den neuen Möglichkeiten auch zu Risiken und Überforderungen kommt, ist eine Frage, die sich aufdrängt. Ihr wird unter anderem im Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik Band 21 (Ahrbeck, Dörr, Göppel & Gstach, 2013) nachgegangen. Ein einzelner Aspekt sei hier herausgegriffen. Empirisch lässt sich feststellen, dass bestimmte Beeinträchtigungen wie Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen haben. Seit kürzerem werden vermehrt Angsterkrankungen beklagt. Andere Störungsbilder gehen zurück, so dass sich insgesamt eine ausgeglichene Bilanz einstellt. Über längere Zeiträume nehmen psychische Beeinträchtigungen weder zu noch ab. Innere und äußere Konflikte finden sich in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Konstellationen, ihr Gewicht wird auch in Zeiten der Modernisierung oder Globalisierung nicht geringer. Die Hoffnung, eine aufgeklärte Erziehung könne entscheidend zu einer Verminderung beitragen, hat sich nicht erfüllt (Dornes, 2012).

Eine äußere Verknüpfung zwischen psychischen Erkrankungen, Entwicklungsbeeinträchtigungen und kulturellen Gegebenheiten lässt sich unschwer herstellen. Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen sind nicht zufälligerweise in einer Zeit entstanden, die sich durch Zeitverknappung, hektische Lebensgewohnheiten, ständig wechselnde Reize und übererregende Stimulierungen auszeichnet (Türcke, 2012). Angst breitet sich aus, wenn haltende Kräfte schwinden, Bindungen nicht mehr so stark sind wie benötigt und Individualisierungsanforderungen entstehen, die sich als überfordernd erweisen. In einer Gesellschaft, in der Selbstdarstellung und äußerer Schein eine große Rolle spielen, kann es nicht verwundern, wenn sich auch Kinder narzisstisch gebärden, sei es aufgrund ihrer inneren Struktur oder auch nur deshalb, weil sie einem bestimmten sozialen Habitus folgen.

Weitgehend unklar bleibt dabei, wie gesellschaftliche Veränderungen konkret auf den Einzelnen einwirken. Wie genau schlagen sie sich, vermittelt über die wichtigsten Bezugspersonen, im Kind nieder? Vor allem angesichts des Umstandes, dass daran frühe Entwicklungsprozesse beteiligt sind. Und welche Rolle spielt die Erziehung dabei? Zeittypisch fast allgegenwärtige Hinweise auf Phänomene wie ›Beschleunigung‹, ›Individualisierung‹, ›Überforderung‹, ›Entfremdung‹ oder ›Entgrenzung‹ tragen kaum zu einer Aufklärung bei. Dazu sind sie viel zu allgemein gehalten, zu wenig auf die komplexen Dynamiken bezogen, durch die sich Sozialisation und Erziehung auszeichnen.

Einen Schritt weiter führt Martin Dornes (2010) Schrift »Die Modernisierung der Seele«, die sich mit dem kulturellen Wandel der letzten Jahrzehnte beschäftigt, mögliche Folgen für die psychische Strukturbildung analysiert und sich sodann pädagogischen Fragen widmet. Im Gegensatz zu anderen Autoren spielen für Dornes empirische Fundierungen der jeweils getroffenen Aussagen eine wichtige Rolle.

Für wenig überzeugend hält er die auch von vielen Psychoanalytikern vertretene These, dass es infolge der Modernisierung zu einer allgemeinen »Schwächung der Persönlichkeit« kommt (Dornes, 2010, S. 1003) – mit einer überzogenen narzisstischen Bedürftigkeit, eingeschränkten Ich-Funktionen und einem unzureichend entwickeltem Über-Ich. Ebenso wenig könne aufgrund des Datenmaterials von einem Befreiungsakt die Rede sein, der auf breiter Ebene zu gestärkten psychischen Strukturen führt. Folgenlos bleiben die kulturellen Veränderungen aber dennoch nicht: Es geht um mehr als nur äußere Anpassungsleistungen, die den Kern der Person unberührt lassen.

Dornes favorisiert deshalb die These eines »ambivalenten Strukturwandels«, die besagt, dass es »zu einem Wandel in den seelischen Grundstrukturen [gekommen ist], der sowohl progressive wie regressive Elemente enthält« (Dornes, 2010, S. 1008). Auf der einen Seite steht ein Zugewinn an innerer Freiheit, das ist die progressive Dimension. Sie beruht darauf, dass starre Strukturen aufgelöst und rigide innere Verpflichtungen aufgeweicht wurden. Deshalb können neue Wege gegangen werden, die zuvor aus inneren Gründen verschlossen waren. Verbunden damit ist eine größere Unsicherheit und Verletzlichkeit. Die inneren Strukturen sind durchlässiger und störanfälliger geworden, so dass die Gefahr eines Scheiterns wächst. Das meint Dornes mit dem regressiven Moment.

Von einer solchen Ambivalenz ist auch das Erziehungsgeschehen durchzogen. Göppel (2007, S. 14) spricht von »riskanten Chancen«, die die heutige Erziehung auszeichnen. Dornes betrachtet das Jahr 1968 als ein einschneidendes Ereignis, das zu einem grundlegenden Wandel in den leitenden Erziehungsvorstellungen geführt hat. Als zentrales Moment gilt dabei die Abkehr vom Autoritären und die Hinwendung zu mehr Partnerschaftlichkeit. Sie hat den Befehlshaushalt früherer Tage abgelöst. Daraus resultiert auch ein neues Beziehungsverständnis: Kinder sollen nicht mehr in erster Linie gehorchen und sich den Vorgaben der Erwachsenen anpassen, sondern in ihrem Eigensinn und ihren Interessen ernst genommen werden. Selbständigkeit und Autonomie werden zu den großen neuen Entwicklungszielen. Erziehungsabsichten bedürfen nunmehr einer expliziten Begründung. Sie sind nicht mehr selbstverständlich, in ihren Wegen ebenso wenig wie in ihren Zielen. Kinder sollen einsehen, warum etwas sinnvoll und notwendig ist. Tun sie es nicht, muss darüber verhandelt werden, möglichst so, dass am Ende eine Zustimmung erfolgt, denn Spannungen und Differenzen werden nur ungern ertragen.

Auf der positiven Seite steht, dass sich die persönlichen Spielräume im Allgemeinen erhöht haben. Einer individuellen Entfaltung sind weniger enge Grenzen gesetzt als zu früheren Zeiten. Viele Kinder wachsen unbeschwerter auf, die Last einer autoritären Unterordnung ist von ihnen gewichen. Insofern kann von einer Befreiung aus überkommenen Zwängen gesprochen werden, die allerdings keiner klischeehaften Verklärung verfallen sollte. Die autoritäre Erziehung kannte sehr unterschiedliche Formen und Ergebnisse. Liebevolles und Fürsorgliches gab es auch damals. Sie hat nicht nur beschädigte Menschen hervorgebracht, sondern auch besonders freie, kritische und selbstbestimmte. Klare Strukturen und Zielvorgaben ermöglichen Auseinandersetzungen, die sich als persönlichkeitsstärkend erweisen. Die Identifikation und Auseinandersetzung mit konturierten Bezugspersonen hat nicht nur Nachteile.

Mit dem beschriebenen Wandel gehen, wie könnte es auch anders ein, neue Probleme einher. Die größere Offenheit führt seitens der Erwachsenengeneration zu Irritationen über ihren Erziehungsauftrag und nicht selten dazu, dass der Erziehungsgedanke geschwächt wird (Ahrbeck, 1998; 2004; Eberhard, 2013; Gaschke, 2003). Es bestehen zunehmend Ungewissheiten darüber, wohin Kinder erzogen werden sollen. Bei der angestrebten Partnerschaftlichkeit, die mitunter in Geschwisterlichkeit mündet, können sich Erwachsene und Kindern so sehr annähern, dass die Elterngeneration ihren Erziehungsauftrag nur noch unzureichend wahrnimmt. Generationale Differenzen werden aufgeweicht. Winterhager-Schmid (2000, S. 22) hat diese Entwicklung bereits zur Jahrtausendwende beschrieben:

»Gegenwärtig aber ›sieht es so aus‹, als komme Erwachsenen die Vorstellung abhanden, sie hätten ihrerseits einen Generationenvertrag ›nach unten‹ als Verpflichtung zur Vorleistung verantwortlicher Enkulturation der Heranwachsenden einzuhalten.«

Als ein wichtiger Grund dafür wird angegeben, dass die heutigen Kinder in eine Welt entlassen werden, die in vielem unvorhersehbar geworden ist. Etwa in Bezug auf die Art der Berufstätigkeit, mögliche Arbeitsplätze und Lebensorte oder auch hinsichtlich der persönlichen Lebensgestaltung und der allgemeinen Lebensbedingungen. Man wisse nicht mehr, was sie für ihr Leben wirklich brauchten und ob das, was die Generation der Erziehenden ihnen mitgeben kann, nicht genau das Falsche sei.

Die Erwachsenen »scheinen heute eher davon auszugehen, die Heranwachsenden könnten sich in den Beschleunigungen und Verwerfungen des zugespitzten Modernisierungsprozesses leichter zurechtfinden, wenn sich die Erwachsenen aus dem Geschäft der Bildung und Erziehung frühzeitig zurückziehen« (Winterhager-Schmid, 2000, S. 29).

Ob sich die Lebenssituation der meisten Kinder später wirklich stark von derjenigen der Elterngeneration unterscheiden wird, sei dahingestellt. Zumindest wird es so antizipiert.

Doch es geht nicht nur um Unsicherheiten, die mit einer Zielbestimmung verbunden sind. Auch dort, wo klare Zielvorstellungen existieren, werden sie oftmals nicht konsequent verfolgt. Die Hemmung, Erziehungsaufgaben wahrzunehmen, resultiert aus der übermächtigen Sorge, die Nachwachsenden könnten Schaden nehmen, wenn sie mit Begrenzungen und Einschränkungen konfrontiert werden. Das sei für sie beschämend, ihr Selbstwert leide darunter, sie würden verletzt, wenn ihrem Willen nicht gefolgt wird – wobei die Schwellenwerte ausgesprochen niedrig angesetzt sind. Strafe ist zu einem Unwort geworden. Ein Nein soll es möglichst nicht mehr geben, stattdessen Austausch und Kooperation.

Dieses Phänomen kann nicht nur den Erziehenden vor Ort angelastet werden, als eine Kapitulation vor dem Erziehungsauftrag, es folgt durchaus höheren Ideen:

»Zumindest in den politischen Leitlinien sind die traditionelle Verantwortung der Eltern für ihr Kind und die emotionale Abhängigkeit des Kindes von den Eltern einer kommunikativen Verflüssigung der Beziehungen gleichwertiger und selbständiger Individuen unterschiedlichen Alters gewichen« (Dammasch, 2013, S. 21).

Dazu passt eine idealisierende Überhöhung kindlicher Selbständigkeit und Eigenverantwortung, die wiederum in politisch-programmatischen Texten enthalten ist. Die These vom ›selbständigen Kind‹ findet sich bereits im Zehnten Kinder- und Jugendbericht (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, 1998). Kindern wird demnach bereits in einem frühen Alter zugetraut, dass sie sich in weiten Teilen ihres Lebens selbst organisieren, wichtige Entscheidungen treffen und Entwicklungswege eigenständig bahnen. Nur noch wenig von Erziehung geleitet und mit vielfältigen Kompetenzen ausgestattet, wird ihnen ein hohes Maß an persönlicher Verantwortlichkeit zugeschrieben. Abhängigkeit und Angewiesenheit kommen kaum noch vor. Den Erwachsenen kommen diese Annahmen entgegen. »Eltern, Erzieher und Lehrer [erwarten inzwischen], dass Kinder in vielen Bereichen fähig sind, auf sich gestellt all das in zufriedenstellender Weise zu regeln, was anfällt« (Datler, Eggert-Schmid Noerr & Winterhager-Schmid, 2002, S. 7).

Sie schützen sich dadurch davor, dass sie in eine schuldbeladene Position geraten, die sich aus einer ungleichen Machtverteilung ergibt. Gefürchtet wird, die Kinder durch ein Nein in ganz basaler Weise und mit langfristigen Folgen gegen sich aufzubringen. Jedes Nein mutiert, so die angsterregende Fantasie, zu einem ›kalten Nein‹, das die ganze Beziehung vergiften kann. So, als ob es auch noch heute darum ginge, eine autoritäre Züchtigung abzuwehren. Die Erwachsenen wollen deshalb nicht mehr über ihre Kinder bestimmen, sich durchsetzen, sich gegen ihren Willen behaupten. Eine innere Legitimation dafür scheint kaum noch vorhanden zu sein.

Aber Erziehung hat mit Macht zu tun, sie ist ihr immanent, das wusste bereits Flitner (1952, S. 56), der schrieb: »Erziehung bedeutet eine Ausübung von Macht über Menschen.« Dieses Wissen ist inzwischen in weite Ferne gerückt, es soll möglichst aus dem Bewusstsein getilgt werden. Es widerspricht dem Ideal moderner Eltern, die auf ihre Partnerschaftlichkeit stolz sind und sich dadurch als gute Väter und Mütter fühlen. Sie nehmen es als Beweis ihrer eigenen Tüchtigkeit, dass sie möglichst wenig in Differenz zu ihren Kindern geraten. Das stärkt ihre Überzeugung, auf der Höhe der Zeit zu sein.

Das Begleiten ist zu einem hohen Wert geworden, Lenkung und Anforderungen geraten demgegenüber als ungeliebte Vokabeln in den Hintergrund. »Das gesamte Verständnis von Schule ist heute durchdrungen von der Vorstellung, die Lehrkraft solle nicht das Zentrum des Unterrichts sein« (Kaube, 2019, S. 221). ›Vom Lehrer zum Coach‹: Das ist eine gängige Formel geworden, die sich in Schulgesetzen einzelner Bundesländer und diversen Ausführungen zur Kinder- und Jugendhilfe wiederfindet. In der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik ist dieser Gedanke besonders prominent vertreten und in vielen anderen pädagogischen Entwürfen findet er sich ebenfalls wieder. Zugespitzt spricht Kaube (2019, S. 221) von Schülern, »die im Klassenzimmer fast wie Autodidakten agieren, denen ab und an ein freundlicher Beobachter assistiert«. In diese Richtung weist auch die sozialpädagogische Formel von den Kindern als ›Experten ihres Lebens‹. Kinder und Jugendliche geben vor, was sie brauchen, und die Erwachsenen folgen ihnen (ausführlich: Ahrbeck, 2004; Ahrbeck & Willmann, 2010).

Eine Abkehr vom Autoritären bedeutet nun wahrlich nicht, dass der Erziehungsbegriff aufgegeben oder über die Maßen relativiert werden muss. Richtig ist vielmehr: Generationenverhältnisse lassen sich nicht beliebig umdefinieren. Die Kleinen bleiben die Kleinen und die Großen die Großen, daran ändert sich prinzipiell nichts. »Kinder und Kindheit sind nicht unbegrenzt modernisierbar« (Winterhager-Schmid, 2002, S. 30). Eine Erziehungsverantwortung währt fort. Ihr muss sich jede Generation neu stellen. Die anzustrebenden Ziele lassen sich auch in Zeiten eines schnellen kulturellen Wandels unschwer bestimmen. Es geht um die kognitive, psychische und soziale Weiterentwicklung der Kinder und die Entfaltung ihrer individuellen Talente.

Zu den Grundhaltungen, die erworben werden müssen, gehört ein respektvoller Umgang mit anderen Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen und auch dann, wenn ihre Lebensform und ihre Weltanschauung nicht der eigenen entspricht oder ihr persönlich fremd ist. Das Grundgesetz gibt dazu, um die höchste Instanz anzurufen, eindeutige Vorgaben. Es enthält Verpflichtungen, die für jedermann verbindlich sind. Eine Besinnung darauf ist gerade gegenwärtig unumgänglich, in Zeiten, die sich durch zahlreiche Entgrenzungen auszeichnen. Wer öffentliche Debatten und Beiträge hochrangiger politischer Vertreter verfolgt, sich in Internetforen auskennt und mitbekommt, wie häufig im Namen persönlicher Überzeugungen und ideologischer Gewissheiten entwürdigende Entwertungen und destruktive Angriffe erfolgen, wird wissen, wie notwendig und dringlich diese Aufgabe ist.

Toleranz und Akzeptanz entwickeln sich nicht von allein. Sie müssen langsam ausgebildet werden, über viele Hindernisse und Krisenfälle hinweg. Das ist keine leichte Aufgabe. Damit sie bewältigt werden kann, ist ein ausreichender Stand der Moralentwicklung erforderlich, ein mehr oder weniger gesichertes Selbstbild und die Fähigkeit, sich auf andere einstellen und ihre Motive nachzuzeichnen.

Neben konkreten Verhaltensweisen, die einzuüben sind, bedarf es hier wie bei der Lösung vieler anderer Entwicklungsaufgaben bestimmter psychischer Voraussetzungen. Frustrationstoleranz und Affektkontrolle, Bedürfnisaufschub und Sublimierung sowie die Entwicklung einer inneren Zeitdimension sind dazu wichtige Stichworte. Andere kommen hinzu: Die Begrenzung des frühkindlichen Narzissmus, die Ausbildung eines realitätsgerechten Selbst, die Wandlung zunächst archaischer Über-Ich-Inhalte in ein reifes Gewissen, das leitet, begrenzt und in positiver Weise steuert. Weiterhin: Die Fähigkeit zur Wahrnehmung innerer Prozesse, die Beurteilung der äußeren Realität und eine selektive, den eigenen Bedürfnissen entsprechende Identifikation mit anderen.

In unübersichtlich gewordenen Zeiten mit weniger normierten Lebenswegen werden die psychischen Anforderungen nicht geringer. Frustrationen treten zu allen Zeiten auf, und Affekte müssen nach wie vor kontrolliert werden. Auch in einer Gesellschaft, die vergleichsweise wenig Triebaufschub fordert, werden diese Fähigkeiten nicht überflüssig. Eine kultivierte Welt ohne Triebaufschub, ohne Sublimierung ist schlichtweg unmöglich. Die sich daraus ergebenden Entwicklungsaufgaben sind unumgänglich, auch in einer Gesellschaft, die sich als weitgehend permissiv erlebt. Mögen die Zeiten auch noch so triebfreundlich, narzisstisch geprägt und auf die Demonstration der eigenen Bedeutung gerichtet sein: Mit der frühkindlichen Erwartung, unablässig im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen und nur den eigenen Bedürfnissen folgen zu können, lässt es sich kein gutes und erfolgreiches Leben führen.

Dornes Beschreibung, dass psychische Strukturen flexibler geworden sind, mit durchaus ambivalenten Folgen, ist sicherlich zutreffend. Gleichwohl kann kein Kind von der grundlegenden Aufgabe entbunden werden, eine möglichst reife, mit der Innen- und Außenwelt kompatible Gewissensstruktur zu erwerben – auch wenn sich die Inhalte in einigen Bereichen verändert haben. Gleiches gilt für die Entwicklung der Ich-Funktionen und die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen. Gesellschaftliche Anforderungen wandeln sich, der Arbeitsmarkt ist ein wichtiges Beispiel dafür, sodass neue fachliche und interpersonelle Kompetenzen gefragt sind. Das ändert aber nichts an dem Faktum, dass bestimmte psychische Strukturen und Funktionen entwickelt werden müssen. So ist es unumgänglich, dass die äußere wie die innere Realität möglichst unverzerrt und differenziert beobachtet und beurteilt wird. Ebenso gilt, dass die inneren Voraussetzungen für eine befriedigende Beziehungsgestaltung vorhanden sein müssen. Dazu gehört die Wahrnehmung der Bedürfnisse anderer und ein Abgleich mit den eigenen, ein sich einstellen, ohne sich zu verlieren, eine Akzeptanz eigener und fremder Besonderheiten.

Das bedeutet zusammengefasst, dass sich elementare Ziele kindlicher und menschlicher Entwicklung sehr wohl konkret beschreiben lassen. Sie definieren zugleich einen pädagogischen Auftrag. Im Einzelnen werden zwar aufgrund des kulturellen Wandels Neuorientierungen notwendig, ohne dass sie jedoch den globalen Rahmen infrage stellen (ausführlich Ahrbeck, 2004).

Ebenso wie die emotionalen und sozialen sind kognitive Entwicklungsziele nicht beliebig. Die Aufregung über die ersten PISA-Befunde von 2001 zeugt davon. Offensichtlicht beunruhigt es – und das nicht zu Unrecht –, wenn die Schülerinnen und Schüler des Landes in elementaren Leistungsbereichen wie dem Lesen und in der mathematischen Grundbildung zurückbleiben. Diese Werte haben sich bis heute im Durchschnitt gravierend verbessert. Nach wie vor besteht aber ein schwerwiegendes Problem: 16 bis 17 Prozent der Schüler siebter Klassen verharren in den Naturwissenschaften, der Mathematik und im Lesen auf einem inakzeptabel niedrigen Kompetenzniveau (Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2016). Viele weitere Entwicklungsschritte sind dadurch verschlossen. Wer nicht richtig lesen, schreiben und rechnen kann, hat nur begrenzte Zukunftschancen. Eine Nachbesserung ist deshalb unverzichtbar. Dabei sollte im Auge behalten werden, dass die PISA-Studien nur begrenzte Aussagen ermöglichen. Sie messen keine Bildung, sondern nur Bildungsvoraussetzungen, die allerdings überaus bedeutungsvoll sind.

Wiederum gilt: Auch wenn sich Wissensbestände schnell erweitern, Bildungsinhalte hinzutreten und neue Technologien beherrscht sein wollen, bleiben bestimmte intellektuelle Qualifikationen und Kenntnisse unentbehrlich. Das zu erwerbende Wissen ist bei weitem nicht so beliebig, wie manchmal behauptet wird, und Kriterien für eine profunde Reflektionsfähigkeit lassen sich unschwer definieren (Kaube, 2019; Kraus, 2017). Beides, Wissen und Denken, entwickelt sich nur, wenn zielgerichtet darauf hingearbeitet wird, ausdauernd und geduldig, in immer neuen Schleifen des Übens und Ausprobierens.

All das fällt dem Kind nicht von selbst zu. Es ist auf andere, ihre Anleitung und Hilfe angewiesen, darauf, dass ihm Erfahrungen, Haltungen und Wissensbestände weitergegeben werden. Durch die Auseinandersetzung mit den kulturellen und gesellschaftlichen Errungenschaften kann es sich hochindividuell die Welt aneignen, sich selbst gestaltend einbringen und einen Platz suchen, der ihm persönlich entspricht. Erziehung ist und bleibt eine anthropologische Notwendigkeit dafür. Sie leistet Unverzichtbares: »Um moralisch und intellektuell zu wachsen, bedarf es des intellektuellen Widerparts« (Rehfus, 1997, S. 125). Dazu werden konturierte Bezugspersonen benötigt, die den Erziehungsauftrag annehmen, freundlich und ermutigend sind, aber auch strukturierend und begrenzend agieren. Oft ist es nicht das affirmative Ja, sondern das Nein, das die Entwicklung vorantreibt. In einer konfliktfreien Sphäre ist das allerdings unmöglich.