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Katrin Meyer

Theorien der Intersektionalität zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich

Ina Kerner, Berlin

Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2017 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: Leda Ratti, Kunstweberin, Bellinzona TI

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-106-7

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-782-5

1. Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

Einleitung

1. Die Entstehung der Intersektionalitätstheorien aus dem Geist der Kritik

1.1 Frühe Kritiken am weißen Feminismus in den USA

1.2 Geschlecht, Klasse, Sexualität und ›Rasse‹ im deutschsprachigen Feminismus der 1980er und 1990er Jahre

1.3 Kimberlé W. Crenshaw

1.4 Ein Konzept auf Reisen

2. Elemente der Intersektionalitätstheorien

2.1 Soziale Gerechtigkeit

2.2 Kritik an Ausschlüssen und Gegensätzen

2.3 Macht der Intersektion

2.4 Kategorien als Analyserahmen

2.5 Methodische Vielfalt

3. Aktuelle Debatten

3.1 Zwischen Metapher und Theorie

3.2 Welche Kategorien sind zentral?

3.3 Streit um Identität

4. Ausblick

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Über die Autorin

Einleitung

Im Jahr 1851 erkämpfte sich die ehemalige Sklavin Sojourner Truth bei einem Treffen der Women’s Rights Convention in Ohio gegen den Widerstand weißer Feministinnen im Saal das Rednerpult und fragte ins Publikum: ›Ain’t I a woman?‹ Bin ich nicht eine Frau? Sie sei zwar als Sklavin von den weißen Sklavenhaltern nie wie die weißen Frauen im Herrenhaus auf Händen getragen worden und sie habe genauso hart arbeiten müssen wie ihre männlichen Mitsklaven, aber, so ihr Fazit: Bin ich nicht eine Frau? Diese Frage und die Bedeutung, die Truth ihrer Erfahrung als ehemalige Sklavin in den USA in einer feministischen Öffentlichkeit gab, kann als eine der Geburtsstunden intersektionaler Theorie avant la lettre bezeichnet werden. In der Intervention von Truth kommen zwei Motive zusammen, die für Intersektionalitätstheorien bis heute entscheidend sind: Zum einen machte sie auf die Tatsache aufmerksam, dass sich rassistische Strukturen wie das US-amerikanische Sklavereisystem und patriarchale Strukturen, die Frauen sexistischer Diskriminierung unterwerfen, historisch verbinden und Menschen, die in dieses Herrschaftsgefüge eingebunden sind, unterschiedlich diskriminieren und privilegieren. Zum anderen forderte Truth emanzipatorische Bewegungen wie den Feminismus dazu auf, diese unterschiedlichen Erfahrungen in ihre Theorien und Politiken zu integrieren. Die Kritik an den blinden Flecken und Ausschlüssen feministischer Theorien und die Fundierung dieser Kritik in der persönlichen Erfahrung von mehrdimensional diskriminierten Frauen waren wichtige Voraussetzungen dessen, was wir heute als Intersektionalitätstheorien bezeichnen.

Intersektionalitätstheorien, so eine erste und knappe Definition, analysieren, kritisieren und überwinden eindimensionale Perspektiven auf gesellschaftliche Macht. Die Intersektionalitätsforschung untersucht, wie unterschiedliche Herrschaftsstrukturen nach Geschlecht, ›Rasse‹, Klasse, Sexualität und vielem mehr in einer Gesellschaft zusammenwirken, wie sie das Leben von Individuen und Gruppen unterschiedlich prägen, wie sie unterschiedlich sichtbar sind und wie emanzipatorische Theorien und Praktiken daran mitwirken, intersektionale Erfahrungen und Machtformationen unsichtbar zu halten.

Das vorliegende Buch führt ein in die Geschichte und die aktuelle Ausrichtung von Intersektionalitätstheorien und erläutert deren grundlegende Dimensionen. Der Begriff der Theorie wird dabei in einem sehr weiten Sinn verstanden. Er steht für vielfältige Ansätze und Perspektiven, die sich theoretisch mit Fragen zur Intersektionalität auseinandersetzen, ohne dass sich daraus ein einheitliches und systematisch geschlossenes Theoriegebäude ableiten lässt. Dabei ist hier auch nicht entscheidend, ob die theoretischen Ansätze mit dem Begriff der Intersektionalität arbeiten oder ob sie andere Begriffe entwickeln, um Verbindungen und Wechselwirkungen von Machtstrukturen zu bezeichnen und die unterschiedlichen Lebensbedingungen von Menschen sichtbar zu machen. Entscheidend ist vielmehr die Perspektive auf die Verschränkung von Machtstrukturen und das Interesse, diese Verschränkung analytisch zu erfassen und zu benennen, um sie kritisieren und überwinden zu können. Ziel dieses Buches ist es, den Stand dieser aktuellen Diskussionen zur Intersektionalität abzubilden und die zentralen Anliegen von Intersektionalitätsansätzen einführend zu vermitteln.1 Zu diesen gehört es, so die These des Buches, durch die Kritik an eindimensionalen Analyseperspektiven herrschende Sichtweisen auf Macht infrage zu stellen und theoretische Konzepte und gesellschaftliche Verhältnisse so zu verändern, dass sie gerechter werden und Herrschafts- und Gewaltverhältnisse überwinden können. Das Konzept der Intersektionalität ermöglicht die kritische Wahrnehmung von Ungleichheit und Diskriminierung, Ausschluss und Marginalisierung mit dem Ziel, die Rechtsgleichheit aller Menschen, die Anerkennung von Differenz und die gesellschaftliche Solidarität zu befördern. Dieser Einführungsband will dieses kritisch-transformative Potenzial des Intersektionalitätskonzepts in seinen Möglichkeiten und seinen Grenzen vermitteln und die Bedeutung der intersektionalen Perspektive für die aktuelle Machtkritik aufzeigen.

Die Entstehung intersektionaler Perspektiven

Die Entwicklung einer intersektionalen Perspektive auf Machtverhältnisse wurde maßgeblich durch feministische und antirassistische Bewegungen in den USA im 19. und 20. Jahrhundert geprägt. Wirkmächtig wurden diese Denkansätze besonders in den 1980er Jahren, als Women of color in den USA, aber auch in Europa öffentlich thematisierten, wie sie durch Rassismus, (Hetero-)Sexismus und ökonomische Marginalisierung diskriminiert werden, im feministischen Mainstream unsichtbar sind und in Antidiskriminierungspolitiken übergangen werden. Diese Marginalisierung vergleicht die US-amerikanische Rechtswissenschaftlerin Kimberlé W. Crenshaw in ihrem Text Demarginalizing the Intersection of Race and Sex von 1989 mit der Situation eines Verkehrsopfers, das an einer Kreuzung (intersection) von Fahrzeugen, die aus verschiedenen Richtungen kommen, verletzt wird. Diese Metapher prägte den Begriff der Intersektionalität und gab dieser Theorierichtung den Namen. Er steht metaphorisch für den Anspruch, die komplexen Diskriminierungserfahrungen von Menschen zu erfassen, die am Schnittpunkt von Geschlecht, ›Rasse‹, Ethnizität, Klasse, Sexualität und anderen sozialen Machtstrukturen mehrfach marginalisiert werden.

Seit den 1990er Jahren entwickeln sich intersektionale Analyseperspektiven in sehr unterschiedliche Richtungen. Intersektionalität wird heute in verschiedenen Forschungsfeldern und mit unterschiedlichen Forschungsfragen und Methodologien untersucht. Dieser Einführungsband wird sich darauf konzentrieren, die grundlegenden Anliegen der Intersektionalitätsforschung verständlich zu machen und ihr emanzipatorisches Potenzial freizulegen.

Das transformative Potenzial der Intersektionalitätsperspektive

Alle theoretisch bedeutsamen Beiträge zur Intersektionalität, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, sind einem emanzipatorisch motivierten, kritisch-transformativen Anspruch verpflichtet. Leitend ist dabei die Einsicht, dass Machtkritik sowie Diskurs- und Wissenskritik zusammengehören. So schreibt Kimberlé Crenshaw zwanzig Jahre nach Erscheinen ihres berühmten Aufsatzes von 1989, es sei ihr in diesem Text nicht nur darum gegangen, den Nachweis zu erbringen, dass Rechtsansprüche von Schwarzen Frauen marginalisiert werden, sondern vor allem darum, das dominante Konzept von Diskriminierung infrage zu stellen und zu überwinden (Crenshaw 2011b: 229). Auch die Soziologinnen Floya Anthias und Nira Yuval-Davis betonen in ihrem Buch Racialiced Boundaries von 1992, dass gesellschaftliche Exklusion und Unterwerfung nur bekämpft werden können, wenn die Rassisierung und Ethnisierung von sozialen Gruppen im Kontext von Geschlecht und Klasse analysiert und konzeptionell neu verstanden werden (Anthias/Yuval-Davis 1992: 198). Die Intersektionalitätstheoretikerin Ange-Marie Hancock fordert entsprechend, Intersektionalitätsforschung müsse so betrieben werden, dass sie eine »paradigmatische« Wirkung entfalte, indem sie neue Fragen und Antworten auf Fragen ermöglicht, die vorher undenkbar waren (Hancock 2015: 2981). Vivian M. May bezeichnet diesen Aspekt der Intersektionalität als »resistant imaginary«, das in das historische Gedächtnis interveniert und die dominante soziale Imagination durchbreche »by thinking ›otherwise‹« (May 2015: 34). Anders zu denken bedeutet also, dass sich dem kritischen Denken neue Fragen stellen, weil alte Sichtweisen und Konzepte fragwürdig werden.

Das transformative Potenzial des Intersektionalitätskonzepts bezieht sich demnach auf praktische wie auf theoretische Veränderungen. Transformativ ist eine kritische Analyseperspektive nicht nur, wenn sie gesellschaftliche Machtverhältnisse in emanzipatorischer Absicht überwinden will, sondern auch, wenn sie das theoretische und begriffliche Instrumentarium verändert, mit dem die Gesellschaft traditionellerweise interpretiert, erklärt und angeeignet wird. Theorien der Intersektionalität können dieses Potenzial aktualisieren, wenn sie durch kritische Analysen erkennbar machen, was in herrschenden Diskursen und Praktiken verborgen und unausgesprochen bleibt, und wenn sie damit zu einer Veränderung der Denk- und Wissensformen beitragen.

Nicht jede Intersektionalitätsforschung beansprucht im gleichen Maß, kritisch und transformativ zu sein. Der transformative Anspruch fehlt in identitätsorientierten Ansätzen, in denen es lediglich darum geht, die Vielfalt von sozialen Identitäten sichtbar zu machen und anzuerkennen. Er fehlt auch in liberalen, policy-orientierten Ansätzen, deren primäres Ziel es ist, marginalisierte Menschen in bestehende gesellschaftliche Institutionen zu integrieren. Diese Ansätze sind zwar kritisch gegenüber gesellschaftlichen Ausschlüssen, ihr transformatives Potenzial ist aber gering. Denn so wie es aus feministischer Perspektive nicht genügt zu fragen: Werden in dieser Institution XY Frauen berücksichtigt?, so genügt es aus intersektionaler Perspektive nicht zu fragen: Werden in dieser Institution XY armutsbetroffene schwule Männer, Migrantinnen mit eingeschränkten Fähigkeiten oder ältere Trans* einbezogen? Wichtig ist vielmehr, darüber hinaus nach dem Warum der Ausschlüsse zu fragen und die intersektionale Verschränkung von Machtmechanismen auf struktureller Ebene zu thematisieren. In dieser Perspektive verändert sich der Blick auf soziale Identitäten, gesellschaftliche Institutionen, Normen und Wissensformen. Ihr historischer Zusammenhang wird sichtbar und erweitert das Aktionsfeld von Theorie und Praxis. Es geht nicht mehr nur um Individuen am Schnittpunkt von ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht, sondern darum, wie sich Rassismus, Sexismus, Nationalismus, Heteronormativität, Kapitalismus und andere Herrschaftsformen in Theorie und Praxis ergänzen und verstärken können und wie sie strukturell zusammenhängen.

Bei der Analyse verschränkter Machtformationen stützt sich die Intersektionalitätsforschung auf soziale Differenzierungskategorien wie Geschlecht, ›Rasse‹ oder Sexualität. Es ist nun aber genau dieser Rekurs auf soziale Kategorien, der die größte Herausforderung für transformative Intersektionalitätstheorien darstellt und Anlass der wichtigsten Kritiken ist. Widerspricht das kategoriale Denken nicht gerade dem Anspruch der Intersektionalitätstheorie, Machtformationen als verschränkt zu denken, und werden damit nicht gesellschaftliche Phänomene künstlich getrennt, um sie anschließend wieder zusammenzufügen? Werden dadurch nicht Vorstellungen sozialer Identitäten aufgerufen und reifiziert, das heißt verstetigt und verdinglicht, die aus kritischer Perspektive zu überwinden wären? Und wären aus diesen Gründen die kritisch-transformativen Anliegen der Intersektionalitätstheorie nicht besser in Denkansätzen wie etwa den Postcolonial Studies, Queer Theories oder Assemblage-Ansätzen aufgehoben, die ihre Analysen nicht auf der Basis von sozialen Identitätskategorien entwickeln?

Diese Fragen sind für die theoretische Entwicklung der Intersektionalitätsforschung entscheidend und begleiten sie kontinuierlich, gerade weil es auf sie keine eindeutigen und abschließenden Antworten gibt. Sie verweisen auf ein Spannungselement, das intersektionale Theorie und Praxis definiert und das mit der Funktion der sozialen Kategorien wie Geschlecht, ›Rasse‹, Ethnizität und Sexualität verbunden ist. Wofür stehen diese Kategorien? Was leisten sie? Und inwiefern sind sie unverzichtbar, um gesellschaftliche Machtverhältnisse kritisch zu erfassen? Weil Kategorien sowohl emanzipatorische als auch herrschaftsstabilisierende Effekte mobilisieren können, gibt es keine einfachen Antworten auf diese Fragen. Sie müssen aber reflektiert werden, wenn das kritisch-transformative Potenzial der Intersektionalitätstheorie dauerhaft eingelöst werden soll.

In diesem Buch wird folglich nicht nur das kritisch-transformative Potenzial der Intersektionalitätstheorien dargelegt, sondern es werden auch die kritischen Einwände thematisiert, die deren Erkenntnisgewinn infrage stellen.

Wie sprechen? Zur Begrifflichkeit der Intersektionalitätstheorie

Begriffe wie Geschlecht, ›Rasse‹, Ethnizität und Sexualität spielen in Intersektionalitätsansätzen eine zentrale Rolle. Mit ihnen lassen sich einerseits mögliche Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung formulieren, sie bezeichnen andererseits soziale Identitätszuschreibungen von Individuen und Gruppen, und sie verweisen schließlich auf gesellschaftliche Machtstrukturen, die Identitäten formieren. Die Sprache der Intersektionalitätsforschung ist darum in komplexer Weise mit Macht verstrickt. Sie ist nicht neutral, sondern aufgrund ihrer machtförmigen Dimensionen politisch aufgeladen und umstritten. Es gibt entsprechend kein einheitliches kategoriales Vokabular in Intersektionalitätstheorien, auf die sich diese Einführung abstützen könnte. Dies betrifft vor allem die deutsche Übersetzung von englischen Begriffen wie Race, Gender, People of color und Queer.

Race bezeichnet in den USA eine soziale Gruppenzugehörigkeit und ist eine offizielle staatliche Klassifikationskategorie. Die Zugehörigkeit nach Race wird entlang von Bevölkerungsgruppen organisiert und bildet die Grundlage staatlicher Antidiskriminierungspolitiken wie auch politischer Bürgerrechtsbewegungen. Diese positive oder zumindest neutrale Konnotation von Race ist im Deutschen undenkbar, in dem der Begriff ›Rasse‹ von seiner rassistischen Determination nicht zu trennen ist. Er aktualisiert diese bei jeder Verwendung erneut. Race kann darum nicht einfach mit Rasse gleichgesetzt werden. Auf dieses Übersetzungsproblem gibt es in der deutschsprachigen Intersektionalitätsforschung keine definitive Antwort (Lutz et al. 2013: 22). Die Lösung liegt tendenziell darin, den Begriff in Anführungszeichen zu setzen, um zwischen dem rassistischen und dem kritisch-analytischen Gebrauch von ›Rasse‹ eine Differenz zu markieren. Eine andere Möglichkeit ist, ›Rasse‹ und Ethnizität zusammen zu nennen, um die Bedeutungsbreite, aber auch die soziale Konstruktion rassischer Zuschreibungen zu verdeutlichen (Lutz 2001: 224).2 In diesem Band wird der englische Begriff Race verwendet, wenn er im Kontext von anglophonen Theorieansätzen diskutiert wird, ansonsten wird der deutsche Begriff ›Rasse‹ in Anführungszeichen gesetzt. Die Anführungszeichen sollen signalisieren, dass ›Rasse‹ ein biologistisches Konzept ist, das mit einem biologisch abgestützten Rassismus, mit Antisemitismus, Eugenik und Kolonialismus verknüpft und im Deutschen – im Gegensatz etwa zu Gender, Race oder Ethnizität – heute ausschließlich als Fremdzuschreibung und in negativer Bedeutung im Gebrauch ist.3

Auch der englische Begriff Gender lässt sich nicht nahtlos mit dem deutschen Wort Geschlecht gleichsetzen. Gender wird in den 1960er Jahren als Begriff für eine sozial konstruierte Geschlechtsidentität eingeführt, der sich semantisch von Sex als Begriff für das biologische Geschlecht absetzt. Dagegen bleiben im deutschen Wort Geschlecht die soziale und die körperliche Dimension von Geschlecht semantisch verbunden und ermöglichen ein komplexeres Verständnis von Geschlechtsidentität und geschlechtlicher Sozialisation (Maihofer 2015).4 In diesem Buch wird Gender verwendet, wenn der Begriff in angelsächsischen Kontexten gebraucht wird sowie zur Bezeichnung der Disziplin der Gender Studies, ansonsten wird das deutsche Wort Geschlecht benutzt.

Auch das englische Wort Queer ist ein Begriff, der für intersektionale Theorien wichtig ist, sich aber nicht ins Deutsche übersetzen lässt. Der Begriff wird im Englischen mit ›verrückt‹ und ›pervers‹ konnotiert und bezeichnet in beleidigender und diffamierender Weise Menschen, die von der heterosexuellen Norm abweichen. Der Begriff wurde in einem subversiven Akt der Sinnverschiebung von Betroffenen aufgegriffen und in einen Begriff umgewandelt, der Stolz und Widerstand markiert (Erel et al. 2011: 278). Queer bezeichnet heute verschiedene Formen nicht-heteronormativer Lebensformen und Geschlechtsidentitäten, die sich der Vereindeutigung in Kategorien entziehen. Der englische Begriff Queer wird in diesem Buch im Deutschen unverändert übernommen. Dasselbe gilt auch für weitere Begriffe, die im Englischen emanzipatorisch verwendet werden und diese Bedeutung im Deutschen verlieren würden oder die als englische Begriffe in deutschsprachigen politischen Bewegungen übernommen wurden, so die Begriffe People of color, Women of color und LGBTIQ (für Lesbian-gay-bisexual-transgender-inter-sexual-queer).

Trans* wird in diesem Buch als Oberbegriff für Transsexualität, Transgender und Transidentität verwendet. Trans* bezeichnet Personen, deren biologisches Geschlecht als eindeutig bestimmbar gilt, die sich gefühlsmäßig, lebensweltlich und körperlich aber einem anderen biologischen Geschlecht zugehörig fühlen respektive sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren und darin unwohl fühlen oder sich generell dem Modell der heterosexuellen Zweigeschlechtlichkeit verweigern (Stryker/Whittle 2006).

Zum Schluss ist auf eine weitere Eigenheit in der Verwendung von Begriffen hinzuweisen. Diese besteht darin, dass Intersektionalität sowohl die Sache wie den Blick auf die Sache bezeichnen kann, wobei die Grenze zwischen beiden Verwendungsweisen fließend ist. Intersektionalität bedeutet einerseits die Verschränkung von Machteffekten, wie sie etwa im juristischen Konzept der »intersektionellen Diskriminierung« ausgedrückt wird (Philipp et al. 2014).5 Intersektionalität bezeichnet andererseits die Analyse dieser intersektionalen Zusammenhänge. In diesem Sinne lässt sich von Intersektionalität als einer »Forschungspraxis« (Bereswill et al. 2015) sprechen. Dieser Sprachgebrauch ist eng an die Bedeutung von intersectionality angelehnt, die im angelsächsischen Gebrauch in jüngerer Zeit dominiert und die Intersektionalität als Bezeichnung für eine Theorie und Forschungspraxis versteht (Collins 2012; Collins/Bilge 2016; Hancock 2016). Zwischen den beiden Polen des Forschungsgegenstandes und der Forschungspraxis gibt es fließende Übergänge, in denen Intersektionalität einerseits als ein »Forschungsfeld« (Bührmann 2009), als ein »Prisma« (Crenshaw 2011b), eine »sensibilisierende Metapher« (Knapp 2013b) oder ein »Paradigma« (Knapp 2005; Winker/Degele 2009) bestimmt wird, andererseits als »Perspektive« (Walgenbach 2010) oder »Theorie« (Davis 2013), wodurch Formulierungen wie »intersektionale Perspektive« oder »intersektionale Theorie« zur Anwendung kommen.

Die Tatsache, dass Intersektionalität ein Wort ist, das sowohl die Sache selber als auch die Erforschung der Sache bezeichnet, kann die Verständigung über Theorien der Intersektionalität erschweren. Was in den Gender Studies oder Critical Race Theories explizit wird – dass nämlich Gender Studies über Gender und Critical Race Studies über Race forschen –, fällt in der Verknappung des Begriffs der Intersektionalität als Name für Analyse und Analysegegenstand zusammen. Um diese beiden Bereiche klarer voneinander zu trennen, wird Intersektionalität in diesem Buch primär als Gegenstand der Untersuchung und entsprechend als Konzept gefasst. Wo es um Intersektionalität als eine Forschungspraxis und um ihre immanenten Analyseperspektiven und -ansätze geht, wird dies sprachlich ausgewiesen.

Da viele deutschsprachige und die meisten englischen Texte beide Verwendungsformen kennen, ist eine strikte Trennung des Sprachgebrauchs nicht immer möglich. Nicht möglich ist auch, abschließend zu entscheiden, welche der postulierten Bezeichnungen der Intersektionalität am angemessensten ist, da Breite und Vielfalt, mit denen Intersektionalität thematisiert, erforscht und kritisiert werden, groß sind. Dennoch zeigen gerade diese Breite und Vielfalt, dass die Begriffe »Prisma« und »Perspektive« besonders geeignet sind, den Forschungsgegenstand und die Forschungspraxis der Intersektionalität zu bezeichnen, weil sie den heuristischen Effekt des Intersektionalitätskonzepts ins Zentrum stellen. So hat die Auseinandersetzung mit Intersektionalität die kritische Erforschung von Macht in den letzten Jahrzehnten nachhaltig angeregt, und ihr Potenzial dürfte noch lange nicht ausgeschöpft zu sein.

Im Folgenden werden in drei Kapiteln die wichtigsten Aspekte der Auseinandersetzung mit Intersektionalität erläutert. Im ersten Kapitel werden prägende Debatten und die institutionellen, geografischen und disziplinären Reisen des Intersektionalitätskonzepts rekonstruiert. Im zweiten Kapitel werden zentrale Aspekte der Intersektionalitätstheorie systematisch aufgefächert und vertieft. Das dritte Kapitel präsentiert aktuelle Debatten und Kritiken, die auf umstrittene Aspekte in der Konzeptionalisierung von Intersektionalität verweisen.

Dieses Buch will dazu anregen, sich mit Intersektionalität zu beschäftigen, und es will dazu beitragen, die Erforschung von Intersektionalität als Bedingung für machtkritisches Denken weiterzuentwickeln.

1. Die Entstehung der Intersektionalitätstheorien aus dem Geist der Kritik

Seit dem 18. Jahrhundert entstehen in den unterschiedlichsten geografischen Räumen und kulturellen Kontexten Denkansätze, die Herrschaftsstrukturen und ihre Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Individuen und Gruppen sichtbar machen und kritisieren. In diesem Kapitel werden ausgewählte Texte und Initiativen näher vorgestellt, die zur Entstehung der Intersektionalitätstheorien in ihren heutigen Formen beigetragen haben. Ihnen ist gemeinsam, dass sie aus einem Geist der Kritik heraus und mittels Theorien und Praktiken, Initiativen und Interventionen die gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Herrschaftsformen benennen, analysieren und als ungerecht kritisieren. Bevor diese Geschichten erzählt werden, sind jedoch drei methodische Vorbemerkungen nötig. Sie betreffen die Schwierigkeiten und Grenzen, die Entstehung der Intersektionalitätstheorien umfassend zu bestimmen.

Intersektionalitätstheorien als Teil intersektionaler Machtverhältnisse

Weltweit werden intersektionale Herrschaftsformen in lokalen Kontexten analysiert, theoretisiert und kritisiert. Welche schließlich in einer breiteren wissenschaftlichen Öffentlichkeit rezipiert werden, hängt von vielfältigen Bedingungen ab. So entscheiden oft der Status und die materiellen Ressourcen der Beteiligten sowie das herrschende Verständnis von Wissenschaft darüber, welche Denkansätze Aufmerksamkeit erhalten und in die Diskussion aufgenommen werden und welche ungehört und unbesprochen bleiben.

Die Geschichte der Intersektionalitätstheorien bleibt dadurch in mehrfacher Weise in Machtverhältnisse verstrickt. Zum einen ist es marginalisierten Menschen oft unmöglich, sich akademisch überhaupt Gehör zu verschaffen und verstanden zu werden. Zum anderen sind die Manifestationen kritischen und marginalisierten Wissens, auch wenn sie einmal Eingang in die Wissenschaft gefunden haben, immer wieder davon bedroht, aus dem Mainstream der akademischen Wissenstradierung ausgeschlossen zu werden.

Patricia Hill Collins beschreibt in ihrem Buch Black Feminist Thought von 1990, wie das Wissen Schwarzer Frauen in den USA über Jahrhunderte unterdrückt wurde, und sie macht es zu ihrem Anliegen, dieses freizulegen und zu zeigen, dass es sich dabei um ein Wissen handelt (Collins 2000). Was Collins für die Black Feminist Thought formuliert, gilt auch für das unterdrückte und missachtete Wissen von anderen gesellschaftlich marginalisierten Gruppen und Individuen weltweit. Wer die Geschichte der Intersektionalitätstheorien rekonstruieren will, muss sich also bewusst sein, dass diese Geschichte nie objektiv und umfassend ist, sondern ihrerseits durch Ausschlüsse und Marginalisierungen geprägt wird. Denn die Zirkulation intersektionaler Theorieansätze über verschiedene Länder, Sprach- und Wissenschaftskulturen hinweg ist durch Macht und Ungleichheit geprägt – auch und gerade durch jene Machtverhältnisse, die in Intersektionalitätstheorien kritisiert und überwunden werden sollen.

Entsprechend wichtig ist es, dass Intersektionalitätstheorien die Entwicklung der eigenen Theoriebildung und Wissenschaftsgeschichte reflektieren, vorab diejenigen Aspekte, die alte und neue Ausschlüsse (re-)produzieren. In diesem Sinn kritisiert Sirma Bilge an aktuellen Theorien der Intersektionalität, dass sie ihre eigene Geschichte ›weiß‹ machen und die Bedeutung, die Women of color für die Entstehung des Intersektionalitätskonzepts haben, auslöschen (Bilge 2013; 2014).6 Bilges Kritik am ›Whitening‹ der Intersektionalität ähnelt der Diagnose von Encarnación Gutiérrez Rodríguez, die bezogen auf die deutschsprachigen Intersektionalitätstheorien moniert, dass in deren gängigen Genealogien der Beitrag von Migrantinnen und Schwarzen Frauen übergangen werde (Gutiérrez Rodríguez 2011). Beide Hinweise zeigen, dass rassistische Strukturen und Praktiken den Blick auf die Theorien der Intersektionalität verzerren und dass die Forschungsbeiträge marginalisierter Gruppen immer wieder davon bedroht sind, aus dem Kanon des Wissens verdrängt zu werden – oder dass sie gar nie darin aufgenommen werden. Denn tatsächlich wird eine Vielzahl von akademischen und nicht-akademischen Debatten zur Intersektionalität in Sprachen und Wissenschaftskulturen geführt, die von einer globalen Öffentlichkeit, deren lingua franca sich auf weniger als ein Dutzend Sprachen beschränkt, nie rezipiert werden.

Im Wissen um diese vielfältigen Bedingungen, die die Zirkulation von Ideen strukturieren und einschränken, erscheint jede Entstehungsgeschichte der Intersektionalitätstheorien als ein perspektivisches Unterfangen. Rekonstruiert wird immer nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was an kritischem Wissen über die multiplen Verschränkungen und Effekte von Machtformationen weltweit formuliert wird.

Vom integrativen Lesen: Multiple Geschichten der Intersektionalitätstheorien

Wer die Geschichte der Intersektionalitätstheorien erzählen will, orientiert sich an einem (Vor-)Verständnis dessen, was mit diesem Begriff bezeichnet werden soll. Dieses definiert, wo die Geschichte intersektionaler Theorieansätze anfängt, was zu deren Kern gehört und wann sie in andere Theorien übergehen.

Black Feminism