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Alexander Somek

Rechtsphilosophie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat
Michael Hagner, Zürich
Ina Kerner, Koblenz
Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

© 2018 by Junius Verlag GmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Recht und Moral

Rechte und Pflichten

Freiheit, Gleichheit und Gegenseitigkeit

Polis und Staat

Die Nation und ihr Jenseits

Anhang

Literaturhinweise

Über den Autor

Vorwort

Die Rechtsphilosophie will wissen, was das Recht eigentlich ist. In diesem Buch wird eine Antwort auf diese Frage entwickelt. Sie geht vom Verhältnis von Recht und Moral aus und begreift das Recht als Ausdruck einer Beziehung, in deren Rahmen die Menschen einander »Willkürfreiheit« einräumen.

Die in derselben Reihe erschienene Rechtstheorie zur Einführung führt in die Auseinandersetzungen zur Frage ein, unter welchen Bedingungen wir wissen können, was rechtens ist. Das erste Buch endet dort, wo das vorliegende beginnt. Insofern stellt dieses die Fortsetzung des ersten dar.

Um die Lektüre von Vorentwürfen haben sich auch diesmal Hanna Mosler, Raphaela Tiefenbacher und meine Frau Sabine verdient gemacht. Teile des Manuskripts sind von Christoph Bezemek, Jakob Gaigg und Stephan Vesco gelesen worden. Ihnen gilt mein aufrichtiger Dank.

Besonderen Dank schulde ich aber Steffen Herrmann für seine Bereitschaft, auch diese Arbeit in sein wunderbares Verlagsprogramm aufzunehmen.

Wien, im Oktober 2017

Alexander Somek

Einleitung

Dieses Buch bietet eine systematische Einführung in die Rechtsphilosophie. Eine selektive Darstellung der Ideengeschichte ist in die Entwicklung der Grundbegriffe hineinverwoben. Der Text beginnt mit dem Verhältnis von Recht und Moral und endet mit der Skizze des kosmopolitischen Verfassungstyps, der sich im Europa des 20. Jahrhunderts ausgebildet hat.

Die Einführung beginnt mit einer Korrektur der landläufigen Vorstellung, wonach das »Recht« ein besonderes soziales Objekt – eine bestimmte Organisation oder eine Ordnung von Normen – darstellt. Das Recht ist vielmehr als eine besondere Beziehung zwischen Menschen zu begreifen.

Dass wir das Recht auch als Objekt wahrnehmen – als einen Gegenstand – ist bereits eine Folge der Beziehung, die man als das »Rechtsverhältnis« bezeichnet.

Der erste Teil dieser Einführung versucht, das Verhältnis von Recht und Moral zu klären und vor diesem Hintergrund das Rechtsverhältnis zu bestimmen. Das Rechtsverhältnis entspringt einer Selbstkorrektur moralischer Rechtfertigungsanforderungen. Mit dem Eintreten ins Rechtsverhältnis werden diese ausgesetzt und auf die wechselseitige Einräumung von Willkürfreiheit reduziert. Der damit einhergehende Verzicht auf eine direkte moralische Rechtfertigung des Verhaltens ermöglicht es, dieses unter Hinweis auf Entscheidungen zu begründen. Die Begründung von Verhaltensanforderungen verwandelt sich in die Beantwortung der Frage, ob Entscheidungsbefugnisse bestehen. Es ist daher kein Anzeichen von Unvernunft, wenn die moralische Richtigkeit von Entscheidungen kontrovers beurteilt wird. Diese verlieren deswegen auch nicht ihre Rechtsverbindlichkeit.

Der zweite Teil schließt daran nahtlos an. Aus der rechtlichen Beziehung zwischen Personen gehen Rechte und Pflichten hervor. Nach einer Analyse ihrer Formen wird die Frage erörtert, welche Rechte wir denn haben und ob uns diese, wenn wir sie haben, »von Natur aus« – also vor aller positivrechtlichen Festlegung – zukommen. Der Glaube an natürliche Rechte ist eine historische Vorbedingung für die Formulierung von Menschenrechten.

Ob die Begründung natürlicher Rechte zu gelingen vermag, ist zweifelhaft. Der zweite Teil endet mit einer skeptischen Perspektive auf das Naturrecht und auf die horizontale Verhaltenskoordination, die in Entfremdung resultiert.

Der dritte Teil versucht eingangs, die Bedeutung der äußeren Freiheit zu klären, und bestimmt die Gleichheit im Sinne eines Willkür- und eines Diskriminierungsverbots. Sodann wird ein alternativer Anlauf zur Bestimmung der Rechte unternommen. Die Rechte, welche die Menschen haben, können nur diejenigen sein, die sie sich unter Bedingungen der Gegenseitigkeit einräumen würden, um überhaupt in einem Rechtsverhältnis stehen zu können. Sie betreffen die Konstitution des Rechtssubjekts.

Bereits im ersten Teil begegnet man dem Gedanken, dass das erste Recht, das sich Menschen gegenseitig zugestehen würden, ein Recht auf alles wäre. Im zweiten Teil stellt sich heraus, dass es mit einem solchen Recht nur nichts sein könnte. Die Menschen können kein uneingeschränktes Recht auf alles haben. Im dritten Teil wird die Frage wiederaufgenommen und vorläufig folgende Antwort formuliert: Die Menschen wollen Gleichbehandlung und räumen einander wechselseitig Freiheit ein, solange sie einander nicht schaden.

Die Beantwortung der Frage, wie man Schädigungen identifiziert und bewertet, führt zum Nutzenprinzip und damit zum Utilitarismus. Die Verteilung von Rechten und Pflichten erweist sich damit als eine Gerechtigkeitsfrage. Denn der Utilitarismus lässt sich als Theorie der Gerechtigkeit rekonstruieren. In dieser Eigenschaft steht er weder unangefochten noch konkurrenzlos da. Berühmteste Kritiken an utilitaristischen Gerechtigkeitsvorstellungen findet man im Verständnis von Gerechtigkeit als Fairness und in radikalen Formen des Liberalismus.

Somit stellt sich heraus, dass, wer sein Recht einfordert, den Anspruch erheben muss, eine gerechte Forderung zu erheben.

Allerdings hat sich schon im ersten Teil ergeben, dass auf der Ebene des Rechtsverhältnisses die Auffassungen darüber, was als moralisch gerechtfertigt gilt, weitestgehend kontrovers bleiben dürfen. Man muss die Auffassungen anderer gegen sich gelten lassen, jedenfalls solange diese nicht grob gegen die Gleichheit verstoßen. Auf die Gleichheit lässt sich nicht verzichten, weil sie für das Rechtsverhältnis immer schon vorausgesetzt wird. Dennoch bleibt die Gerechtigkeit für die Rechtsgeltung bloß negativ relevant. Gravierende Ungleichheit darf es nicht geben. Wenn sie vorliegt, darf man sich zum gewaltsamen Widerstand ermächtigt erachten.

In der Struktur des Rechtsverhältnisses ist es angelegt, die Geltung des Rechts in faktischen Entscheidungen begründet zu sehen. Die Gleichheit ist die diesem Verhältnis immanente Grenze. Die Beachtung dieser Grenze muss ins Recht selbst »eingebaut« werden. Deswegen ist das Rechtsverhältnis auf Konstitutionalisierung angelegt.

Der vierte Teil widmet sich der Frage, wie politische Gemeinschaften beschaffen sein müssen, damit es uns zuzumuten ist, die normativen Vorstellungen anderer gegen uns gelten zu lassen. In der westeuropäischen Tradition kennen wir zwei elementare Modelle: die Polis einerseits und den Staat andererseits.

Idealerweise beruht die Polis auf dem guten Bürger, vermöge dessen Charakter die Vernunft über die Antriebe herrscht. Die Mischverfassung und die Republik beruhen auf demselben Gedanken.

Der Staat steht für öffentliche Ordnung und private Freiheit. Mit der Souveränität tritt in den Hintergrund, dass die politische Gemeinschaft aus unterschiedlichen Gruppen und Charakteren aufgebaut ist. Alle Gewalten gelten als Ausfluss einer souveränen Gewalt.

Die Brücke zwischen Polis und Staat wird in der modernen Republik geschlagen, die als gewaltenteilende repräsentative Demokratie realisiert wird. Im Vergleich zu ihrem antiken Gegenstück zeichnet sich die moderne Demokratie durch die überwiegend private Lebensorientierung ihrer Bürger aus. Die moderne Demokratie ist eine Demokratie von »Individualisten«.

Die moderne Demokratie beruht auf der Volkssouveränität. Versucht man zu bestimmen, was dies bedeutet, stößt man auf den Begriff der Nation. Der fünfte Teil greift die bekannte Idee auf, wonach Nationen »eingebildete Gemeinschaften« sind. Ob sich ihre Existenz rational begründen lässt, ist zumindest kontrovers. Unumstritten ist gleichwohl, dass der Glaube an die Existenz von Nationen eine historisch bewegende Kraft ist. Dieser Glaube verschwindet nicht, indem man Nationen als »eingebildet« oder gar »illusionär« abtut. Die aus dem Glauben an den nationalen Zusammenhalt genährte Kraft muss dermaßen kanalisiert werden, dass von der Nation die solidarische Komponente verbleibt, während ihre aggressive Seite unterdrückt wird. Supranationale Institutionen dienen diesem Zweck. Supranational eingehegte politische Gemeinschaften verfügen über eine kosmopolitische Verfassung. Da eine solche Verfassung das Bürgersein und das Fremdsein als gleichermaßen legitime Fälle der Assoziierung begreift, ist die Bewegungsfreiheit von Personen ein Prüfstein ihrer Legitimität.

Recht und Moral

I. Verallgemeinerung

§ 1. Einleitung

Die Rechtsphilosophie will klären, was das Recht ist.

Als soziales Phänomen zeichnet sich das Recht durch einen spezifischen Autoritätsanspruch aus. Wer sich auf das Recht beruft, gibt anderen zu verstehen, dass sie etwas bloß deswegen tun oder unterlassen sollen, weil das Recht es so vorschreibt.

Die Rechtsphilosophie rekonstruiert die Verbindlichkeit des Rechts. Sie versucht zu verstehen, was diese Verbindlichkeit bedeutet und unter welcher Bedingung sie vorliegt. Was das Recht ist, wird deutlich, wenn man weiß, wie und weswegen es für die Menschen verbindlich ist.

Zur Bestimmung dieser Verbindlichkeit ist das Verhältnis von Recht und Moral aufzuklären. In diesem Zusammenhang stellen sich zwei Fragen: Kann das positive Recht verbindlich sein, auch wenn es uns unmoralisch erscheint? Wenn es dennoch verbindlich ist, bedeutet das, dass seine Verbindlichkeit von der Verbindlichkeit der Moral verschieden ist?

Die Bedeutung der Rechtsgeltung lässt sich ausgehend von der Begründung moralischer Urteile rekonstruieren. Die folgenden Ausführungen beruhen auf dieser Prämisse.

§ 2. Moralisches Begründen

Ein guter Mensch ist darauf eingestellt, moralisch zu handeln. Moralisch handelt, wer sein Verhalten anderen gegenüber rechtfertigen kann. Die dafür relevanten Gründe lassen das Verhalten als gerechtfertigt erscheinen.

Wenn man darauf achtet, welche Gründe eine solche Rechtfertigung zu tragen vermögen, entdeckt man, dass sie implizit eine Verallgemeinerung – eine Universalisierung – anstellen oder diese zumindest voraussetzen. Man begründet etwas moralisch, indem man verallgemeinert.

Elementare Formen der Verallgemeinerung begegnen einem etwa in der Behauptung, dass man bloß tue, was alle anderen täten; oder dass man das Verhalten des anderen nur spiegele (»Wie du mir, so ich dir«). In beiden Fällen wird implizit auf die Idee vorgegriffen, dass jeder nach derselben Regel handeln dürfe (»Du hast mit deinem Verhalten die Regel vorgegeben, die ich jetzt auf dich anwende«).

Beim Verallgemeinern sieht man von seiner individuellen Besonderheit ab. Was auch immer man tut, man muss es aus einer Sicht rechtfertigen, aus der man sich als jeder oder jede Beliebige(r) darstellt. Man muss sich als eine beliebige Person unter anderen präsentieren. Man spricht also aus der Perspektive irgendeines vernünftigen Wesens. Solche Wesen lassen sich durch den Appell an Gründe zum Handeln bewegen. Wenn ein Vater beteuert, dass er sich um seine kranke Tochter kümmern müsse und deswegen einen beruflichen Termin nicht wahrnehmen könne, setzt er zum Zweck der Rechtfertigung implizit voraus, dass jede Person in seiner Situation so handeln müsste. Er setzt zur Rechtfertigung seines Verhaltens einen Grundsatz voraus, der etwa besagt, dass die Pflicht der Eltern, sich um kranke Kinder zu kümmern, der Wahrnehmung beruflicher Verpflichtungen vorgehe.

Zum Zweck der Verallgemeinerung »erlischt« die individuelle Besonderheit der Person insofern, als diese Besonderheit allein keine Ausnahme begründen kann (»Aber ich bin doch ich!«). Wer etwa von anderen erwartet, dass sie ihrer Steuerpflicht nachkommen, während er sich davon ausnimmt, weil er seinen Interessen Vorrang vor denen der anderen einräumt, ist unverschämt. Hier fehlt der verallgemeinerungsfähige Grund.

§ 3. Der kategorische Imperativ

Die Voraussetzungen der Verallgemeinerung lassen sich anhand einer berühmten Ausformulierung dieses Prinzips näher erläutern. Sie stammt von Immanuel Kant (1724–1804).

Kant nennt dieses Prinzip den kategorischen Imperativ. Dieser gebietet nicht bloß hypothetisch im Hinblick auf ein gewisses Ziel.

Hypothetische Imperative fordern, dass man, wenn man ein Ziel wolle, auch die Mittel wollen müsse (»Wenn du ein Eis essen willst, dann musst du dir eines kaufen«).

Ein kategorischer Imperativ gebietet hingegen unabhängig von einer bestimmten Zielsetzung. Welches Ziel auch immer man verfolgen mag, das Verhalten muss diesem Gebot genügen. Der Imperativ gebietet, ohne durch das Wollen eines Ziels bedingt zu sein, und ist insofern unbedingt.

Kant drückt den kategorischen Imperativ unter anderem folgendermaßen aus:

Handle nur nach der Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde. (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 17)

§ 4. Widerspruchsfreiheit

Der kategorische Imperativ fordert, dass der eigene Handlungsplan einer allgemein gültigen Regel zu genügen hat. Dies schließt ein, dass man sich selbst von der Anwendung dieser Regel nicht ausnimmt. Das Verhalten muss insofern frei von »Widerspruch« zur Regel sein.

Wegen des Verbots, für sich selbst keine Ausnahme vorzusehen, unterscheidet Kant zwei Formen des Widerspruchs. Man bezeichnet sie als »Denkwiderspruch« und »Willenswiderspruch«.

Bei einem Denkwiderspruch ist ein Handlungsplan insofern »in sich widersprüchlich«, als die allgemeine Ausführung des Plans den Erfolg des eigenen Plans vereiteln würde. Wenn jeder so handeln würde, ließe sich das Ziel nicht mehr erreichen. Jemand plant, eine Sache zur Verwahrung anzunehmen, aber nicht mehr herauszugeben. Wenn jeder wüsste, dass niemand verwahrte Sachen zurückgibt, würde die Praxis des Verwahrens aufhören. Man könnte seinen Plan, eine verwahrte Sache zu unterschlagen, nicht mehr durchführen, weil man nichts zum Verwahren erhielte.

In einen Willenswiderspruch verwickelt man sich, wenn man anderen etwas zumutet oder ihnen etwas abverlangt, das man selbst zu ertragen oder zu geben nicht bereit ist. Wer notleidenden Menschen nicht hilft und dennoch Hilfe erwartet, wenn er in Not gerät, verstrickt sich in diese Art von Widerspruch.

Am Willenswiderspruch wird deutlich, dass die Verallgemeinerung egozentrisch geprägt sein kann. Ein hartherziger Mensch kann nach der Regel leben, niemanden, der in Not ist, zu unterstützen. Er hat allerdings in Kauf zu nehmen, keine Hilfe erwarten zu dürfen, wenn er selbst in Not gerät.

Diese potenzielle Egozentrik der Verallgemeinerung hat Kant an der Goldenen Regel kritisiert. Die Goldene Regel besagt:

Was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem anderen zu!

Aufgrund dieser Regel könnte eine Person, die sich gern peinigen lässt, einen moralischen Freibrief zum Peinigen anderer erhalten. Aber das dünkt uns falsch. Folglich kann die Widerspruchsfreiheit keine hinreichende Bedingung für die Verallgemeinerung sein. Ihr Erfolg hängt auch davon ab, ob verallgemeinerungsfähige Ziele verfolgt werden.

§ 5. Der objektive Zweck

Die Verallgemeinerung muss durch ein gutes Ziel vermittelt werden. Es verleiht ihr Gehalt.

Wir dürfen anderen unsere Ziele nicht einfach auferlegen. Täten wir dies, würden wir nicht respektieren, dass sie frei sind, sich ihre Ziele selbst zu wählen. Meine Bereitschaft, mich quälen zu lassen, gibt mir keinen Freibrief, andere zu quälen. Ich kann nicht unterstellen, dass alle vorhaben, Peinigungen ertragen zu wollen.

Dass jede Verpflichtung – auch die Verpflichtung, Ziele zu verfolgen – auf freier Zustimmung beruhen können muss, ist also auch für jede Verallgemeinerung vorausgesetzt. Das moralische Begründen setzt voraus, dass die Menschen frei sind.

In der Gedankenwelt Kants stellen Wesen, denen es freisteht, sich die Ziele oder Zwecke ihres Handelns selbst auszuwählen, einen »Zweck an sich selbst« dar. Dass sie frei wählen, ist keiner Rechtfertigung bedürftig; was sie wählen, hingegen schon.

Zwecke sind für Menschen deswegen verbindlich, weil sie es wert sind, verfolgt zu werden. Wenn aber Zwecke (oder Ziele) aufgrund von individuellen Wertschätzungen gewählt werden, ist ihr Wert subjektiv. Sie sind von Wert für jene Menschen, die sie für gut halten. Ihr Wert für andere kann daher nicht aus den Zwecken selbst kommen. Wäre dem so, dann dürfte ich sie ihnen entgegen ihrer mangelnden Einsicht auferlegen (»Du wirst sehen, Peinigung ist gut für dich, und auch wenn du es nicht einsiehst, ist es so«). Also sind Zwecke es nur dann wert, verfolgt zu werden, wenn sie von einer subjektiven Einsicht in ihren Wert getragen sind. Der Wert von Zielen ist durch die freie Einsicht in diesen Wert bedingt.

Nun ist nicht einzusehen, wie durch die Wahl von Zwecken allein diesen ein Wert verliehen werden könnte. Wenn ein Zufallsgenerator Zwecke auswählte, wären sie ohne Wert. Wertvoll können Zwecke vielmehr nur unter der Bedingung sein, dass deren Auswahl aufgrund von subjektiver Einsicht selbst ein wertvoller Zweck ist. Motorradfahren ist für viele ein fragwürdiges Vergnügen. Wertvoll ist es, weil ihm Menschen nachgehen, deren wertschätzendes Auswählen von Zielen selbst ein Wert ist. Der Wert von Zielen erweist sich damit als eine Folge des Werts der individuellen Freiheit. Sie ist eine notwendige Bedingung für den Wert aller subjektiven Zwecksetzungen. Wäre sie nicht von Wert, wäre nichts von Wert.

Aus dieser Sicht gibt es keinen objektiven Zweck außer einen. Dieser ist die Freiheit der Menschen, den Wert von Zielen freiwillig anzuerkennen. Jeder, der Zwecke anerkennt, setzt immer schon voraus, dass sein freiwilliges Anerkennen ein Zweck ist, der keiner weiteren Wertschätzung bedarf. Diese ist immer schon vorhanden. Die Freiheit erweist sich als ein Zweck, den jeder haben muss, weil er die Voraussetzung für den Wert aller anderen Zwecke ist. Sie ist ein Zweck, der, weil ihn jeder haben muss, als der Zweck eines jeden anzuerkennen ist. Als freies Wesen muss man seine Freiheit und die Freiheit der anderen zum Zweck haben, weil sie die Quelle des Werts aller anderen Zwecke ist. Als ein freies Wesen ist man ein »Zweck an sich selbst«.

Der kategorische Imperativ kann also diesen einen objektiven Zweck voraussetzen. Ohne ihn bliebe seine Anwendung so egozentrisch wie die Goldene Regel. Dieser objektive Zweck ist die Autonomie der Menschen. Verallgemeinerungsfähig sind Gründe daher dann, wenn sie nicht dem objektiven Zweck zuwiderlaufen, Menschen als Wesen zu achten, die sich ihre Zwecke selbst setzen können.

Der kategorische Imperativ kennt wohl deswegen noch diese berühmte weitere Formulierung (ebd., BA 67):

Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.

Mit dem Freibrief zum Peinigen ist es also nichts. Zumindest dürften Menschen nicht ohne ihre Zustimmung sado-masochistischen Praktiken unterworfen werden. Deswegen darf man nach Kant in einer Notsituation anderen gegenüber auch nicht gleichgültig bleiben. Das Dasein der anderen freien Wesen ist ein Zweck, zu dessen Realisierung man beizutragen hat.

§ 6. Sittlichkeit

Der Grundsatz, wonach niemand niemals als bloßes Mittel, sondern immer auch als Zweck an sich selbst zu behandeln ist, klingt erhaben. Aber er bietet kaum Orientierung. Er hilft vor allem dann nicht weiter, wenn die Zweckverfolgung des einen die Zweckverfolgung der anderen beeinträchtigt.

Anton liebt es, in seiner Wohnung regelmäßig die Posaune zu blasen. Wegen des Geräuschs ist es Kurt unmöglich, sich auf seine mathematischen Beweise zu konzentrieren. Es verhält sich nicht so, dass Kurt durch Anton zum Mittel seines Posaunenspiels gemacht wird. Anton erschwert Kurt bloß die Erreichung seiner mathematischen Beweisziele. Die zwei Stunden am Tag, die Anton darauf verwendet, sein Blechblasinstrument zu bewegen, sind für Kurt verlorene Stunden. Anton lässt Kurt nach wie vor Raum zur freien Entfaltung, aber es ist weniger Raum, als Kurt haben möchte. Die Frage ist, ob Anton seine äußere Freiheit auf Kosten der Freiheit von Kurt genießt. Wer glaubt, dass dies der Fall ist, mag Anton das Posaunenspiel verbieten wollen. Aber dann würde Anton seine Freiheit genommen werden.

Wie kann man in einer solchen Situation verallgemeinern? Wenn man von Kant ein wenig abweicht, lässt sich behaupten, dass die Verallgemeinerung zu gelingen vermag, wenn ein Konsens über die relative Wichtigkeit der Ziele besteht. Das laute Musizieren in der Wohnung kollidiert mit der ruhigen geistigen Arbeit. Es ist denkbar, dass in einer Gesellschaft Einigkeit darüber besteht, welche Aktivität Vorrang vor der anderen genießen darf. Es wäre dies die Einigkeit darüber, was besser als das andere ist.

Wenn wir uns über das, was wir für gut halten, einig sind, sind wir sittlich integriert. G. W. F. Hegel (1770–1831) hat Sittlichkeit so verstanden. Der Begriff der Sittlichkeit steht für das gemeinsam geteilte und praktizierte Einverständnis über die Wichtigkeit von Werten oder Zielen. »Sittlichkeit« kommt von »Sitte«. Sie erhält ihre Stärke aus dem praktisch bewährten, wechselseitigen Bestärken in dem, was wir gemeinsam für richtig halten.

Allerdings sind wir nur in sehr eingeschränktem Umfang sittlich integriert. Wir sind oft unterschiedlicher Meinung.

§ 7. Legitime Auffassungsunterschiede

Der Betrieb von Motorrädern der Marke Harley Davidson verursacht ein nicht unerhebliches Geräusch. Wer das Geräusch in Kauf nimmt, weil er den unschätzbaren Wert des »Harley-Fahrens« erkannt hat, gehört zur sittlich integrierten Gemeinschaft der Harley-Fans.

Harley-Fans halten »laut« für gut.

Aber nicht alle Menschen sind Harley-Fans. Die meisten wollen ihre Ruhe haben.

Das nächtliche Harley-Fahren ließe sich verallgemeinern, wenn und weil Harley-Fahrer selbst bereit wären, durch andere Harley-Fahrer aus dem Schlaf gerissen zu werden. Für sie ist das Geräusch himmlische Musik. Ihre Verallgemeinerung wäre unter der Bedingung nicht egozentrisch (»Ja, ich hab’ kein Problem damit«), dass sie bereit wären, andere als Zwecke an sich selbst zu achten und also Raum für ihre Zwecksetzung zu lassen. Wenn andere schlafen wollten, könnten sie das getrost tun, aber vielleicht erst ab 00:00 Uhr. Bis dahin dürfte gebraust werden. Daran müssten sie sich gewöhnen. Oder sollten Harley-Fahrer am Abend mit dem Taxi nach Hause fahren müssen?

Ein Auffassungsunterschied darüber, wie die Freiheitssphären zwischen Harley-Fans und denjenigen, die das Motorgeräusch einer »Harley« für die Mutter aller Zumutungen halten, abzugrenzen sind, kann ein Anwendungsfall eines legitimen oder vernünftigen Auffassungsunterschieds (reasonable disagreement) sein. Es gibt Argumente dafür, das Harley-Fahren ab 22:00 Uhr oder ab 00:00 Uhr zu verbieten. Ob man von den einen oder den anderen überzeugt ist, hängt davon ab, welches Lebensideal man hat oder woher man kommt. Beide Auffassungen lassen sich inhaltlich verallgemeinern. Beide sind vernünftig. Deswegen wäre es auch unvernünftig, einen auftretenden Dissens zu unterdrücken. Es handelt sich eben um einen legitimen oder vernünftigen Auffassungsunterschied.

Der amerikanische Philosoph John Rawls (1921–2002), dem wir im Wesentlichen diese Begriffsbildung verdanken (allerdings unter dem Titel »burdens of judgment«), erklärt die Existenz solcher Unterschiede aus Gründen für die Bandbreite des menschlichen Urteilens. Sie sind etwa manifest an der unterschiedlichen Deutung von Informationen oder der unterschiedlichen Sozialisation von Personen.

Rawls stellt den Einfluss dieser Faktoren als eine Schwäche dar. Deswegen übersieht er, dass in der Anerkennung von unterschiedlichen Einschätzungen bereits eine moralische Leistung liegt. Denn an sich könnten die Harley-Fans und die anderen voneinander wechselseitig verlangen, den Wert des Verhaltens oder Unterlassens aufgrund von »richtiger« Einsicht anzuerkennen. Sie könnten einfach behaupten: »Wir haben Recht und ihr habt Unrecht«. Damit würden sie aber den anderen nicht als eine Person achten, die zu ihrer eigenen Wertschätzung und zu einem eigenen Urteil fähig ist. Sie müssen die Auffassung der anderen Person respektieren, obwohl sie diese letztlich für inhaltlich falsch halten.

§ 8. Unterschied zum Relativismus

Die Anerkennung von legitimen oder vernünftigen Auffassungsunterschieden darf nicht mit einem Bekenntnis zum moralischen Relativismus verwechselt werden.

Aus relativistischer Sicht gelten die eigenen moralischen Überzeugungen so, als wären sie absolut. Ein Nachgeben gegenüber anderen kann es nicht geben, denn jedes einsichtige Nachgeben würde über den Relativismus hinausführen. Moralische Relativisten müssen vielmehr bestrebt sein, ihre Auffassungen mit allen Mitteln durchzusetzen. Was sie glauben, dünkt ihnen als richtig, und da moralische Argumente letztlich nichts vermögen, bleibt bloß der Kampf.

Wer hingegen sein moralisches Überzeugtsein als ein mögliches unter anderen sieht und damit suspendiert, hat dem Faktum, dass andere anderes glauben, bereits moralische Relevanz zuerkannt. Er hat sich über seinen relativen Standpunkt erhoben und sieht gleichsam »von oben« auf diesen herab. Wenn man anderen ebenfalls zumutet, die Existenz von unterschiedlichen Auffassungen zu respektieren, weil dies zu tun ein Ausdruck der Achtung der Urteilskraft anderer ist, vertritt man bereits eine nicht-relativistische Position. Die vorgeblichen Relativisten teilen einen »absoluten« Standpunkt wechselseitigen Respekts.

Moralische Skeptiker halten hingegen jegliche moralische Überzeugung für grundlos (also nicht bloß, wie Relativisten, als begründet relativ zu einem bestimmten Standpunkt – dem Standpunkt »der« Katholikin, »des« Moslems, »der« Grünen, »des« Schwarzen, »der« Rechtspopulistin etc.). Sie können vernünftige Auffassungsunterschiede nicht anerkennen, weil es aus ihrer Sicht dafür überhaupt keinen moralischen Grund gibt.

§ 9. Freiheit, Gleichheit und Gegenseitigkeit

In der Erfahrung von vernünftigen Auffassungsunterschieden anerkennen wir, dass jede Person ihr Urteil für richtig halten darf. Wir entdecken damit, dass wir uns als frei verstehen, denn wir gehen davon aus, dass jeder und jede aufgrund seiner und ihrer eigenen moralischen Einsicht handeln darf. Die Gründe, die über die moralische Richtigkeit den Ausschlag geben, bestimmen wir selbst.

Wir erfahren aber auch, dass wir uns als gleich verstehen. Unter dem Vorzeichen eines vernünftigen Auffassungsunterschieds sieht die urteilende Person sich als eine Person unter anderen. Sie versetzt sich hypothetisch in deren Position und realisiert, dass sie mangels zwingender Argumente auch anders urteilen könnte. Wer für die Sterbehilfe eintritt, mag durchaus verstehen, dass diese das Risiko in sich birgt, dass kranke Menschen sterben wollen, um ihren Verwandten nicht mehr zur Last zu fallen. Die Person anerkennt das Gegenargument. Sie hält aber die Selbstbestimmung der Kranken für wichtiger als den (bevormundenden) Schutz vor schlecht überlegten Entscheidungen.

Der vernünftige Auffassungsunterschied findet seine Grenze in den normativen Voraussetzungen, auf denen er beruht. Diese sind die Freiheit und die Gleichheit der Menschen (zur Gegenseitigkeit siehe sogleich unten). Moralische Urteile, die voraussetzen oder behaupten, dass einige Menschen minderwertig oder unfrei sind, scheiden als unvernünftig aus. Über Urteile wie etwa jenes, dass die große Masse der Elite zu gehorchen habe, weil sie zu dumm sei, rational zu entscheiden, kann es keinen vernünftigen Dissens geben. Es ist moralisch falsch.

Wenn man genauer hinsieht, entdeckt man, dass mit der Anerkennung des vernünftigen Auffassungsunterschieds zum Urteil in der Sache (»Ich bin für Sterbehilfe, weil …«) ein weiteres Urteil hinzutritt (»Es ist nicht undenkbar, die Sache auch anders zu sehen«). Dieses weitere Urteil drückt den Respekt vor dem Urteil anderer Personen aus.

Dieser Respekt ist der Schlüssel zur Lösung des Dissensproblems. Sie besteht im Nachgeben gegenüber dem freien Urteil der anderen.

Allerdings kann es sich nicht um ein Nachgeben um jeden Preis handeln. Jede Person wird sich aufs Nachgeben nur unter der Bedingung einlassen, dass alle anderen ebenfalls zum Nachgeben bereit sind.

Es muss Gegenseitigkeit bestehen.

§ 10. Die Antinomie des moralischen Urteils

Mit der Einsicht in die Möglichkeit legitimer Auffassungsunterschiede geschieht also etwas Wundersames. Die Sozialdimension und die Sachdimension des moralischen Urteils treten auseinander.

Die Sozialdimension des Urteils betrifft die Frage, ob es von anderen Menschen geteilt wird. Die Sachdimension betrifft seine inhaltliche Richtigkeit.

Wenn es uns um die Wahrheit geht, also um das, was moralisch richtig ist, dann räumen wir der Sachdimension Vorrang vor der Sozialdimension ein. Wir erwarten, dass alle einsehen, was wir für richtig halten.

Hier verhält es sich umgekehrt. Wir lassen gelten, was andere für wahr halten. In der Sozialdimension – also im Verhältnis zu anderen Menschen – wird das Urteil des anderen respektiert und damit implizit einbekannt, dass man als eine Person unter anderen auch andere Werte haben könnte. Das unparteiliche Absehen von sich selbst erweitert sich zur Anerkennung des anderen. Zu guter Letzt ist man aus der Sicht der anderen selbst ein anderer.

In der Sachdimension, die den Inhalt der eigenen moralischen Überzeugungen betrifft, stellt sich die Sache konträr dar. Aus der Sicht des einen hat der andere Unrecht. Die Urteile werden durch unterschiedliche Wertschätzungen vermittelt, denn die einen schätzen das Motorgeräusch hoch und die Ruhe gering ein, die andern schätzen die Ruhe sehr und das Motorgeräusch überhaupt nicht.

Wir stehen damit vor dem internen Widerstreit des moralischen Urteils (einer »Antinomie«). Die Sozialdimension sagt »ja« zum anderen, und die Sachdimension sagt »nein«.

§ 11. Die Auflösung

Aus der Auflösung dieses Widerstreits besteht das Rechtsverhältnis.

Zur Auflösung hat die Verallgemeinerung die normative Bedingung zu beachten, auf der sie beruht. Es ist dies die gegenseitige Anerkennung als gleiche, frei urteilende Personen.

Unter Bedingungen der Gegenseitigkeit gestattet der eine dem anderen, was der andere ihm einräumt.

Im Fall eines Widerstreits zwischen der Sach- und der Sozialdimension besteht die Gegenseitigkeit allerdings nur in der Sozialdimension. Die Menschen, die unterschiedlicher Auffassung sind, räumen einander wechselseitig ein, an ihren Auffassungen festhalten zu dürfen. Sie geben einander allerdings nicht recht (Sachdimension).

Man gelangt damit zur Feststellung eines legitimen Auffassungsunterschieds. Die Gegenseitigkeit in der Sache (»on the merits«) stellt sich nicht ein (»Ich bin deiner Auffassung, wenn du meiner Auffassung bist« – etwas, das sich nur bei Einverständnis in der Sache einstellt).

Die Gegenseitigkeit in der Sache lässt sich nur herstellen, wenn die Wertschätzungen und ihre Begründungen ausgeblendet werden. Solange diese im Vordergrund stehen, sehen die Parteien nicht, was sie gemeinsam wollen. Sie wollen, was sie wollen. Sie wollen ihr Wollen. Darüber sind sie sich in der Sache einig.

Wenn die Verallgemeinerung dies zu ihrem Inhalt macht, dann verwandeln sich die entgegenstehenden moralischen Forderungen in einen Ausdruck von (unbestimmtem) Wollen. Aus der Forderung der Harley-Fans, das Motorgeräusch als etwas Gutes anzuerkennen, wird ein »Wir wollen das« und aus der Gegenforderung, die Geräuschbelästigung zu unterlassen, das korrespondierende »Wir wollen das nicht«. Die Begründung des Wollens oder Nicht-Wollens aus der Sicht einer Wertschätzung entfällt.

Es mag so aussehen, als sei der Konflikt nach wie vor unlösbar. Aber er hat sich bereits verändert. Die Veränderung ist der Schlüssel zu seiner Auflösung. Das Thema ist nicht mehr der Wert oder Unwert des Motorgeräuschs. Es geht darum, wessen Wollen gelten darf und wer das Wollen des anderen dulden muss.

Die Gegenseitigkeit ist in der Sozialdimension zunächst zirkulär. Der eine wird zu einem Zugeständnis nur bereit sein, wenn der andere ebenfalls ein Zugeständnis macht: »Ich will, was du willst, wenn du willst, was ich will« Diese zirkuläre Gegenseitigkeit bezeichnet der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) als »doppelte Kontingenz«. Sie lässt sich, wie wir noch sehen werden, überwinden, indem man über die Abgrenzung von Willkürsphären entscheidet.

§ 12. Freie Willkür

Die Rechtfertigung des Verhaltens nimmt damit eine andere Gestalt an. Insofern die Wertschätzungen ausgeblendet werden, präsentiert sie sich als legitime Ausübung von Willkür. Sie präsentiert sich aber auch als unbestimmte Willkür. Ihr Bestimmungsgrund – die Wertschätzung, die sie begründet oder motiviert – ist nicht weiter erheblich.

Die unbestimmte Willkür gilt als frei. Sie kann so, aber auch anders ausfallen. Sie ist – mit Luhmann gesprochen – kontingent. Kontingent ist alles, was weder unmöglich noch notwendig ist. Es kann sein. Aber es muss nicht sein.

Indem die Wertschätzungen ausgeblendet werden, treten die Menschen füreinander als Träger von Willkürfreiheit auf. Sie werden zu Personen; oder, wie Karl Marx (1818–1883) es ausdrückte, zu den »Charaktermasken« ihrer Entscheidungen.

Die Willkürfreiheit ist nichts unmittelbar Gegebenes. Sie ist ein moralisches Konstrukt. Sie ist ein Produkt der Auflösung eines internen Widerstreits des moralischen Urteils.

Was wir wollen, wird, wenn es unter dem Vorzeichen der Willkür gesehen wird, als etwas gesehen, das auf keinem anderen Grund beruht als auf dem, dass es gewollt wird. Das Wollen wird als ein Faktum verstanden. Es hat sich vom moralischen Begründen gelöst.

Die Frage ist, unter welchen Umständen man sich mit diesem Konstrukt abfinden muss.

II. Das Rechtsverhältnis

§ 13. Willkürsphären

Das Rechtsverhältnis entspringt der antinomischen Verfassung der moralischen Verallgemeinerung.

In der Sozialdimension des moralischen Urteils wird das Urteil des anderen zugelassen. In der Sachdimension wird es verworfen. In dieser Dimension könnte es Übereinstimmung nur geben, wenn inhaltliche Übereinstimmung bestünde. Die kann sich aber nicht einstellen, weil die Menschen unterschiedliche Dinge schätzen oder diese unterschiedlich hoch einschätzen.

Dieser Widerstreit zwischen der Sach- und Sozialdimension wird durch die gegenseitige (und bedingte) Anerkennung eines als unbestimmt auftretenden Wollens aufgelöst. Man stimmt überein, uneinig darüber zu sein, was man will, aber man anerkennt, dass jeder etwas wollen darf.