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INHALT

Der Ohrwurm

Der Maulwurf

Die Blätter

Die Pyrenäen

Die Ringe

Die Wutwurzel

Die Briefe

Die Fingernägel

Die Ledertasche

Der Fehlwurf

Der Donut

Die Wolken

Die Mauer

Der Blausturz

Das Upgrade

Der Flur

Der Wahnsinn

Der Kongo

Der Verrat

Die Wutwichtel

Die Prüfung

Das Hügelflüstern

DER OHRWURM

#SCHMALZALARM

Ein brüllender, tobender Gigant. Die Erde bebt unter ihm. Ganze Bäume hängen an seinen Beinen und Armen. So, wie an uns Menschen im Sommer Grashalme kleben bleiben. Wir sind für ihn kaum größer als Käfer, als wir an ihm hinaufklettern. Lästige, aber flinke Viecher. Da er alles überragt, muss der Kampf bis weit ins Land zu sehen sein. Alle schauen sie zu, aus der Ferne. Die Menschen auf den Marktplätzen. Die Späher auf den Burgzinnen. Die Wasserwühler auf ihren gezähmten Schwimmechsen.

Beim Blick hinab zieht sich in mir alles zusammen. Der Blick nach oben? Barthaare am Kinn wie Tannen, die auf dem Kopf stehen. Und darüber: Augen aus Feuer, so groß wie Einfahrten in einen Autobahntunnel.

Wirrbart hatte die Idee: Um diesen Gegner zu besiegen, müssen wir in seine Ohren eindringen. Ohne den Magier an meiner Seite wäre ich nie so weit gekommen. Wer immer ihn spielt, irgendwo in der echten Welt – der Junge ist genial.

Oben angekommen, krieche ich in das Ohr. Es ist so groß wie eine Tropfsteinhöhle. Gelber Schmalz und baumstammdicke Haare. Im Schmalz steckt ein Wurm. Ein Wurm mit riesigen Ohren. Ohrwurm sagt man eigentlich zu Liedern, die man nicht aus dem Kopf kriegt. Hier sorgt ein echter Wurm dafür, dass aus einem Gnom ein achtzig Meter großer Gigant geworden ist. Ich ziehe mein Schwert. Wirrbart hat es extra für den Wurm verzaubert. Ich steche zu. Der Riese schrumpft wie ein Ballon, aus dem die Luft rauspfeift.

Unter Trommeln, Geigen, Trompeten und Chören stürzen Wirrbart und ich in die Tiefe zurück. Elegant nutzen wir die wirbelnden Luftströme des zusammenschnurrenden Riesen und gleiten auf ihnen zu Boden. Sie prasseln auf den Waldrand und die Wiese nieder wie ein Bombenhagel. Wenn sie brechen, klingt das, als würde der Sperrmüll-Lkw alte Möbel zerbeißen. Wenn sie ganz bleiben, gibt es ein bauchiges „Boing“.

So, nun dürfen wir endlich das Gebiet betreten, das der Ohrwurm-Riese bewacht hat – den Knüllwald. Nur ganz wenige haben es bislang überhaupt hierhergeschafft. Niemand von ihnen kam seither wieder da raus. Man sagt, es liege an den Bewohnern dieses Waldes. Wir werden sehen.

Unter unseren Füßen wartet Wackelgras darauf, dass wir weitergehen, damit es sich in einem Schwung wieder aufrichten kann. Über unseren Köpfen stehen die drei Monde der Welt von Exploria am dämmerblauen Abendhimmel.

Argos, der große, weit weg und silbern schimmernd. Custos, der schnelle, mit seinem rotbraunen Nebel. Vor allem aber Convenius, der Mond, den sie besiedelt haben. Er schwebt so nah am Himmel, dass wir die Menschen dort oben sehen können. Kopfüber, in ihren Vorgärten und Städten und Häfen. Für sie wiederum stehen natürlich wir auf dem Kopf, hoch oben über ihnen. Den Kampf mit dem Achtzigmeterriesen müssen sie bemerkt haben. Wie ein Feuerwerk am Abendhimmel.

„Bist du bereit?“, fragt Wirrbart. Seine Stimme klingt tief und satt. Wie ein Magier halt klingt, der zweihundertfünfzig Jahre alt ist. Das ist auch so eine geniale Idee in diesem Spiel. Baut man sich zu Beginn seinen Charakter, kann man sich über das Headset eine Stimme für die Gespräche aussuchen. Ich bin kein Magier, sondern ein Mensch. Modi, ein Soldat der siebten Garde. Meine Stimme ist nicht ganz so tief, aber schön rau, wie grob gekörntes Schmirgelpapier. Vielleicht ist Wirrbart in echt schon aus der Schule raus.

„Speichern“, sage ich. So einfache Dinge vergisst Wirrbart gerne. Mein Vater erzählt oft von der Zeit, als man Spiele noch nicht überall speichern konnte. Er hat die alten Geräte aufbewahrt. Das Super Nintendo. Die erste PlayStation. Er spielt aber kaum noch. Ihn plagen jetzt andere Gegner.

Wir speichern. Die Musik dazu ertönt. Die Macher von Exploria haben für ganz viele Handlungen kleine Tonfolgen erfunden. Das sind dann auch Ohrwürmer, aber keine, die man aus den Schmalzhöhlen von Giganten ziehen muss.

Wirrbarts langer, knorriger Finger zeigt auf den Wald. Die Bäume stehen dicht an dicht. Es raschelt, als würden ihre Blätter über uns tuscheln.

Schon nach zwei Metern kann man kaum noch was sehen. Aus einem Astloch ragt das Beinchen einer Zedernspinne. Wirrbart erklärt: „Es gibt einige Wesen dadrin. Die allergefährlichsten sollen die sein, die klein sind und klein bleiben. Es sind Wutwichtel. Zornzwerge. Wenn sie sich aufregen, soll etwas Unglaubliches geschehen. Etwas, das nicht gestoppt werden kann.“

„Die Aufgabe in diesem Wald besteht also darin, immer so zu handeln, dass alle sanftmütig bleiben.“ Wirrbart schaut mich an. Seine Augen sind goldgelb. Sein Bart bewegt sich sachte in der Brise. Die Bäume rascheln. „Deswegen kam bisher niemand dadurch“, sage ich. „Weil wir alle das Kämpfen gewohnt sind. Nicht das Ruhigbleiben.“

„Genau“, sagt Wirrbart. „Lass uns deswegen hier einen Cut machen. Wir brauchen einen frischen Kopf dafür. Morgen?“ Ich maule. Aber er hat recht. Wirrbart hat meistens recht.

Ich atme tief ein. Also, tatsächlich im Spiel. Das geht. Alt F7. Bringt ein paar Kraftpunkte. Hilft immer. Wie im echten Leben. Einfach mal Luft holen. Ich drehe den Kopf und schaue in die Landschaft hinter uns, den Wald vor uns und den Mond über uns, auf dem die Bewohner kopfüber spazieren.

Die Zedernspinne klettert aus dem Astloch. Mit leisen, klappernden Geräuschen krabbelt sie am Baum entlang. Sie heißt so, weil sie selbst zum Teil aus Holz besteht. Tausende von neuen Tieren haben die Designer erfunden. Neue Pflanzen, neue Wesen. Man sagt sich, das Spiel sei so groß, weil es täglich wächst. Also wirklich wächst, wie ein Organismus. Keine Add-ons, die irgendwann erscheinen, sondern komplett frische Gebiete, die von selbst aus dem Code entstehen. Wie Evolution, nur im Eiltempo. Eine letzte Mahnung wird Wirrbart noch los, bevor sein Mensch sich ausloggt.

DER MAULWURF

#TIMING

Der Lüfter meines Rechners schnauft. Die Bilder, die Geräusche und die Musik von Exploria klingen noch nach. Was für ein Spiel! Ich schaue aus dem Fenster in den Garten und sehe meinen Vater, wie er Häufchen aus dem Katzenklo im Boden vergräbt. Mit der Schippe trägt er einen Maulwurfshügel ab. Danach buddelt er tiefer, bis er mit der Hand den Eingang der Höhle ertasten kann. Dann grinst er. Schließlich nimmt er die Katzenkacke aus dem Eimer und stopft sie in den Gang. Das winzige Tier ist sein ständiger Endgegner.

Der Katzenkacke-Gestank soll den Maulwurf vertreiben. Mein Vater ist längst Fachmann geworden. Die ganzen Hügel im Garten sind feindliche Basen für ihn. Eine Invasion.

Unser Nachbar Heinz hat in seinem Garten keine Hügel und keinen Maulwurf, der ihn terrorisiert. Sein Rasen liegt so grün und gerade da wie der eines WM-Stadions vor dem Finale. Seine Bäume sind auch schöner beschnitten. Sein Kompost verrottet perfekter. Heinz ist ein Albtraum für meinen Vater.

„Ben, was ist das denn bitte?“

Meine Mutter steht in meinem Zimmer. Sie hält ein Schulheft in der Hand. Mein letzter Test in Erdkunde. Na, herzlichen Glückwunsch! Mein Vater schüttet das Loch wieder zu.

Ein typischer Muttersatz. Damit wollen sie einen in die Enge treiben. Man soll sich verteidigen. Wie ein Angeklagter vor Gericht. Aber wer sich verteidigt, hat schon verloren. Da hilft nur der Gegenangriff.

„Gegen 18 Uhr 45 wollte ich dir das sagen. Weil wir dann schon gegessen haben. Schlechte Nachrichten verkraftet man mit vollem Magen besser. Ich denke halt mit.“

„Jetzt wird er auch noch frech!“, sagt meine Mutter. Als wäre ich gar nicht da. Als säße da ein Publikum, zu dem sie spricht. Als spiele sie ein Stück auf der Bühne, mit großen Gesten. In einem gut gefüllten Theater.

Draußen hat mein Vater den nächsten Hügel abgetragen. Er stößt tief in die Erde vor. Seine Hand greift in den Katzenkacke-Eimer.

„In Mathe oder Chemie. Das könnte ich verstehen. Ich hatte früher selber schlechte Noten, wenn’s um Formeln ging. Oder um Reaktionsgleichungen. Brrrr!“ Meine Mutter schüttelt sich. „Aber eine Sechs in Erdkunde? Dein Ernst? Ihr musstet doch bloß Berge und Flüsse richtig zuordnen.“

„Ich kann mir die Orte nicht merken“, sage ich. „Ich muss sie erst gesehen haben.“ Das stimmt. Alles, was ich sehe, behalte ich im Kopf. In der echten Welt und in den Maps von Spielen.

War ich da, ist es gespeichert.

„Das heißt, wir müssen mit dir erst in die Anden fliegen, bevor du dir merken kannst, wo sie liegen? Oder an den Amazonas?“

„Das wäre eine Maßnahme“, sage ich.

Im Garten zieht mein Vater die Hand aus dem Eimer. Er stutzt. Die Katzenscheiße ist alle. Er steht auf und geht mit dem Eimer Richtung Gartentor.

Meine Mutter reißt das Fenster auf.

„Wo willst du denn hin?“

Mein Vater zeigt die Straße hinab. Zu den Nachbarn. Er wedelt mit dem Eimer.

Meine Mutter rauft sich die Haare. „Tobias!“

Mein Vater stoppt. Immer, wenn meine Mutter „Tobias“ statt „Tobi“ oder „Schatz“ sagt, wird es ernst. „Du gehst jetzt nicht durch die Nachbarschaft und fragst die Menschen, ob sie dir die Hinterlassenschaften ihrer Katze rausgeben!“

Wir wohnen in einem ruhigen Viertel. Vorgärten. Carports. Kübelpflanzen.

Manche haben so einen runden Pool, den man mit dem Gartenschlauch füllt. Nach einer Woche schwimmen immer tausend tote Viecher auf dem Wasser. Eine harte Insektenkruste.

Meine Eltern haben unsere Katze Buffy genannt, weil eine Fernsehserie früher so hieß. Über eine Vampirjägerin an einer Schule. Sie haben mir ein paar Folgen gezeigt. Cool irgendwie, aber auch seltsam.

Den Maulwurf durch den Gestank von Katzenscheiße zu vertreiben, ist Vaters neue Kampfstrategie. Vorher hat er’s mit diesen Klangstäben versucht, die man in die Erde steckt. Sie fiepen und vibrieren. Irre machen sie nur den Menschen, nicht den Maulwurf.

„Tobias!“, sagt meine Mutter. „Du musst warten, bis unsere eigene Katze wieder aufs Klo geht. Man fragt Nachbarn nicht nach Geld. Man fragt sie nicht nach dem Rasenmäher. Und schon gar nicht fragt man sie nach den Häufchen ihrer Katzen.“ Sie dreht sich zu mir. „Ben, wir beide gehen jetzt ins Wohnzimmer und üben mit dem großen Atlas.“ Und zu ihrem Publikum sagt sie: „Der Mann spielt mit Katzenkacke und der Sohn schreibt Sechsen in Erdkunde. Das kann ja wohl alles nicht wahr sein!“

DIE BLÄTTER

#BLÄTTERTOD

Meine Mutter scheucht mich ins Wohnzimmer. Also, sie versucht es. Selbstverständlich lasse ich mich nicht mehr scheuchen. Mit vierzehn muss man beherrschen, was eine Katze schon mit zwei kann. Niemals direkt gehorchen. Als ich sechs oder sieben war, habe ich noch gehört. Wie ein kleiner, schwanzwedelnder Hund. Manchmal denke ich, meine Mutter hat nicht mitgekriegt, dass ich mich seither weiterentwickelt habe.

„So!“, sagt meine Mutter. „Länder. Berge. Flüsse.“ Wenn meine Mutter „So!“ sagt, denkt sie, sie habe alles im Griff.

Sie geht zum Bücherregal. Es ist riesig. Zehn mal sechs Fächer. Echtes Holz. Gefüllt ist es vollkommen chaotisch. Als würde das Papier darin von selber wachsen. Meine Eltern wollen das dringend mal aufräumen und neu sortieren. An Ostern haben sie es sich vorgenommen. An Ostern 2012.

Meine Mutter zieht das riesige Buch mit den Landkarten aus einem Fach. Es wiegt mehr als manche meiner Mitschülerinnen. Der neue Weltatlas steht darauf, aber neu war der schon nicht mehr, als ich geboren wurde.

„Es gibt auch Google Earth“, sage ich.

„Genau das ist euer Problem!“, sagt meine Mutter. „Google Earth. Google Maps. Google hier. Google da. Als ich in deinem Alter war, konnte ich noch Landkarten lesen.“

Das Ungetüm rutscht meiner Mutter aus den Fingern und fällt auseinander. Sie hält noch den Buchumschlag in der Hand, aber der Inhalt knallt auf den Boden. Als der schwere Papierklotz aufprallt, fallen die Blätter von den großen Topfpflanzen. Raschelnd verteilen sie sich auf den Dielen neben ein paar wehenden Wollmäusen.

Wie erschossene Kämpfer liegen sie auf dem Boden. Manche weich und gelb. Manche braun und verschrumpelt.

„Papa hat wohl lange nicht gegossen“, sage ich.

Meine Mutter sagt zu ihrem Publikum: „Er muss gar nicht viel tun!“ Dieses Mal meint sie nicht mich, sondern meinen Vater. Meine Mutter hat die Aufgaben bei uns genau verteilt. Papa muss die Blumen gießen, den Müll entsorgen und Getränke holen. Viel Wasser. Kistenweise. In Glasflaschen. Er ist außerdem für das Auto zuständig. Und den Dachboden.

Ich spüle viel. Das mache ich sogar ganz gerne. Wobei das stark auf das Spülmittel ankommt. Ich bin nicht nur ein Seh- und ein Hörmensch, ich rieche auch sehr gut. Also, ich kann gut riechen, meine ich. Das andere müssen meine Mitmenschen beurteilen. Mit Pfirsich jedenfalls spüle ich gerne. Zitrone und Aloe Vera gehen auch. Außerdem weiß ich als Einziger, wo genau im Haus was ist. Mein „Job“ ist allerdings vor allem, „gute Noten“ nach Hause zu bringen, sagt meine Mutter. Und darin versage ich gerade. Wenigstens lenkt der Blätterhagel sie jetzt ab.

Ich hole Besen, Kehrblech und einen Eimer. Meine Sechs in Erdkunde ist vergessen. Wie irre schüttelt meine Mutter an den Zimmerpflanzen. Sie sollen alles abwerfen, was noch an den Zweigen hängt, aber schon kaputt ist. Ein Regen trockener Blätter rieselt auf den Boden. Es knistert leise.

DIE PYRENÄEN

#ORIENTIERUNGSFEHLFUNKTION

In der Schule denke ich an die Worte meiner Mutter, dass sie noch Landkarten lesen konnte. Blödsinn. Ohne die Kompass-App weiß sie auch nicht, wo Norden ist. Mein Opa Ludwig, der wusste das. Er konnte vieles richtig gut. Schwimmen. Fahrräder reparieren. Mit Tieren umgehen. Er hätte den Maulwurf in ein Gespräch verwickelt und zum Auswandern überredet. Über meine Mitschüler hätte er aber sicher gelästert. „Man muss nicht alles können“, hat er immer gesagt. Was heißt: Manches aber schon! Und zwar das, wofür man sich von Herzen interessiert.

Die Kleineren auf dem Schulhof interessieren sich wenigstens für Tischtennis. Drüben an der Steinplatte machen sie Rundlauf und quietschen dabei.

Der Tischtennisball klackert auf der Platte. Ich kaue einen Apfel rund um sein Gehäuse ab.

Während der Ball über die runde Platte fliegt, fliegen meine Gedanken wieder zu Exploria. Minispiele gibt’s darin auch zuhauf.

Skifahren, Segelfliegen, Bowling … die Pins dabei sind lebendig und wehren sich dagegen, von der Kugel umgeworfen zu werden. Es klingelt zum Ende der Pause. Zwei Meter entfernt von mir steht ein Müllkorb. Ich versuche mich an einem Wurf und treffe daneben.

Im Klassenraum wandern alle Telefone eine Stunde lang ins Ruheregal. Zumindest, wenn wir bei Frau Gneis haben. Mein Opa hätte diese Lehrerin gemocht! Sie hat das Ruheregal erfunden. Fünfundzwanzig Fächer aus Birkenholz auf einem großen Brett an der Wand.

HolsterBundeswehr