Ich hatte den Fehler gemacht, ohne meine Tochter zu verreisen. Natürlich dachte ich die ganze Zeit an sie und sammelte Steine, Muscheln und anderes, um es ihr mitzubringen.

Bald kam mir die Idee, eine Geschichte zu erfinden, in der die Fundstücke vorkamen. Ich kaufte eines dieser dicken blauen Schreibhefte, die man auf den griechischen Inseln bekommt, und mittags, wenn es am heißesten war, suchte ich mir einen Schattenplatz, um zu schreiben.

 

T.P., Juli 1994, immer wieder überarbeitet und schließlich und endlich veröffentlicht im März 2013

1. Teil:
Ein Kästchen aus Holz

 

1. Kapitel:

Emma findet etwas, das vorher noch nicht da war, auf ihrem Tisch.

 

Am Morgen eines Sommertages wachte Emma auf und hatte ganz ausgesprochen gute Laune. Sie wunderte sich selbst darüber. Denn oft wachte sie auf und hatte alles andere als gerade gute Laune. Ein trübes Licht fiel in die Vorhänge an ihrem Fenster. Hinter der Tür hörte sie schon die Eltern rumoren und wenn sie sich nicht rührte, würde bald einer von ihnen zu ihr hineinsehen und sagen, sie müsse sich jetzt ganz doll beeilen mit dem Anziehen, das Frühstück sei schon fertig.

Woher aber kam nur diese gute Laune, wieso war da auf einmal dieses lustige Kitzeln im Bauch? Hatten ihr gestern vielleicht Mama oder Papa vor dem Einschlafen etwas sehr Schönes versprochen?

Sie dachte nach, und sie dachte nach, aber nichts anderes wollte ihr einfallen, als dass sie heute wohl wieder in den Kindergarten gehen würde und danach vielleicht, wenn Papa oder Mama Zeit hätten, ein bisschen ins Schwimmbad. Das Wasser war dort immer so kalt, und sie wusste eigentlich gar nicht, warum sie unbedingt in dieser Kälte Schwimmen lernen sollte. Kein Grund jedenfalls, so ausgesprochen gute Laune zu haben.

"Mama, Papa!" schrie sie.

Ihr Vater steckte den Kopf zur Tür herein. "Mein Gott, was ist denn!?" sagte Papa. "Warum schreist du so? Es ist noch nicht einmal sieben Uhr!"

"Papa", sagte sie, "du sollst mir sagen, worauf ich mich freue!"

"Ja, das weiß ich doch nicht!" grummelte Papa. "Aber man sollte sich morgens immer auf irgendetwas freuen, dann fängt der Tag gut an. Ich zum Beispiel freue mich auf ein gutes Frühstück und danach eine Zigarette."

"Rauchen ist ungesund!" sagte Emma und verzog den Mund.

"Das weiß ich", erwiderte Papa mit schrägem Lächeln.

Emma sprang aus dem Bett, und zog ganz schnell ihr Lieblingskleid aus dem Schrank. Das blaue mit den weißen Rüschen am Saum. Lange musste sie suchen, bis sie das passende Höschen und das Hemd mit den blauen Bären gefunden hatte, die als einzige zu dem Kleid passten. Sie war froh, dass Mama nicht schon gestern Abend irgendeine lange Hose für sie zurechtgelegt hatte, die sie heute anziehen sollte. Sandalen oder Turnschuhe? Sie entschied sich für Sandalen und lief, nachdem sie sie eilig angezogen hatte, in die Küche, wo Papa stand und langsam, wie immer, Bananen, Äpfel und heute auch das Stück einer Ananas in kleine Stücke schnitt für das Müsli.

Wenn Papa Frühstück machte, musste es immer Müsli geben. Er sagte immer, er fühle sich den ganzen Vormittag glücklich, wenn er morgens ein gutes Müsli gegessen habe. Emma fand, damit ein Vormittag glücklich war, mussten noch andere Dinge dazukommen

"Wo ist Mama?" fragte sie.

Da spürte sie die Hand ihrer Mutter auf den Haaren. "Schnuckelchen", hörte sie ihre butterweiche Stimme, "heute ist es kühl draußen! Zieh Dir schnell die grüne Jeans an, die wir letzte Wochen zusammen gekauft haben, die gefallen dir doch auch gut. Und den dicken Pullover. Bitte!" An dem Tonfall, mit dem ihre Mutter das Wort Bitte aussprach, merkte Emma, dass es heute schon wieder noch vor dem Frühstück Streit geben würde.

"Ich will die grünen Jeans nicht anziehen. Ich will das Kleid anziehen. Mir ist nicht kalt!" Mama war selber schuld, wenn sie beim Einkaufen überredete, die Hose zu kaufen die ihr, Mama, am besten gefiel. Die grüne Jeans war viel zu grün für ihren Geschmack, und außerdem sah sie darin aus wie ein Junge, und ein Junge war sie nicht, und wollte sie auch nicht sein.

Jungen waren doof, außer Emil. Emil war eine Ausnahme. Aber auch Emil würde die grüne Jeans sicher nicht anziehen. Er war doch kein Grasfrosch.

Emma fürchtete, dass Mama jetzt mit scharfer Stimme sagen würde: "Du ziehst die grüne Jeans an, und zwar sofort!" Dann würde es schwer werden mit diesem Morgen. Aber sie sagte nur: "Wenn du nach draußen gehst ziehst, du wenigstens Strumpfhosen an. Achte bitte darauf, Thomas!" sagte sie zu Papa.

"Ja", sagte Thomas-Papa, und Emma wusste, dass sie für heute gewonnen hatte.

Mit dem blauen Kleid fing der Tag in jedem Fall gut an. Emma fühlte schon wieder dieses Kribbeln im Bauch, mit dem sie aufgewacht war. "Ich möchte heute etwas sehr Schönes machen!" sagte sie.

"Was möchtest du denn gerne machen?" fragte Mama, die gerade dabei war, den Geschirrspüler einzuräumen.

"Ich will ...", sagte Emma, aber dann fiel ihr nichts ein, was so richtig zu dem Kribbeln passte.

"Ich will Süßigkeiten haben!" sagte sie dann versuchsweise, aber sie wusste sowieso, dass sie jetzt, nach dem Frühstück, keine bekommen würde und auch, dass es eigentlich nicht das war, was sie wollte.

"Hol’ mal deine Jacke!" sagte Papa. "Ich bring’ dich in den Kindergarten."

Die Zeit im Kindergarten verging wie immer. sie spielte ein bisschen mit Jessica, stritt sich mit Oliver um das einzige freie Fahrrad, und sie freute sich, als Papa sie endlich abholte.

"Gehen wir baden?" empfing sie ihn.

"Liebe Emma", hörte sie, und da wusste sie schon, dass sie heute nicht baden gehen würden, "es wäre ganz toll, wenn du heute mal ein bisschen alleine in deinem Zimmer spielen würdest, ich habe nämlich noch ganz viel am Schreibtisch zu arbeiten."

"Du musst aber mit mir baden gehen!" maulte Emma.

"Du sollst nicht immer sagen, 'du musst!'", sagte Papa. "Da will keiner gerne etwas für dich tun. Aber heute können wir leider überhaupt nicht baden gehen, auch wenn du sagst, 'gehst du bitte mit mir schwimmen?' Tut mir leid."

Da saß sie nun in ihrem Zimmer. Das Fenster war weit auf, die Sonne schien herein, und Papa hatte ihr etwas weißes Papier hingelegt, auf dem sie ihm ein Bild malen sollte.

Emma hatte keine Lust, schon wieder ein Bild für Papa zu malen. Mama sagte immer, es gebe Kinder, denen müsste man nur fünf Bauklötze hinlegen, und dann könnten sie stundenlang damit spielen. Wenn es solche Kinder gab, dann konnte Emma sie jedenfalls nicht verstehen. Sie langweilte sich, wenn niemand mit ihr spielte und konnte grenzenlos traurig werden, wenn sie allein war. Das große Puppenhaus guckte sie nur blöde aus seinen leeren Zimmern an. Alle Bilderbücher waren nur ein Haufen bunter Kleckse auf Pappe und Papier, und selbst von den Kuscheltieren konnte ihr dann auch das weichste und süßeste nicht helfen. Manchmal spielte sie, ihre Puppe Lisa wäre ihre kleine Schwester, und dann fütterte sie sie und zog sie warm an. Aber Lisa war eben doch nur eine Puppe, und ein richtiges Geschwisterkind wollten Mama und Papa nicht mehr bekommen. "Du machst uns gerade genug Arbeit", hatte Papa eben gestern noch gesagt.

Emma machte einen dicken schwarzen Strich auf das weiße Papier. Das Papier konnte nichts dafür, dass sie sich langweilte. Das wusste sie. Emma merkte, dass ihr Daumen wieder den Weg in ihren Mund gefunden hatte, und ihre beiden Augen füllten sich langsam mit Tränen. Warum musste sie eigentlich immer so allein sein. Warum spielte Papa nicht mit ihr! Das war nun der Tag, an dem etwas ganz besonders Schönes passierten sollte? Sie dachte gerade, dass sie ein wenig lauter schluchzen sollte, damit Papa es hören musste, da fiel ihr Blick auf ein kleines Päckchen, das neben dem Papier auf dem Tisch lag. Es war eine Schnur darum, und die Schnur hielt ein graues Papier zusammen, in das alles eingewickelt war.

Ob sie das auspacken durfte?

Sie wollte erst Papa fragen, der im Nebenzimmer an seinem Schreibtisch arbeitete. Aber dann dachte sie, dass sie am besten gleich mal nachsehen wollte, was da drin war. Papa wollte ja nicht gestört werden, und sie wollte nicht, dass er ihr vielleicht verbieten würde, das Päckchen auszupacken.

Die Schnur ließ sich nicht einfach herunterziehen, sie musste erst eine Schere holen, um sie durchzuschneiden. Wenn es nun ein Geschenk war, das Papa gerade für jemanden eingepackt hatte, dann wäre er jetzt sicher böse. Aber nun war die Schnur sowieso kaputt, da konnte sie auch ruhig vorsichtig mal nachsehen, was darin war.

Das Papier ließ sich leicht öffnen, und heraus kam ein kleines Kästchen aus Holz. Das Holz war dunkel und sicher schon sehr alt. Ein paar Linien und Zeichen waren darauf, aber von den Buchstaben, die sie schon kannte, war keiner dabei. Das heißt, es war mit Sicherheit kein E, kein M und kein A darauf geschrieben.

Das Kästchen war auch nicht schwer, und wenn man es drehte, fiel etwas darin hin und her. Der Deckel wurde gehalten von einem kleinen silbernen Verschluss. Emmas Fingernagel brach daran ab, und sie musste wieder die Schere holen. Weil es so schwer ging, musste sie leider einen dicken Kratzer in das Holz machen.

Dann aber sprang der Deckel auf. Sie erschrak etwas, denn innen war alles mit einem ganz schwarzen Stoff ausgeschlagen, so dass sie zuerst gar nichts darin erkennen konnte. Das Schwarz war so schwarz, wie sie noch nie ein Schwarz gesehen hatte.

Emma schaute verwundert hinein, und da sah sie auch, was da so geklappert hatte: Da lag ja so etwas wie eine dunkle, braune, längliche Muschel.

 


 

Beide Hälften hafteten fest zusammen, kurze braune Fäden und ein paar Sandkörner hingen daran und hier und da ein weißes Pulver.

Emma nahm die Muschel heraus und betrachtete sie von allen Seiten. Sie wollte nichts kaputtmachen und versuchte nur ganz vorsichtig, die beiden Hälften zu öffnen. Sie waren aber sehr fest verschlossen.

Sie überlegte, ob sie nicht wieder die Schere zu Hilfe nehmen sollte. Sie könnte ja ganz vorsichtig...

Da öffnete sich die Muschel. Ganz langsam zuerst, dann immer schneller gingen die Hälften auseinander. Emma schrie auf und warf die Muschel auf den Tisch.

"Ist was?" rief Papa von nebenan.

"Nein", antwortete Emma laut, denn sie fürchtete sich zwar etwas vor dem, was sie da sah, aber sie wollte nicht, dass Papa kam und ihr das merkwürdige Ding wegnahm, das sie da gefunden hatte.

 

2. Kapitel:

Ein Zwerg bittet Emma, das Weiße Schneckenhaus zu finden.

 

Emma traute ihren Augen kaum. Da stand in der Muschel, die nun ganz offen war, doch wirklich ein winziger kleiner Zwerg und sah sie mit noch viel winzigeren kleinen Augen an.

Er trug eine gelbe Hose und ein weites rotes Hemd. Auf dem Kopf hatte er einen winzig, winzig kleinen Hut, der ihm trotzdem einiges zu groß war. Und schwarze Stiefel hatte er an, und in der einen Hand hielt er einen goldenen Stab, kleiner als ein halbes Streichholz.

Er hatte - soweit sie das erkennen konnte - ein hübsches und recht freundliches Gesicht. Die Nase war, wie es sich für Zwerge gehört, etwas groß geraten. Seine Haut schien runzlig zu sein, soweit sie das bei seiner Kleinheit überhaupt erkennen konnte. Jetzt fing er an, mit der freien Hand zu winken. Es sah so aus, als wollte er, dass sie näher kam.

Vorsichtig beugte Emma ihren Kopf hinunter. Die beiden Muschelhälften glänzten und schimmerten innen wunderschön in einer violetten Farbe. Auch lag da noch eine Tasche aus braunem Leder neben dem Zwerg.

Dann hörte sie ein Piepsen. Etwa so, wie wenn ein kleiner Vogel schilpt. Und dann hörte Emma in dem feinen Piepsen wirkliche Worte, und sie hörte genau zu.

"Guten Tag, Emma!" sagte das Piepsen. "Schön, dass du mich endlich gefunden hast!"

"Woher weißt Du denn, dass ich Emma heiße?" fragte Emma erstaunt.

"Ist was?" rief Papa von nebenan.

"Nein", sagte Emma laut, "ich lese aus einem Buch vor." Sie wollte auf keinen Fall, dass Papa jetzt dazukam. Denn immer, wenn man gerade das schönste Spiel entdeckt hatte, fanden die Erwachsenen einen Grund, warum man es nicht weiterspielen sollte.

"Ich weiß alles", piepste der Zwerg, "darum weiß ich auch, dass du Emma heißt. Aber leider kann ich nicht alles, und darum musst du mir helfen!"

"Was soll ich dir helfen?" fragte Emma vorsichtig.

"Du musst für mich das Weiße Schneckenhaus finden", hörte Emma den Zwerg leise sprechen.

"Du sollst nicht 'du musst' sagen!" bemerkte Emma, "dann tut nämlich keiner gerne etwas für dich."

"Das hat dein Papa gesagt", fiepste der Zwerg, "ich weiß, aber bei uns beiden ist es etwas anderes."

"Warum?" wollte Emma wissen.

"Frag’ nicht so viel!" sprach der Zwerg jetzt ziemlich unfreundlich. "Du musst einfach, weil du musst. Wir warten nämlich schon seit über tausend Jahren auf dich, damit du endlich das Weiße Schneckenhaus wiederfindest, das damals verloren ging, weil der Schwarze Rabe es aus diesem Kästchen gestohlen und ins tiefste Meer, in den Ozean, geworfen hat."

"Oh!" machte Emma, und irgendwie fand sie, dass sie nicht so richtig verstand, was der Zwerg eigentlich von ihr wollte.

"Du verstehst nicht so richtig, was ich eigentlich von dir will, stimmt’s?" fragte der Zwerg.

"Ja", meinte Emma.

"Ich will es dir erklären!" sagte der Zwerg.

"Warte mal", bremste ihn Emma, und sie setzte sich erst einmal etwas bequemer auf ihren Stuhl, schlug die Beine übereinander und legte den Kopf auf die Arme, ganz nahe an die geöffnete Muschel heran, damit sie den Zwerg besser verstehen konnte.

"Nie mehr Langeweile!" begann der Zwerg. "Kannst du dir das vorstellen? Immer neue Spiele und Geschichten? Die schönsten Lieder überall zu hören? Vor über tausend Jahren", fuhr er fort, "war die Welt noch in Ordnung. Alle Menschen waren viel glücklicher. Damals lag nämlich noch das Weiße Auge des Weißen Fisches im Weißen Schneckenhaus, und deshalb war alles ganz anders."

"Das verstehe ich nicht", sagte Emma.

"Ich weiß", sagte der Zwerg. "Probier’ es einfach aus. Finde für uns das Weiße Schneckenhaus! Für uns, für mich, für dich! Möchtest du immer neue Spiele gezeigt bekommen, Märchen und spannende Geschichten, wann immer du willst, immer neue Lieder hören, einfach nie mehr Langeweile haben?"

"Ja", sagte Emma leise.

"Dann hilfst du uns?" Der Zwerg hatte sich auf seine Zehenspitzen gestellt und schaute mit großen hoffnungsvoll geweiteten Augen aus seiner Muschel zu Emma hinauf.

"Willst du etwas essen?" hörte sie ihren Papa wieder von nebenan, und seine Schritte, die immer näher kamen. Emma  erschrak und stellte schnell einen großen Pappkarton über die Muschel mit dem Zwerg. Schon stand Papa neben ihr.

"Was machst du hier eigentlich?" Sein Blick fiel auf den kleinen Holzkasten. "Von wem hast du das denn? Das ist ja wunderhübsch!"

"Das darfst du nicht aufmachen", sagte Emma. "Es gehört mir, und ich habe es gefunden."

"Was ist denn da drin?" wollte Papa wissen. "Wenn es Mama gehört, musst du es ihr wiedergeben!"