Über den Autor

Ali Mahan, geboren 1949 in Nadjaf/Irak, verbrachte dort auch seine Kindheit und Schulzeit bis zum Abitur. Seine Eltern waren Iraker iranischer Abstammung und wurden mit den Kindern zu Beginn des iranisch-irakischen Krieges in die Heimat seiner Vorfahren, den Iran, deportiert. Ab 1970 studierte er in Köln Mineralogie und promovierte in Chemie. Anschließend assistierte er an einem Lehrstuhl für Chemie in Köln, arbeitete anschließend als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule München für anorganische und physikalische Chemie und arbeitete als Chemiker in der Industrieforschung. Seit den neunziger Jahren ist er schriftstellerisch tätig.

Weitere Buchveröffentlichungen:

Aus dem Dschungel des Alltags

© 2014 BoD Books on Demand Norderstedt

Webseite: www.poesie-ostwest.de

 

Impressum

Zwischen zwei Welten
Ali Mahan

Copyright: © 2014 Ali Mahan

published by:
epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de

ISBN 978-3-
7375-3046-0

 

 

Inhalt

Vorwort

Kindheitserinnerungen

Die ersten verliebten Augenblicke

Die Abreise

Die längste Nacht

Während des Studiums

Die Abwechslung

Der Schock

Der Zusammenprall

Briefe

Einsame Stunden

Zweisame Stunden

Wer bin ich?

Vorwort

Immer, wenn ich an meine Heimat erinnert werde, sehe ich mich in eine dunkle Vergangenheit gleiten und befinde mich plötzlich in einer Grauzone, zu der ich mit meinen ambivalenten Gefühlen stehe. Meine Heimat sehe ich symbolisiert durch Semiramis, die grausame Herrscherin dunkler Zeiten Mesopotamiens. Ich erwache und sehe mich in der Freiheit und Lebensfreude Deutschlands.

Nach der ersten Ausgabe des Buches unter dem Titel „Zwischen zwei Welten“ 1992 habe ich das Manuskript erweitert und verbessert. Es setzt sich aus vereinzelten, zum Teil auch autobiographischen Schriften zusammen, die über lange Zeit hinweg entstanden sind (während eines Studiums in Köln und eines Lehrauftrages an der Fachhochschule München) und letztlich einen Zusammenhang bilden. Im Großen und Ganzen spürt der Leser die persönliche Entwicklung und die Identitätskrise eines Orientalen, der in einem typischen nahöstlichen Milieu aufgewachsen ist und als Neunzehnjähriger seine Heimat verließ, nach Europa ging und seine Kindheitsreminiszenzen, Episoden, Milieubeschreibungen, Beobachtungen von Personen sowie philosophische Gedanken niedergeschrieben hat. “Zwischen zwei Welten” deswegen, weil die Welt der Kindheit und die des Erwachsenen nicht nur altersmäßig und von der persönlichen Entwicklung her voneinander getrennt sind, sondern auch in verschiedenen Ländern, sozusagen auf zwei unterschiedlichen Bühnen spielen: Im Orient und in Europa. “Zwischen zwei Welten” auch deswegen, weil jeder von uns in seinem Leben spürt, dass es in ihm eine Welt der Träume gibt, die von der Realität getrennt ist, eine Welt des Wohlbehagens sowie eine mit tiefen Verlassenheitsgefühlen, Unsicherheiten und Unbehagen. Die Bilder und die Ereignisse wurden von dem Autor auch so empfunden und beschrieben, also abwechselnd zwischen der Vergangenheits- und Gegenwartsform. Obwohl das Erzählte keine spektakulären und spannenden Abenteuer darstellt, ist es doch in seiner Art und Weise anschaulich und literarisch, zum Teil lyrisch geschrieben. Die vorliegende Ausgabe ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung. Die erste Auflage, erschienen 1992 im Oase Verlag Köln, ist seit der Einstellung dieses Verlages 1996 vergriffen.

Kindheitserinnerungen

“Man denkt an das, was man verließ

Was man gewohnt war, bleibt ein Paradies

GOETHE, Faust

Sie sitzt vor dem gusseisernen Kohleofen und hört die Sinfonia Concertante von Mozart. Durch den Spalt der kleinen Glasscheiben des Ofens fällt der flackernde gelbrote Schein des knisternden Feuers auf ihr schönes Gesicht. Sie sitzt mit übergeschlagenen Beinen auf dem pharaonisch gemusterten Leinensessel in ihrem rosafarbenen Bademantel und guckt ernst auf einen kleinen Harlekin, dessen Kopf auf ihrer Utensilien-Schatulle angelehnt ruht. Wer weiß, in welcher Welt sie sich in diesem Moment befindet. Soweit ich sie kenne, wünscht sie sich, im siebzehnten oder achtzehnten Jahrhundert gelebt zu haben. Für mich ist sie der Inbegriff der Güte und Gutmütigkeit, obwohl sie manchmal mit ihren apokalyptischen Visionen eine neue Sintflut heraufbeschwört. Wenn ich mich nun in ihre Phantasie versetze und mich nicht irre, ist sie eine hochadlige Dame im Spiegelsaal von Versailles, von Butler und Dienerschaft mit allen Köstlichkeiten reichlich gedeckter Tische und von kuscheliger Seide und flaumigen Betten majestätisch umgeben. Der junge Prinz und Thronfolger will ihrem Wunsch nachkommen, ihr Gesellschaft leisten und mit ihr durch die königlichen Gärten und Promenaden eine Spazierfahrt machen. Die prunkvolle Equipage wartet schon. Der Prinz hilft ihr galant beim Einsteigen. Sie weiß, dass ihr naives Wissen und unschuldiges Lächeln für ihn geradezu rührend sind. Ich weiß nur nicht, ob ich gerade ihr Prinz bin und ich frage mich, welcher Mann wünscht sich nicht ihr Prinz zu sein. Sie könnte auch gerade ein Engel sein, der den Menschen Heil bringt, ihre Schmerzen lindert und sie von Bösem befreit, oder eine “Bernadette” der modernen Zeit. Ich wollte eigentlich ihr behagliches Wohlbefinden nicht stören und sie nicht aus ihren Welten herausreißen. Als sie mich aus der Küche treten hörte, löste sie ihre Haarspange, lockerte ihr Haar und lehnte sich weit zurück, den Kopf erhoben. Ich ging zum Fenster und öffnete es unüberlegt ganz. Ein starker Luftzug entstand. Die Gardine erhielt einen Luftbauch und einzelne Blätter wehten über den Teppich. “Huch ist das kalt”, sagte sie und wandte mir ihren Blick zu. “Etwas frische Luft tut gut für die Nerven”, erwiderte ich und machte die Fensterflügel sofort zu. Ich reckte die Arme, setzte mich auf die Sessellehne und legte den Arm zärtlich um sie, dann ließ ich ihn sanft bis auf die Rücklehne gleiten und schob ihr ein Plätzchen in den Mund, das ich die ganze Zeit in meiner Hand festgehalten hatte. Sie schaute mit schrägem Kopf zu mir auf und mümmelte mit vollem Mund: “Mmh, sind die gut! Danke mein Liebling.” “So bäckt meine Mutter Plätzchen. Kötzlich, nicht wahr?” antwortete ich ihr flüsternd und küsste sie leicht auf die Nase. Sie lächelte liebevoll und sagte: “Du meinst köstlich nicht kötzlich”, dann bat sie mich flehentlich: “Sag mir, dass du mich liebst!” Ich strahlte sie verständnisvoll an und sagte: “Muss ich es sagen?” “Ich möchte es von dir gerne hören.” “Du zweifelst also an meiner Liebe. Du hast mich scheinbar noch nicht durchschaut. Es ist auch schwer für dich, einen Orientalen zu verstehen. Wenn ich die Absicht habe, etwas zu tun, setze ich es still, unbemerkt und ohne darüber zu sprechen in die Tat um. Ganz besonders in der Liebe. Die Liebe ist für mich eine Energie in ihrer edelsten und feinsten Form, die nicht in Luft verpustet werden darf. Es wird viel geredet, aber auch viel nicht ehrlich gemeint oder getan. Das Sagen beweist längst nicht das Meinen. Du kannst mir glauben, dass nur die Hälfte von dem, was in der Liebe gesagt wird auch tatsächlich gemeint ist.” Sie räusperte sich und lehnte sich wieder zurück, um Gegenstellung zu nehmen. Dann verteidigte sie sich vehement, als hätte ich sie gemeint: “Ich habe es dir oft gesagt, dass ich dich liebe, heißt das, dass ich es nicht ernst meine?” “Doch, mein Liebling - ich weiß, wie du bist und dass du mich liebst, aber jetzt Schluss mit der Diskussion- auch wenn ich es nicht ständig wiederhole - ich liebe dich -. Zufrieden?” “Ja”, sagte sie einfach und nach einer Weile: “Trinken wir einen Kaffee?” “Nein, Liebste, ich gehe jetzt zu einem Landsmann. Wir trinken Tee und reden ein bisschen über die Heimat. Ich bin in einer Stunde wieder da.” “Eine deutsche Stunde oder eine orientalische?” “Ist da ein Unterschied?” gab ich herausfordernd lächelnd zurück. Kurz darauf fiel die Tür ins Schloss. Sie kuschelte sich gemütlich mit angezogenen Beinen in ihren Sessel, wo sie nach einer Weile einschlummerte und ich sie spät nachts, wieder zu Hause, so fand.

“Schläfst du noch?” ihre Stimme kommt aus der Küche. Ich spürte schon vorher durch das Geschirrgeklapper, dass sie erwacht war und sich jetzt dort befindet und den Ofen anzündet. Sie kocht, wie üblich Kaffee und bereitet zwei Teller Müsli als Frühstück vor. Ich erhebe mich aus dem Bett und begebe mich ins Bad. “Hast du gut geschlafen?” höre ich sie laut fragen. “Ja, danke und du?” Ich setze mich an den Frühstückstisch. “Es ist sehr kalt draußen”, gibt sie mir zur Antwort. “Eine arktische Kälte sicher.” So viel Schnee liegt draußen. Häuser und Bäume sind mit Schnee bedeckt, wie mit Puderzucker bestreut. Seltsam, diesen Schnee kannte ich nur aus Bildern in meiner Heimat, als ich Jüngling war. Sie sitzt jetzt am Sekretär, greift zu ihrem Rougetöpfchen, sieht sich im Spiegel, schneidet eine profane Grimasse und fragt heiser mit einem verzogenen Mund: “Erzähle mir über deine Kindheit und wie du nach Deutschland kamst. Ich weiß so wenig darüber.” Ich räuspere mich und schlucke um meine Kehle anzufeuchten, als ob ich mich für eine gewagte Reise in die Vergangenheit vorbereiten wollte, die so weit zurück liegt und in der alles auf einmal ganz nahe rücken sollte oder in verdunkelten Bildern und nur noch in der Einbildung in mir lebt. “Was soll ich dir erzählen? Ich weiß selber nur wenig.” Ich versuche, mir die ersten Bilder meiner Kindheit im Gedächtnis wach zu rufen. Es sind nur vereinzelte, verschwommene Erinnerungen und vieles hat sich auch verflüchtigt, aber doch einige wenige sind markant geblieben. Bilder tauchen auf, die sich nach meinem Tod nie wiederholen. Gehen sie wirklich verloren? Viele davon sind gewiss verloren gegangen oder fast ganz verblasst. Warum sehne ich mich nach ihnen? Obwohl ich eine harte Kindheit ohne nennenswerte Ebbe und Flut hinter mich brachte. Wenn ich nun einiges von damals heraufbeschwöre und erzähle, was mich gequält hat oder wie die mit Weh empfundene Strenge des Vaters und die Gerte des grausamen Lehrers mich gepeinigt haben, fällt es mir manchmal nicht leicht zu glauben, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat. Weshalb ich nicht gerne erzähle, ja es vielleicht leugnen möchte oder es einfach nicht wahr haben will. Warum fühle ich mich zu diesen Bildern hingezogen und halte ich mich fest an ihnen wo sie harmlos und nicht so eindrucksvoll sind? Warum auch gerade diese, die ich bis jetzt behielt und die nicht ganz in Vergessenheit geraten sind? “Glaube mir Liebste, ich bin mir dessen bewusst, was ich sage. Es ist nur für mich von Bedeutung. Ich will es für mein spätes Alter niederschreiben. Ein spätes Alter ohne diese Erinnerungen wäre für mich trostlos oder auch grauenvoll.” Ich hätte das schon früher tun sollen. Ich wollte mich an vieles erinnern, aber mein Gedächtnis ließ mich im Stich. Mich ergreift jetzt eine lähmende Schwäche. Aus mir will unterdrücktes Weinen hervorquellen und ich bin fast den Tränen nahe.

Ich war sehr klein, vielleicht ein oder zwei Jahre alt. Erinnere ich mich tatsächlich, bilde ich es mir nur ein oder habe ich es geträumt? Seltsamerweise kommt es mir manchmal vor, als läge diese Zeit erst kurz zurück und doch ist es schon lange her. Ich spiele im Hof im Sand, durch die Tür sehe ich eine Frau, die fleißig kocht, entweder ist sie meine Mutter oder Umm Abid, bei der wir uns als Untermieter einquartiert hatten und an deren Name ich mich noch erinnern kann. Dies ist die am weitesten zurückliegende Erinnerung, die mir gegenwärtig ist. Alles davor liegt im Dunklen.

Viele schwarze Ochsen weiden zerstreut auf dem leicht geneigten Hang am Stadtrand, der von der Ruine der alten Stadtmauer überragt wird. Die Herde wurde zu bestimmten Zeiten dorthin gebracht. Ich fürchte mich davor, dass ich von ihnen überrannt werde und trotzdem fällt es mir schwer, mich von ihrem Anblick zu lösen. Die Häuser ringsum sind niedrig, erscheinen mir aber gigantisch, erwachsene Menschen kommen mir wie Ungetüme vor.

Ich sitze auf der kleinen rissigen Türschwelle und habe mich dem ungepflasterten Hof zugewandt, der von hohen Wänden umzäunt ist. Rechts hinten ein an der Ecke schlicht und einfach gemauerter Abort. Das Haus hat kein Dach und ich erinnere mich nur an einen einzigen Raum, der vorne links lag. Angeblich gehörte dieses sogenannte Haus der geschiedenen Frau meines Vaters. Ich weiß nicht, ob dieses Haus noch steht, obwohl ich es wiederfinden würde.

Ich sehe die Welt von einem erhöhten Standpunkt aus, den Schultern meiner Mutter, unterwegs auf ihrer alltäglichen Einkaufstour. Meine Patschhändchen klammern sich an ihrem Kopf fest, meine Füße und die winzigen Glöckchen am Fußring baumeln lose auf ihrer Brust. Kinder mit zerlumpten und ausgefransten Kleidern imitieren hinter einem Hinkenden oder einem Buckligen seinen Gang, tummeln sich lebhaft und rennen mit hochgeschürzten Hemden platschend in Pfützen aus lehmigem Brei, der sich in morastigen Straßen nach heftigem Regen gebildet und sie unpassierbar gemacht hat.

Auf dem Wollmarkt hinter der großen Moschee sehe ich mich mit meiner Mutter auf gleicher Kopfhöhe. Viele Frauen tummeln sich unter den Arkaden, alles ist schattig. Schwarz und Gelb waren dominierend. Schwarz sind die Schleier der Frauen und zum größten Teil auch die Wolle und sandgelb die Säulen hinter der Wand der Moschee. Ich sehe dann das Gesicht meiner Mutter, die bei einer Verkäuferin hockt und feilscht. Sie lupft einen gefalteten Geldschein aus ihrem Ausschnitt und reicht ihn der Frau.

Jetzt entreiße ich den Tiefen meines Gedächtnisses schwerlich nur eine Momentaufnahme. Ich war vielleicht zwei Jahre alt und deutlicher als die Bilder ist mir das Lebensgefühl von damals in Erinnerung geblieben:

Voller Geborgenheit sitze ich im Schoß meines Vaters und beobachte seine bewegten Lippen, die je nach Laut beim Reden den Rauch mehr oder weniger entweichen lassen. Vor ihm steht die Wasserpfeife und das Gläschen Tee. Er redet mit jemandem, der rechts von ihm sitzt. Nur Männer hocken an der Wand aufgereiht. War es nicht eine Trauerfeier eines unserer Nachbarn? Oder vielleicht der Beschneidungstag eines der Kinder unserer Verwandten?

Ich krabble zu dem betenden Vater hin und schnappe nach seinem Gebetsstein und der schwarzen Gebetskette, die vor ihm mitten auf dem Gebetstuch liegen und stecke sie in den Mund. Der Tongeschmack liegt mir. Es war immer für mich sehr angenehm, meinem Vater beim Beten zuzusehen oder mich an ihn heranzumachen oder seine Füße zu umarmen. Instinktiv merkte ich, dass er sich nur beim Beten alles von mir gefallen ließ. Er kniet sich vor Anbetung bis zum Boden nieder und reißt Stein und Kette aus meinen Händchen, spricht seinen Satz laut: “La Ilahe illa Allah”, was so viel heißt wie, `es gibt keinen Gott außer Allah´. Jetzt liegen Stein und Kette zwischen Boden und Stirn und er raunt sein Gebet weiter.

Auf dem Gewandmarkt, in einer anderen Stadt. Vielleicht “Hilla” - ehemaliges Babylon - begleite ich meinen Vater. Wir gehen durch einen Markt, wo nur Gewänder, Kopftücher und vielleicht auch Wolle verkauft wird. Verkäufe werden mit Handschlag besiegelt. Ich halte mich fest an seinem Gewand aus rauer Schafwolle. Mein Vater trifft zufällig einen Onkel von mir und lädt ihn zu einem Gläschen Tee ein. Der Onkel besaß einen ziemlich rundlichen hellhäutigen Körper mit rosigem runden Gesicht. Er beugt sich über mich und will von mir wissen ob ich brav bin und meinem Vater helfe. Ich bin geniert, bewege mich rückwärts und verstecke mich halb eingewickelt in das Gewand meines Vaters. Aber er beharrt auf einer Antwort. Ich sammele alle Kräfte und allen Mut. “Ja”, wage ich endlich mit glühenden Wangen zu antworten. Er legt seine schwielige Hand auf meinen Kopf, reibt auf ihm hin und her und sagt: “Du bist ein guter Junge.” Ich spüre die Schwere seiner Hand und werfe einen Blick auf seine staubigen, rissigen, hornhäutigen, deformierten Riesenfüße, die in halbabgeschabten, ledernen Sandalen stecken.

Auf dem unbebauten Grundstück unserem Haus gegenüber, an einer ungeputzten Rückwand, umschwärmen summende Hummeln ihr Nest. Eine Eidechse mit amputiertem Schwänzchen huscht aus einem Müllhaufen, schnappt eine kleine Küchenschabe und schluckt sie mühsam, dann verschwindet sie flink in einem Mauerspalt. Ich befinde mich hier, weil ich sehen will, wie die Spatzen schwirren und flirren und in den Mauerlöchern verschwinden, dort, wo sie ihre Eier auch legen, brüten, die frisch Geschlüpften füttern oder ihnen das erste Fliegen beibringen. Eine Lerche späht aufgeregt und misstrauisch aus ihrem Nest und ein Spatz landet aus einem Mauerloch auf zwei Streichholzbeinchen und hüpft weiter, federnd wie ein Tischtennisball zu einem mit Fliegengeschmeiss bedeckten Aas, aus dem ein stechender Geruch der Verwesung herausquillt.

Ganz in der Nähe an der Schulbus-Haltestelle lachen und lärmen kleine Kinder. Schafsgeblöke und Ziegengemecker nähert sich und füllt die Straße. Der Hirt, ein zotteliger Junge mit einem blattlosen Ast in der Hand, sammelt das Vieh aus den Höfen und treibt es auf eine Weide außerhalb der Stadt. Die Herde drängt die spielenden Kinder an die Wand. Ein Lämmchen macht tänzelnd einen Seitensprung zutraulich zu mir hin. Vielleicht hat es in mir einen Altersgenossen, einen gleichberechtigten Spielkamerad entdeckt! Die Herde verlässt unsere Straße und wirbelt eine Staubwolke hinter sich her.

An der Hausschwelle, wo ich einige Melonenkerne im feuchten Boden gepflanzt habe und die jetzt austreiben, verfolge ich die Ameisenstraße und baue für sie wacklige Brücken aus Dattelkernen und Bambussplittern. Damals wünschte ich mir, ich wäre so klein, wie die Ameisen, um in ihre Löcher hineinzuschlüpfen, um ihres Treibens Vorhaben zu entdecken. Manche fliegen und andere beißen mich.

Vor unserer Haustür, auf der anderen Straßenseite kommt ein fremder junger Mann, bäuerlichen Aussehens, kippt die Ladung in den Lastsäcken seines Esels auf den Boden und sortiert die aufgetürmten Schösslinge von Dattelpalmen zum Verkauf. Er sucht einen davon aus, entfernt mit einer Axt die Fasern, Wedel und Stiele und probiert mit einem Messer den weißen süßlich schmeckenden Strunk.

Ein weiter Hof umgibt das Mausoleum unseres größten Imams. Auf seiner Kuppel haben sich Tauben versammelt. Unzählige Parzellen der Theologiestudenten reihen sich um den Hof herum. An dem Tag kamen verschleierte Frauen aus allen Ritzen, zogen durch die Straßen und ergossen sich wie dicke schwarze Ströme durch blank polierte Tore, die mit Ornamenten und in Gold verzierten Koransuren geschmückt waren und die sie beim Eintreten küssten. Ihr Anblick macht einen glauben, man blicke auf eine Kolonie von Pinguinen. Neben den Toren hocken Straßenhändler vor ihrer kleinen Kollektion von verschiedenen religiösen Utensilien, die sie auf einem Tuch vor sich ausgebreitet haben. Es gibt auch welche, die kleine Würfel aus Messing und mit chinesischen Schriftzeichen versehen, durcheinander werfen oder mit Hilfe einer schwarzen Kette das Orakel für die Leute sprechen lassen. Der Platz brodelt tagtäglich vor Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts. Hinter einem hohen Geistlichen verrichtet eine große Gruppe von Leuten in mehreren Reihen ihr Abendgebet. Ein anderer Geistlicher predigt vor einem weinenden Häuflein von Menschen, die eigentlich mehr über ihr elendes Schicksal so untröstlich weinen als über den Märtyrer, der sich vor mehr als über tausend Jahren mit seiner Familie und wenigen Freunden selbstmörderisch gegen die ungerechte Umaijaden-Dynastie erhob. Die da hockenden werden von drei Laufburschen mit Tee, Tabak und einem Safrangetränk versorgt. Unter einem der Gewölbe der Kolonnade, die den Hof umringt, intoniert neben einer flackernden Kerze laut die warme Stimme eines Mullahs mit aufgestülptem Turban Verse aus dem heiligen Buch. Er sitzt im Schneidersitz, den Rücken gekrümmt, vor einem geschnitzten nussbaum-farbenen Pult mit aufgeschlagenem Koran und benetzt den Daumen mit der Zunge, zum Umblättern bereit. Neben ihm sitzen Leute auf ihren Hinterteilen, angelehnt an die Wand. Ein Mocca-Straßenverkäufer mit einer großen, heißen Schnabelkanne, die er auf seiner rechten Schulter trägt, geht an ihnen vorbei, klimpert in rhythmischem Klang mit seinen verzierten Porzellanschälchen und bedient im Stehen einen scharfzügigen und adleräugigen Beduinen. Dann macht bei ihnen gerade ein Bettler Halt und segnet sie mit Weihrauch aus einer geschnitzten heißen Schale und bittet um Almosen, wobei er einen blinden Greis am Weitergehen hindert. Der sehnige Greis klopft mehrmals mit seinem Stock ungeduldig auf die Fliesen, dann gibt er dem Bettler einen solchen Stoß, dass dieser fast auf sein Gesicht gefallen wäre. “Lassen Sie mich vorbei. Ich bin ein hilfloser alter Mann, sehen Sie denn nicht!” Sagt er verbittert. “Unmöglich, so was”, ruft der Bettler mit bebenden Nasenflügeln, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Dann hält er das Gewand des Blinden fest, reißt daran und fügt ärgerlich hinzu: “Sie sind nicht nur blind, sondern auch irre.” Da hört plötzlich die Stimme des Mullah auf, sein Vollbart-Gesicht hebt sich und er macht eine fassungslose Miene, die im Kerzenlicht fast zu schmelzen scheint. “Gehen sie jetzt!” Richtet er seinen Befehl an den Bettler. “Verschwinden sie endlich”, ruft er ihm noch hinterher mit gerümpfter Nase.

Die mit Nasen-, Ohrenschmuck, Diademen und Amuletten bestückten Gesichter von mehreren buntgekleideten und rauwollenen und schwarz verschleierten Bauernfrauen, die im Kreis sitzen, blicken mitleidig auf den Bettler.

Ich sitze neben der Mutter und beobachte die großen Flecken an dem khakifarbenen Gewand des Bettlers, die mich an Figuren von Fabeltieren erinnern.