image

Für meine Eltern – weil ihr mich
immer ermutigt habt,
meinen Träumen zu folgen
.

eISBN 978-3-649-63641-0

© 2020 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG, Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Lina Frisch

Covergestaltung: Frauke Schneider

Lektorat: Frauke Reitze

Satz: Sabine Conrad, Bad Nauheim

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63344-0.

LINA FRISCH

FALLING

KANNST DU DEINEM VERSTAND TRAUEN?

SKYE

image

image

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Nachwort

Die Autorin

image

Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man genau weiß, was gleich passieren wird – und man das Unausweichliche trotzdem nicht verhindern kann. Der Boden fliegt auf mich zu und ich schließe die Augen. Es war nur ein falscher Schritt! Winzige Steinchen zerkratzen meine Handflächen, bevor ich aufschlage und mit pochendem Kopf liegen bleibe. Der Rhythmus von siebzehn Paar Füßen lässt den Rasen des Stadions unter mir vibrieren und ich betrachte die störrischen Grashalme zwischen meinen Fingern.

»Sie ist hingefallen!«, schrillt Fionas Stimme über den Platz.

Mein Körper fühlt sich schwer an, als würde das Gewicht des Universums mich auf die harte Erde des Stadions drücken.

»Skye Anderson, was dauert da so lange?«, höre ich den Coach rufen.

Ich richte mich auf. Die anderen Läufer sind schon bei der nächsten Marke angelangt, ich werde das Feld niemals wieder aufholen. Aber Coach Verse hat recht: Es ist nicht das Fallen, vor dem wir uns fürchten sollten, das hat er uns oft genug eingebläut. Es ist das Liegenbleiben.

Meine Füße beginnen, sich in gewohnter Gleichmäßigkeit vom Boden abzustoßen. Ich bin nicht dazu gemacht, einfach aufzugeben, auch wenn ich heute keine Chance mehr habe, meinen Rekord zu halten. Die Gruppe der Läufer ist mittlerweile am Ende des Stadions angelangt. Kurz hintereinander ertönen siebzehn durchdringende Signale, als Jasmine und die anderen wenden, um nun auf das Ziel in meinem Rücken zuzulaufen. Ich hebe den Blick und sehe sie dicht an dicht auf mich zusprinten. Ihre Gesichter sind gerötet. Es sieht komisch aus, wie manche vor Anstrengung ihre Augenbrauen zusammenziehen. Niemand macht Anstalten, eine Lücke für mich zu lassen, aber das habe ich auch nicht erwartet. Trotzdem weigern sich meine Beine, langsamer zu werden. Wenn ich jetzt ausweiche, lande ich am Ende der Liste! Das kann ich nicht zulassen. Die anderen kommen immer näher, eine Mauer aus Menschen, und so langsam spüre ich Panik in mir aufsteigen.

»Du musst einfach einen kühlen Kopf bewahren.« Ich lächle, als ich an Elias’ Universallösung für jede Situation denke, so aussichtslos sie auch scheinen mag. Es wäre ein Fehler, jetzt zur Tribüne hinüberzusehen, aber ich weiß auch so, dass er am Rand der vierten Bank sitzt: beinahe direkt hinter der Bande, doch nicht zu nah, um wirklich interessiert zu wirken; seine kurzen Haare wie immer noch feucht vom Wasser der Schwimmhalle, dunkel glänzend wie in den Sommern, in denen wir uns mit Seilen vom Felsen aus ins Wasser des verbotenen Sees geschwungen haben. Lianensee.

Mit einem Mal weiß ich, was zu tun ist. Vielleicht bin ich verrückt geworden, aber alles ist besser, als einfach stehen zu bleiben. Entschlossen taxiere ich den Abstand zwischen mir und den Läufern, dann treffe ich meine Wahl. Es ist nicht verrückt, korrigiere ich mich. Was ich vorhabe, ist rational.

Ich brauche zwei Seitwärtsschritte, um mich zwischen den beiden stärksten Sprintern zu positionieren. Alle anderen wären nicht kräftig genug, so viel ist sicher. Jasmines Augen verengen sich zu Schlitzen. Colin hingegen scheint das Hindernis auf seinem Weg nicht einmal zu bemerken. Sein Blick ist auf die Anzeigetafel fixiert. Wahrscheinlich versucht er in den letzten Sekunden noch, seinen Rekord zu brechen. Rationale streben nach mehr, wollen sich ständig verbessern. Colin weiß das, und genau wie ich tut er schon jetzt alles, um zu beweisen, zu welchem Trait er gehört.

Als nur noch wenige Meter zwischen mir und den anderen liegen, beschleunige ich mein Tempo. Ich strecke die Arme aus, stütze mich nur für einen winzigen Moment auf Jasmines knochiger und Colins muskulöser Schulter ab, bevor ich meine Beine durch die Lücke zwischen ihren Oberkörpern schwinge. Ohne zurückzublicken, lasse ich meine rechte Hand eine Minute und drei Sekunden später gegen die Marke knallen, wende und sprinte als Letzte auf das Ziel zu. Ich zwinge mich, die Blicke der anderen auszublenden, die hinter der Anzeigetafel nach ihren Wasserflaschen greifen und jeden meiner Schritte verfolgen. Manche von ihnen werden hoffen, dass ich ein zweites Mal falle.

»Es war die einzige Möglichkeit«, keuche ich noch in der Sekunde, in der ich die Lichtschranke passiere und mein Name grün auf der Anzeige über unseren Köpfen aufleuchtet. Mit tiefen Zügen hole ich Luft, um das stechende Gefühl aus meiner Lunge zu vertreiben.

Colin wirft mir einen seiner üblichen herablassenden Blicke zu. »Sieh mal einer an, sie hat ein schlechtes Gewissen!« Er grinst. »Nur Anfänger entschuldigen sich für Leistung. Oh warte, das stimmt nicht – Anfänger und Emotionale.«

Ich krame genervt nach meiner Wasserflasche und schlucke meinen Ärger hinunter, während Elias’ bester Freund sich neben den anderen Jungen auf den Boden fallen lässt. Ich bin keine Emotionale!

»Vielleicht fühlt sie sich ja auch mit gutem Grund schuldig.« Die Lautstärke seiner Stimme verrät, dass der Kommentar nicht für die anderen Jungen gedacht ist. Ich beiße die Zähne zusammen in der festen Absicht, mich nicht provozieren zu lassen. »Immerhin hätte niemand von uns ihre Lösung nutzen können.« Colins Blick wandert von einem seiner Freunde zum nächsten. Jeder einzelne von ihnen wiegt mindestens doppelt so viel wie ich. »Und das, wo unserer Miss Frauenpower doch Gleichberechtigung so wichtig ist.« Colins Freunde lachen, als er bei den letzten Worten meine Stimme imitiert. Idioten.

Auf der Anzeigetafel erscheint die heutige Rangliste und die Gespräche um mich herum verstummen. Nur Jasmine redet weiter auf den Coach ein, doch auch der schaut zur Tafel. Ich folge seinem Blick und traue meinen Augen kaum, als ich meinen eigenen Namen an seinem angestammten Platz an der Spitze der Mädchen stehen sehe. Wie kann das sein?

»Gut gemacht.« Ich zucke zusammen, weil ich nicht bemerkt habe, wie Fiona sich zu mir gestellt hat. »Ich wünschte, ich wäre nur annähernd so schnell wie du.«

Vielleicht hättest du dich einfach nicht umdrehen sollen, als ich hingefallen bin, denke ich und fühle mich sofort schlecht. Es war freundlich von ihr, sich um mich zu sorgen. Manchmal muss ich mich selbst daran erinnern, dass nicht jeder rational sein kann.

Ein Wutschrei lässt uns herumfahren, und ich sehe gerade noch, wie Jasmine nach einem Blick auf die Anzeige fluchend in der Umkleide verschwindet. Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen wende ich mich ab, denn immerhin bin ich für die Zehntelsekunden verantwortlich, die sie heute ihren Rekord gekostet haben. Jasmine hat nie einen Zweifel daran gelassen, dass nach der Testung ein R auf ihrem Handgelenk landen soll, und ein paar der Mädchen werfen sich vielsagende Blicke zu, als ausgerechnet sie mit Wucht die Tür der Umkleide hinter sich zuknallt.

»Okay, Leute, ich will kein Gejammer über Muskelkater hören. Wer sich nicht dehnt, ist selbst schuld«, durchbricht Coach Verse die Stille.

Ich stehle mich ein paar Meter von der Gruppe weg und tue so, als müsste ich mich an der Bande festhalten, während ich auf einem Bein stehend nach meinem Fußgelenk greife. Die angenehme Müdigkeit, die sich nach dem Laufen über mich zu legen pflegt wie eine Decke, verschwindet, als eine kühle Hand beiläufig meine warme streift. Wir wechseln einen kurzen Blick, dann verliere ich das Gleichgewicht und Elias grinst.

»Ich warte an der Bushaltestelle auf dich, in Ordnung?«

Er lässt mir keine Zeit zu antworten und nimmt zwei Stufen auf einmal, als er die Treppen der Tribüne hinaufläuft, bevor irgendjemand seine Anwesenheit bemerkt hat. Ich sehe ihm nach und spüre ein Pochen in meiner Brust, das nichts mit dem anstrengenden Training zu tun hat.

»Skye?«

Ich bin froh, dass der Sprint eine Erklärung für die alberne Hitze liefert, die meine Wangen garantiert schon wieder puterrot gefärbt hat. Hastig zwinge ich mir das Lächeln vom Gesicht, gegen das ich in Elias’ Nähe so wenig unternehmen kann, und drehe mich zu Coach Verse um. Seine Züge sind wie immer undurchschaubar, während er darauf wartet, dass sich der Platz um uns herum leert.

»Das war eine reife Leistung heute«, sagt er schließlich und bückt sich, um die Markierungen aus dem Rasen zu ziehen.

»Aber ich bin hingefallen«, erwidere ich verwirrt. Ich habe damit gerechnet, einen Verweis wegen der Behinderung der anderen Läufer zu bekommen – kein Lob.

»Du hast die Situation bestmöglich gerettet. Alles glasklar analysiert. Was glaubst du, warum dein Name an der Spitze gelandet ist?« Der Coach richtet sich auf und wirft die Markierungen in einen Eimer. »Laufen ist ein rationaler Sport. Es geht nicht nur um Zeiten, sondern vielmehr darum, die eigenen Grenzen zu überwinden.«

»Und einen kühlen Kopf zu bewahren«, füge ich hinzu.

Coach Verse nickt.

»Ganz Samuel Andersons Tochter, nicht wahr? Grüß deinen Vater von mir und richte ihm aus, dass wir für die neue Trackbahn sehr dankbar sind.«

Ich nicke, während mein Blick noch einmal zur Anzeigetafel flackert. Ich weiß, was von mir erwartet wird. Durch den Namen meines Vaters wird eben nicht alles einfacher.

»Du schaffst das schon, Skye.« Coach Verse ist meinem Blick gefolgt und schaltet die Anzeige mit einem Befehl seines Smartphones aus, sodass die Rangliste des Teams vor meinen Augen verschwindet.

»Es ist bloß …« Ich zögere. Rationale zeigen keine Unsicherheit! »Das Laufen erhöht meine Chancen auf einen Platz an der Cremonte-Uni nur dann, wenn ich meine Bestzeit halte oder mich steigere. Dieser Patzer hat mich heute eine Minute gekostet, ganz egal, wie rational ich meinen Fehler ausgebügelt habe.«

Coach Verse schiebt sein blaues Schweißband aus der Stirn, das er immer trägt, obwohl niemand ihn jemals laufen gesehen hat. Ich erwarte eine Strategie, wie ich noch mehr aus mir herausholen kann, doch stattdessen weicht er meinem Blick aus. Wenn ich nicht wüsste, dass ich mich irren muss, würde ich den merkwürdigen Ausdruck in seinem Gesicht als Traurigkeit deuten.

»Coach?«, frage ich zaghaft und er zuckt zusammen.

»Die Cremonte-Uni, hm? Mach dir darum keine Sorgen. Ich habe selten eine Schülerin trainiert, die sich so sicher war, zu welchem Trait sie gehört.« Coach Verse verzieht seine Mundwinkel zu einem unverbindlichen Lächeln, als würden wir über das Wetter sprechen, doch es erreicht seine Augen nicht. Er wirft einen Blick über seine Schulter, bevor er hastig mit gesenkter Stimme fortfährt: »Hör zu, Skye. Das Konsilium interessiert sich nicht dafür, wie schnell du läufst. Du hast rational gehandelt, und das ist alles, was zählen wird.«

Das Konsilium. Ein ehrfürchtiger Schauer zieht sich über meinen Rücken. Niemand weiß etwas Genaues über den Vorgang der Testung im Athene-Zentrum, außer, dass diese Gruppe hoch ausgebildeter Psychologen dafür verantwortlich ist, die Ausrichtung unserer Persönlichkeit zu bestimmen – unseren Trait. Das Konsilium wird darüber urteilen, welches Leben zu mir passt: das einer Rationalen oder das einer Emotionalen.

Coach Verse presst seine schmalen Lippen aufeinander. »Denk an meine Worte. Und pass auf dich auf.«

Ich nicke, verwirrt von der plötzlichen Ernsthaftigkeit in seiner Stimme.

»Bis morgen, Coach.« Ich lächle ihm zu, bevor ich mich in die Umkleideräume begebe und die zum Glück noch weit entfernte Testung aus meinen Gedanken vertreibe.

image

Mittlerweile müssten die Duschen leer sein, überlege ich, während die Gummisohlen meiner Sportschuhe unangenehm auf den Fliesen quietschen. Ich sollte mich beeilen, denn Dad hat mich gebeten, heute pünktlich zu Hause zu sein, damit wir zusammen essen können. In letzter Zeit kommt er oft so spät aus dem Büro, dass ich längst schlafe, und morgens ist alles, was ich von ihm sehe, die leere Kaffeetasse auf der Anrichte. Er glaubt, ich würde unter seiner ständigen Abwesenheit leiden, aber ich verstehe, wie wichtig seine Arbeit im Parlament ist. Und außerdem bin ich nicht allein. Ich muss unwillkürlich lächeln, als ich an die Abende neben Elias auf der breiten Fensterbank seines Zimmers denke. Gegen nichts in der Welt würde ich diese Stunden eintauschen wollen! Ich schlängele mich an den Mädchen in Handtüchern und Flip-Flops vorbei, schnappe mir meine Sporttasche und steuere auf die Duschen zu.

»Pass auf, mit wem du dich anlegst.«

Überrascht schaue ich auf.

»Wie bitte?« Die Dampfwolken um mich herum machen es schwer, den Schatten vor mir zu identifizieren.

»Glaub bloß nicht, dass ich deine kleine Sabotageaktion einfach so hinnehme.« Jasmine deutet mit dem Finger auf mich. »Ich werde Jahrgangsbeste sein, dieses und auch nächstes Jahr. Ich werde einen Platz an der Cremonte-Uni bekommen. Steh mir dabei besser nicht im Weg!«

Ich sehe mich um, doch Jasmine und ich sind allein im Duschraum.

»Auf dem Campus gibt es mit Sicherheit Platz genug für uns beide«, sage ich versöhnlich, denn ich habe wirklich keine Lust, auch noch meine Studienzeit in einem unfreiwilligen Zickenkrieg zu verbringen.

»Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht ganz so sicher.« Jasmine mustert mich. »Die Cremonte ist eine Uni für die zukünftigen Führer dieses Landes. Für Rationale, die unter Druck nicht nachgeben. Du hast vorhin die richtige Entscheidung getroffen, indem du meine Zeit deinem Erfolg geopfert hast.« Mit honigsüßer Stimme flüstert sie mir ins Ohr: »Aber du hast ein schlechtes Gewissen, nicht wahr?« Jasmine richtet ihr Handtuch. Was fällt ihr ein, mich darüber zu belehren, was Rationalität ausmacht! Als wüsste ich nicht selbst, was ein R von seiner Trägerin verlangt. »Und pass besser auf, dass du dich nicht zu sehr mit Fiona anfreundest«, raunt sie mir zu, während sie sich zum Gehen wendet. »Nicht, dass ihre Emotionalität noch auf dich abfärbt – oder ihr lahmarschiger Laufstil. Dieses Team kann wirklich keine zwei Loser vertragen.«

Die Summe von Jasmines kleineren und größeren Gemeinheiten wird in meiner Erinnerung lebendig. Ich straffe meine Schultern.

»Rationale sind vielleicht ehrgeizig«, sage ich leise und deutlich. »Aber sie sind keine kaltherzigen Menschen.«

Jasmine dreht sich noch einmal um. Spöttisch verzieht sie die frisch nachgeschminkten Lippen. »Danke für den Ratschlag der Expertin. Sonst noch was?«

»Ja, allerdings«, zische ich. »Du solltest an deiner Impulsivität arbeiten. Es wäre ja schließlich blöd, wenn dir so ein Ausrutscher wie eben im Athene-Zentrum passiert und du am Ende mit einem E dastehst.«

Jasmine starrt mich ungläubig an, aber ich bin die Regeln der Highschool-Monarchie leid, die sie zu unserer selbst gewählten Königin machen. Und ich bin es leid, die Klappe zu halten, damit Elias sich nicht zwischen seinen Freunden entscheiden muss. »Ach, noch etwas: Lass gefälligst endlich Fiona in Ruhe!«

Ich kann mir ein triumphierendes Lächeln nicht verkneifen, als ich der erstarrten Jasmine den Rücken zukehre und sie ohne ein weiteres Wort im Eingang des Duschraums stehen lasse.

image

Unter der Dusche spüre ich plötzlich, wie erschöpft ich eigentlich bin. Die Prüfungen zum Ende des Schuljahres, das ungewöhnlich anstrengende Training und mein herannahender sechzehnter Geburtstag fordern ihren Tribut. Seufzend schließe ich die Augen, lege den Kopf in den Nacken und lasse das heiße Wasser auf mein Gesicht prasseln. Ich muss mir dringend noch eine Ausrede zurechtlegen, warum ich dieses Jahr wieder keine Party gebe. Elias wird enttäuscht sein, aber es geht nun mal nicht. Das kann ich Dad nicht antun. Meine Gedanken wandern von meinem Vater zu Coach Verse, dem Dank, den ich Dad ausrichten soll – und der seltsamen Verabschiedung. »Pass auf dich auf.« War das nur eine einfache Floskel? Es klang fast wie eine Warnung. Ich schüttle den Kopf. Das kann nicht sein. Wovor müsste ich schon gewarnt werden?

Ein Scheppern lässt mich aufschrecken. Ich drehe das Wasser ab und taste nach meinem Handtuch, doch als sich der Dampf auflöst, ist niemand im Raum zu sehen. Schulterzuckend trockne ich mich ab, als meine nackten Füße beinahe über meine Wasserflasche stolpern. Der Inhalt meiner Tasche liegt kreuz und quer auf dem Boden verteilt, und ich bücke mich fluchend, um mein Tablet, das zum Glück in seiner Hülle geschützt ist, die leere Papiertüte, in die mein Sandwich eingewickelt war, und die nun klitschnasse Schuluniform wieder hineinzustopfen. Die Tasche an mich gedrückt, laufe ich zurück in die Umkleide und ziehe mich an, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Über die Jahre habe ich schon viele Rachemanöver von Jasmine gesehen, nur bin ich bisher selten ihr Opfer gewesen. Zumindest dann nicht, wenn Elias in der Nähe war.

Nach einem Blick auf meine durchnässte Uniform schließe ich meine Jacke kurzerhand direkt über meinem Sport-BH und will schon den Reißverschluss der Tasche zuziehen, als mir das leere Seitenfach auffällt, in dem normalerweise mein Handy steckt.

Ich schaue mich um, doch mittlerweile ist nur noch eine Hand voll Nachzüglerinnen in der Umkleide. Fiona verabschiedet sich mit ihrem üblichen Lächeln, und ich antworte abwesend, ohne wirklich gehört zu haben, was sie gesagt hat. Wo ist mein Handy? Ich fahre mir durch die nassen Haare. Was, wenn meine Fotos und die Chatverläufe mit Elias in falsche Hände geraten? Nicht, dass er mir jemals etwas geschrieben hätte, aus dem mehr herauszulesen wäre, aber man würde zweifellos bemerken, wie oft ich mir die Bilder von uns ansehe. Und was ich dem Onlinetagebuch Tell Your Story anvertraue, obwohl ich schon seit Jahren behaupte, die App gelöscht zu haben. Langsam werde ich nervös. Dad wäre außer sich, wenn er wüsste, was in mir vorgeht! Laut meinem Vater ist es nie zu früh, sich Gedanken darüber zu machen, womit man sich seine Zukunft ruiniert. Ganz zu schweigen von dem Spießroutenlauf, zu dem Jasmine und ihr Gefolge mein Leben an der Serenity-Highschool machen würden, wenn sie von meiner geheimen Schwäche wüssten.

Mit wachsender Unruhe laufe ich zurück in den Duschraum, doch auf den nassen Fliesen ist nichts zurückgeblieben. Panik macht sich in mir breit, während ich die Fächer absuche – aber dann stoße ich erleichtert den Atem aus und greife nach dem schwarzen Handy in der hintersten Ecke der Ablagen. Es muss aus meiner Tasche gerutscht sein, als ich sie in das Fach geschoben habe.

Eine gelbe Servicemeldung ploppt auf und ich lösche sie vom Bildschirm, ohne die Nachricht zu lesen. Für nervige Updates habe ich jetzt wirklich keine Geduld mehr übrig. Langsam beginnt mein Puls, sich zu beruhigen. Es ist alles gerade noch einmal gut gegangen. Mein Geheimnis ist sicher.

image

Die grüne Linie ist wie immer zu voll, um noch einen Sitzplatz zu ergattern. Als wir den Lincoln Tunnel durchquert haben und der Bus viel zu schnell durch die engen Straßen von Upperlake braust, verliere ich das Gleichgewicht und stolpere gegen Elias.

»Entschuldige.«

Sein Gesicht ist keinen Zentimeter von meinem entfernt und ich halte den Atem an. Ich sollte nach einer der Stangen greifen, um mich festzuhalten, aber meine Arme haben aufgehört, meinem Gehirn zu gehorchen. Spürt er, was mit mir los ist?

»Hier.« Elias schiebt mich ein Stück von sich und hebt meine zu Boden gefallene Tasche auf.

Ich lächle und wende mich ab, als wäre nichts geschehen. Der Bus öffnet seine Türen und ich springe auf den Bürgersteig.

Elias und ich sind Freunde, weise ich mich zurecht. Mehr als das, wir sind die besten Freunde. Meine verwirrenden Gefühle dürfen das nicht kaputt machen!

»Mum und Dad wollen am Samstag im Central Park picknicken«, sagt Elias, während wir an den gepflegten Vorgärten unserer Straße entlanglaufen. »Zumindest, wenn das Wetter so schön bleibt.« Als ich nichts erwidere, fügt er hinzu: »Das war eine Einladung. Mum sagt, sie macht auch ihre Zitronenlimonade. Ich weiß doch, wie sehr du das künstliche Zeug von eatdaily hasst.«

Er zwinkert mir zu und ich beschließe, den seltsamen Moment im Bus zu vergessen. Wahrscheinlich hat Elias mich noch nicht einmal mit Absicht von sich geschoben.

»Wie sollte ich bei einer so herzlichen Bitte Nein sagen?«, lache ich.

Elias räuspert sich und springt mir in den Weg. »Skye Anderson, würdest du mir die Ehre erweisen, mich auf einen unendlich langweiligen Familienausflug zu begleiten und damit meinen freien Tag zu retten?«

»Solange es sich dabei nicht um eine Tarnung für eine Überraschungsparty handelt, gern.«

Beim Anblick von Elias’ zerknirschtem Gesichtsausdruck stöhne ich auf. Jedes Jahr stelle ich klar, dass ich meinen Geburtstag nicht feiern will, und jedes Jahr sucht Elias nach einem Weg, um mich zu überreden.

»Wenigstens den sechzehnten, Skye.«

Ich schüttle den Kopf. Das Lachen ist mir vergangen. »Ich glaube nicht, dass sich Dads Meinung zum Thema Geburtstagspartys geändert hat.«

»Deshalb feiern wir ja auch bei mir!« Elias legt seine Hand auf meinen Arm und sagt leise: »Du kannst dich nicht bis in alle Ewigkeit für etwas bestrafen, das nicht deine Schuld ist.«

Woher willst du wissen, dass es nicht meine Schuld war?, denke ich bitter.

»Nächstes Jahr, okay?«, verhandele ich. »Außerdem klingt ein Picknick im Grünen viel mehr nach dem, was ich mir unter einem schönen Tag vorstelle, als eine bescheuerte Party.«

Vor allem, wenn Jasmine auf der Gästeliste steht, füge ich in Gedanken hinzu.

Elias gibt sich mit erhobenen Händen geschlagen. »Dann fange ich wohl besser an, Backen zu üben, damit ich auch etwas zum Picknick beisteuern kann.«

»Dabei würde ich wirklich gern zusehen, aber heute muss ich zu Hause essen. Dad hat versprochen, ausnahmsweise pünktlich Feierabend zu machen.«

Wir sind an der Hecke angekommen, die unser Grundstück und das von Elias’ Familie voneinander trennt.

»Vielleicht lässt Samuel dich ja später noch rüberkommen«, meint Elias. »Colin, Jas und ein paar von den anderen kommen vorbei. Nichts Großes, wir wollen nach den Prüfungen nur ein bisschen entspannen.«

Jas. Wie alle Jungen ist Elias blind, wenn es darum geht, Jasmines Fassade zu durchschauen.

»Mal sehen. Ich bin ziemlich kaputt.«

Meistens reiße ich mich bei solchen Treffen zusammen, lächle und unterhalte mich mit Kelly über den Unterschied zwischen Bronzer und Rouge, während ich Colins schneidende Kommentare und Jasmines falsche Freundlichkeit ignoriere. Aber nach dem seltsamen Training heute habe ich dafür einfach nicht mehr genügend Energie.

»Dann sehen wir uns morgen. Kelly und Zahra werden dich vermissen.«

Elias dreht sich um, und auf einmal wünsche ich mir, unseren Abschied noch ein paar Sekunden hinauszögern zu können.

»Grüß die anderen von mir, ja?«, sage ich und winke ihm zu, bevor ich schweren Herzens die Stufen zur Veranda unseres Hauses hinaufeile.

image

Dreieinhalb Stunden und ein steifes Abendessen später schlüpfe ich in meinen Schlafanzug und trete ans Fenster. Draußen ist es dunkel geworden, und der Lichtkegel, der sich von Elias’ Haustür bis zur Straße erstreckt, zieht meinen Blick an wie Lampen eine Motte. Ich beobachte die kleine Traube von Leuten auf dem Gehweg. Elias verabschiedet sich von einem nach dem anderen per Handschlag, bis Colin ihm als Letztes gegen den Arm boxt und zu Jasmine ins Auto steigt. Keiner der beiden wohnt weiter als ein paar Querstraßen entfernt, aber Jasmine hat vor ein paar Monaten ihren Führerschein gemacht und lässt seitdem keine Gelegenheit aus, um ihr weißes Cabrio zu präsentieren.

Bevor mich jemand entdeckt, trete ich vom Fenster zurück und lasse mich auf mein Bett fallen. Dads Schreibtischstuhl wird im Raum nebenan hin und her geschoben. Selbst für Dad ist es eigentlich zu spät, um noch zu arbeiten. Als ich ihm beim Essen von meiner Matheprüfung erzählt habe, hat er nur hier und da zerstreut genickt und wahrscheinlich nicht einmal gehört, dass ich eine halbe Stunde vor der Zeit fertig geworden bin. Er wird immer so, wenn mein Geburtstag herannaht, den wir seit vier Jahren nicht mehr gefeiert haben.

Ich drehe mich auf die Seite und entriegle den Sperrbildschirm meines Smartphones. »Bist du noch wach?«, tippe ich, lösche die Buchstaben aber gleich wieder. Natürlich ist er noch wach.

»Kannst du nicht schlafen?«

Eine kleine Welle Glück durchströmt mich, als Elias’ Nachricht aufleuchtet.

»Zu viele Gedanken«, antworte ich, obwohl ich eigentlich etwas anderes schreiben will. Dad fängt wieder an, meine Mum zu vermissen.

»Die Ergebnisse sind da«, reißt Elias’ nächste Nachricht mich aus der Vergangenheit.

Jetzt schon? Ich setze mich auf. »Gucken wir morgen zusammen?«, tippe ich mit fliegenden Fingern und Elias’ Antwort trifft gleichzeitig mit meiner ein.

»Komm zum Frühstück rüber, dann sehen wir zusammen nach.«

Danke, dass du für mich da bist.

»Gute Nacht«, tippe ich stattdessen gerade noch rechtzeitig, bevor das Internet zur Sperrstunde abgeschaltet wird, und schließe mit dem unvermeidlichen Lächeln auf meinen Lippen die Augen.

image

Bei der Regressionsgeraden von Y auf X müssen wir die additive Konstante a und die Steigung b berechnen, bevor …«

Ich male mit meinem Fingernagel unsichtbare Muster auf den Tisch, während Mr. Fernandez eine Gerade durch das Streudiagramm auf dem Smartboard zeichnet. Die jährlichen Prüfungen sind vielleicht vorbei, aber das ist aus der Sicht unserer Lehrer noch lange kein Grund, uns bis zu den Sommerferien eine Verschnaufpause zu gönnen.

Mein Blick wandert zu Elias, der eine Reihe weiter vorne aufmerksam den Worten unseres Mathematiklehrers folgt. Seine Haut trägt einen von der Maisonne verursachten Rotschimmer und ich lasse meine Gedanken zu dem versprochenen Picknick im Central Park abschweifen. Vielleicht wird mein Geburtstag dieses Jahr ausnahmsweise ja doch mal ein schöner Tag.

»Miss Anderson?« Fiona stößt mich leicht in die Seite und ich schrecke auf. Mr. Fernandez steht vor unserem Tisch. »Ich habe Sie gerade gefragt –«

Hastig analysiere ich die Informationen auf dem Smartboard. »Das Minimum. Die Summe der quadrierten Residuen muss minimal sein, damit die Regressionsgerade eine optimale Vorhersage trifft.«

Mr. Fernandez nickt anerkennend, doch der Rest des Kurses scheint keines meiner Worte mitbekommen zu haben. Wie die anderen starrt Jasmine auf der anderen Seite des Ganges entgeistert auf ihr Handy. Fiona entfährt ein erstickter Laut, und ich bemerke überrascht, dass ihr Tränen über das Gesicht laufen.

Colin dreht sich zu uns um. »Bitte nicht schon wieder ausflippen«, stöhnt er. »Oh Mann, nie im Leben würde ich was mit einer Emotionalen anfangen. Das ganze Drama …«

»Halt die Klappe, Colin!«, entfährt es mir lauter als beabsichtigt. Ich ziehe mein eigenes Handy aus der Tasche und überfliege die Überschrift des Artikels, der in diesem Moment vermutlich auf jedem Bildschirm in den Gläsernen Nationen gelesen wird:

Reform des Bildungssektors beschlossen.

Es dauert einen Moment, bis sich die Seite von CrystalClear News vollständig aufbaut, und ich erwische meine Finger dabei, wie sie nervös auf die Tischplatte trommeln. Normalerweise erzählt mir Dad von anstehenden Abstimmungen des Parlaments, besonders wenn es um etwas so Wichtiges geht wie die Ordnung, die vor fünf Jahren unsere Verfassung abgelöst hat.

Zur Lösung des wachsenden Problems hoher Studienabbrecherzahlen und immer schlechteren Examensergebnissen an unseren Universitäten stellte der Rat heute seine Reformpläne vor.

»Wir werden die Ressourcen des Bildungssektors bestmöglich auf junge Leute konzentrieren, die das Ziel haben, unsere Gesellschaft voranzubringen. Fehlt schon im Elternhaus der Rückhalt dafür, haben junge Menschen es schwer, den Anforderungen einer Universität gewachsen zu sein und die nötige Arbeitsmoral zu entwickeln.«

Ich überfliege den Rest des Interviews mit Ratsmitglied Edward McCarty, der eine Reihe von Studien zitiert, dann bleibt mein Blick an zwei Sätzen am Ende des Artikels hängen:

Die vorgeschlagene Ordnungserweiterung wurde heute Vormittag einstimmig angenommen. Damit ist die Kristallisierung der Eltern mit sofortiger Wirkung eine Voraussetzung für den Besuch einer berufsqualifizierenden Schulform jeglicher Art.

»Wir können nicht darauf vertrauen, dass Unkristallisierte ihren Kindern – den zukünftigen Berufsanfängern und Studienanwärtern – die richtigen Werte vermitteln. Werte, die wir brauchen, um die Gläsernen Nationen zu stärken und zu entwickeln«, so Chloe Cremonte nach der Abstimmung. Hören Sie den Kristall heute Abend persönlich bei CCN Talk über die Vorteile dieser neuen Regelung für die Gläsernen Nationen sprechen.

Fiona nimmt mit zitternder Stimme einen Anruf entgegen und stürzt aus dem Klassenzimmer, woraufhin Colin die Augen verdreht.

»Die muss doch gar nicht mehr zur Testung«, murmelt er, während Mr. Fernandez verzweifelt versucht, sich Gehör zu verschaffen. »Die kommt doch sowieso als Emotionale aus dem Zentrum zurück. Und E’s brauchen wirklich keinen Studienplatz.«

»Ach ja?«, werfe ich ihm entgegen. »Fiona will auf die Hochschule für Erziehung. Da werden Emotionale händeringend gesucht.«

Zum Glück hat Fiona Colins Kommentar nicht mehr gehört. So sensibel, wie sie ist, würde sie sich seine dämlichen Bemerkungen viel zu sehr zu Herzen nehmen. Eine Welle der Wut auf Colin durchströmt mich. Es sind Kommentare wie seine, die dazu beitragen, dass es noch immer Unkristallisierte gibt. Zweifler, die den Traits nicht vertrauen und die Erschaffung einer Zwei-Klassen-Gesellschaft fürchten. Ich werfe Colin einen zornigen Blick zu. Er hält sich für so wahnsinnig klug und witzig, dabei hat er einfach den Sinn der Kristallisierung nicht verstanden! Rationale und Emotionale ergänzen sich und sollten einander achten. Die Welt braucht kühle Köpfe genauso wie sanftes Einfühlungsvermögen, um zu funktionieren – nur eben beides an seinem Platz.

»Jetzt mach nicht so ein Gesicht, Prinzessin«, raunt Colin mir zu. »Dein Vater ist nicht nur kristallisiert, sondern sogar im Parlament. Du bist bei der neuen Ordnungserweiterung doch eh aus dem Scheider.«

Ich versuche, seine Stimme zu ignorieren, und packe mein Tablet in meinen Rucksack. Zusammen mit dem Rest des Mathekurses trete ich auf den Gang. Mr. Fernandez hat eingesehen, dass sich heute niemand mehr auf Statistik konzentrieren wird, und uns früher als üblich in die Mittagspause entlassen.

Mit sofortiger Wirkung ist die Kristallisierung der Eltern Voraussetzung für den Besuch einer berufsqualifizierenden Schulform jeglicher Art.

Mein Vater ist vor fünf Jahren einer der Ersten gewesen, der bei der Administration einen Antrag stellte und wenig später seinen Trait zugewiesen bekam. Colin hat recht, an meinen Chancen auf einen Studienplatz ändert die Erweiterung nichts – aber das ist es auch nicht, was mich beunruhigt. Ich sehe zu Elias hinüber, der neben mir den Gang hinabschlendert, und suche nach Anzeichen von Sorge in seinem Gesicht. Als hätte er meine Gedanken erraten, wirft er mir ein beruhigendes Lächeln zu.

»Mum und Dad sind wahrscheinlich in diesem Moment schon auf dem Weg in die Innenstadt, um ihre Anträge zu stellen«, sagt er und knufft mich in die Seite. »Du und ich an der Cremonte-Uni, das ist der Plan. Und daran kann auch keine Ordnungserweiterung etwas ändern.«

Zögernd lächle ich zurück. Ein Platz an der Cremonte-Universität auf Long Island, die ausnahmslos rationale Studierende aufnimmt und ihren Absolventen eine glänzende Zukunft garantiert, ist der Traum jedes Serenity-Schülers, der auf ein R hofft. Ich taste nach dem Kristall-Anhänger an der Kette unter meiner Schuluniform, den Dad mir letztes Jahr geschenkt hat. Es ist unser Traum, Elias’ und meiner. Und ihm stünde nichts im Wege, wenn seine Eltern nicht so unglaublich störrisch wären, was die Kristallisierung angeht! Deirdre und Tom müssen jetzt einfach erkennen, welcher Weg der richtige ist, beruhige ich mich. Immerhin setzen sie die Zukunft ihres Sohnes aufs Spiel, wenn sie nicht endlich einlenken.

Colin überholt uns und wirft mir im Vorbeigehen einen langen Blick zu.

»Sieh mal einer an. Sie hat ein schlechtes Gewissen!« Seine Worte vom gestrigen Training hallen durch meinen Kopf, während ich zusehe, wie er sich vor uns in die Schlange der Cafeteria einreiht. »Nur Anfänger entschuldigen sich für Leistung. Oh warte, das stimmt nicht – Anfänger und Emotionale.«

»Skye?« Elias wedelt mir mit der Hand vor der Nase herum. »Wir sind nicht die Einzigen, die Hunger haben.«

Hastig greife ich nach einem abgepackten Sandwich und einer Flasche Orangensaft, obwohl mir der Appetit vergangen ist.

Elias nimmt mir mein Tablett ab und trägt es zu unserem gewohnten Tisch am Fenster.

»Du und ich an der Cremonte-Uni«, hat er gesagt. Der Uni, die nur Menschen aufnimmt, die ihre Gefühle jederzeit unter Kontrolle haben. Auf die ein Land sich verlassen kann – Menschen wie Elias und mich.

Bist du dir da wirklich sicher?, flüstert eine gemeine Stimme in meinem Kopf, während ich mich setze. Was, wenn Colin und Jasmine recht haben? Was, wenn du doch eine Emotionale bist? Ich schüttle den Gedanken ab. Unmöglich. Meine Finger krampfen sich um mein Handgelenk und ich spüre meinen Herzschlag durch die Adern pulsieren. Ich habe Gefühle, das stimmt. Aber das macht mich noch lange nicht zu einer Emotionalen! Ich kann meine Gefühle zurückstellen, sie je nach Notwendigkeit unterdrücken. Habe ich das nicht bewiesen, als Mum uns verließ?

Elias schiebt mir die Hälfte von seinem Schokoriegel zu, und ein Stromschlag durchfährt mich, als unsere Hände sich berühren. Ich bin keine Emotionale. Ich darf es nicht sein, denn wenn die Testung in zwei Jahren mit einem E auf meinem Handgelenk endet, dann werden wir zwangsläufig in verschiedenen Welten landen. Als Emotionale müsste ich vor jedem Verlassen der Nationen einen Antrag stellen, zu meinem eigenen Schutz, während Elias in jedes Land der Erde reisen, forschen und die spannendsten Dinge lernen würde. Wir könnten niemals richtig zusammen sein. Selbst wenn wir es wollten.

Wenn ER es wollte, korrigiere ich mich in Gedanken.

Elias neigt seinen Kopf zur Seite, und mein Blick bleibt an dem herzförmigen Muttermal hängen, das unter dem Kragen seines Uniformhemdes sichtbar wird. Hätte ich doch nur die Gewissheit, dass ich meinen besten Freund mit der Wahrheit über meine Gefühle nicht verlieren würde …

»Colins Kommentar vorhin war bestimmt nicht so gemeint«, sagt Elias und tunkt eine Pommes in Ketchup.

Erstaunt sehe ich ihn an und begreife, dass er glaubt, es wäre der blöde Spruch über meinen Vater, der mich beschäftigt.

»Doch, das war er«, erwidere ich kühl. Allein die Andeutung, dass ich Vorteile haben könnte, weil mein Vater im Parlament sitzt, ist ungeheuerlich.

»Du weißt doch, wie er ist. Colin kann es nicht leiden, ausgestochen zu werden. Und du bist nicht nur schneller als er, sondern auch noch klüger. Ich meine, deine Prüfungsergebnisse …« Elias zieht grinsend einen unsichtbaren Hut, doch seine nett gemeinten Worte fühlen sich bitter an, als wäre mein Erfolg auf einmal etwas Schlechtes.

»Selbst Colin sollte mittlerweile gemerkt haben, dass die Vereinigten Staaten von Amerika der Vergangenheit angehören«, sage ich. Er sollte wissen, dass mit der Gründung der Gläsernen Nationen nicht nur Sexismus und Rassismus von der Tagesordnung verschwunden sind, sondern auch Korruption und Vetternwirtschaft. Wir trennen nicht mehr zwischen Schwarz und Weiß oder Frauen und Männern und allein durch persönliche Beziehungen kommt erst recht niemand mehr nach oben. »Nur die Traits bestimmen, wozu wir fähig sind«, fahre ich wütend fort, »und nicht einmal Idioten wie dein bester –«

»Du hast recht«, unterbricht mich Elias. »Und wenn wir erst einmal auf die Cremonte gehen, wird Colin wissen, dass er sich mit dir nicht anlegen sollte.« Als ich nicht reagiere, greift Elias über den Tisch und nimmt meine eiskalte Hand. »Aber es ist nicht bloß Colin, oder?«

Er folgt meinem Blick zu dem Bildschirm über der Essensausgabe, auf dem sich die CCN-Seite mit dem Tagesmenü abwechselt. Das Bild einer Hand, die einen Doktorhut in die Luft wirbelt, strahlt auf die Schlange von Schülern herab. Auf dem Handgelenk des Studenten ist ein fein gestochenes R zu sehen.

»Wir beide wissen doch schon längst, wer wir sind«, sagt Elias leise. »Und kein Konsilium der Welt könnte anders entscheiden.« Ich betrachte die feinen Linien der Adern, die unter der Haut meines Handgelenks verlaufen wie blaue Flüsse.

»Glaubst du, es tut weh?«, frage ich. »Das Traitmark.«

»Bestimmt nicht.« Elias steht auf. »Und immerhin fahren wir zusammen ins Athene-Zentrum, wenn also am Ende bei der Zeremonie jemand deine Hand halten soll …«

Ich werfe ihm einen vernichtenden Blick zu und die bedrückte Stimmung zwischen uns verschwindet wie Wolken an einem Sommerhimmel.

»Sehen wir uns nach dem Training?«, frage ich.

Elias nickt. »Versuch, heute auf den Beinen zu bleiben.«

Ich strecke ihm die Zunge raus, während ich mir meine Tasche über die Schulter schwinge und die Cafeteria mit dem Rest meines Sandwiches in der Hand verlasse.

Elias hat recht. Obwohl wir unsere Traits erst mit achtzehn zugewiesen bekommen, benehmen wir beide uns schon ganz von allein wie Rationale. Wir wählen Naturwissenschaften und Leistungssportarten anstelle von Kunst und Sozialwissenschaften. Wir sind zielstrebig, weil wir wissen, dass wir das Potenzial haben, die Gläsernen Nationen mitzugestalten. Beweist das nicht, wer wir wirklich sind? Ich streiche noch einmal über mein Handgelenk und stelle mir das feine R vor, das man mir in zwei Jahren mit weißer Tinte dort stechen wird. Dann wird uns nichts mehr im Weg stehen.

image

Sie kommt in ihrer Sporthose aus der Kabine und wirft sich hastig eine Jacke über. Das Training der Laufmannschaft ist also schon vorbei, früher als gewöhnlich. Skyes sonst so blasses Gesicht ist gerötet, und sie kaut auf ihrer Unterlippe, als würde sie irgendetwas beschäftigen. Ich seufze innerlich. Mein Auftrag ist auch ohne Teenager-Probleme schon kompliziert genug!

Wenn man vom Teufel spricht, denke ich, als der Junge mit den breiten Schultern am Tor auftaucht. Die beiden verbringen jede freie Minute zusammen, obwohl sie sich anstrengen, ihre offensichtliche Zuneigung zueinander zu verbergen. Darin sind sie ungefähr so gut wie Romeo und Julia, doch ihre vorsichtige Zurückhaltung wundert mich nicht. Ihre Familien mögen zwar nicht gerade verfeindete Clans sein, aber als Tochter eines Parlamentariers weiß Skye, was von einer Rationalen erwartet wird. Und dass sie glaubt, zum kalten Trait zu gehören, ist sonnenklar. Ich entfalte das Blatt Papier, das Beth mir gegeben hat, und streiche es glatt.

»Glaubst du diesem Coach?«

Auf meine skeptische Frage hin hatte Beth genickt. Sie war dünner geworden, noch dünner als beim letzten Mal, als sie mich zurück in ihr modriges Gefängnis rief.

»Sie werden sie holen. Es ist zu früh dafür, aber wir müssen Verse vertrauen. Er arbeitet nicht erst seit gestern als Informant für den Ring.« Sie sah mich scharf an. »Ich verlasse mich auf dich.«

Ich stecke die verhängnisvolle Nachricht zurück in meine Hosentasche und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf meinen Auftrag. Skyes Schultern hängen unmerklich herab, als sie neben dem Jungen durch das Schultor geht und über die Straße läuft. Während ich den beiden in einigem Abstand folge, wünschte ich auf einmal, sie warnen zu können. Skye hat es nicht verdient, derart ins kalte Wasser gestoßen zu werden. Sie hat nichts von dem verdient, was geschehen wird, denke ich bitter. Keiner von uns beiden hat das. Doch ich tue, was Beth von mir verlangt, und lasse mich zurückfallen. Heute Abend wird Skye es sowieso erfahren, meine Warnung würde ihr bloß die letzten sorgenfreien Stunden stehlen. Zumindest rede ich mir das ein, um den kümmerlichen Rest, der von meinem Gewissen übrig geblieben ist, zu beruhigen.

Anstatt in die grüne Buslinie nach Upperlake zu steigen, gehen Skye und der Junge an der Haltestelle vorbei, die Straße hinab in Richtung Innenstadt. Auch das noch! Hastig klappe ich mein altes Motorola-Handy auf. Die Dinger werden kaum noch verkauft, aber ich sammle sie auf Flohmärkten und in kleinen, verstaubten Eckläden, die irgendwo im letzten Jahrzehnt hängen geblieben sind. Im Gegensatz zu Smartphones ist es beinahe unmöglich, sie zu orten. Ich drücke auf die Kurzwahltaste, passe nicht richtig auf und stoße prompt mit einem Mädchen zusammen. Sie trägt eine ordentlich gebügelte Uniform, ohne Zweifel eine Studentin. Trotz des Kaffeeflecks auf ihrem Shirt, den ich verursacht haben muss, wirft sie mir ein Lächeln zu, das ich nicht erwidere.

»Ich bin’s«, sage ich gepresst, als am anderen Ende abgenommen wird, und wechsle die Straßenseite. »Planänderung. Ich brauche jemanden am Times Square, und zwar jetzt. Ja ja, ich meine das Spiegelkarree.« Ich klappe das Handy zu und schiebe es fluchend zurück in die Brusttasche meiner Lederjacke. So langsam läuft mir die Zeit davon.

image

Elias hat keine Fragen gestellt, als ich ihn gebeten habe, statt der zwanzig Minuten langen Safari im Schulbus heute die U-Bahn zu nehmen. Nach zwei Stunden Ausdauertraining, bei dem mich alle außer Coach Verse und Fiona wie Luft behandelt haben, will ich Jasmines Gefolge wenigstens auf dem Heimweg entgehen. Ich flechte meine nassen Haare rasch zu einem Zopf und seufze. Welche Geschichte Jasmine den anderen wohl erzählt hat, um sie gegen mich aufzubringen? Was es auch ist, es hat sie überzeugt. Eigentlich sollte mich das nicht wundern, denn Jasmine war schon immer eine Meisterin im Gerüchteverbreiten. Elias und ich passieren die vier hohen Türme der Administration, wo alle Arten von Anträgen bearbeitet und die Einsätze der Ordnungswahrer koordiniert werden. Schweigend mischen wir uns unter die Menschen, die auf dem Weg nach Hause die gefegten Bürgersteige entlangeilen. Eine Frau in Jeans drängt sich an uns vorbei, und ich weiche auf die Straße aus, auf der sich gefühlt gestern noch hupende Taxis gestaut haben und die heute nur noch von den wenigen Autos befahren wird, die in diesem Monat eine Nutzungserlaubnis bekommen haben.

Hinter dem Bürokomplex taucht das Spiegelkarree auf, trotz seines neuen Namens noch immer das unangefochtene Herz der Stadt. Auf den fassadenhohen Monitoren, die sich so nahtlos über die Häuserwände ziehen, als hätte man sie wie Wasser darübergegossen, wetteifern Aktienkurse, Wetterberichte und die neuesten Bekanntgebungen des Parlaments um die Aufmerksamkeit der Passanten. Wir werden langsamer, als immer mehr Leute um uns herum stehen bleiben.

Auf dem größten Bildschirm, der sich über drei Häuserfronten erstreckt, flimmert die Videoaufnahme einer schlanken jungen Frau, die vor der Flagge der Gläsernen Nationen lächelnd die Hand eines gut aussehenden Mannes schüttelt.

Chloe Cremonte und Norman Adams besiegeln Kanadas Eintritt in den Staatenbund der Gläsernen Nationen.

Die Bildunterschrift zieht geräuschlos vorbei, doch die Stimmen um uns herum verkünden die Worte lauter als jeder Nachrichtensprecher. Applaus brandet auf.

»… sind wir stolz darauf, was wir in diesen wenigen Jahren erreicht haben.« Chloe Cremontes Ansprache wird nun live übertragen.

Elias hat schützend seinen Arm um mich gelegt, während die Menge uns immer weiter an den Rand des Spiegelkarrees drängt. Über die Köpfe der Menschen hinweg sehe ich Bilder von goldgelben Weizenfeldern, sauberen Vorstädten und lächelnden Kindern im Grünen.

»In den Gläsernen Nationen lernen wir, in perfekter Symbiose zu leben. Unsere Traits helfen, die Stärken und Schwächen jedes Bürgers zu klären und das volle Potenzial einer Gemeinschaft auszunutzen, in der niemand mehr Einzelkämpfer sein muss.« In Chloe Cremontes Stimme schwingt trotz ihres jungen Alters von gerade einmal 28 Jahren eine Autorität mit, die in jedem Zuhörer den Wunsch weckt, sie nicht zu enttäuschen. »87 Prozent unserer Bevölkerung sind bereits kristallisiert, eine Rate, die mit der seit vier Jahren verbindlichen Testung unserer Jugendlichen steigt. Schon jetzt ernten wir die Früchte unserer Bemühungen: sinkende Kriminalitätsraten, weniger Arbeitslosigkeit und ein stärkeres Miteinander. Es ist ein großes Kompliment, nun auch unseren Nachbarn Kanada zu den Gläsernen Nationen zählen zu dürfen!« Der Kristall, wie Chloe Cremonte genannt wird, macht eine kurze Pause, um Norman Adams ein zweites Mal die Hand zu schütteln. »Die Arbeit der Kristallisierung ist noch lange nicht zu Ende, und wir freuen uns auf die Veränderungen, die die Zukunft bringen wird!« Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, das von ihrem kinnlangen Haar umrahmt wird. »Für Klarheit und Weitsicht«, schließt der Kristall in feierlichem Ton und nickt uns strahlend zu.

Ich lächle automatisch zurück und auch Elias’ Gesicht leuchtet.

»Das ist es also, was Dads Abteilung in letzter Zeit so beschäftigt hat«, sprudelt es auf den Treppen zum U-Bahn-Schacht aus mir heraus. »Kanada!«

»Meinst du, er hatte etwas mit dem Beitritt zu tun?«, fragt Elias, neugierig wie immer, wenn es um das Parlamentarieramt meines Vaters geht.

»Möglich ist es.«

Wir gelangen zu den Terminals, ohne anstehen zu müssen, und Elias scannt sein Smartphone. Er verschwindet hinter der Absperrung, während ich mit fahrigen Fingern in meiner Jackentasche herumkrame. In meiner leeren Jackentasche.

»Elias?«

Doch über dem Stimmengewirr im U-Bahn-Schacht hört er mich nicht. Verzweiflung steigt in mir auf, während die Schlange der Wartenden hinter mir immer länger wird. Ich durchsuche meine Tasche, aber mein Handy ist nirgendwo zu finden. Das kann doch nicht wahr sein, nicht schon wieder!

»Ist das hier vielleicht deins?« Ein Mädchen an dem Terminal neben mir hält mir fragend ein schwarzes Smartphone hin. Sie ist älter als ich und sicher keine Studentin, aber ich glaube auch nicht, dass sie in einem der Büros in den Türmen der Administration arbeitet. Ihre dunklen Haare haben sich aus dem unordentlichen Knoten gelöst und auch sonst wirkt ihre Erscheinung zwischen den akkurat geknöpften Hemden und faltenfreien Mänteln um uns herum eigentümlich deplatziert. Ich nicke erleichtert und will mich gerade bedanken, da verschwindet das Lächeln des Mädchens. Ich bemerke, wie ihr Körper sich anspannt. Misstrauisch fahre ich herum und entdecke einen glatzköpfigen Mann, der sich durch die Menge der Fahrgäste auf uns zubewegt. Einen Moment lang scheint es, als hätte er es auf mich abgesehen, doch dann streckt er den Arm nach dem Mädchen aus, das mir hastig mein Smartphone zusteckt und mir bedeutet, durch die Absperrung zu verschwinden.

»Wer sind Sie?«, wende ich mich jedoch empört an den Glatzkopf, der den Arm des Mädchens festhält, als wäre es eine Verbrecherin.

Er mustert mich und hält mir dann, als wäre das eine völlig überflüssige Frage, seine Identifikation entgegen, die ihn als Ordnungswahrer ausweist. Hat er geglaubt, ich sei bestohlen worden? Aber selbst dann ergibt sein Einschreiten wenig Sinn, denn Ordnungswahrer sind keine Polizisten. Und normalerweise sind sie freundlich. »Routinemäßige Ausweiskontrolle«, sagt er und überfliegt die Identifikation auf meinem Smartphone, ohne meine Retterin loszulassen.

Der Ärmel ihres groben Wollmantels ist hochgerutscht, und mein Blick flackert zu dem weißen E auf ihrem rechten Handgelenk, das ich im ersten Moment für eine schlecht verheilte Narbe gehalten habe. Die Nadelstiche sind nicht annähernd so fein, wie ich es von den Traitmarks aus der Werbung gewöhnt bin. Und da ist es wieder, dieses lähmende Gefühl, das mich durchströmt hat, kurz bevor ich gestern auf den Boden des Stadions geknallt bin. Das Gefühl, etwas nicht aufhalten zu können, obwohl ich es kommen sehe.

Ich weiß, dass ich von hier verschwinden sollte, aber meine Füße bleiben stehen.

»Kannst du dich ausweisen?«, wendet sich der Ordnungswahrer an die Emotionale und betont dabei jede Silbe, als spräche er mit einem Kleinkind.