Wolf von Fichtenberg

Zeitgleiche

Fiktiver Realroman

Schwarz wird werden die Sonne

Die Erde sinkt ins Meer

Vom Himmel schwinden die heiteren Sterne

Glutwirbel umwühlen den allnährenden Weltenbaum

Die heiße Lohe beleckt den Himmel

Edda (Völuspa 56)

Wolf von Fichtenberg

Zeitgleiche

Fiktiver Realroman

© 2020 Wolf von Fichtenberg

Erste Auflage

Umschlaggestaltung, Illustration: Wolf von Fichtenberg

Verlag: tredition GmbH

978-3-347-00999-8 (Paperback)

978-3-347-01000-0 (Hardcover)

978-3-347-01001-7 (e-Book)

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Whitehaven (GB) In der Nacht zum 25. Mai kam es in der Irischen See zu einem tragischen Schiffsunglück, bei dem die Yacht Seacloud unter nicht geklärten Umständen sank.

Trotz mehrfach abgesetzter Notrufe konnte der englische Heringstrawler Mermaid nur einen ertrunkenen Seemann aus der See bergen. Unter den Opfern dieses Unglücks befindet sich auch der deutsche Ingenieur Ottmar Rahner.

Auf Grund der Wetterbedingungen kann daher erst nach Beruhigung dieser Lage mit der Suche nach Überlebenden begonnen werden, obgleich es wenig Hoffnung für die Verunglückten zu geben scheint.

Meldung der Nachrichtenagentur DAYWATCH am 26. Mai.

1

Knurrig stand Wolf Berger auf.

Er hatte seinen Urlaub abbrechen müssen, weil Hollmann und Freitag wegen eines Unfalles im Krankenhaus lagen. Die Zwillinge, wie sie in der Redaktion genannt wurden, waren beim Fahren auf einer Gokartbahn ineinander gerast und teilten sich nun ein Zimmer im Krankenhaus. Er war müde und missgelaunt. Gähnend öffnete Berger eine Tüte mit Keksen und spülte dieses karge Frühstück mit einem Schluck aus einer Flasche mit abgestandenem Mineralwasser herunter. Tiefatmend kratzte er sich über die Bartstoppeln an seinem Hals.

, Das Rasieren fällt aus‘, dachte er bei sich und rieb sich müde, nach nur drei Stunden Schlaf, die Augen und sah auf die halb geöffnete Reisetasche am Boden, die den unordentlich hineingestopften Inhalt zeigte: Schmutzige Wäsche, einige Reiseführer und eine ausgelaufene Flasche Ketchup.

Umständlich zog er sich an und stieß die Tasche mit dem Fuß zur Seite, was eine rote Tomatenspur auf dem stumpfen Parkett hinterließ.

„Scheiße“, fluchte Berger, warf die Tür beim Verlassen der Wohnung kräftig ins Schloss und lief dann hastig die Treppe hinab. Die Zeit drängte, denn Krammer, der ständig schwitzende Chefredakteur, hatte sich schon zweimal klagend in den Anrufbeantworter ergossen und irgendetwas von einer wichtigen Sache geredet, die unaufschiebbar sein sollte.

, Pah’, schnaubte er durch die Nase und verlangsamte jetzt absichtlich die Schritte, schlenderte zu seinem Wagen und fuhr dann, gemütlich das Tempolimit einhaltend, zum Redaktionsgebäude und parkte dort laut gähnend sein Fahrzeug bewusst vor Krammers Limousine.

„Na, schon zurück?“ grinste der Pförtner aus dem Glaskasten heraus und ließ rasch eines seiner Schmuddelhefte unter das Pult fallen.

„Sicher“, erwiderte Berger kurz, „und ich hab' auch etwas mitgebracht.“

Er beugte sich kurz zu dem Pförtner und entleerte den krümeligen Restinhalt der Kekstüte schwungvoll auf den mit Notizzetteln übersäten Schreibtisch.

„Idiot!“ schrie der Pförtner Berger hinterher, der schon den Paternoster bestiegen hatte, welcher ihn direkt in Krammers Etage trug.

„Tag Berger, Urlaub beendet?“ empfing ihn, abfällig grinsend, die Sekretärin Krammers, deren Fingerfertigkeit und Hingabebereitschaft vom Chefredakteur nicht nur arbeitstechnisch geschätzt wurde. Ihre lackierten Finger drückten den Türsummer ins Chefbüro.

„Ja, ja Täubchen.“

Berger ging an ihrem Tisch vorbei und wusste, dass sich Frau Taube über diese Anrede ärgerte: „Man hatte Sehnsucht nach mir.“

„Und wie“, waren die ersten Worte die Berger beim Betreten des Raumes hörte, als er ein lässiges „Moij‘n Chef“, fallen ließ.

„Mensch, Berger, ich warte schon ewig auf Sie.“

Krammer saß in seinem Sessel, eingeklemmt hinter der auf Hochglanz polierten Glasplatte, die ihm als Schreibtisch diente, und blies hinter einem eingebildeten Staubkorn her. Wie üblich lag nichts auf dem Tisch.

Man konnte von Krammer halten, was man wollte, aber sein Gedächtnis war phänomenal. Kein Notizzettel verunzierte den Tisch, höchstens manchmal ein Rätselheft, welches er - bleistiftnagend - in Windeseile füllte. Wenn man ihn nicht kannte, glaubte man, er säße einfach nur so da, doch Krammers Arbeit lief in seinem Kopf ab, schneller und präziser als jedes Computerprogramm es vermochte. Wie immer schwitzte er.

„Setzten sie sich.“

Krammer deutete auf einen der winzigen Klapphocker vor seinem Schreibtisch, eine seiner letzten Ideen, denn unbequem sitzende Mitarbeiter beschränkten sich auf das Wesentliche und versuchten erst gar nicht eine gemütliche Gesprächsatmosphäre entstehen zu lassen.

„Herrliche Sitzpolster“, spottete Berger tiefatmend, und schob dann die beiden Hocker zusammen und setzte sich. Krammer schaue stutzend auf.

„Tut mir leid, aber die Zwillinge fallen aus. Ihre restlichen Urlaubstage hängen sie einfach hinten an, wenn diese Sache hier fertig ist. Also, folgendes…“ Wie immer kam Krammer sofort zur Sache:

„Morgen kommt Regionalminister Rossmann und eröffnet die Ausstellung im Museum. ‚Der Gral in Wort, Mystik und Bild‘ nennt sich die Chose. Leihgaben aus Spanien, Frankreich, Italien… Ach, aus der ganzen Union. Da brauche ich eine Spitzenreportage und ein Interview. Schöne Bilder natürlich auch, die macht der Spargel. … Und, wie war's im Urlaub?“

„Zu kurz“, antwortete Berger etwas unwillig und kratzte sich erneut die Bartstoppeln.

„Wegen dem Kunstquatsch musste ich den Urlaub abbrechen?“

„Genau! Wer soll das denn sonst machen? Sie haben doch einige Semester Kunstgeschichte studiert, also den nötigen Hintergrund. Sie machen das schon!“

Krammer drückte auf die Gegensprechanlage.

„Frau Taube zum Diktat.“

Damit war das Gespräch beendet.

„Na ja, dann noch ein fruchtbares…äh… Diktat, Chef“, grinste Berger anzüglich. Er erhob sich und ließ die Sekretärin vorbei, bevor er beim Verlassen des Raumes die Tür zuzog. Er hörte noch kurz, wie der Schlüssel im Türschloss die Tür von innen verriegelte.

Berger grinste.

, Paternoster defekt! ‘ stand auf dem Zettel, welcher an einem rotweißen Plastikband befestigt war.

Berger zuckte mit den Schultern und lief die Treppe hinab zur Bildredaktion, wo er Spargel, wie Peter Sparg, der Fotoreporter, genannt wurde, mit den Beinen auf dem Schreibtisch sitzend antraf.

Spargel zerriss gerade langsam und irgendwie uninteressiert einige Großfotos, wobei er die Schnipsel in den einige Schritte entfernten Papierkorb zu werfen suchte. Der Boden war mit dem Papier übersät.

„Tag Spargel.“

Berger setzte sich auf die Schreibtischkante und griff nach einem der Fotos, welches das Bild einer hübschen, dunkelhaarigen Frau zeigte.

„Was ist los?“

„Aus…! Es ist aus und vorbei, “ Spargel riss weiter an den Fotos, „Petra ist abgehauen…, hat einen Unternehmensberater oder so was aufgerissen und liegt jetzt in Spanien am Strand…Klappte in der letzten Zeit auch nicht mehr so gut mit uns. Aber he, bist Du nicht im Urlaub?“

„Vergiss es. Die Zwillinge haben sich ins Krankenhaus gelegt, und da musste ich einfliegen … Und das alles nur wegen so einer Kunstausstellung, mit Minister.“

Berger hob die Stimme.

„Du sollst die Fotos machen. Aber schöne Fotos bitte, der Minister ist im Wahlkampf.“

Spargel reckte sich vor und nahm den ganzen Fotostapel und warf ihn in den in den Papierkorb.

„Komm, Wolf, trinken wir etwas.“

Sein Arm legte sich freundschaftlich auf Bergers Schulter.

„Nee, lass‘ mal, ich brauche noch Schlaf, “ entgegnete Berger und ließ den Fotoreporter stehen.

„Außerdem muss ich noch ins Archiv, wegen dem Zeug von morgen."

„Na ja…“. Spargel winkte ab und nahm aus dem geöffneten Schreibtisch eine Flasche Wodka, die darin bereits trinkfertig, ohne Verschluss, stand und setzt sie gierig an.

Im Archiv angekommen setzte sich Berger an den Computer und suchte das Programm nach Informationen über den Gral sowie über die Ausstellung ab; doch außer dem Üblichen, das es die Schale wäre, mit der das Blut Christi aufgefangenen worden sein solle und Querverweisen zu Sagen des Mittelalters, war nur noch eine ellenlange Liste zu finden, welche alle Bilder nannte, die sich irgendwie mit dem Gral befassten.

Berger gähnte und beschloss ein akzeptables Interview zu führen und dann allgemeines Zeug, belangloser füllender Art zu schreiben, wie man es täglich in den Gazetten fand. Wegen so etwas hatte Krammer ihn aus dem Urlaub geholt….

2

Am nächsten Morgen stand Spargel schon frühzeitig vor dem Museum. Seine Augen waren gerötet und verquollen und ließen ahnen, dass der Wodka im Büro nicht das einzige war, was er am Vortag getrunken hatte.

Berger parkte seinen Kombi und lief durch die herumstehenden Schaulustigen und Reporter der anderen Zeitungen zu Spargel hinüber.

„Na, dass sieht mir aber nach einer feuchten Nacht aus“, begrüßte er den Fotoreporter.

„Hör auf, Wolf, ich bin ganz schön abgestürzt.“

„Hoffentlich stürzt Du bei den Fotos nicht ab. Komm rein, es wird voll.“

Ein Konvoi, eingerahmt von einer kleinen Polizeieskorte, hielt an und aus einer dunklen Limousine stieg Regionalminister Rossmann, mildtätigt die Hand zum Gruß winkend, wie ein Potentat vergangener Zeiten. Zwei unscheinbar wirkende Männer begleiteten ihn, wohl seine Leibwächter , vermutete Berger, und führten ihn, an der Menge vorbei, in die Empfangshalle zu einem Rednerpult, neben dem seitlich ein Büffet aufgebaut worden war, welches der Minister kurz musterte. Aus dem Hintergrund klang mittelalterliche Musik und die Saaldiener waren in Fantasiekostüme gesteckt worden, die einen Bezug zu der Ausstellung schaffen sollten.

Rossmann wartete kurz und stellte sich dann hinter das Rednerpult wo er mit dem Finger auf das Mikrofon klopfte, welches stoppend hallte und das Gemurmel und die Musik verstummen ließ. Die Blitzlichter der Fotografen füllten klickend die Stille und ein Sektkorken ploppte.

Mit beiden Armen beschwichtigen, winkte Minister Rossmann ab und begann seine Rede.

„… Sehr geehrte Damen und Herren, wertes kunstinteressiertes Publikum, es…“

Zu weiteren Worten kam Rossmann nicht, denn das Klirren einer fallenden Sektflasche ließ die Augen zur Galerie wandern und unwirsches Gemurmel setzte ein. Spargel, wohl etwas geräuschempfindlich ob der letzten Nacht, zuckte zusammen und schoss einige Fotos, ohne auf das Motiv zu achten.

Der Minister stand am Pult und seine Hände verkrampften sich an dessen Kante, während ein feiner Strahl roten Blutes aus einem kleinen Punkt auf seiner Stirn floss, sich an der Nase teilte und über die Wangen rann. Die Leibwächter neben ihm sahen es zuerst und griffen stützend zu, die Menge schrie auf. Irgendjemand rief nach einem Arzt, ein anderer Besucher nach der Polizei.

Reflexartig stieß Berger dem neben ihm stehenden Spargel den Ellenbogen in die Rippen.

„Los, mach Fotos“, schrie er in dem Getümmel, denn Sensationen verkaufen sich eben besser, ja, wesentlich besser, als ein Bericht über eine mittelalterliche Kunst und Kulturausstellung.

„Halt! Die Waffe weg!“

Die uniformierten Beamten der Polizeieskorte hatten die Dienstpistolen gezogen und zielten zu der Galerie, auf der eine etwa fünfundzwanzigjährige Frau stand, die teilnahmslos herunter schaute und eine Waffe in der Hand hielt.

„Los! Mach‘ endlich Fotos, Spargel!“

Berger schob sich durch die laute Menge und lief die Treppe hinauf, während Spargel ihm, Blitzlichter von sich gebend, drängend folgte. Ein Polizist wollte Berger zurückhaltend und zog ihm am Arm, doch Berger drückte ihn weg, hastete die Treppe weiter hoch und stand vor der Frau.

„Wer sind Sie?“ stieß er hervor, getrieben von beruflicher Neugier.

Die Frau schaute starr zu Boden, ließ die Waffe fallen und lehnte sich an das Geländer der Galerie.

„Gerda Rahner“, hörte Berger eine tonlose Stimme.

Ein wuchtiger Schlag drückte Berger beiseite und zurück. Beamte in Zivil warfen die Frau zu Boden, während ein Dritter hinzu stürzte und seinen Fuß auf den Hals der Frau setzte. Sie stöhnte röchelnd auf. Spargel schoss Foto um Foto, bevor er zur Seite gerissen wurde.

„Der Film ist beschlagnahmt! Oder arbeiten Sie mit Speichermedien?“

Ein hagerer Mann in den Fünfzigern, unauffällig in Grau gekleidet, sagte die Worte leise und bestimmend zu Spargel und hielt seine Hand fordern vor den Reporter.

„Pressefreiheit!“ schrie Berger.

Der Graue sah ihn hart und geringschätzig an. Spargel nestelte an der Kamera und reichte dem Mann dann die Filmrolle aus seinem alten Apparat.

„Idiot!“ grunzte Berger und trat ihn leicht vors Schienbein und wandte sich zu dem Hageren.

„Ihre Dienstmarke! Das hat ein Nachspiel!“

„Ach, meinen Sie?“

Der Hagere lächelte zynisch, drehte sich um und verschwand durch eine angelehnte Tür.

3

„Großartig!“

Krammer lachte breit und steckte sich ein Stück Schokolade in den Mund.

„… Und der hat nicht gemerkt dass er jetzt einem völlig falschen Film hat? Man, dass macht Auflage! Die anderen Fotografen mussten ihre Filme abgeben, einige sogar ihre Kameras. Umso besser, dann berichtigen wir eben exklusiv. Schreiben Sie was Schönes dazu, Berger!“

Krammer schob Berger und Spargel zur Tür und zwängte sich anschließend in den Sessel, während er die Gegensprechanlage zu seinem Vorzimmer betätigte.

„Frau Taube. Bitte zum Diktat.“

Dann schaute er kurz auf und sah die beiden Reporter noch unschlüssig an der Tür stehen.

„Los, raus jetzt! An die Arbeit!“

Die Tür öffnete sich, und die Sekretärin drückte sich an Berger und Spargel vorbei und wieder hörte man das Geräusch des sich umdrehenden, verschließenden Schlüssels.

Spargel sah Berger grinsend an. Auch er ahnte mehr, als das er es wusste, was hinter der verschlossenen Türe nun diktiert wurde… „Also los, ich entwickle schon mal die Bilder.“

„Warte.“

Berger schüttelte den Kopf.

„Wieso wurden ruck-zuck die Filme beschlagnahmt? Wer war der Kerl in dem grauen Anzug und wer ist diese Gerda Rahner?“

Spargel zuckte nur mit den Schultern.

„Das ist doch egal, Hauptsache, wir sind exklusiv!“

„Nee…nee“, wieder schüttelte Berger dem Kopf.

„Zeig‘ mir nachher doch mal die Bilder; ich schmiere mal eben etwas zusammen, damit der Chef seinen Willen hat. Aber irgendetwas stimmt da nicht. Das rieche ich förmlich.“

„Fertig.“

Berger atme tief aus und überflog noch einmal die getippten Zeilen. Zwar gab es in seinem Büro einen Computer, doch hackte er immer noch auf der alten Reiseschreibmaschine herum, die er sich damals, von seinem ersten Gehalt, gekauft hatte. Das habe so etwas von altem Journalismus meint er stets dazu, wenn man ihn darauf ansprach. Auch Spargel dachte ähnlich und nahm lieber die Kamera mit einem einzulegenden Film, statt auf die modernen, digitalen Apparate mit integrierten Speichermedien zurückzugreifen.

Spargel trat in den Raum und wedelte mit den gerade entwickelten Fotos herum.

„Hier, Wolf.“

Berger nahm den Stapel und betrachtete die Bilder. Nein, eigentlich betrachtete er die Frau auf diesen Bildern, die dort zu sehen war. Sie hielt die Mündung ihrer Schusswaffe auf den Boden gerichtet.

„Ist Dir etwas aufgefallen?“

Fragend sah Berger den Fotografen an.

„Eigentlich nicht.“

Berger blätterte weiter den Stapel der Aufnahmen durch.

„Nichts Besonderes; nur der hagere Typ ist auf keinem Foto drauf. Ich stand wohl nicht so günstig. Ach ja, da ist noch etwas.“

Spargel zog das Foto hervor, auf welchem die Frau mit der geneigten Pistole zu sehen war.

„Hier, da glänzt etwas am Finger. Es sieht aus wie ein Ring. Und hier“, Spargel zog ein weiteres Foto heraus, dass die Frau am Boden liegend zeigte „… hier ist die Hand nackt. Kein Ring zu sehen. Das kann aber auch ein Lichtreflex sein. Ich vergrößere das mal.“ Während Spargel davon eilte, reckte sich Berger und goss erneut eine Tasse Kaffee ein, stellte sich ans Fenster und sah dem Regen zu, der die Stadt in trüben Dunst hüllte.

Nach drei Tassen Kaffee war Spargel zurück.

„Es ist ein Ring! Schau. Hier.“

Berger beugte sich über die Fotos, die Spargel auf den Schreibtisch gelegt hatte. Grobkörnige Vergrößerungen, etwas unscharf, aber erkennbar und sie zeigten einen Ring auf dessen polierter Fläche man schwach eine eingravierte Zahl sah. 81.

„Kein Ring,… Ring, …kein Ring…“, Berger schaute Spargel an und dann wieder die Fotos.

„Wieso ist hier kein Ring zusehen, wo die Hand doch auf diesem Foto viel deutlicher zu sehen ist?“

„Wir sollten zur Polizei gehen. Vielleicht erfahren wir dort mehr.“

4

Das Präsidium der Polizei - außen ein roter Bausteinbau aus der Gründerzeit, innen völlig modernisiert, lag nur einige Straßen weit von der Redaktion entfernt.

Als die beiden das Gebäude betraten, kam ihnen Inspektor Dorfmann entgehen, ein ehemaliger Mitschüler Bergers. Zwei Menschen, die sich nicht besonders mochten.

Berger war in den Augen Dorfmanns nichts anderes als ein Schmuddeljournalist und Berger hielt den Inspektor für einen pedantischen, obrigkeitshörigen Lakaien.

„Tag, Inspektor“, Berger grinste bereit, „ich brauche einige Informationen über Gerda Rahner, … ist vor einigen Stunden verhaftet worden.“

„Keine Informationen, Berger, außer einer vielleicht, denn die Frau hatte einen Herzinfarkt und ist tot. Der Arzt kam leider zu spät.“

Dorfmann drehte sich um und eilte auch schon weiter und verschwand in einer der vielen Dienstzimmer des langen Ganges.

Spargel und Berger schauten sich verdutzt an.

„Ich glaube Du hast Recht, da stinkt etwas gewaltig! Vielleicht sollten wir die Bilder vorerst noch nicht veröffentlichen, Krammer wird zwar toben, aber was will er gegen falsch belichtete Filme machen?“

Berger nickte stumm.

„Ich geh‘ dann jetzt“, sagte Spargel, „Petra hat vorhin angerufen, sie will mich treffen…. Sie ist Hals über Kopf aus Spanien abgehauen und ich soll sie vom Flugplatz abholen, ich weiß aber nicht wann sie eintrifft.“

Berger hob kurz grüßend die Hand und schaute ratlos zur Decke des Flures.

Was stimmte hier nicht?

Die Nachrichten des Tages waren voll mit der Meldung über das Attentat auf Regionalminister Rossmann und die Zeitungen übertrafen sich in ihren Schlagzeilen, doch ein Bild der Attentäterin zeigte niemand, nicht einmal den Namen nannte man.

Berger nagte auf seiner Unterlippe, kratzte den Kopf und drückte eine Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus.

Ein kurzer Anruf bei Krammer bewilligte ihm die restlichen Urlaubstage und er griff erneut zum Telefon und wählte die Nummer der Pathologie des Krankenhauses und fragte nach Dr. Wirtzinger, von dem er erfuhr, dass Gerda Rahner bereits in vier Tage auf dem Waldfriedhof beigesetzt würde. Vielleicht war dort etwas zu finden, was seine Gedanken ordnen konnte und er beschloss zu der Beerdigung zu gehen.

Es regnete leicht, als Berger nach vier ereignislosen Tagen etwas abseits hinter einem Gebüsch stand und die kleine Gruppe der Trauernden beobachtet. Nur wenige Menschen waren gekommen, sehr wenige.

Genauer gesagt: Es waren nur vier Personen, wenn man den Laienprediger mitzählte, der die üblichen belanglosen Worte brabbelte.

Berger zündete sich pietätlos eine Zigarette an und dachte daran, dass das Attentat rasch, sehr rasch, aus den Medien verschwunden war. Trotz seiner guten Verbindungen hatte er nichts über Gerda Rahner erfahren können, ja es schien als gäbe es gar keine Verwandte und doch, dort am offenen Grab, stand eine Frau, die Gerda Rahner wie aus dem Gesicht geschnitten schien.

Berger trat die Zigarette aus und ging langsam zu den Trauernden, um die obligatorische Schaufel Erde auf den dabei stumpf klingenden Sarg zu werfen. Die wenigen Anwesenden sahen ihn dabei fragend an, doch er drehte sich tonlos um und ging einige Schritte auf dem Friedhofsweg entlang, gefolgt von der Frau, die der Toten so ähnlich sah.

„Wer sind Sie?“ fragte er, als er die Frau aus seinen Augenwinkeln sehen konnte. Ihre Ähnlichkeit mit der Toten war verblüffend.

„Ich heiße Berger, Wolf Berger, Journalist“, stellte er sich der Frau vor.

„Was? Wer? Kannten sie meine Schwester? Ich heiße Nora Rahner. Gerda war meine Zwillingsschwester. Sie war nur fünf Minuten älter ….“

„Nein, ich kannte sie nicht. Aber ich war dabei, als sie festgenommen wurde.“

Die Frau schluckte.

„Herzinfarkt…, wer denkt an so etwas, wenn man gerade sechsundzwanzig Jahre alt geworden ist.“

Berger schaute auf und sah, wie sich die Frau mit einem bestickten Taschentuch, auf dem ein Monogramm zu sehen war, die Tränen von ihrer Wange tupfte. Berger sah noch etwas, das er schon einmal kurz gesehen hatte: Einen Ring, mit einer eingravierten Zahl. 81.

Sein Interesse war geweckt.

„Der Ring. Entschuldigen Sie bitte, aber, diesen Ring habe ich schon einmal gesehen.“

Die Hand der Frau sank und sie schaute auf den Ring, als würde sie ihn jetzt erst wahrnehmen.

„Ach, nur ein Erbstück: Gerda besaß den gleichen Ring, aber jetzt ruht er im Grab.“

Sie schluchzte.

„Ich hätte sie gerne noch einmal gesehen, aber der Sarg durfte nicht mehr geöffnet werden.“

Wieder wischte sie eine Träne ab.

Berger griff in seine Hemdtasche und reichte der Frau seine Visitenkarte.

„Rufen Sie mich doch mal an. Ich würde gerne mit Ihnen sprechen. Dann, wenn es Ihnen besser geht.“

Stumm und ohne hinzusehen nahm die Frau die Visitenkarte und schritt langsam zu dem Grab zurück.

, Was bedeutet die 81‘, dachte Berger… ‚und warum war der Ring der Toten auf den Fotos nicht mehr zu sehen?’

Ohne sich umzusehen verließ er den Friedhof, und er bemerkte nicht dass ihn zwei Männer beobachteten, die hinter einer dicken Buche standen und ein Richtmikrofon unter der Jacke verbargen. Auch sie verließen den Friedhof kurz nach Berger, nicht jedoch ohne zuvor ein Telefonat mit dem Handy durchgeführt zu haben.

5

Drei Tage später.

Berger schaute sich gerade gelangweilt eine der unzähligen Talk Shows zum überflüssigen Thema ‚Hilfe, ich bin zwanzig Jahre alt und immer noch Jungfrau‘ an, die von einer, ständig dazwischen redenden, spätpubertierenden Endvierzigerin moderierte wurde, als das Handy summte.

Er schob den Tellern mit den aufgewärmten Nudeln beiseite. Am Apparat war Nora Rahner. Ihre Stimme klang aufgeregt.

„Kann ich Sie treffen?“

Berger spürte ein Zittern in ihrer Stimme.

„Sicher, wann und wo?“

„Jetzt gleich, im Café am Rathaus.“

Damit brach auch die Verbindung schon ab und Berger verließ die Wohnung. Das leise Surren im Handy hielt er für eine der in der letzten Zeit häufig auftretenden Störungen.

Als Berger das Café betrat, saß Nora Rahner an einem Ecktisch und nippte an einem Kaffee, während sie gerade mit der linken Hand nervös eine halb gerauchte Zigarette ausdrückte.

„Was gibt es denn so Dringendes?“

Ohne auf die Aufforderung, sich zu setzen, zu warten, ließ Berger sich in einen Stuhl fallen und rief der Bedienung zu, dass er ebenfalls Kaffee wünsche.

„Ich fand heute Ihre Karte wieder, und…“, Nora Rahner stockte, „… Und da hab ich Sie angerufen. Ich kenne doch hier niemanden. Irgendetwas ist sehr merkwürdig.“

Nervös nestelte sie erneut eine Zigarette aus der Schachtel und Berger reichte ihr Feuer. Ein tiefer Rauchstoß schwoll ihm entgegen.

„Ja?“ fragend sah er sie an.

„Als ich heute aufstand, sah ich, nein ich bemerkte es eigentlich mehr zufällig, dass ein kleiner Bilderrahmen leer war. Er stand in einem Regal, neben vielen Büchern, die mein Vater gesammelt hatte. Ich weiß genau, dass er nicht leer war, schließlich stand er lange Zeit dort… doch jetzt ist er es?“

„Und? Das Foto ist weg?“

„Kein Foto, das ist es ja eben. Eine Art Gedicht war darin.“

„Ein Gedicht?“

„Ja, vielleicht ist es auch so eine Art Sinnspruch. Ich habe ihn oft genug gesehen, um ihn auswendig zu können, aber, er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“

Wieder drückte sie die halb gerauchte Zigarette in dem bereits übervollen Aschenbecher aus.

„Was für ein Gedicht?“

Berger wurde neugierig.

„Also da stand:

Der Gral ist die 81 das Kreuz,

im Asyl des Lächelns ruht es,

geborgen in der Höhle des Grabes,

auf den Rücken der Nase.

Dumm, nicht?“

„Ja, merkwürdig. Eigentlich unverständlich.“

Berger zuckte hochinteressiert. Wieder die 81 und als ob es Zufall wäre, tauchte der Gral auf, jener Kelch um den sich die Ausstellung drehte, auf der Regionalminister Rossmann erschossen wurde, verbunden mit dem mysteriösen Tod der Gerda Rahner.

„Entschuldigen Sie, also die 81 dieses Spruches meine ich… Sie tragen einen Ring mit der eingravierten Zahl…“

Nora Rahner fiel ihm ins Wort.

„Richtig, der Ring, er ist auch verschwunden. Ich trage in der Nacht keinen Schmuck und ich habe ihn gestern, am Abend, auf die Konsole gelegt und auch er ist verschwunden. Ich habe überall gesucht, aber … Nichts!“

„Hat der Ring irgendetwas mit dem Spruch zu tun?“

Sie hob die Schultern nichtssagend an.

„Es ist nur ein Erbstück. Gerda und ich tragen ihn als Andenken an unserer Eltern. Beide sind tot. Vater…“, sie stockte, „…Vater kam in Mai bei einem Schiffsunglück um. Erst drei Wochen später fand man ihn ertrunken am Strand von Whitehaven. Die Flut hatte ihn angespült.“

Berger blickte auf. Jetzt wusste er, woher er den Namen Rahner kannte. Ein kurzer Bericht über ein Schiffsunglück füllte, neben anderen Nachrichten, im Frühsommer eine kleine Spalte mit verschiedenen Meldungen.

„Das ist an der Westküste Englands, am Ufer der Irischen See?“

Die Frage war mehr eine Feststellung.

„Richtig.“

Sie nickte und nippte an ihrem Kaffee.

„Auch das ist merkwürdig. Gerda und mein Vater waren dort an der Küste in England. Vater wollte zur Isle of Man, und sie blieb an der Küste, weil sie den Fuß verknackst hatte. Die Zeitungen schrieben von hoher See, aber Gerda erzählte mir, dass es herrlicher Sonnenschein war und das Wasser glatt wie ein Spiegel ruhte.“

„Was wollt ihr Vater denn auf der Insel? Die Motorradrennen waren es doch nicht, oder?“

Sie schüttelte den Kopf.

„Keine Motorradrennen. Das hatte einen anderen Grund. Er suchte

dort etwas.“

„Und was, wenn ich so direkt fragen darf?“

Nora Rahner lächelte leicht.

„Halten Sie mich bitte nicht für verrückt, aber mein Vater suchte dort den Gral.“

Berger zog die Augenbrauen zusammen.

„Den Gral? Auf der Isle of Man?“

Skeptisch lehnte er sich zurück.

„Was hatte ihr Vater mit dem Gral zu tun. War er Historiker, Archäologe oder so etwas Ähnliches?“

„Nein, nein. Er war Ingenieur für Maschinenbau. Da hatte er einige kleinere Erfindungen gemacht und lebte von dem Geld, welches die Patente einbrachten, aber er steckte alles in seine Forschungen, wie er sagte. Vor kurzem hat er hier ein Haus gekauft, um diese Forschungen in Ruhe voranzutreiben. Er suchte den Gral.“

„Den Gral suchen viele Menschen“, warf Berger ein. „Hat er ihnen je erklärt, was die 81 bedeutet?“

„Nicht richtig. Er sagte immer nur ihr werdet schon sehen, die 81 führt zum Gral. Was heißt das?“

„Ich weiß es nicht. Haben Sie nie nachgefragt?“

„Nein, er war sehr verschlossen. Er saß immer über seinen Notizen und Büchern, oder reiste durch die halbe Welt. Oft begleiteten ihn meine Schwester und ich. Hierdurch haben wir viel gesehen.“ „Was war der Gral für ihn?“

Berger spürte, wie die Frau durch das Gespräch ruhiger wurde.

„Gerda und ich meinten immer, es sei eine fixe Idee von ihm, aber was soll's, er ging darin ziemlich auf. In seinem Arbeitszimmer kann man sich kaum bewegen, so voll gepackt ist das. Das sollten Sie mal sehen.“

„Ist das eine Einladung?“

Berger lachte auffordernd und Nora Rahner zögerte etwas.

„Es bedrückt mich schon, dass mit dem Ring und dem Spruch, meine ich. Ich lebe jetzt allein in dem Haus. Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht und Sie möchten …?“

Sie standen auf und Berger warf einen Euroschein auf den Tisch. Sein Wagen brachte sie an den Rand der Stadt zu einem älteren Haus, vor dem ein verwilderter Garten lag. Beide bemerkten nicht, dass ihnen ein Wagen gefolgt war.

6

Die Räume waren hoch und dicke Teppiche dämmten die Schritte, als Nora Rahner die Treppe vor Berger hoch stieg und die Tür zu einem Raum öffnete, der einer Art Rumpelkammer glich.

„Das Arbeitszimmer“, sagte sie kurz und Berger schaute sich um. Bücherregale bis unter die Decke, Beistelltische voll gestapelter Manuskripte, an der Wand eine billige Kopie der Mona Lisa und auf dem Boden eine Karte Europas, mit wirren Linien durchzogen, die Teile des Siegel Salomons, aber auch Druidenfüße zeigten, fünf und sechszackige Sterne. In einer Ecke stand eine Schaufensterpuppe, bekleidet mit einem Waffenrock, dessen Brust das Templerkreuz zierte.

„Schrecklich, nicht? Aber Vater verbot uns stets aufzuräumen.“

Berger ging einige Schritte durch den Raum.

„Hier stand der Spruch.“

Die Frau trat zu einem Regal und nahm einen schmucklosen Rahmen in die Hand.

„Leer“, bemerkte Berger kurz in überflüssiger Weise, während im gleichen Augenblick der Türgong schlug.

„Entschuldigen Sie bitte.“

Frau Rahner eilte die Treppe hinab und der Journalist beugte sich über die auf dem Boden liegende Karte, auf der in der oberen Ecke mit Kugelschreiber ein Kreuz gezeichnet war, deren Mittelpunkt die Zahl 81 bildete. Aus dem Hausflur drangen Stimmen herauf.

„Hausdurchsuchung!“ hörte er und dann etwas, was wie ‚Richterliche Anordnung‘ klang. Er ging zur Tür und sah am Treppenaufgang zwei Männer stehen, die mit Nora Rahner sprachen, während ein Dritter etwas abseits stand und ebenso wie Berger die Szenerie beobachtete: Inspektor Dorfmann.

„Was soll das?“

Berger kam langsam die Treppe hinunter.

„Ach, der Schmierfink ist auch da. Immer am Ball, was?“

Der begrüßende Satz des Inspektors sprach die Abneigung aus, die beide füreinander empfanden.

„Was soll das?“ wiederholte Berger.

„Amtsgeheimnis! Du wolltest doch sicherlich gerade gehen, nicht wahr…!“

Dorfmann grinste.

„Oder möchtest Du, Du Schmierfink, eine kleine Festnahme Deinerseits erleben, wegen Behinderung im Amt oder so?“

„Arschloch!“

„Na, na. Das höre ich aber gar nicht gerne. Beleidigung eines Beamten im Dienst, das gibt eine schöne Anzeige.“

Genüsslich zog Dorfmann ein kleines Notebook hervor.

„Ihr beiden seid Zeugen“, fuhr er dann fort und warf den, ihn begleitenden Polizisten vielsagende Blicke zu, die sie mit einem diensteifrigen Nicken bestätigten, bevor sie mit Frau Rahner die Treppe hochstiegen.

„So, jetzt aber raus, Du … Du Journalist.“

Berger drückte sich dicht an dem Inspektor vorbei und setzte, wie zufällig, den Absatz seines Schuhes auf Dorfmanns, Fuß, der puterrot anlief.

„Das wird dir noch leidtun!“

Dorfmann fauchte wütend hinter Berger her, der das Haus verließ, um sich im Garten auf eine kleine Steinbank zu setzen, wobei er das Gesicht mit den Händen stütze und einen katzengleichen Buckel machte.

„81“, sagte er leise zu sich selbst: „…Was ist mit der 81?“

Aus dem Haus drangen Geräusche. Möbel wurden gerückt und Berger hörte das Klirren von Glas. Stimmen, dann wieder rückende Möbel und letztendlich nach einer Weile, das Zuschlagen der Haustür.

Berger stand auf und sah das Abfahren der unauffälligen Limousine der Kriminalpolizei, auf dessen Rücksitz ein weiterer Mann saß. Hager und mit einem grauen Anzug gekleidet.

Nora Rahner stand am Eingang ihres Hauses.

„Was wollten die eigentlich?“ fragte Berger neugierig.

„Ich weiß es nicht. Sie schoben allerlei hin und her und warfen einige Sachen um. Ermittlungen nannte das der Inspektor.“

Die Frau schnaubte wütend.

„Kommen Sie“, sagte Berger, „wenn es Ihnen nichts ausmacht, fahren wir zu mir.“

Sie nickte und folgte dem Journalisten zu dessen Wagen, der mit vier zerstochenen Reifen in einer Parkbucht stand.

„Scheiße!“ fluchte er und trat vor die Reifen, bevor er mit dem Handy ein Taxi rief.

7

„Setzen Sie sich bitte.“

Berger hob einen Stapel Zeitungen aus einem Sessel heraus und ging dann in die Küche, um geräuschvoll Geschirr beiseite schiebend, Kaffee zu kochen.

„Erzählen Sie mir etwas über ihren Vater“, bat er anschließend, als er etwas ungeschickt die Tassen füllte.

„Was soll ich sagen?“

Wieder schien Nora Rahner nervös zu werden. Gleichzeitig summte das Handy an Bergers Gürteltasche. Am Ende der Verbindung war Spargel.

„Bist Du das Wolf?“ seine Stimme klang aufgeregt.

„Bei mir ist eingebrochen worden. Alle Negative sind weg und … und es sieht aus wie … wie im Schweinestall.“

„Sieht das bei Dir nicht immer so aus? Los, komm vorbei, aber ich habe Besuch.“

Was war das? Was entwickelte sich hier?

Berger stand etwas ratlos herum, bevor er sich wieder setzte.

„Mein Vater“, begann Frau Rahner erneut, „war von dem Gedanken besessen, den Gral zu finden. Seit ich denken kann, hat er danach gesucht. Als meine Mutter noch lebte, das ist schon einige Jahre her, half sie ihm dabei, so gut sie es konnte. Gerda und ich sahen darin eigentlich einen Spleen, aber durch diese fixe Idee haben wir viel von Europa gesehen… zwar nicht die Strände, wohin meine Schwester und ich immer wollten, aber doch so Einiges. Im letzten Sommer waren wir noch in Südfrankreich. Ganz unten im Süden, nahe an den Pyrenäen, am Montségur. Schön war es da.“

„Die Gralsburg?“

Berger kramte in seinem Gedächtnis nach seinem Studienwissen und ordnete seine Geschichtskenntnisse.

….Der Montségur, der heilige Berg der Katharer, die durch den Kreuzzug vernichtet worden waren. Die Ketzerburg. Der Montségur, der als Muntsalvasch Einzug in die Parzivalsage des Wolfram von Eschenbach nahm. Wieder der Gral,- aber blieb das bei einem Mann der Gralsforscher war, aus? …Was hatte dies alles mit dem Heute, mit dem Jetzt, zu tun?

Es schellte und Spargel stand vor der Tür. Ohne eine Begrüßung abzuwarten sprudelte er los:

„Schweine! …Alles ist weg! Auch die Negative der Pflanzenbilder für den Fotoband. Der war schon fast fertig. Alles…“

Spargel stockte, als er die Frau bemerkte.

„Sie…?…Sie…?“

„Sie ist die Schwester Gerda Rahners“, erklärte Berger knapp.

„Zwillingsschwester“, korrigierte ihn die Frau.

Spargel schüttelte unverständig den Kopf.

„Setz Dich erst einmal hin, Peter“, forderte Berger den Fotografen auf, der sich danach auf das etwas zerschlissene Sofa fallen ließ.

„Mensch, Berger, den Saustall hättest Du sehen müssen… Es sind nicht nur die Negative weg, nein, alle Bilder… Einfach alles ist weg. Futsch! … Aber jede Kamera ist noch da. Nur Speichermedien und Filme wurden geklaut.. Was sind das nur für Diebe?“

Berger beugte sich vor.

„Ich sage doch, irgendetwas ist da sehr komisch.“

Dann berichtete er von der Hausdurchsuchung, dem verschwundenen Ring und dem seltsamen Spruch, der aus Nora Rahners Haus verschwunden war.

Fragend sahen sich die drei an, schweigend, ratlos und die Glut ihrer Zigaretten betrachtend.

„Es muss mit dem Tod meiner Schwester zu tun haben“, unterbrach Nora Rahner die Stille und schlug ob der gewissen Vertrautheit des gemeinsam erlebten das „Du" vor.

„Sie…äh Du…Du hast Recht“, nickte Spargel und griff in die Jackettasche, aus der er einige zerknitterte Fotos zog.

„Die hier hab‘ ich noch. Die waren nichts für den geplanten Zeitungsartikel. Hier, schaut Euch das doch einmal an.“

Er reichte die Bilder zu Nora und Berger und sie sahen jeweils die Hand Gerda Rahners, einmal mit dem Ring und einmal ohne diesen. Ein drittes Foto, jenes, welches der Fotograf unbewusst ausgelöst hatte, als der Regionalminister erschossen wurde, kannte Berger noch nicht. Viel war darauf nicht zu sehen, nur die beiden Leibwächter, wie sie Rossmann reflexartig schützten und das Gesicht des Ministers mit einem dunklen Fleck auf der Stirn.

„Schaut euch das Bild mal genauer an.“

Spargel deutete mit dem Finger auf den rechts von Rossmann stehenden Leibwächter.

„Und?“

Fragend schaute Berger auf

„Siehst du das nicht? Mensch, der Kerl grinst! Hier sieh doch, der andere schaut zum Minister runter, ganz in seinem Job, aber der da, der grinst … Irgendwie triumphierend finde ich. Ist das logisch?“

„Sicher nicht, aber vielleicht war es kein guter Chef. Wenn ich so an Krammer denke…“

„Hör auf!“

„Sicher, Du hast Recht."

Berger schob Nora das Bild zu. Sie wurde blass und lehnte sich tief in den Sessel.

„Das ist ein Leibwächter? Den Mann kenne ich! Wir trafen ihn im letzten Jahr am Montségur. Er wäre da im Urlaub, das sagte er jedenfalls. Erst versuchte er mit mir anzubandeln, dann aber mit Gerda, die sich auch darauf einließ.“

Berger drängte:

„Wie heißt er?“

„Kolbe, Alex Kolbe. So hatte er sich jedenfalls vorgestellt.

„Er behauptete, etwas mit Archäologie zu tun zu haben, an der Uni in Münster. Der sieht aber gar nicht so archäologisch aus, oder was meint ihr?“

„Vielleicht sollten wir uns einmal mit ihm unterhalten“, sagte Spargel: „Kommt, wir fahren nach Münster, oder wisst ihr etwas Besseres?"

„Nee, eigentlich nicht. Und wann fahren wir?“

Nora schenkte sich den Rest Kaffee ein, der inzwischen schon kalt war.

„Jetzt,“ bestimmte Spargel.

„Jetzt?“

Nora und Berger klangen synchron.

„Jetzt!“

8

Kalt war es, saukalt für diese Jahreszeit.

Jaques de Molay, Großmeister des Templerordens zog den pelzverbrämten Mantel eng um seine Schultern und wandte sich dem Kamin zu, der trotz des Sommers den Raum erwärmen musste. Seine Gedanken sprangen hin und her und er war angespannt. Mit dem Stab, auf den er sich stützte, wenn die Gicht ihn peinigte, klopfte er nervös auf dem Steinboden, taktlos, tock - tock.

Jean de Galbain, der zweiundzwanzigjährige Jährige Novize lehnte am Fenster und schaute auf die Stadt, in der die Templerburg mit ihren sieben Türmen stand.

Paris, Donnerstag der 12. Oktober 1307.

„ Wo bleibt nur Hugno?“ fragte der Großmeister mehr sich selbst als den jungen Ritter.

Hugno de Patraud war der Visitator des Ordens, der zweite Mann hinter de Molay und in dieser Eigenschaft verhandelte er mit Papst Clemens über die Belange des Ordens.

Seit geraumer Zeit schon gab es Zwietracht zwischen dem Orden der Templer, der Kirche und mit Phillip, dem König von Frankreich. Der Papst und mit ihm die Kirche neideten den Templern ihren Besitz und ihren Reichtum, der sich in Komtureien über ganz Europa verteilte hatte, ihre Macht, ihre Handelsbeziehungen und den Einfluss, den sie überall hatten.

König Phillip seinerseits neidete den Templern die Festungen, die er als Staat im Staate sah, ihren Einfluss, ihren Reichtum, ihre Handelsverbindungen und ihre Verbindungen zu den Höfen der Mächtigen.

In ihrem Neid glichen sich Papst und König wie zwei Eier und doch neideten sie einander ihre gegenseitige Macht und jeder hatte Angst, die Templer würden Hilfe von der jeweils anderen Seite bekommen, Phillip fürchtete den Papst und misstraute ihm und der Papst misstraute dem König und fürchtete ihn.

Welch grandiosen Aufstieg hatten die Templer doch genommen, als sich während der Kreuzzüge ihr Orden 1118 gegründet hatte und 1128 anerkannt wurde. Neun Ritter waren es, die mit Hugo de Payens geschworen hatten, in Armut zu leben, dem Nächsten zu dienen und dann die Aufgabe übernahmen, die Straßen des Heiligen Landes zu sichern.

Wahrlich, die Ritter selbst waren arm, denn alles gehörte dem Orden… , neun Ritter, die Wohnung bekamen von König Balduin II., dem König des christlichen Königreiches von Jerusalem, direkt in der Stadt, dort wo einst der Palast Salomons gestanden haben sollte.

In der ersten Zeit verließen sie das Gebäude kaum und man tuschelte, sie würden in den darunter liegenden unzähligen Gängen und Höhlen etwas suchen oder nach irgendetwas graben, doch Genaueres darüber hörte man nie. Nur ab und zu sah man Eselskarren, die Erde geladen hatten und diese aus einem dem Stadttore fuhren.

Neun Ritter… Nun zählten sie über Zehntausend, nicht gerechnet die Diener und Knechte….

Jaques de Molay lächelte trotz seiner Erregung leicht: ER wusste, was die Ritter dort gesucht hatten und ER wusste, dass sie ES gefunden hatten… und er wusste auch, dass es DIES war, was der König und der Papst haben wollten. Die vorgeschobenen Vorwürfe wegen angeblicher Gotteslästerung und Häresie waren nur das Mittel zum Zweck, um an das zu kommen, was sie wirklich wollten, obwohl sie gar nicht wussten, was es war:

Der Gral.

Sicher, de Molay hatte nie etwas dazu gesagt, wenn die Rede auf den Gral kam, aber sobald man meinte, es sei die Schale, mit der das Blut Christi aufgefangen worden sei, hatte er nur gelächelt, ein Lächeln, welches man als Wissen deutete.

Die Epen Eschenbachs und Kyots über Parzival, den Hüter des Grals und über Lohengrin, den letzten der Gralskönige, halfen mit, diesen Mythos weiter zu nähren und de Molay hatte nichts dagegen, denn je mehr die Menschen sich in Illusionen verstiegen und an der Wirklichkeit vorbeisahen - einer zugegeben unglaublichen Wirklichkeit - umso sicherer war der wahre Gral.

Sollte er ihnen sagen, dass der Gral nicht die Schale war, an die sie glaubten?

Sollte er Ihnen sagen, dass Christus nicht am Kreuz gestorben war? Würde dies wirklich jemand glauben?

Würden sie ihm glauben, dass Jesus nach Südfrankreich geflohen war…?

Gewiss, König und Papst wollten das Gold der Templer die edlen Steine und die festen Burgen, das Land und die Handelsbeziehungen, eine willkommene Nebengabe, aber in Wahrheit wollten sie den Gral, wollten ein kleines Stück von Gott in den Händen halten …!

Pferdehufe schlugen hart durch die hohl klingenden Gassen. Jean de Galbain sah einen Kurier, schweißnass über den Pferdehals gebeugt in die Stadtburg, dem Tempel, hineinjagen.

De Molay deutete auf die Tür und Jean de Galbain eilte hinaus, um den Boten zu empfangen, der erschöpft von seinem Pferd glitt, das nass von Schweiß und mit Schaumflocken bedeckt war. Schwer atmend übergab er dem jungen Ritter, dem jüngsten Spross des Hauses de Galbain aus dem Languedoc, ein gerolltes Schriftstück, mit dem dieser zu dem Großmeister des Ordens zurücklief.

Das Siegel zerbrach und kleine Wachskrümel fielen zu Boden. Schweigend las de Molay und schüttelte den Kopf.

„ Ich glaube es nicht… nein! Das wagen sie nicht!“

Wütend schlug er mit seinem stützenden Stab auf den Boden und geriet dabei ins Straucheln. Der junge Ritter stützte den alten Mann und half ihm auf einen gepolsterten Lehnstuhl. Die Hand des Großmeisters verkrampfte sich zitternd um das Pergament und es schien, als hätten alle Geräusche der Welt für einen Moment inne gehalten. Adernd traten schwarzblau auf dem Handrücken hervor, wulstig, unter einer grauen Haut wie vergilbtes Pergament.

„Sie werden uns verhaften, Jean,… alle!“

Der Ordensmeister atmete tief aus:

„Der Papst gab sein Einverständnis dazu.“

„Aber Herr …“

„Ruhig Jean, vielleicht wagen sie es auch nicht…Vielleicht sind es alles nur Worte.“

Es schien, als wollte er damit dem jungen Ritter Mut machen und er bemühte sich um eine aufrechte Haltung in dem Lehnstuhl.

„Trotzdem… wir müssen handeln. Jean! Jean de Galbain, auf Dir ruht die Zukunft des Ordens. Rette den Orden, rette den Gral! Reite Jean, reite sofort zum Montségur. Geh direkt zu Lons de Roncal und sage ihm, dass wir verraten wurden und Du den Gral bergen sollst. Hier, gib ihm diesen Ring und er wird wissen, dass Du direkt von mir kommst. Er weiß was zu tun ist.“

Der Großmeister zog von seinem kleinen Finger einen Goldring ab, auf dessen kleiner polierten Platte eine schlichte Gravur zu sehen war. Die Zahl 81.

Am nächsten Morgen, am Freitag des 13. Oktober 1307, wurde Jaques de Molay verhaftet und mit ihm alle Templer, deren man habhaft werden konnte.