image

image

Adrian Lussi und Markus Schaffner (Hrsg.)

FORTSCHRITTE DER ZAHNERHALTUNG

FORTSCHRITTE DER
ZAHNERHALTUNG

Herausgegeben von:

Adrian Lussi und Markus Schaffner

Mit Beiträgen von:

Philip Ciucchi, Martina Eichenberger, Simon Flury,

Anne Grüninger, Stefan Hänni, Daniel Jacky,

Thomas Jaeggi, Franziska Jeger, Karin Kislig,

Adrian Lussi, Klaus Neuhaus, Philippe Perrin, Domenico Di Rocco,

Jonas Rodrigues, Markus Schaffner, Benjamin Schüz,

Rainer Seemann, Matthias Strub, Beat Suter,

Svante Twetman und Brigitte Zimmerli

Image

Berlin, Chicago, Tokio, Barcelona, Istanbul, London, Mailand,

Moskau, Neu-Delhi, Paris, Prag, São Paulo, Seoul und Warschau

Inhalt

IAufbau und Pathologie des Zahnes

1Aufbau und Pathologie des Zahnes

Markus Schaffner und Adrian Lussi

IIAspekte der Prävention

2Motivation und Handlung – zwei Aspekte häuslicher Mundhygiene

Rainer Seemann und Benjamin Schüz

3Kariostatische Wirkungsmechanismen der Fluoride

Adrian Lussi

4Die Rolle von Xylit in der Kariesprävention

Svante Twetman

5Probiotika – ein neuer Weg in der Kariesprävention?

Svante Twetman

6Neuartige Mittel zur Förderung der Remineralisation

Klaus Neuhaus und Adrian Lussi

7Antibakterielle Wirkstoffe zur Kariesprävention

Svante Twetman und Klaus Neuhaus

IIIKaries

8Diagnostik der Karies und Kariesaktivität

Adrian Lussi, Markus Schaffner, Jonas Rodrigues und Klaus Neuhaus

9Versiegelung und Infiltration von Karies – ist das die Zukunft?

Brigitte Zimmerli und Simon Flury

IVVergrößerungshilfen in der restaurativen Zahnmedizin

10Sinn und Unsinn von Vergrößerungshilfen in der restaurativen Zahnmedizin

Martina Eichenberger, Philippe Perrin, Daniel Jacky und Adrian Lussi

VNachbarzahnverletzungen und minimalinvasive Präparation

11Nachbarzahnverletzungen und minimalinvasive Präparation

Martina Eichenberger, Philippe Perrin und Adrian Lussi

12Neuartige Präparations- und Exkavationsmethoden

Klaus Neuhaus, Franziska Jeger, Philip Ciucchi und Adrian Lussi

VIGestern Retention – Heute Adhäsion?

13Adhäsive Techniken in der Zahnerhaltung

Brigitte Zimmerli und Matthias Strub

14Direkte Füllungstechnologie

Brigitte Zimmerli, Matthias Strub und Simon Flury

15Reparaturfüllungen

Brigitte Zimmerli und Matthias Strub

16Stiftsysteme

Brigitte Zimmerli und Matthias Strub

17Das CEREC-System

Domenico Di Rocco und Adrian Lussi

VIIBleichen

18Bleichen

Brigitte Zimmerli und Anne Grüninger

VIIIDentale Erosionen

19Dentale Erosionen

Adrian Lussi und Thomas Jaeggi

IXEndodontologie

20Wurzelkanalaufbereitung

Beat Suter

21Wurzelkanalspülung

Stefan Hänni

22Wurzelkanalfüllung

Stefan Hänni

23Das „Cracked tooth”-Syndrom

Stefan Hänni und Adrian Lussi

24Endodontologie im Milchgebiss

Markus Schaffner, Klaus Neuhaus und Adrian Lussi

XHalitosis

25Halitosis

Rainer Seemann und Karin Kislig

Vorwort

Die Zahnmedizin war in den letzten Jahren und Jahrzehnten einem großen Wandel unterworfen. Neue Technologien wurden entwickelt und biologische Prinzipien und Abläufe besser verstanden. Das vorliegende Buch beleuchtet diese neuen Aspekte in der Präventivzahnmedizin und in der Zahnerhaltung.

„Fortschritte der Zahnerhaltung“ gibt einen umfassenden Überblick über aktuelle Entwicklungen dieses abwechslungsreichen und für den Zahnarzt wichtigen Fachgebietes. In 25 Kapiteln wird das breite Spektrum der Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin beleuchtet. In dieser Reihenfolge werden:

• Aufbau und Pathologie des Zahnes

• Aspekte der Prävention

• Karies

• Vergrößerungshilfen in der restaurativen Zahnmedizin

• Nachbarzahnverletzungen und minimalinvasive Präparation

• Gestern Retention – Heute Adhäsion?

• Bleichen

• Erosionen

• Endodontologie

• Halitosis

besprochen. Die reiche Bebilderung und hervorgehobene Merksätze erleichtern die Umsetzung des heutigen Wissens in der täglichen Praxis, in der Lehre und im Studium.

Adrian Lussi
Markus Schaffner

Herausgeber und Autoren

Prof. Dr. med. dent. Adrian Lussi

Klinikdirektor

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: adrian.lussi@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Markus Schaffner

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: markussch@bluewin.ch

Dr. med. dent. Philip Ciucchi

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: philip.ciucchi@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Martina Eichenberger

Zahnärztin

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und

Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: martina.eichenberger@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Simon Flury

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: simon.flury@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Anne Grüninger

Oberärztin

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: amvv@bluewin.ch

Dr. med. dent. Stefan Hänni

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: stefan.haenni@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Daniel Jacky

Eidg. dipl. Zahnarzt

Kirchhofplatz 14, CH-8201 Schaffhausen.

E-Mail: djacky@bluewin.ch

Dr. med. dent. Thomas Jaeggi

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: thomas-jaeggi@bluewin.ch

Dr. med. dent. Franziska Jeger

Zahnärztin

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: franziska.jeger@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Karin Kislig

Zahnärztin

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: karin.kislig@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Klaus W. Neuhaus

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: klaus.neuhaus@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Philippe Perrin

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: perrins@bluewin.ch

Dr. med. dent. Domenico Di Rocco

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: domenico@dirocco.ch

Dr. med. dent. Jonas de Almeida Rodrigues, MSc, PhD

Wissenschaftlicher Mitarbeiter

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: jorodrigues@hotmail.com

PD Dr. med. dent. Rainer Seemann

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: rainer.seemann@zmk.unibe.ch

Dr. Benjamin Schüz, Dipl.-Psych.

Arbeitsbereich Gesundheitspsychologie

Freie Universität Berlin

Habelschwerdter Allee 45, D-14195 Berlin

E-Mail: schuez@zedat.fu-berlin.de

Dr. med. dent. Matthias Strub

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: matthias.strub@zmk.unibe.ch

Dr. med. dent. Beat Suter

Oberarzt

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: bs@endodontic-bern.ch

Prof. Svante Twetman

Department of Cariology and Endodontics

Faculty of Health Sciences

University of Copenhagen

Nørre Allé 20, 2200 Copenhagen N,

Dänemark

E-Mail: stw@odont.ku.dk

Dr. med. dent. Brigitte Zimmerli

Oberärztin

Klinik für Zahnerhaltung, Präventiv- und Kinderzahnmedizin

Universität Bern

Freiburgstraße 7, CH-3010 Bern

E-Mail: brigitte.zimmerli@zmk.unibe.ch

I Aufbau und Pathologie des Zahnes

Image

1 Aufbau und Pathologie des Zahnes

Markus Schaffner und Adrian Lussi

ImageZahnentwicklung

Die Zahnentwicklung beginnt beim menschlichen Embryo 28 bis 40 Tage nach der Ovulation. Epitheliale Zellen wachsen in die ektomesenchymalen Anteile des Kiefers. Es entsteht eine epitheliale Ausstülpung. Durch das weitere Eindringen der epithelialen Zellen in das Ektomesenchym wird die Zahnpapille gebildet.

Zu diesem Zeitpunkt werden die Zellen für die Bildung der Zahnhartsubstanz differenziert: Aus den ektodermalen Zellen entstehen die Ameloblasten, aus den angrenzenden ektomesenchymalen Zellen der Zahnpapille die Odontoblasten, wobei eine gegenseitige Induktionskette besteht. Die Zahnhartsubstanzbildung beginnt nicht gleichzeitig an der gesamten Berührungsfläche zwischen den ektodermalen Anteilen und der Zahnpapille. Bei Frontzähnen entstehen die ersten Schmelz- und Dentinschichten in der Mitte der späteren Inzisalkante, bei Seitenzähnen im Bereich der späteren Höckerspitzen. Mit zunehmendem Wachstum verschmelzen die verschiedenen Zentren der Zahnhartsubstanzbildung und bilden so die Okklusalfläche.

Durch weiteres Eindringen der epithelialen Zellen in das Ektomesenchym entsteht die nur zweischichtige Hertwig-Epithelscheide. Sie bestimmt die Größe, Form und Anzahl der entstehenden Zahnwurzeln. Bei mehrwurzligen Zähnen wachsen aus dem zirkulären Rand der Hertwig-Epithelscheide zungenartige Fortsätze über den apikalen Rand der Zahnpapille. Diese Fortsätze verschmelzen zur Bi- oder Trifurkation. Die dort entstehenden Dentinschichten bilden den späteren Boden des Kronenkavums. Die Hertwig-Epithelscheiden proliferieren nach apikal und bilden die Zahnwurzeln (Abb. 1-1 bis 1-4).

Image

Abb. 1-1 Bildung der Wurzel
Links und rechts: Blick von apikal auf die sich bildenden Zahnwurzeln. Die Zahnentwicklung ist bis zur späteren Schmelz-Zement-Grenze fortgeschritten.

Image

Abb. 1-2 Bildung der Wurzel
Links und rechts: Die zungenartigen Fortsätze treffen sich im Bereich der späteren Bifurkation, schmelzen dort zusammen und bilden neue Epithelscheiden für die Entwicklung von zwei Zahnwurzeln.

Image

Abb. 1-3 und 1-4 Bildung der Wurzel
Links und rechts: Mit zunehmender apikaler Wurzelentwicklung kommt es zu einer Verengung der Wurzelkanäle, bis der Apex erreicht ist. Das Wurzelwachstum beschleunigt den Zahndurchbruch.

Die Reste der Hertwig-Epithelscheide sind für die Entstehung von Schmelzperlen (Abb. 1-10) oder zementfreien Wurzelanteilen verantwortlich. Als Malassez-Epithelreste spielen sie bei der Bildung von Zysten eine Rolle.

ImageSchmelz

Die Ameloblasten mit ihren Tomes-Fortsätzen sind für die Bildung des Prismenstabes und des interprismatischen Schmelzes verantwortlich (Abb. 1-5 und 1-6). Mit der Sekretion der Schmelzmatrix durch die Ameloblasten beginnt die Schmelzbildung. Die Schmelzbildungsrate beträgt durchschnittlich 4 μm pro Tag. Sie variiert jedoch stark, je nach Zahn und Zahnfläche, die gebildet wird. Die Schmelzprismen verlaufen von der Schmelz-Dentin-Grenze bis zur Schmelzoberfläche. Ihre Ausrichtung ist nicht geradlinig. Sie können spiralartig ineinander verwoben oder wellenförmig angeordnet sein. Die Wellenbewegung der Prismenstäbe verschwindet im äußeren Schmelzdrittel. Die periodische Schmelzmatrixbildung der Ameloblasten, die unterschiedliche Schmelzmatrixproduktion im Bereich des Tomes-Fortsatzes sowie die dreidimensionale Ausrichtung der Schmelzprismen führen zu den verschiedenen licht- und elektronenmikroskopischen Strukturmerkmalen des Schmelzes.

Image

Abb. 1-5 Schmelz im Rasterelektronenmikroskop (REM)
Geätzter menschlicher Schmelz. Innerhalb von nur 100 μm wurden die Schmelzprismen längs und quer angeschnitten.

Image

Abb. 1-6 Schmelz im Rasterelektronenmikroskop (REM)
Die Ätzung griff hier den interprismatischen Schmelz stärker an als den Prismenstab.

Strukturmerkmale des Schmelzes

Im Lichtmikroskop gut erkennbar sind braune Linien im Schmelzbereich, die im Längsschnitt von der Schmelz-Dentin-Grenze schräg nach okklusal verlaufen. Es handelt sich um die Retzius-Streifen, die durch die periodische Anlagerung des Schmelzes entstehen. Im Horizontalschnitt gleichen diese Streifen den Jahresringen eines Baumes. Dort wo die Retzius-Streifen an die Schmelzoberfläche treten, entstehen die Imbrikationslinien. Zwischen den Imbrikationslinien liegen die Perikymatien, die bei neu durchgebrochenen Zähnen gut erkennbar sind (Abb. 1-7 und 1-8).

Image

Abb. 1-7 Strukturmerkmale Schmelz
Die periodische Anlagerung von Schmelz drückt sich in den Retzius-Linien aus. Dort wo diese Linien an die Oberfläche gelangen, sind die Perikymatien sichtbar. Bei Betrachtung von Längs- und Querschliffen von Schmelz im Lichtmikroskop können in den inneren zwei Dritteln helle und dunkle Streifen beobachtet werden. Diese Hunter-Schreger-Streifung entsteht durch den wellenartigen Verlauf der Schmelzprismen.

Image

Abb. 1-8 Perikymatien im Rasterelektronenmikroskop (REM)
Die Vergrößerung zeigt neben den Perikymatien auch die dazwischen liegenden Imbrikationslinien deutlich.

Image

Abb. 1-9 Schmelzbüschel
Darunter versteht man hypomineralisierte Schmelzbereiche, die im Lichtmikroskop wie Grasbüschel aussehen. Schmelzbüschel können bei einem kariösen Angriff den Bakterien als Prädilektionsstelle dienen. Im histologischen Bild ist die Karies gut erkennbar.

Image

Abb. 1-10 Schmelzperle
Links: Röntgenbild einer Schmelzperle im Approximalbereich eines Oberkiefermolaren.
Rechts: Schmelzperle in der Bifurkation eines Molaren.

Strukturfehler und Paraplasien des Schmelzes

Bei den meisten Zähnen sind im Lichtmikroskop Schmelzstrukturfehler erkennbar. Ein großer Teil dieser Strukturfehler entsteht während der Schmelzbildung. Dazu gehören sogenannte Schmelzbüschel (Abb. 1-9) und Schmelzlamellen. Schmelzbüschel und Schmelzlamellen können bezüglich der Kariesausbreitung einen Locus minoris resistentiae darstellen.

Die Schmelzperle ist eine Paraplasie des Schmelzes. Darunter versteht man die Schmelzbildung an einer atypischen Lokalisation. Schmelzperlen können eine isolierte Parodontitis im Bereich der Furkation verursachen (Abb. 1-10).

Dysplasien des Schmelzes (und des Dentins)

Dysplasien des Schmelzes und/oder des Dentins können durch Defekte an Genen verursacht werden, die für die Zahnentwicklung verantwortlich sind. Aber auch traumatische, entzündliche und chemische Prozesse sowie Stoffwechselstörungen und Allgemeinerkrankungen können Missbildungen des Schmelzes und/oder des Dentins hervorrufen.

Bei genetisch bedingten Dysplasien des Schmelzes und/oder des Dentins sind in der Regel alle Zähne einer oder beider Dentitionen mehr oder weniger stark betroffen. Sie können von Generation zu Generation weitervererbt werden, sodass ähnliche Zahnentwicklungsstörungen bei Geschwistern, Eltern und Großeltern möglich sind (Abb. 1-11 bis 1-13, 1-19).

Image

Abb. 1-11 Amelogenesis imperfecta, hypoplastische Form (grübchenartiger Typ)
Durch die Einlagerung von exogenen Farbstoffen sind die Schmelzgrübchen im Bereich der Vestibulärflächen gut erkennbar.

Image

Abb. 1-12 Amelogenesis imperfecta, hypomaturierte Form
Links und rechts: Der Schmelz ist unvollständig mineralisiert. Weiße, opake Schmelzbereiche sind im Bereich der Höckerspitzen und Inzisalkanten erkennbar.

Image

Abb. 1-13 Amelogenesis imperfecta, hypokalzifizierte Form
Der Schmelz ist sehr weich. Deshalb kommt es zu einem starken Zahnhartsubstanzverlust durch Abrasion und Attrition.

Image

Abb. 1-14 Schmelzhypoplasien bei den Zähnen 11 und 21
Eine lokale Infektion im Apexbereich der Milchzähne 51 und 61 führte zu flächenhaften Schmelzdefekten bei 11 und 21 mit Zementauflagerungen im Inzisalbereich. Solche Zähne werden auch als Turner-Zähne bezeichnet.

Image

Abb. 1-15 Schmelzhypoplasien bei den Zähnen 31 und 41
Ein lokales Milchzahntrauma während der Entwicklung der Zähne 31 und 41 führte zu diesen Farb- und Formveränderungen im Kronenbereich (gelbbraune Schmelzflecken und ringförmige Einziehungen apikal der Schmelzflecken).

Durch Umwelteinflüsse (Trauma, Infekt, Pharmaka etc.) oder Allgemeinerkrankungen verursachte Schmelz-/Dentindysplasien kommen wesentlich häufiger vor und können von unterschiedlicher Ausprägung sein. Sie reichen von weißen oder gelbbraunen Farbveränderungen bis hin zu ausgeprägten Oberflächen- und Formdefekten der Zahnkronen (Abb. 1-14 und 1-15).

ImageDentin

Der reife Odontoblast ist eine lange, säulenartige Zelle mit einem Fortsatz an der Sekretionsseite. Um den Odontoblastenfortsatz herum wird das Prädentin ausgeschieden, das später an der Mineralisationsfront verkalkt. Die Odontoblastenfortsätze und die Dentintubuli werden mit fortschreitender Dentinbildung länger (Abb. 1-16, 1-17 und 1-18).

Die Entstehung des zirkumpulpalen Dentins, das den Hauptteil des Dentins bildet, ist ein periodischer Vorgang mit Sekretions- und Ruhephasen. Diese periodische Dentinablagerung kann lichtmikroskopisch erkannt werden. Während der Ruhephasen entstehen die Ebner-Wachstumslinien. Sie entsprechen den Retzius-Streifen des Schmelzes. Verbreiterte und hypomineralisierte Wachstumslinien werden Owen-Linien genannt. Sie werden durch eine Störung der Dentinmineralisation verursacht. Diese Störungen können durch das Geburtstrauma oder bei Allgemeinerkrankungen des Kindes auftreten.

Die Mineralisation des zirkumpulpalen Dentins geht von Zentren im Bereich der Mineralisationsfront aus, den sogenannten Kalkosphäriten. Diese können elektronenmikroskopisch nach Entfernung des Prädentins nachgewiesen werden (Abb. 1-18). Im Kronendentin bleiben sie zum Teil als Interglobulardentin bestehen.

Image

Abb. 1-16 Tubuli mit Odontoblastenfortsätzen
Deutlich sichtbar sind die Verzweigungen und die miteinander kommunizierenden Seitenäste der Odontoblasten.

Image

Abb. 1-17 Dentintubuli mit Odontoblastenfortsätzen im Rasterelektronenmikroskop (REM)
Links: REM-Aufnahme von quer geschnittenen Dentintubuli mit und ohne Odontoblastenfortsätze. Das Kollagennetz ist nach Entkalkung deutlich sichtbar. Rechts: Odontoblastenfortsatz in einem Dentintubulus.

Image

Abb. 1-18 Mineralisationsfront
(links) Durch Entfernung des Prädentins werden die der Pulpawand zugewendeten Kalkosphäriten und die vielen Eingänge der Dentintubuli im REM gut sichtbar. In der Mitte des Bildes ist der Eingang eines Seitenkanals erkennbar. Dentintubuli
(rechts) REM-Aufnahme von gebrochenem Dentin mit Dentintubuli.

Image

Abb. 1-19 Dentinogenesis imperfecta
Die Zahnentwicklungsstörung führte zu einer blaubraunen Verfärbung der Milchmolaren und zu einer bräunlichen Verfärbung der permanenten Unterkieferfrontzähne (bernstein-/perlmutterartige Zahnverfärbungen) (Bild: P. Hotz).

Wird das Breitbandantibiotikum Tetrazyklin während der Zahnbildung verabreicht, so kommt es zu einer irreversiblen Einlagerung des Tetrazyklins in den Zahn. Bei lang andauernden Tetrazyklin-Therapien entstehen großflächige graubläuliche Verfärbungen der Zahnkronen, bei kurzen Therapien während der Zahnentwicklung sind die Einlagerungen nur histologisch erkennbar. Die irreversible Einlagerung von Tetrazyklin in Schmelz, Dentin und Zement kommt durch eine Komplexbildung des Antibiotikums mit Kalzium zustande. Bei Kindern ab dem siebten Lebensjahr hat die Tetrazyklinabgabe bei Zahntraumata keine Kronenverfärbungen bis zu den ersten Molaren zur Folge, da die Kronenbildung dieser Zähne zu diesem Zeitpunkt bereits abgeschlossen ist.

Image

Abb. 1-20 Sharpey-Faserbündel
Sharpey-Faserbündel, die im azellulären Bereich des zellulären Gemischtfaserzements verankert sind.

Image

Abb. 1-21 Zementreparaturen
Links: Reparatur einer oberflächlichen Wurzelresorption im Bereich des koronalen Wurzeldrittels durch azelluläres Fremdfaserzement.
Mitte und rechts: Reparatur von Wurzelresorptionen durch zelluläres Eigenfaserzement.

Image

Abb. 1-22 Desmodont

1. Dentin mit Tubuli

2. Tomes-Körnerschicht

3. Azelluläre Schichten von zellulärem Gemischtfaserzement

4. Zelluläre Schichten von zellulärem Gemischtfaserzement

5. Parodontalspalt mit Blutgefäßen

6. Alveolarknochen

ImageZement

Das Zement ist ein mineralisiertes Bindegewebe, das die gesamte Zahnwurzeloberfläche bedeckt. Es dient der Verankerung der Parodontalfasern am Zahn (Abb. 1-20). Das zelluläre Zement hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Knochen. Der Knochen ist jedoch vaskularisiert, das Zement nicht. Zement wird nach erfolgtem Zahndurchbruch weiter gebildet. Dadurch besitzt das Zement reparative Eigenschaften, was bei einem Zahntrauma und Wurzelresorptionen von Bedeutung sein kann (Abb. 1-21).

Für die Bildung des Zementes sind die Zementoblasten, Zementozyten und Fibroblasten des Desmodonts verantwortlich (Abb. 1-22). Es handelt sich dabei um Zellen des Ektomesenchyms. Die Zementoblasten bilden und sezernieren die Zementmatrix. Zementozyten entstehen aus Zementoblasten, die bei der Zementbildung in das Zement eingeschlossen werden. Fibroblasten, die der Zementschicht anliegen, bilden das azelluläre Fremdfaserzement. Ihr Aufbau gleicht stark demjenigen der Zementoblasten.

Zementarten

Es können vier Zementarten voneinander unterschieden werden:

1. Das azellulär-afibrilläre Zement, das weder Zementozyten noch Fasern enthält. Diese Zementart ist im Bereich des Zahnhalses lokalisiert.

2. Das azelluläre Fremdfaserzement, das mehrheitlich aus den von außen einstrahlenden Sharpey-Fasern besteht (Abb. 1-21). Diese Zementart ist vor allem im koronalen Drittel der Wurzeloberfläche zu finden.

3. Das zelluläre Eigenfaserzement, das Zementozyten in unterschiedlicher Anzahl enthalten kann. Es besitzt Fasern, die parallel zur Wurzeloberfläche verlaufen. Bei Reparaturen von Wurzelresorptionen und Wurzelbrüchen wird zelluläres Eigenfaserzement gebildet (Abb. 1-21).

4. Das zelluläre Gemischtfaserzement, das aus verschiedenen aufeinandergelagerten Schichten von azellulärem Fremdfaser- und zellulärem Eigenfaserzement besteht (Abb. 1-22). In dieser Zementart findet man Zementozyten, von außen einstrahlende Sharpey-Fasern und zementeigene Fasern. Das zelluläre Gemischtfaserzement findet man vorwiegend im mittleren und apikalen Wurzeldrittel. Eine überdurchschnittliche Bildung von zellulärem Gemischtfaserzement im periapikalen und/oder interradikulären Wurzelbereich wird Hyperzementose genannt.

Image

Abb. 1-23 Foramen apicale
Links, Mitte und rechts: Unterschiedliche Ausbildung des Foramen apicale.

ImagePulpa

Die Pulpa entsteht aus der Zahnpapille. Aus den undifferenzierten Mesenchymzellen der Zahnpapille entwickeln sich die Fibroblasten. In der Pulpa können verschiedene Zonen unterschieden werden:

1. Zone der Odontoblasten.

2. Weil-Zone (kernarme Zone). Diese Zone liegt unter der Odontoblastenreihe. Sie ist in der Kronenpulpa ausgeprägter als in der Wurzelpulpa. In der Weil-Zone liegen die Nervenendigungen der sensiblen und vegetativen Nervenfasern sowie Gefäßschlingen des subodontoblastischen Kapillarplexus, die bis an die Odontoblasten heranreichen.

Image

Abb. 1-24 Querschnitt durch einen Seitenkanal

1. Venole

2. Arteriole

3. Nervenfaserbündel

4. Dentintubuli

Image

Abb. 1-25 Dentikel
Links: Molar mit multiplen Dentikeln, welche die Wurzelkanäle fast vollständig verschließen. Rechts: Das histologische Bild zeigt einen adhärenten Dentikel, d. h. einen Dentikel, der mit dem Dentin der Wurzelwand verwachsen ist. Adhärente Dentikel haben häufig eine längliche Form.

3. Bipolare Zone (kernreiche Zone). Diese Zone enthält zahlreiche Fibroblasten und undifferenzierte Mesenchymzellen. Diese Zellen können sich in Odontoblasten umwandeln und abgestorbene Zellen der Odontoblastenreihe ersetzen. Die bipolare Zone ist im apikalen Wurzeldrittel kaum mehr zu finden.

Nach der bipolaren Zone beginnt die zentrale Zone der Kronen- und Wurzelpulpa mit dem Raschkow-Nervenplexus und subodontoblastischen Kapillarplexus. Die Zonen der Kronenpulpa mit Gefäß- und Nervenplexus sowie undifferenzierten Mesenchymzellen dienen vor allem der Abwehr von Infekten und der Reparatur im Bereich der Odontoblasten.

Die Form der Pulpa kann im Kronen- und Wurzelbereich sehr unterschiedlich ausgestaltet sein. Insbesondere die Ausbildung des Foramen apicale ist einer großen Variabilität unterworfen (Abb. 1-23).

Seitenkanäle und Dentikel

Die Pulpa kann durch Seitenkanäle mit dem Desmodont in Verbindung stehen. Durch jeden dieser Seitenkanäle läuft ein Gefäß-Nerven-Bündel (Abb. 1-24).

In der Pulpa findet man oft Dentikel (Pulpasteine). Diese können entweder frei und ohne Verbindung zur Pulpawand (freie Dentikel) oder mit der Pulpawand verwachsen (adhärente Dentikel, Abb. 1-25 rechts) auftreten. Zudem werden echte und unechte Dentikel voneinander unterschieden. Echte Dentikel sind selten und in der Regel im Bereich der Wurzelkanäle zu finden. Häufig sind sie in die Pulpawand eingebettet. Unechte Dentikel sind häufiger und vor allem in der Kronenpulpa lokalisiert. Sie können frei oder an die Pulpawand angewachsen vorkommen. In seltenen Fällen füllen sie die Pulpa oder den Wurzelkanal fast vollständig aus (Abb. 1-25 links). Dies kann die Aufbereitung eines Wurzelkanals erschweren. Dentikel sind im Alter häufiger und treten oft an mehreren Zähnen auf.

Image

Abb. 1-26 Progression und Remission der Karies

Image

Abb. 1-27 Fissurenkaries
Links: Verfärbungen im Fissurenbereich mit intakter Oberfläche. Rechts: Die Schnittfläche zeigt Schmelz- und Dentinkaries.

Image

Abb. 1-28 Erscheinungsbild der Approximalkaries
Von links nach rechts: Kariesfreie Approximalfläche. Approximale Initialläsion (Kreidefleck). Die approximale Schmelzfläche beginnt einzubrechen. Massiver Einbruch der approximalen Zahnoberfläche.

Image

Abb. 1-29 Molar mit Approximal- und Fissurenkaries
Im Bereich der kariösen Läsionen sind histologisch bereits Veränderungen bis in die Pulpa erkennbar. Die Karies führte zur Sklerosierung der Dentintubuli und zur Tertiärdentinbildung in der Pulpa.

ImageKaries

Karies beginnt mit einer lokalen chemischen Demineralisation der Zahnoberfläche, verursacht durch die bakteriellen Stoffwechselaktivitäten, die im Biofilm über der betroffenen Zahnoberfläche stattfinden. Schmelz, Dentin und Zement können demineralisiert und bei weiterem Fortschreiten des kariösen Prozesses zerstört werden. Kariöse Läsionen entstehen dort, wo der Biofilm sich entwickeln kann und über längere Zeit nicht entfernt wird. Prädilektionsstellen für die Kariesentstehung sind Einziehungen, Grübchen und Fissuren der Okklusalflächen (Abb. 1-27), die approximalen Zahnflächen unterhalb der Kontaktpunkte (Abb. 1-28) sowie die Zahnflächen im Bereich des marginalen Gingivasaumes. Diese Stellen sind weitgehend geschützt vor der mechanischen Reinigungswirkung von Zunge, Wangen, abrasiver Nahrung und Zahnbürste. Die bakteriellen Stoffwechselaktivitäten verursachen vor allem bei Zufuhr von niedrigmolekularen Kohlehydraten (Zucker) starke pH-Schwankungen im Biofilm und auf der Zahnoberfläche. Diese Schwankungen führen dann, je nach dem Sättigungsgrad des Biofilms im Verhältnis zur chemischen Zusammensetzung der Zahnoberfläche, zur De- oder Remineralisation. Resultiert aus einem über Wochen und Monate häufig zu tiefen pH-Wert im Biofilm ein Verlust oder eine Umlagerung von Kalzium und Phosphat in der Schmelzoberfläche, dann entsteht ein Kreidefleck. Wird der Biofilm entfernt, kommt der Mineralverlust im Schmelz zum Stillstand. Da der Speichel im Verhältnis zu dem Kreidefleck mit Kalzium, Phosphat und, falls vorhanden, Fluorid übersättigt ist, kommt es zur Remineralisation der Schmelzoberfläche. Wird der Biofilm über längere Zeit nicht entfernt, so schreitet der Mineralverlust bei entsprechender Ernährung fort und führt zum Einbruch der Zahnoberfläche (Abb. 1-26). Ein Kreidefleck mit noch intakter Schmelzoberfläche kann, je nach Ausdehnung, histologisch bereits Veränderungen bis in das Dentin und die Pulpa zeigen (Abb. 1-29). Beim Fortschreiten des kariösen Prozesses kommt es rasch zu weiteren entzündlichen Reaktionen in der Pulpa, ohne dass der Patient Schmerzen haben muss. Die Reaktionen des Pulpa-Dentin-Komplexes auf eine fortschreitende Karies sind nachfolgend beschrieben.

ImagePulpitis

Eine Pulpitis kann durch Bakterien sowie mechanische, thermische und biochemische Reize ausgelöst werden. Die ersten Anzeichen einer Entzündung der Pulpa sind in der Odontoblastenschicht und den Pulparandzonen zu erkennen. Zu den ersten Pulpaveränderungen gehören: Reduktion der Odontoblasten, Zunahme von Entzündungszellen im subodontoblastischen Bereich, Erweiterung und Proliferation der Blutgefäße sowie Ödembildung. Bei einem bakteriellen Angriff kommt es zur Sklerosierung der Dentintubuli, zur Unterbrechung der Dentintubulistrukturen und zur Tertiärdentinbildung (Abb. 1-30). Nähern sich die Bakterien dem Pulparand, wird die Entzündung akut. Es entsteht ein Pulpaabszess mit Eiter und Granulationsgewebe. Der Pulpaabszess besteht im Anfangsstadium aus einer zentralen Nekrose mit Eiter und einem Wall von neutrophilen Granulozyten, umgeben von stark entzündetem Pulpagewebe (Abb. 1-31). Bei älteren Abszessen wird die zentrale Nekrose von einem Makrophagenwall mit vielen Lymphozyten und Plasmazellen begrenzt. Alte Abszesse können resorbiert und durch Bindegewebe ersetzt werden. Kommt es durch den kariösen Prozess zur Eröffnung der Pulpakammer, fließt das eitrige Exsudat ab. Erfolgte bis zu diesem Zeitpunkt noch keine zahnärztliche Behandlung, kann bei genügender Blutversorgung und Proliferation des pulpalen Granulationsgewebes in Richtung Mundhöhle ein Pulpapolyp entstehen (Abb. 1-32).

Image

Abb. 1-30 Reaktion des Pulpa-Dentin-Komplexes auf einen kariösen Angriff
Die Wurzelkaries führte zur Sklerosierung der Dentintubuli und Tertiärdentinbildung in der Pulpa. Auch die freien Dentikel sind mit großer Wahrscheinlichkeit eine Reaktion auf den kariösen Prozess im Wurzelbereich.

Image

Abb. 1-31 Pulpaabszess
Gut erkennbar ist die zentrale Nekrose des Pulpaabszesses, die von einem Wall aus neutrophilen Granulozyten umgeben ist. Die kariöse Läsion führte im Pulpabereich zur Zerstörung der Odontoblastenschicht und Tertiärdentinbildung.

Image

Abb. 1-32 Pulpapolyp
Nach der Eröffnung der Pulpakammer durch den kariösen Prozess führte starkes Wachstum des pulpalen Granulationsgewebes in Richtung Mundhöhle zu einem Pulpapolypen. Die Oberfläche des Pulpapolypen kann von Epithelzellen besiedelt und epithelialisiert werden.

ImageLiteratur

Dieses Kapitel basiert auf den Büchern „Orale Strukturbiologie“ (Stuttgart: Thieme, 2000) und „Pathobiologie oraler Strukturen” (Basel: Karger, 1997) von Hubert E. Schroeder sowie anderen wissenschaftlichen Publikationen.

II Aspekte der Prävention

Image

2 Motivation und Handlung – zwei Aspekte häuslicher Mundhygiene

Benjamin Schüz und Rainer Seemann

Eigentlich sollte es doch genügen, Patienten darauf hinzuweisen, dass ihre Zahngesundheit maßgeblich von ihrem eigenen Verhalten abhängt, um sie dazu zu bringen, unsere Empfehlungen zur Mundhygiene zu befolgen. Eigentlich …

Zum „Verhalten“ zählen in diesem Zusammenhang neben der klassischen Mundhygiene mit Zahnbürste und Zahnpasta auch die Interdentalraumreinigung, das regelmäßige Anwenden von Fluoridgel, das Reinigen von Prothesen, das Einhalten von Recall-Terminen und vieles mehr.

Leider werden diese Empfehlungen in der Realität bei Weitem nicht so konsequent umgesetzt, wie wir uns das wünschen würden. So zeigen Daten zum Mundhygieneverhalten in der Schweiz und in Deutschland, dass zwar die meisten Menschen sich zweimal pro Tag die Zähne putzen, dass aber nur etwas 2 % eine Interdentalraumreinigung so betreiben, wie empfohlen wird.8 Warum ist das so und wie kann der Zahnarzt seine Patienten dazu bringen, angeratene Verhaltensweisen zu befolgen? Antworten auf diese Fragen kann die Psychologie liefern.

ImageMotivation und Handlung – zwei Aspekte regelmäßiger Mundhygiene

Man geht davon aus, dass die Änderung von Verhalten in zwei Phasen abläuft: einer Phase, in der sich Menschen über das Für und Wider von Verhaltensänderungen Gedanken machen und sich eventuell zu einer Verhaltensänderung entschließen und, daran anschließend, einer zweiten Phase, in der sie versuchen, diesen Entschluss auch in die Tat umzusetzen.

ImageMotivation: Der Vorsatz zur Handlung

Die Psychologie benutzt die Begriffe „Motivation“ und „Vorsatz“ weitestgehend austauschbar – jemand, der zu einem Verhalten motiviert ist, zeichnet sich also dadurch aus, dass er Vorsätze für dieses Verhalten gefasst hat.

Ob und in welchem Ausmaß solche Vorsätze gefasst werden, hängt von verschiedenen Einflussgrößen, im Wesentlichen aber von individuellen Überzeugungen ab:

Imagevon der Überzeugung, dass das vorgenommene Verhalten generell sinnvoll ist,

Imagedavon, dass man sich kompetent fühlt, das Verhalten durchzuführen, und

Imagedavon, dass das Verhalten für den Betroffenen selbst relevant ist.

Zum Beispiel wird jemand, der zu der Überzeugung gelangt ist, dass Interdentalhygiene sich sehr gut dazu eignet, Plaque zu entfernen und so einer Karies vorzubeugen, der zudem weiß, wie er die entsprechenden Hilfsmittel (Zahnseide, Interdentalbürsten) zu benutzen hat, und der darüber hinaus eingesehen hat, dass er persönlich von Karies betroffen sein könnte, eher einen solchen Vorsatz aufbauen als jemand, der von diesen Punkten noch nicht so überzeugt

Dass solche persönlichen Überzeugungen ausschlaggebend für Vorsätze zu Verhaltensänderungen sind, zeigt aber auch, dass es entscheidend ist, wie gut die Informationen, die den Überzeugungen zugrunde liegen, vermittelt werden. Dies stellt das zahnärztliche Team vor eine große Herausforderung. Studien aus dem allgemeinmedizinischen, aber auch aus dem kieferorthopädischen Bereich zeigen, dass sich Patienten selbst unmittelbar nach dem ärztlichen Gespräch nur noch an etwa 50 % der Informationen erinnern können. Dies unterstreicht, wie wichtig es ist, Informationen so aufzubereiten und zu vermitteln, dass sie bei den Patienten auch ankommen.

Ein interessanter Ansatz aus der Psychologie geht davon aus, dass die Entscheidung für oder gegen ein gesundheitsrelevantes Verhalten, wie z. B. regelmäßige Mundhygiene, Überzeugungen aus dem Allgemeinwissen (dem „gesunden Menschenverstand“) folgt, die in gesundheitsbezogene Konzepte implementiert werden. Zum Verständnis von Karies und Parodontitis wären demnach zu den folgenden fünf Aspekten Informationen notwendig, um einen Vorsatz zur Durchführung einer täglichen Mundhygiene zu entwickeln:2

1. Symptome der Erkrankung verstehen:

Fortgeschrittene Karies begegnet dem Patienten als Zahnschmerz, Parodontitis als Zahnfleischbluten.

2. Ursachen der Erkrankungen verstehen:

Karies und Parodontitis werden durch entsprechende Mikroorganismen in der Plaque (Biofilm) und ihre Stoffwechselprodukte verursacht. Wie lange Plaque auf den Zähnen bleibt, ist vom Verhalten der Patienten abhängig.

3. Verlauf der Erkrankung einschätzen:

Karies und Parodontitis sind eher chronisch verlaufende Erkrankungen, aber der Verlauf der Erkrankungen kann durch die Mitwirkung der Patienten verändert werden.

4. Konsequenzen der Erkrankung verstehen:

Sowohl bei Karies als auch bei Parodontitis kann es zu Einbußen in der Lebensqualität kommen – sowohl gesundheitlich als auch sozial.

5. Kontrollierbarkeit der Erkrankung erkennen:

Karies und Parodontitis lassen sich durch häusliche und professionelle Mundhygienemaßnahmen günstig beeinflussen, und zumindest die häuslichen Mundhygienemaßnahmen können von den Patienten ohne große Mühe durchgeführt werden.

Werden die aus diesen fünf Bereichen stammenden Informationen systematisch und für den Patienten gut verständlich aufbereitet und zur Verfügung gestellt, können selbst Patienten mit chronischen Parodontalerkrankungen dazu gebracht werden, bessere Interdentalhygiene durchzuführen und ihre Mundgesundheit zu verbessern.2

Die Herausforderung besteht darin, Informationen so aufzubereiten und zu vermitteln, dass die Patienten verstehen, auf was es ankommt. Dabei ist darauf zu achten, dass die Informationen, ob in schriftlicher oder mündlicher Form übermittelt, so grundlegend und unmissverständlich wie möglich erklärt werden. Entscheidend ist hierbei die Vermeidung unnötiger Fachsprache (z. B. „Zahnzwischenräume“ statt „Interdentalräume“) und vager Begriffe (z. B. „täglich morgens nach dem Zähneputzen“ statt „regelmäßig“). Je konkreter solche Anweisungen sind, desto besser können sich die Patienten auch daran erinnern. Zum Beispiel könnte ein Patientengespräch folgendermaßen eingeleitet werden:

„Liebe Frau XY

Lieber Herr XY

Sie sind heute wegen Ihres stark blutenden Zahnfleisches zu mir gekommen, was Sie beunruhigt. Ich muss Ihnen leider sagen, dass dieses Bluten ein Zeichen einer Parodontitis, also des Abbaus des Zahnhalteapparates sein kann. Das Bluten ist eine ganz normale entzündliche Reaktion Ihres Körpers auf Giftstoffe, die von Bakterien aus Zahnbelägen ausgeschieden werden. Zu einem nachhaltigen Abbau Ihres Zahnhalteapparates muss es aber nicht kommen, denn glücklicherweise können Sie etwas dagegen tun. Sie müssen lediglich die Bakterienbeläge durch Zähneputzen und vor allem durch die Reinigung der Zahnzwischenräume entfernen. Sie sollten daher zusätzlich zum Zähneputzen jeden Abend Ihre Zahnzwischenräume mit Zahnseide reinigen. Ich zeige Ihnen mal, wie das genau funktioniert: Sie nehmen ungefähr einen halben Meter Zahnseide …”

ImageAusführen von Vorsätzen

Ein Vorsatz bildet zwar die Grundlage für eine Verhaltensänderung, doch zeigen aktuelle psychologische Forschungsergebnisse, dass Motivation (oder ein Vorsatz) allein leider nicht ausreicht, Verhalten wirklich dauerhaft zu ändern.7 Gut informiert einen Vorsatz zu fassen, ist das eine, Verhalten dann auch tatsächlich zu ändern, leider etwas anderes. Das berühmteste Beispiel in diesem Zusammenhang sind sicher die schon sprichwörtlichen „Guten Vorsätze“ zum Jahresbeginn, von denen die meisten entweder gar nicht erst umgesetzt oder aber nicht sehr lange durchgehalten werden. Aus psychologischer Sicht ist diese Diskrepanz zwischen Vorsatz und Ausführung durchaus erklärbar, weil beide Prozesse unterschiedlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen und unterschiedliche Einflussgrößen besitzen.

Jemand, der bereits den Vorsatz zur Interdentalhygiene gefasst hat, braucht keine zusätzlichen Informationen über die Vor- und Nachteile dieser Maßnahme, sondern Informationen, die beim Durchführen helfen. Konkret heißt das: Der Patient ist bereits zu der Einsicht gelangt, dass eine tägliche Reinigung der Interdentalräume mehr Vor- als Nachteile für ihn hat. Er ist ebenfalls bereits davon überzeugt, dass diese Form der Zahnreinigung für ihn persönlich praktisch umsetzbar ist – er traut sich die technische Umsetzung zu.

Der Patient befindet sich somit nicht mehr in der deliberativen Phase (vor dem Vorsatz), sondern bereits in der Volitionsphase, in der dieser Vorsatz in die Tat umgesetzt werden muss. Hier geht es vor allem um Informationen, Strategien und Techniken, die bei der Durchführung helfen. Der Psychologe Heinz Heckhausen hat diesen Punkt mit dem Überschreiten des Rubikon verglichen, weil sich mit dem Fassen eines Vorsatzes vieles ändert.1 Nach der Fassung eines Vorsatzes werden von der entsprechenden Person vor allem Informationen gesucht und verarbeitet, die dem Vorsatz entsprechen und auf seine Umsetzung abzielen. Während in der deliberativen Phase also im Wesentlichen ein Informationsdefizit besteht, besteht in der Volitionsphase im Wesentlichen ein Durchführungsdefizit. Bei den meisten unserer Patienten dürfte weniger ein Informationsdefizit vorliegen, das einen Mangel an Vorsatz nach sich zöge, als vielmehr ein Durchführungsdefizit, das die Umsetzung der Vorsätze zur Mundhygiene verhindert.

ImageDurchführungsdefizite überwinden

Solche Durchführungsdefizite können eine ganze Reihe von Ursachen haben: Gute Gelegenheiten für Verhalten werden verpasst; Verhalten wird schlichtweg vergessen; Verhalten wird aber auch verdrängt, besonders dann, wenn man müde oder erschöpft ist. In den letzten Jahren hat sich die psychologische Forschung mit Maßnahmen beschäftigt, die der Umsetzung von Vorsätzen dienen. Nach diesen Untersuchungen scheinen im Bezug auf die Mundhygiene dabei vor allem strukturierte Pläne und eine systematische Selbstbeobachtung hilfreich zu sein. Man handelt also eher in Übereinstimmung mit seinen guten Vorsätzen, wenn man die Umsetzung gut plant und sich dabei beobachtet, ob und wie man den Vorsätzen nachkommt. Beides kann zudem mit relativ geringem Aufwand auch in die Praxis umgesetzt werden.

ImagePlanen

Ein guter Plan besteht in einer ganz präzisen Beschreibung einer Situation und der Tätigkeit in dieser Situation. Gute Pläne folgen außerdem einem Wann-wo-wie-Schema: „Ich werde jeden Abend, vor dem Zubettgehen (wann?) in meinem Badezimmer, vor dem Spiegel (wo?) mit Zahnseide meine Zahnzwischenräume so reinigen, wie es mir in der Zahnarztpraxis gezeigt wurde (wie?).“

Durch diese Wann-wo-wie-Struktur stellen sich die Personen ein lebhaftes Bild von sich selbst in einer konkreten Situation mit einer konkreten Handlung vor. Das führt zu einer kognitiven Verknüpfung, die dann in der beschriebenen Situation (abends vor dem Badezimmerspiegel) dazu führt, dass die vorgenommene Handlung mit größerer Wahrscheinlichkeit durchgeführt wird. So zeigte eine Studie mit Studenten in Schottland, dass mehr Zahnseide benutzt wird, wenn ein solcher konkreter Plan vorliegt,6 und eine Studie aus Deutschland, dass diese Pläne nicht nur zur besseren Interdentalraumreinigung führen, sondern besonders gut bei Personen wirken, die bereits entsprechende Vorsätze gefasst haben.3,5 Solche Pläne werden am besten zusammen mit dem Patienten erstellt, indem der Patient in einem ihm ausgehändigten Vordruck konkret einträgt, wann, wo und wie er das geplante Verhalten umzusetzen gedenkt (Abb. 2-1).

Ein Plan für Ihre Zähne

Regelmäßige Zahnzwischenraumreinigung klappt am besten, wenn Sie genau planen, wann, wo und wie Sie das machen werden. Tragen Sie in den folgenden Zeilen ein, wann, wo und wie Sie Ihre Zahnzwischenräume reinigen werden. Je präziser, konkreter und persönlicher Sie Ihren Plan formulieren, desto mehr wird er Ihnen helfen! Stellen Sie sich selbst diese Situation möglichst bildlich vor.

Wann?
Wann reinigen Sie Ihre Zahnzwischenräume?
Wo?
Wo reinigen Sie Ihre Zahnzwischenräume?
Wie?
Wie reinigen Sie Ihre Zahnzwischenräume?
Abends vor dem Zähneputzen. Im Badezimmer vor dem Spiegel. Ich benutze 50 cm Zahnseide zwischen allen Zähnen.
     

Abb. 2-1 Beispiel für ein Planungsformular.

ImageSelbstbeobachtung

Systematische Selbstbeobachtung kann auch dabei helfen, Vorsätze tatsächlich in Verhalten umzusetzen. Systematische Selbstbeobachtung heißt, dass die Patienten jedes Mal dokumentieren, was sie durchgeführt haben. Geeignet hierfür sind alle möglichen Arten von Kalendern. Besonders geeignet sind Kalender, die am Ort des Geschehens, also z. B. am Badezimmerspiegel, aufgehängt werden, da sie gleichzeitig als Erinnerungshilfe dienen. Ein Monatskalender, wie ihn die Abbildung 2-2 zeigt, lässt sich mit wenig Aufwand herstellen und kann zusammen mit einer entsprechenden Anleitung in der Praxis verteilt werden. Wie bei der Planung konnte auch für die Selbstbeobachtung mit Kalendern gezeigt werden, dass diese besonders gut bei Personen funktionieren, die bereits Vorsätze entwickelt haben.4

Ihr Interdentalkalender

Markieren Sie auf diesem Kalender jeden Tag, an dem Sie Zahnseide oder Interdentalbürstchen benutzt haben, mit einem Kreuz (X) und bringen Sie den Kalender zu Ihrem nächsten Termin mit!

Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag Samstag Sonntag
             
             
             
             

Abb. 2-2 Beispiel für einen Interdentalkalender.

ImageFazit und praktische Konsequenz für das zahnärztliche Team

Um die Motivation zu regelmäßiger Mundhygiene zu wecken, sind patientengerecht aufbereitete, allgemein verständliche Informationen notwendig. Das heißt, dass bei manchen Patienten mehr, bei anderen weniger Informationen wichtig sind und dass einige Patienten eine geringere, andere eine höhere Komplexität der Informationen benötigen. Diese Informationen sollten vor allem darauf abzielen, Patienten davon zu überzeugen, dass Mundhygiene generell sinnvoll ist, dass sie selbst davon profitieren und dass Mundhygiene für sie persönlich praktisch umsetzbar ist. Bei der Ausgestaltung kann man sich an den fünf Bereichen Symptome, Ursachen, Verlauf, Konsequenzen und Kontrollierbarkeit der Erkrankung orientieren.

Information und Aufklärung sind aber vor allem bei Patienten wirksam, die noch keine Vorsätze zur Verhaltensänderung gefasst haben. Ist der Vorsatz bereits gefasst, sind sie weitestgehend nutzlos, streng genommen sogar Zeitverschwendung. Der Patient hört, was er längst weiß und der Behandler ist möglicherweise frustriert darüber, dass der Patient trotz bester Informationen seine Zähne nicht wie gefordert reinigt.

Motivierte Patienten benötigen Hilfestellungen, um ein mögliches Durchführungsdefizit zu überwinden. Dies geschieht am besten durch die konkrete Planung des gewünschten Verhaltens (wann? wo? wie?) und durch eine geeignete Selbstbeobachtung (z. B. mithilfe eines im Badezimmer angebrachten Monatsplans).

Die Kunst des zahnärztlichen Teams besteht nun darin, ein Informations-(Motivations-) Defizit vom Durchführungsdefizit abzugrenzen und entsprechend zu kompensieren.

ImageLiteratur

1.Heckhausen H. Motivation und Handeln. Berlin, Heidelberg, New York: Springer 1980.

2.Philippot P, Lenoir N, Hoore W, Bercy P. Improving patients‘ compliance with the treatment of periodontitis: a controlled study of behavioural intervention. J Clin Periodontol 2005;32:653–658.

3.Schüz B, Sniehotta FF, Wiedemann A, Seemann R. Adherence to a daily flossing regimen in university students: effects of planning when, where, how and what to do in the face of barriers. J Clin Periodontol 2006;33:612–619.

4.Schüz B, Sniehotta FF, Schwarzer R. Stage-specific effects of an action control intervention on dental flossing. Health Educ Res 2007;22:332–341.

5.Schüz B, Wiedemann A U, Mallach N, Scholz U. Effects of a brief behavioural intervention for dental flossing: RCT on planning when, where and how. J Clin Periodontol 2009;36: 498–505.

6.Sniehotta FF, Soares VA, Dombrowski SU. Randomised controlled trial of a one-minute intervention changing oral self-care behaviour. J Dent Res 2007;86:641–645.

7.Sniehotta FF. Towards a theory of intentional behaviour change: Plans, planning, and self-regulation. Br J Health Psychol 2009;14:261–273.

8.Staehle HJ. Das aktive Mundgesundheitsverhalten in Deutschland und in der Schweiz [Active oral health behavior in Germany and Switzerland]. Schweiz Monatsschr Zahnmed 2004;114:1236–1251.

3 Kariostatische Wirkungsmechanismen der Fluoride

Adrian Lussi

ImageEinführung

Verschiedene Autoren konnten zeigen, dass der Kariesrückgang in den Industrieländern während der letzten Jahrzehnte auf der Anwendung von Fluoriden beruht, wobei hauptsächlich die lokale Fluoridapplikation und hier primär die Verwendung von fluoridhaltigen Zahnpasten von Bedeutung ist. Diese Untersuchungen zeigten, dass die lokale Fluoridierung weitaus wichtiger ist als die systemische Fluoridierung. Neben der lokalen Fluoridierung sind andere schützende und fördernde Faktoren in der Kariesentwicklung wichtig (Abb. 3-1). Der Wirkungsmechanismus dieser lokalen Fluoridierung wurde von Ogaard et al.12 an Haifischzähnen untersucht, die zwar aus fast reinem Fluorapatit bestehen, aber trotzdem nur eine begrenzte Kariesresistenz aufwiesen. Sobald jedoch geringe Mengen an gelöstem Fluorid in der den Zahn umgebenden Lösung vorlagen, wurde die Demineralisation signifikant gehemmt. Aus dieser und anderen Studien resultierte, dass das gebundene Fluorid in Form von Fluoridapatit nur ein geringes kariesprotektives Potenzial besitzt, dass die gelösten Fluoride in der Umgebung der Kristalle dagegen sowohl bei der Förderung der Remineralisation als auch bei der Hemmung der Demineralisation wirksam sind.

Image

Abb. 3-1 Die Karieswaage
Schützende und fördernde Faktoren, die die Kariesbalance zwischen De- und Remineralisation beeinflussen (nach Featherstone5).

ImageChemische Eigenschaften von Schmelz und Dentin

Der Zahnschmelz besteht zu 86 Vol.-% aus Mineral, zu 12 Vol.-% aus Wasser und zu 2 Vol.-% aus organischer Matrix bzw. Proteinen;16 das Dentin besteht aus 45 Vol.-% Mineral, 30 Vol.-% organischer Matrix und 25 Vol.-% Wasser. Den Hauptanteil der anorganischen, kristallinen Phase des Zahnschmelzes bilden die Kalziumphosphate, die in verschiedenen Formen vorliegen können. Die energieärmste und stabilste Form von Kalziumphosphat sind die Hydroxylapatite (HAP), die sich durch eine vergleichsweise große Härte und geringe Löslichkeit auszeichnen.

Abb. 3-2