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Young Agents

In gefährlicher Mission

Band 2

eISBN 978-3-96129-157-1

Edel Kids Books

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

Copyright © Edel Germany GmbH,

Neumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Text: Andreas Schlüter

Lektorat: Nina Schnackenbeck

Coverillustration: Max Meinzold

Covergestaltung: Antje Warnecke, www.nordendesign.de

unter Verwendung von Illustration und Gestaltung von

© Max Meinzold

ePub-Konvertierung: Datagrafix GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

INHALT

Probleme zu Hause

Unglaublicher Zufall

Zurück zu Hause

Die Jagd geht weiter

Alte Handys, neue Spur

Ein gefährlicher Zwischenfall

Unverhoffte Hilfe

Gefährliche Nacht – Erster Teil

Gefährliche Nacht – Zweiter Teil

Ein verwegener Plan

Letzte Vorbereitungen

Der Angriff

PROBLEME ZU HAUSE

Wo bin ich? Das Zimmer, in dem ich aufwache, ist mir fremd. Sofort läuten in mir sämtliche antrainierten Alarmglocken. Automatisch scanne ich den Raum mit meinen Augen nach Fluchtmöglichkeiten ab (das Fenster ist nicht zu öffnen, ich befinde mich in einer oberen Etage, also kann ich mich höchstens hinter der Tür verstecken, dann raus), ebenso nach Gegenständen, die ich als Waffen zu meiner Verteidigung verwenden könnte (Glaswasserflasche auf dem Schreibtisch, langer Schuhanzieher aus Metall am Garderobenhaken neben dem Schrank).

Erst nach diesem Check, der innerhalb weniger Sekunden abläuft, besinne ich mich.

Ich habe lange und tief geschlafen. Das habe ich schon ewig nicht mehr. Deshalb hat es ein wenig gedauert, ehe ich mich erinnere: Ich befinde mich in einem Hotelzimmer in Paris, außerhalb akuter Gefahr. Zimmerkategorie: vier Sterne. Nicht übel. Allemal besser als die Gästezimmer des Geheimdienstes oder die Jugendherbergen, die ich noch blöder finde, in denen wir sonst untergebracht werden – in Berlin, London oder Paris. Projekt »Milestone«. Ein streng geheimes Programm des europäischen Geheimdienstes zur Ausbildung speziell ausgesuchter Kinder zu Geheimagenten. Herausgekommen sind eine Handvoll YOUNG AGENTS, keiner älter als 15, verteilt über ganz Europa, die je nach Anlass und Aufgabe in Teams zusammengestellt und in den Einsatz geschickt werden. In unserem Fall sind das Naomi aus Paris, Charles aus London und ich, Billy (Agentenname Liam), aus Hamburg.

Gestern Nacht haben wir unseren Einsatz abgeschlossen mit einem – wie ich finde – recht ordentlichen Teilerfolg: Wir haben ein großes, internationales, illegales und gefährliches Waffengeschäft verhindert. Allerdings sind uns die Drahtzieher durch die Lappen gegangen: der Boss und sein Komplize, Shionas Vater Thorsten Maffei.

Ach ja, Shiona! Ein aufgeregtes, aufgetakeltes Girlie, das mit ihrer besten Freundin Kati eine Popband gegründet hat, zu der wir – also Naomi, Charles und ich – hinzugestoßen sind. Natürlich ahnt sie nicht, weshalb wir wirklich bei ihr mitmachen: um als Agenten an ihren Vater heranzukommen, einen der übelsten Schwerverbrecher Europas, und um möglichst gleich den Chef aller Gangsterbosse ebenfalls zu überführen. Den Boss, dessen Namen noch immer keiner kennt.

Ich schaue auf die Uhr. Erst acht! Und ich bin ausgeschlafen? Auch gut. Zum Glück bin ich gestern sehr früh ins Bett gegangen. So habe ich wenigstens genügend Zeit, mich frisch zu machen, gemütlich zu frühstücken und dann … Nein, leider noch nicht nach Hause zu fliegen. Unser Auftrag ist nämlich noch nicht abgeschlossen. Erst müssen wir die beiden Gangster schnappen. Statt Freizeit und anschließendem Flug nach Hause, haben wir gleich noch ein Treffen mit Shiona vor uns. Für ein angebliches Zeitungsinterview, das in Wahrheit gar keines ist.

Um Shiona hierher ins Hotel zu locken, hatten wir ihr gestern die Notlüge aufgetischt, dass uns angeblich heute Morgen der Redakteur einer wichtigen Musikzeitschrift treffen und interviewen wolle. Denn um zu uns kommen und das Interview wahrnehmen zu können, musste sie ihren Vater um Hilfe bitten: Er sollte ein Zimmer für »die Band«, also uns, buchen und veranlassen, dass Shiona von der Yacht abgeholt und zum Hotel chauffiert wurde. Genug familiäre Aufgaben, um Shionas Vater so lange abzulenken und zu beschäftigen, bis die Polizei vor Ort sein konnte, um das Waffenlager zu stürmen und die Drahtzieher festzunehmen.

Unser Plan ging auf. Zunächst. Doch als die Polizei zur Razzia anrückte, waren Shionas Vater und der Boss plötzlich auf wundersame Weise verschwunden. Minuten zuvor hatten sie sich noch auf dem Fabrikgelände aufgehalten. Ich habe sie selbst gesehen. Dann aus den Augen verloren. Und weg waren sie! Total irre!

Immerhin hatte Thorsten Maffei seiner Tochter den Gefallen getan, das Hotelzimmer für Shiona und uns gebucht und dafür gesorgt, dass sie ins Hotel gefahren wurde.

Und genau darum bin ich also in einem Vier-Sterne-Hotel aufgewacht, das einer der größten Gangster Europas für mich gebucht hat, während er mir gleichzeitig entwischt ist. Verrückt!

Okay, da sind wir also. Shiona sitzt vermutlich schon übernervös unten im Foyer und wartet auf einen Redakteur, den es in Wahrheit gar nicht gibt. Die Pariser Geheimdienstzentrale wird jemanden schicken, der sich als Redakteur ausgibt und uns »interviewen« wird.

In Wirklichkeit aber geht es uns einzig darum, über Shiona herauszubekommen, wohin ihr Vater abgehauen ist und wo er sich gerade aufhält.

Dieses »Interview« ist um zehn Uhr, eine Stunde früher treffen wir uns mit Shiona. Also raus aus dem gemütlichen King-Size-Bett, ab ins Bad. Ich will schließlich noch viersternefrühstücken.

Noch auf dem Weg zum Klo piept mein Smartphone. Soll ich nachsehen? Nein, erst mal pinkeln. Dann Zähne putzen, dann duschen, dann … Ich sehe nach.

Und bereue es sofort. Eine Nachricht meiner Eltern:

Billy, wo steckst du?
Wir haben ein Problem und brauchen deine Hilfe.
Dringend.
Melde dich.

Oh nein! Was ist denn bei denen schon wieder los?

Meine Eltern wissen zwar, dass ich YOUNG AGENT bin. Aber nicht das kleinste Detail über meine Einsätze. Deshalb rufen sie auch nie an, sondern melden sich – wenn überhaupt – immer nur per verschlüsselter Textnachricht.

Bevor ich antworte und mir erklären lasse, was los ist, mache ich mir lieber erst mal selbst ein Bild. Meine Eltern neigen nämlich dazu, einerseits maßlos zu übertreiben, andererseits stets das Wesentliche wegzulassen. Stattdessen lassen sie sich stundenlang über belanglose Kleinigkeiten aus.

Als YOUNG AGENT habe ich natürlich auch unsere eigene Wohnung restlos verkabelt. Genau für Fälle wie diesen, wenn zu Hause irgendetwas Blödes, Unvorhergesehenes passiert.

Ich schaue mir per Smartphone also die Webcamübertragung aus unserer Wohnung an: Im Wohnzimmer sitzen meine Eltern. Vor ihnen steht ein fremder Mann mit einer Aktentasche unter dem Arm. In den Händen hält er einen Stift und ein Klemmbrett und macht sich Notizen.

Wer ist das? Was will der?

Das ist übrigens der Grund, weshalb meine Eltern so gut wie nichts über meine Agententätigkeit wissen. Die Gefahr wäre zu groß, dass sie – auch unwissentlich – irgendwelche Geheiminformationen ausplappern. Meine Eltern, das muss ich eingestehen, sind zwar äußerst lieb und herzlich, aber leider nicht besonders klug.

Ihr Hilferuf ist ganz aktuell. Das Problem steht noch in der Wohnung. Auch das ist typisch für sie. Sie erkennen meist erst, dass sie in Schwierigkeiten stecken, wenn es längst zu spät ist.

Ich zoome ran und sehe, wie der fremde Mann etwas aus seiner Aktentasche zuppelt. Dann geht er zum 75-Zoll-Flatscreen-Fernseher meiner Eltern und klebt etwas daran. Was ist denn mit dem los? Der kann doch nicht einfach einen Sticker auf den Fernseher meiner Eltern pappen!

Ich zoome noch weiter an den Sticker ran – und da wird mir sonnenklar, wer der Typ ist: ein Gerichtsvollzieher. Und er ist gerade dabei, Dinge meiner Eltern zu pfänden!

Oh Scheiße! Die Mietschulden! Die hatte ich ganz vergessen! Der Geheimdienst bezahlt unsere Wohnungsmiete, indem er meinen Eltern das Geld überweist. Über eine Tarnadresse, selbstverständlich: »Onkel Thomas aus Washington, USA«. Meine Eltern haben das leider irgendwie missverstanden beziehungsweise ganz wörtlich genommen (obwohl es gar keinen Onkel in den USA gibt!) und das Geld anderweitig ausgegeben. Seit drei Jahren! So lange sind sie nun im Mietrückstand. Vor Kurzem hab ich gerade noch verhindern können, dass wir aus der Wohnung fliegen. Aber bezahlt werden muss die Miete natürlich trotzdem. Ich wollte mich drum kümmern – und hab’s vergessen. Mist! Mist! Mist!

»Hey! Was ist? Bist du soweit?« Naomis Stimme dringt vom Hotelflur durch die Tür ins Zimmer. Sie klopft gleichzeitig an die Tür.

Nur in Unterhose und T-Shirt blinzle ich durch den Türspalt und sage zerknirscht: »Mir geht’s irgendwie nicht so gut. Könnt ihr das Interview bitte ohne mich machen?«

»Was?«, fragte Naomi erstaunt. »Wieso? Was ist mit dir los?«

Ich will gerade loslegen, ihr etwas vorzuflunkern von wegen Magen verdorben oder so. Aber obwohl ich als ausgebildeter Agent hervorragend lügen und täuschen kann und ich wirklich gut darin bin, mir aus dem Stehgreif irgendwelche Geschichten auszudenken, weiß ich genau: Naomi kann ich nichts vormachen. Noch von der Agentenakademie her kennen wir uns zu gut, als dass sie nicht sofort bemerken würde, dass ich sie belüge.

»Also schön«, gebe ich gleich wieder auf. »Ich kann nicht. Ich muss etwas erledigen.«

Naomi kräuselt die Stirn. »Spinnst du? Wir müssen …«

Sie bricht ab, schaut sich zu allen Seiten um und fährt im Flüsterton fort: »Du weißt genau, worum es geht.«

»Na klar weiß ich das!« Weit können Shionas Vater und der Boss nicht sein. Wir müssen dranbleiben. Trotzdem: Ich kann nicht. Die Zentrale darf niemals etwas von den Mietschulden erfahren, aber Naomi kann ich es sagen. Ich halte ihr mein Smartphone vor die Nase.

»Wer ist das?«, fragt sie.

»Gerichtsvollzieher. Bei uns zu Hause! Ich muss das regeln. Sofort!«

»Merde!«, flucht Naomi.

Ich nicke. Da hat sie so was von recht.

Naomi überlegt einen kurzen Moment, dann flüstert sie mir zu: »Aber krankmelden können wir dich nicht. Dann schickt die Zentrale sofort einen Arzt. Was hast du denn vor? Wo willst du hin?«

Ich schüttle den Kopf. »Das kann ich dir wirklich nicht sagen.«

»Okay!« Naomi zeigt Verständnis. »Dann sage ich, du verfolgst eine andere heiße Spur. Mehr müssen die erst mal nicht wissen.«

»Alles klar«, antworte ich. »Danke! Und was erzählst du Shiona?«

»Der erzähle ich, du bist am Kotzen. Fischvergiftung oder so.«

»Gut. Noch mal danke!«

Ich schließe wieder die Tür. Und muss immer noch pinkeln. Die Blase drückt. Aber zuvor tippe ich noch ein paar Tasten auf meinem Smartphone.

Als Erstes aktiviere ich mit einem speziellen Code die Geheimdienstfunktionen auf meinem Gerät. Dann öffne ich die Karte, auf der alle von mir versteckten GPS-Chips angezeigt werden. Der, den ich suche, blinkt grün. Volltreffer! Er ist noch – oder wieder? – in der Nähe. Es ist der Chip im Geldkoffer. Der Koffer, mit dem Shionas Vater den Transport der illegalen Waffen von Hamburg nach Paris per Schiff bezahlt hat. Genau diese Waffen haben wir gefunden und beschlagnahmt. Genauso wie der Boss und Shionas Vater war auch der Geldkoffer plötzlich von der Bildfläche verschwunden. Jetzt blinkt er also wieder. Wahrscheinlich war er in einem Safe untergebracht, der den GPS-Sender blockierte. Wird er gerade weitertransportiert, oder nimmt jemand das Geld sogar an sich? Eine Million Euro!

Ich muss mich beeilen, wenn ich davon etwas abbekommen will. Etwas mehr als vierzigtausend Euro brauche ich. Das wird im ersten Moment gar nicht auffallen. Ich hätte mir das Geld nehmen sollen, als ich den Sender im Koffer versteckt habe. Aber ich bin eben kein Dieb.

Das hier ist jedoch ein Notfall. Ich sehe keine Chance, die Mietschulden meiner Eltern anderweitig so schnell aufzutreiben. Außerdem wurde das Geld illegal beschafft, da schadet es doch nicht, die Gangster ein wenig um ihre Beute zu erleichtern. Was soll’s also? Ich schnapp mir das Geld. Nur die Zentrale darf davon niemals erfahren.

Wieder ein Blick auf die Karte: Wer immer den Koffer gerade hat, ich weiß, wo er sich in diesem Moment befindet. Endlich kann ich ins Bad und pinkeln.

Das Frühstück, auf das ich mich doch so gefreut hatte, muss ich sausen lassen. So ein Mist! Ich liebe es, im Hotel zu frühstücken. Leider habe ich nur selten Gelegenheit dazu, denn anders als erwachsene Agenten kann man uns YOUNG AGENTS nicht so einfach ohne Eltern oder Begleitung anderer Erziehungsberechtigter in einem Spitzenhotel unterbringen. Das würde sofort unangenehme Fragen aufwerfen. Da wohne ich endlich mal in einem guten Hotel, und schon wird es nichts mit meinem »reichhaltigen Frühstück«, wie ein Werbeaufkleber im Fahrstuhl verspricht. Rührei, Crêpes, Cornflakes, frische Brötchen, Nuss-Nougat-Creme zum Abwinken … Ich darf gar nicht dran denken. Es nützt nichts, ich muss los, wenn ich mir das Geld nicht entgehen lassen will. Denn der Koffer bewegt sich, wie ich an dem blinkenden, kleinen grünen Punkt auf meiner Karte erkennen kann, weg vom Schiff, Richtung … Ja, wohin? Direkt nach Paris? Das wäre zu weit. Über eine Stunde Fahrtzeit. Wird der Koffer im Hafenviertel bleiben? Der momentane Inhaber des Koffers wird das Geld doch wohl nicht zur Bank bringen? Schließlich ist es Schwarzgeld. Das zahlt man nicht bei einer Bank ein.

Vor dem Hotel orientiere ich mich, um dem Signal zu folgen. Im Moment muss ich dazu sogar gar nicht viel tun, denn der Koffer kommt offenbar auf mich zu. Und zwar auf der Straße Quai George V. Da die in meine Richtung eine Einbahnstraße ist, kann der Träger des Koffers nicht mit dem Auto unterwegs sein. Vielleicht mit dem Fahrrad? Dafür bewegt sich der grüne Blinkepunkt jedoch auffällig langsam mit einer Geschwindigkeit von nicht mal fünf Stundenkilometern. Der geht zu Fuß! Dann kann auch ich zu Fuß gehen.

Ich warte noch. Vielleicht will der Kofferträger ins Hotel? Hält sich der Empfänger etwa genau hier auf? Wird das Bestechungsgeld für den illegalen Transport gleich an jemanden weiterübergeben? Ich halte das für die wahrscheinlichste Möglichkeit. Immerhin haben sich gestern einige »Geschäftsfreunde« des illegalen Waffenhandels hier im Hotel getroffen. Und um ein Haar wären wir von ihnen erwischt worden …

Genau genommen bräuchte ich einfach nur hier unten im Foyer sitzenzubleiben und abzuwarten, bis die Person mit dem Koffer eintrifft. Doch das ist mir zu gefährlich. Der Kofferträger kennt mich vermutlich gar nicht, aber hier ist das Risiko zu hoch, dass mir Shiona über den Weg läuft und sie unwissentlich alles vermasselt. Es wundert mich ohnehin, dass sie nicht schon längst im Foyer ist und alle verrückt macht. Umso besser für mich, dass sie nicht da ist. Aber sie wird bestimmt nicht lange auf sich warten lassen. Lieber verlasse ich schnell das Hotel, verstecke mich hinter der nächsten Straßenecke und behalte den Eingang im Auge. Es wird nicht so einfach sein, den Kofferträger zu identifizieren, wenn ich ihm vorher nicht schon mal begegnet bin. Denn Männer mit Aktenkoffern sind hier im Hotel nicht gerade selten. Da nützt mir selbst der GPS-Chip nichts, wenn zwei oder drei von denen mit ihren immer gleichen Koffern nebeneinanderstehen.

Doch halt! Der Punkt bewegt sich nicht mehr. Was ist passiert? Eine rote Fußgängerampel? Ich ziehe mit zwei Fingern die Karte auf dem Display größer, damit sie mir mehr Details anzeigt. Zum Beispiel die Caisse d’Epargne Le Havre les Halles. Eine Bank, klein nur, nicht größer als eine gewöhnliche Dorfsparkasse, aber eine Bank.

Also doch? Das ist ja irre, eine Million Euro Schwarzgeld auf ein Konto einzuzahlen! Das … Moment mal. Aber natürlich! Wer spricht denn von Einzahlen? Deponieren wird er es. In einem Bankschließfach. Da fragt kein Mensch nach dem Inhalt eines Aktenkoffers. Da guckt nicht mal einer zu. Kann man in einem normalen Schließfach denn mal eben so eine Million Euro verstauen? Mir kommen die viel kleiner vor. Vielleicht täusche ich mich. Der Punkt auf meiner Karte sagt mir jedenfalls: Die Person mit dem Koffer hat die Bank betreten.

Und ich stehe hier blöd neben dem Hotel rum und warte darauf, dass mir die Beute wie ein gebratenes Hähnchen im Schlaraffenland direkt in den Mund fliegt. Ich muss dorthin. Sofort renne ich los. Es sind anderthalb Kilometer, gerade Strecke. Dafür brauche ich, wenn ich gut durchkomme, rund sechs Minuten. Im normalen Fußgängerverkehr sicher länger. Aber mit etwas Glück komme ich rechtzeitig an. Ich rase den Bürgersteig entlang, vorbei an einem älteren Mann mit Rollator, kann gerade noch einem Kinderwagen ausweichen, stoße mit dem Knie schmerzhaft gegen einen Einkaufskorb und erreiche nach siebeneinhalb Minuten endlich die Bank, husche hinein und – was jetzt?

Ich bin stark außer Atem, muss erst mal verschnaufen, sehe mich dabei um und entdecke einen Mann mit Aktenkoffer. Es ist der Kapitän des Frachters, der die Waffencontainer verschifft hat. War ja klar!

Ein Bankangestellter mit einem Schlüssel winkt den Kapitän gerade mit sich. Beide gehen eine Treppe hinunter. Klare Sache, die gehen zu den Schließfächern. Nix wie hinterher!

Das ist natürlich ein Risiko. Eigentlich. Ein Erwachsener, der zwei anderen auf dem Weg zu den Schließfächern folgen würde, ohne sich vorher anzumelden, riefe sofort Argwohn hervor. Aber ich bin ein Kind. Zumindest in den Augen der Erwachsenen. Niemand achtet auf mich. Und selbst wenn, kann ich sagen, ich sei mit meinem Vater hier. Jeder würde mir glauben. Aber es fragt niemand. Die Leute gehen automatisch immer davon aus, dass ein Kind zu irgendeinem der anwesenden Erwachsenen gehört, und kümmern sich nicht weiter drum. So auch der Kapitän und der Bankangestellte. Sie drehen sich nicht mal zu mir um.

Jetzt hoffe ich nur, dass es hier unten … Bingo! Wir gehen einen Flur entlang. Die letzte Tür auf der linken Seite führt zu den Schließfächern. Davor gehen zwei weitere Türen ab, eine zur Damentoilette, die andere zum Männerklo. Eine gute Rückzugsmöglichkeit.

Ich verfolge die beiden weiter. Als sie den Raum mit den Schließfächern betreten, bleibe ich im Flur stehen und linse um die Ecke. Ich muss sehen, welches Schließfach der Kapitän hat. Doch die beiden verdecken mir mit ihren Rücken leider die Sicht darauf. Immerhin sehe ich, dass der Kapitän den gesamten Koffer ins Fach stellt, statt nur die Geldscheine herauszuholen. Ist ja klar, der Bankangestellte steht direkt neben ihm. Damit fallen die Fächer in den oberen Reihen schon mal aus, denn sie sind zu klein. Ich habe genug gesehen und verdünnisiere mich.

Ich renne in die Damentoilette, denn in die werden die beiden bestimmt nicht gehen. Hier warte ich ab und lausche.

Endlich höre ich Schritte, eindeutig von zwei Personen. Sie gehen wieder hinauf. Ein wenig warte ich noch ab. Dann schleiche ich von meinem Versteck aus in den Schließfachraum.

Zwei große Fächer in der unteren Reihe kommen infrage. Ich entscheide mich für das rechte Schließfach. Die Fächer haben Sicherheitsschlösser, aber besonders sicher sind die nicht, jedenfalls nicht für einen Profi. Das Öffnen von Schlössern haben wir in der Agentenakademie ausführlich durchgenommen. Es stellt für mich kein großes Problem dar. Die Kunst liegt in diesem Fall darin, es so zu knacken, dass ich es hinterher wieder sauber verschließen kann. Aber auch darin bin ich geschult.

Innerhalb von einer halben Minute habe ich die Tür geöffnet. Ich streife mir Gummihandschuhe über, um keine Spuren zu hinterlassen. Immerhin war ich selbst es, der die Scheine mit UV-Pulver markiert hat, um den zu überführen, der das Geld in Händen gehalten hat. Ich nehme mir geschätzt vierzigtausend Euro aus dem Koffer, verstaue sie in einer Plastiktüte, die ich mir unter das Shirt schiebe, schließe den Koffer wieder, schiebe ihn zurück ins Fach, verriegele die Tür und weg.

Und weg?

Geht nicht. Ich höre wieder Schritte. Und Stimmen.

Scheiße, da sind wieder zwei Personen auf den Weg hierher!

Bis zur Damentoilette schaffe ich es nicht mehr, dann lauf ich ihnen auf dem Flur direkt in die Arme. Hier drinnen aber gibt es keine Versteckmöglichkeit.

Verdammt!

Die Ausrede mit meinem Vater dürfte hier unten in diesem leeren Raum nicht sehr glaubhaft sein.

Was jetzt?

Kurz darauf betreten die zwei Personen tatsächlich den Raum.

Ich sehe sie – von oben!

Denn ich klebe sozusagen direkt über der Tür an der Wand.

Nein, ich bin nicht Spider-Man. Aber ich besitze sehr praktische Handschuhe, die ich in der Seitentasche meines Rucksacks immer parat habe. Sie gehören neuerdings zur YOUNG AGENTS-Standardausrüstung und haben tatsächlich in etwa denselben Effekt wie die Superkraft von Spider-Man. Man kann damit nämlich Wände hochklettern. Nur nennen wir es nicht »Superkraft« oder »spezielle Fähigkeit« wie bei den Comicfiguren, sondern »Bionik«.

Bionik bedeutet, die Wissenschaft guckt sich etwas in der Natur ab und versucht es nachzubauen, um es für uns Menschen nutzbar zu machen. Wasser- und schmutzabweisende Wandfarbe zum Beispiel haben wir von der Lotuspflanze abgeguckt, weil ihre Blätter Wasser einfach abperlen lassen, das dabei jedes Staubkorn mitnimmt. Darum nennt man das auch »Lotuseffekt«. Vor einigen Jahren hat man es außerdem geschafft, so etwas wie künstliche Spinnenfäden herzustellen, also ein extrem dünnes, leichtes und dennoch äußerst reißfestes Seil, das wir zum Klettern auch in unseren Agentengürteln tragen.

Die Forschungsabteilung des Geheimdienstes hat nun brandneu für uns YOUNG AGENTS nach dem Bionikprinzip eben diese Handschuhe entworfen, die den Füßen von Geckos nachempfunden sind. Unsere Forscher nennen sie deshalb einfach nur »Geckis«. Es gibt sie auch als Überzieher für die Schuhe. Sie sind mit einer Struktur aus Milliarden feinster Härchen aus Keratin versehen, die mich an der Wand halten. Jedes einzelne Härchen ist dünner als ein Zehntel eines menschlichen Haars. Ein Wunder der Natur und der Wissenschaft. Diese Handschuhe funktionieren übrigens nur bei uns Kinderagenten, weil wir leicht genug sind. Erwachsene sind schlicht zu schwer für diese Technik.

Mein Problem im Moment: Damit man vernünftig an der Wand klebt, benötigt man vier Geckis, also Auflageflächen: zwei Handschuhe und zwei Überzieher für die Schuhe. Ich habe aber nur die Handschuhe, weil die Überzieher für die Schuhe noch in der Entwicklung sind. Wir durften sie während der Ausbildung nur mal als Prototypen tragen. Na toll! Ich kann darum jetzt nur für kurze Zeit an der Wand hängen und auch nicht cool an ihr entlanglaufen.

Ich klebe, äh, hänge also an der Wand über der Tür und kann die beiden von oben beobachten. Es sind – der Kapitän und der Bankangestellte! Offenbar hat der Kapitän etwas vergessen. Hoffentlich schauen sie nicht nach oben. Wobei: Um mich zu entdecken, würde es vermutlich schon reichen, sich einfach umzudrehen.

Ich muss hier weg. Der Kapitän zieht jetzt einige zusammengefaltete Zettel aus seiner Jackentasche und legt sie mit ins Fach. Den Koffer öffnet er dafür nicht. Er legt die Papiere einfach auf den Boden des Schießfachs und stellt den Koffer darauf.

Das ist mein Moment!

Gleich werden die beiden sich umdrehen.

Bis dahin muss ich weg sein!

Ich löse mich von der Wand, lasse mich zu Boden fallen, lande butterweich auf den Füßen. Aber immer noch hart genug, um ein Geräusch zu verursachen. Ich führe einen einzigen, geschmeidigen, x-mal geübten Bewegungsablauf durch: auf dem Boden aufkommen, sofort abspringen, durch die Tür seitlich nach draußen abrollen, weiter in den Flur hinein.

Die beiden werden sich zu langsam umdrehen, um mich noch sehen zu können. Sie werden nur zur offenen Tür blicken und sich wundern, was sie da wohl gehört haben.

In der Zeit bin ich mit schnellen, völlig lautlosen Schritten schon erneut hinter der Tür der Damentoilette verschwunden.

Es folgt die gleiche Prozedur wie eben: Warten, Lauschen, bis ich ihre Schritte höre, dann raus aus dem Klo. Dieses Mal aber werde ich die Treppe hochrennen, zurück in den Schalterraum der Bank.

Als ich oben ankomme, sehe ich gerade noch, wie der Kapitän die Bank verlässt.

Er hat mich nicht entdeckt, alles ist gut gegangen.