Mai, Mirka Ich darf dich nicht begehren

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Redaktion: Ulla Mothes

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Alexa Kim »A&K Buchcover«

Covermotiv: PNGTree; Molodec_@depositphotos.com

 

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Für Silja!

Danke, dass du Forbidden Feelings fast so sehr liebst wie ich!

 

Für Anna!

Marvelbuddy, Quatschpartnerin, Online- und Reallife-Date! Ich bin froh, dass wir uns gefunden haben! Charlies Geschichte ist für uns #Seelenschwester.

 

Für Dich.

Du weißt, dass ich Dich meine. Dir widme ich dieses Buch, weil die Forbidden-Feelings-Reihe für immer Dir & Mir gehört.

 

Und für Euch alle da draußen.

Ich wünsche Euch die wahre Liebe. Einen Alex, einen Noah oder einen Ben. Die Liebe, die ihr sucht.

Weil sie niemals perfekt, aber doch wunderschön ist.

Kapitel 1

Charlie

»Und dann hat er gesagt, dass ich auch so gut wie er wäre, wenn ich mehr lernen würde.«

Es ist ein wunderschöner, sonniger Tag Ende Januar, Vögel zwitschern fröhlich in den Bäumen, und die Sonne scheint mir mitten ins Gesicht.

Das Schnauben meines Pferdes unter mir beruhigt mich wie jedes Mal, und ich genieße das sanfte Schaukeln der Bewegung, das leise Schnaufen und die leicht erdige Luft, die mir in die Nase strömt.

»Charlie!«

Die empörte Stimme meiner besten Freundin dringt an meine Ohren und macht mich darauf aufmerksam, dass ich ihr nicht in angemessenem Maße Mitgefühl entgegengebracht habe.

»Sorry!« Schuldbewusst konzentriere ich mich wieder auf unsere Unterhaltung, die ich eigentlich auch im Schlaf führen könnte. Es geht – wie so oft – um eine der vielen dummen Sachen, die ihr all time on-off-Freund Adrian von sich gegeben hat.

Ich seufze lautlos und schüttle den Kopf.

»Adrian ist ein Idiot.«

Das ist meistens die richtige Antwort, wenn es um diesen Typ geht. Ich werde nie verstehen, warum sich eine so tolle Frau wie Priya ständig in die falschen Kerle verliebt und ausgerechnet bei diesem hängengeblieben ist. Und das nicht erst seit gestern.

Mit zehn Jahren verliebte sie sich in Peter Malley. In der ersten Pause wollte er Priya heiraten, in der zweiten teilte er sich mit Marianne Walker ein Erdnussbuttersandwich.

Priya war damals am Boden zerstört, und ich habe Peter so verhauen, dass er geheult hat. Ich musste eine Stunde nachsitzen, aber das war es wert. Bis heute hat sich an alldem nicht viel geändert, nur die Kerle wurden immer schlimmer, und Adrian ist der Gipfel.

»So schlimm ist er doch gar nicht«, widerspricht Priya, und ich rolle mit den Augen. Warum ist sie nur derart verblendet? Genau aus diesem Grund bin ich erklärter und glücklicher Single.

Ich werde mich erst auf den Mann einlassen, der mich nicht herablassend behandelt, mir nicht das Gefühl gibt, dass ich unter ihm stehe, und der sich kleine rote Blümchen aus dem Ohr zaubert.

Was ich damit sagen will: Ich bin davon überzeugt, dass es diesen Mann nicht gibt.

»Nein.« Die Ironie trieft mir dabei aus jeder Pore. »Du hast recht. Adrian ist toll.«

»Ach komm schon, Charlie.«

Priya pariert ihre Warmblutstute Toffee durch und wendet sich mir schmollend zu. »Du wirst dich auch mal verlieben, und dann wirst du mich verstehen.«

So viel Naivität entlockt mir ein Kichern.

»Ganz sicher n-«

Ein Vibrieren an meinem Bein stoppt mich, und ich ziehe mein Mobiltelefon aus der Tasche meiner Reithose.

Mom, verkündet das Display.

Plumps. Das war mein Hintern, der mit einem ordentlichen Knall auf dem Boden der Tatsachen aufgeschlagen ist.

»Oh nein.«

Ich gebe Priya ein kurzes Handzeichen zu warten und nehme den Anruf entgegen.

»Hi, Mom.«

»Wo um alles in der Welt bleibst du, Charlotte?«

Charlotte. Ich verkrampfe mich unwillkürlich beim Klang dieses Namens. Nur meine Eltern nennen mich so. Für alle anderen bin ich Charlie, und wenn man mich fragt, passt dieser Name ohnehin viel besser zu mir.

Charlotte, nein. Das bin einfach nicht ich. Unter der Trägerin dieses Namens stelle ich mir eine brav bezopfte Langweilerin vor, und davon bin ich nun wirklich meilenweit entfernt.

»Charlotte!«

Jetzt klingt Mom wirklich wütend. »Warum sitzt du immer noch auf dem Pferd? Ich stehe seit fünf Minuten am Stall und warte auf dich.«

Ich knirsche mit den Zähnen, und meine Antwort klingt angespannt.

»Weil ich es genieße, Mom.«

Ich atme drei Mal tief durch, bevor ich ihr einen Vorschlag unterbreite. »Wenn du nicht mehr warten willst, fahr ruhig. Dann laufe ich eben heim.«

Ich verstehe sowieso nicht, warum meine Mutter darauf besteht, jedes Mal am Stall auf mich zu warten, wenn ich in weniger als einer halben Stunde zu Fuß zu Hause sein könnte.

»Du weißt, dass dein Vater nicht möchte, dass du allein nach Hause läufst.«

Die Antwort kommt prompt, und ich kann den Blick, den sie dabei auf die Uhr wirft, beinahe hören. »Vor allem nicht um diese Uhrzeit.«

Ein leicht gequältes Lachen kommt über meine Lippen.

»Mom, es dämmert noch nicht mal.«

Ich nehme die Zügel in eine Hand, um ebenfalls einen Blick auf meine Armbanduhr zu werfen. Das darf ja wohl nicht wahr sein.

»Es ist gerade erst kurz vor vier!«

In diesem Augenblick frage ich mich wie so oft, warum ausgerechnet ich das Pech habe, einen Sheriff zum Vater zu haben.

»Euch ist aber schon klar, dass ich bald einundzwanzig und damit volljährig werde?« Ich kann einen spitzen Unterton nicht unterdrücken. »Dann könnt ihr mich nicht mehr rund um die Uhr bewachen lassen.«

Im Stillen denke ich allerdings, dass es Dad durchaus zuzutrauen wäre, dass er jeden Tag einen seiner Deputys abkommandiert, um seine erwachsene Tochter zu bewachen.

Nicht, dass es bei mir etwas zu bewachen gäbe. Selbst wenn mein Leben unter einer Käseglocke stattfände, wäre es vermutlich noch interessanter als jetzt.

»Hör auf mit mir zu diskutieren, komm zurück zum Stall und mach das Pferd fertig«, sagt meine Mutter in ihrem Jetzt-widersprichst-du-mir-besser-nicht-Ton.

Ich knurre.

»Ist okay, Mom. Ich komme gleich.«

Sie wegzudrücken fühlt sich befreiend an, und ich tätschele meinem Ares den Hals, der daraufhin zufrieden schnaubt.

»Deine Mom?« Priya klingt mitleidig, und als wir einen Blick tauschen, ist klar, dass wir unsere Diskussion fürs Erste auf Eis legen. Seit dem Kindergarten sind wir die allerbesten Freundinnen und haben jede Krise miteinander durchlebt.

»Ja«, seufze ich, und mein Herz ist mit einem Mal ganz schwer. »Ich bin diese ständige Bevormundung so leid.«

Priya nickt verständnisvoll.

»Du solltest es einmal ganz in Ruhe ansprechen«, schlägt sie vor, und ich unterdrücke ein Lächeln. So ist meine Priya. Eine Problemlöserin wie sie im Buche steht.

»Komm, wir beeilen uns, dass wir zurückkommen«, sage ich und presse Ares die Fersen in die Flanken. Aus dem Stand springt er in den Galopp, und an Priyas Lachen höre ich, dass sie mir dicht auf den Fersen ist.

Erst kurz vor dem Stall parieren wir die Pferde durch und lassen sie den Rest des Weges am langen Zügel zurücklegen.

Mein Herz rast, und ich fühle mich leicht und frei. Dieses Gefühl lässt allerdings schnell nach, denn ich sehe unseren Bentley auf dem Hof parken.

Als wir durch das Tor reiten, wird die Tür auf der Fahrerseite geöffnet, und gleich darauf erscheinen die von zarten Nylonstrumpfhosen umspannten Beine meiner Mutter.

Der Anblick ihres hellgrünen Kostüms und der mintgrünen Pumps jagt mir einen Schauer über den Rücken, so fehl am Platz wirkt sie hier auf dem Pferdehof. Ihre Augen werden zwar von einer schicken Designersonnenbrille verdeckt, aber trotzdem kann ich den stechenden Blick spüren, den sie mir nun zuwirft.

»Das wurde aber auch Zeit«, stellt sie mit kritischem Unterton fest, während ich mich aus dem Sattel schwinge und leicht am Boden abfedere.

»Hi, Mrs Evans«, begrüßt Priya meine Mom, die mit einem knappen Nicken darauf reagiert, bevor sie sich wieder mir zuwendet, während Priya mit einem mitleidigen Blick in meine Richtung in den Stallungen verschwindet.

»Kind, ich verstehe wirklich nicht, warum du den ganzen Tag im Stall verbringen musst. Dein Vater und ich wünschen uns doch nur, dass du ein bisschen kultivierter wirst und andere Interessen entwickelst als das für dieses riesige Tier.«

Ares schnaubt, und Mom weicht einen Schritt zurück. Sie konnte meine Pferdeobsession noch nie verstehen. Ihr wäre es lieber, ich würde Tennis spielen oder so. Dad war es, der meinte, dass es für ein Mädchen doch besser sei, die Nachmittage in einem Pferdestall zu verbringen, als irgendwelchen – Achtung, Zitat – »nichtsnutzigen Jungspunden« hinterherzurennen. Also hat er Mom davon überzeugt, dass ich ein Pferd bekommen sollte, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

Nicht, dass er sich bei mir Sorgen bezüglich irgendwelcher Jungspunde machen müsste. Anders als Priya ist mir bisher noch kein Mann begegnet, der mir nicht nach zehn Minuten auf die Nerven gegangen wäre. Kerle sind doch alle gleich. Wenn du ihnen gefällst, dann fangen sie an zu sabbern und denken nur noch an das eine.

Allerdings scheint gerade diese ablehnende Grundhaltung eine Art Idioten-Magnet zu sein. Ein Junge aus meiner Highschool nannte mich immer Kratzbürste und hielt sich damit für wahnsinnig lustig. Mir war das egal. Ich war gern das Mädchen mit dem Pferd, und was die Jungs machten, war mir gleichgültig. Eigentlich sehe ich auch keinen Grund, daran etwas zu ändern.

Auch mit zwanzig Jahren bin ich noch immer am liebsten im Stall, und an meiner Entscheidung, einmal mit Pferden arbeiten zu wollen, hat sich trotz des vielen Zuredens meiner Eltern nichts geändert. Letztes Jahr habe ich die Highschool abgeschlossen und mir ein Sabbatical gegönnt, das ganz dem Reitsport gewidmet sein soll.

Um etwas dazuzuverdienen, helfe ich im Stall aus und unterstütze den Reitunterricht der Jüngeren. Und je mehr Zeit ich mit den Pferden und auch mit den Kindern verbringe, desto klarer wird mir, dass ich auf dem richtigen Weg bin.

Ich möchte Turniere gehen, meinen Trainerschein machen und irgendwann einmal ein eigenes Gestüt haben. Mir ist natürlich bewusst, dass gerade Letzteres ziemlich utopisch ist – ein Gestüt kriegt man ja nicht eben mal geschenkt – und noch in weiter Ferne liegt, aber es ist nun einmal mein Traum.

Und in diesem Punkt halte ich es mit Walt Disney. If you can dream it, you can do it.

Aber jetzt gerade habe ich keine Zeit zu träumen. Der strenge Blick meiner Mutter zeigt mir vielmehr, dass ich mich wirklich sputen sollte.

»Ich warte hier.«

Sie lässt sich bei geöffneter Autotür zurück auf den Fahrersitz gleiten.

Weil mir der Sinn gerade ohnehin sehr nach Flucht steht, ziehe ich Ares hinter mir her in die Stallgasse, wo Priya bereits abgesattelt hat.

»Deine Mom übertrifft sich immer wieder selbst.«

Sie schüttelt fassungslos den Kopf.

»Wem sagst du das.« Ich seufze, nehme Ares die Trense ab und streife ihm dafür das Halfter über.

Mit flinken Handgriffen verstaue ich Sattel und Trense in meinem Sattelschrank, stecke Ares eine frische Karotte zu und lasse es mir nicht nehmen, ihn noch mit einer ausgiebigen Streicheleinheit zu verwöhnen.

»Soll ich ihn für dich auf die Weide mitnehmen?«, bietet Priya an, und ich falle ihr dankbar um den Hals.

»Du bist die beste Freundin auf der ganzen Welt. Ich mach’s wieder gut. Spätestens wenn ich bei deinem nächsten Wettkampf den TT mache, okay?«

»Abgemacht«, lacht sie und scheucht mich mit einer Handbewegung aus dem Stall. »Wir telefonieren später.«

Schnell laufe ich über den Hof und bin wieder einmal unheimlich froh, dass sie meine Freundin ist. Ein TT ist der sogenannte Turnier-Trottel, und damit das Mädchen für alles. Wann immer Priya zu einem Wettkampf fährt, bin ich an ihrer Seite und kümmere mich um das ganze Drumherum, genauso wie sie es für mich tut.

Während ich mich beim Reiten auf Springen und Dressur konzentriere, ist meine beste Freundin mit ganzer Seele dem berittenen Bogenschießen verfallen und damit auch ziemlich erfolgreich.

»Da bin ich.«

Schnaufend komme ich bei unserem Auto an, in dem Mom schon ungeduldig mit den Fingern auf das Lenkrad trommelt.

»Na endlich«, kommentiert sie leicht bissig, während ich auf den Beifahrersitz plumpse und den Sicherheitsgurt anlege. »Ich habe sicher schon die ersten grauen Haare bekommen.«

Ich unterdrücke ein Schnauben bei dieser absurden Aussage. Das Haar meiner Mutter ist genauso rot wie mein eigenes, wenn es auch vielleicht nicht mehr die Fülle von früher hat. Alles in allem sieht sie jedenfalls deutlich jünger aus, als sie ist. Keine Spur von grauen Haaren.

»Wohin fahren wir?«, übergehe ich ihre Stichelei, als mir klar wird, dass wir nicht den Weg zu unserem Zuhause einschlagen.

»Wir holen Dad am Präsidium ab«, antwortet Mom knapp. Ihre Augen sind starr auf die Straße vor uns gerichtet. Unter uns gesagt: Meine Mutter ist eine grauenvolle Autofahrerin. Bei ihr einzusteigen fühlt sich jedes Mal an, als würde man mit dem eigenen Leben Russisch Roulette spielen.

Auch dieses Mal umklammere ich unwillkürlich die Seiten meines Sitzes und schließe die Augen, bis wir am Polizeipräsidium ankommen, vor dem mein Vater bereits auf uns wartet. Schon ein Blick auf sein angespanntes Gesicht verrät mir, dass irgendetwas ganz anders gelaufen sein muss, als er es sich vorgestellt hat.

»Hi, Dad«, begrüße ich ihn ausgesucht liebenswürdig, als er die Fahrertür öffnet, Mom mit einem flüchtigen Kuss bedenkt und dann auf dem Fahrersitz Platz nimmt, während sie um das Auto herumgeht.

»Hallo, Schätzchen.«

Auch seiner Stimme hört man die Müdigkeit an.

»Soll ich fahren?«, biete ich an, als Mom auf meine Seite des Autos kommt und mich mit einer eindeutigen Geste auffordert, ihr Platz zu machen.

»Danke, das mach ich schon.«

Ich habe mit seiner Ablehnung gerechnet und wechsle wortlos auf den Rücksitz. Dad lässt den Motor an und lenkt den Wagen auf die Straße. Kaum entfernen wir uns ein paar Meter vom Präsidium, da atmet er auch schon hörbar auf und seine Schultern entspannen sich.

»Hattest du einen schlimmen Tag?«, fragt Mom sanft und krault mit ihren perfekt manikürten Fingernägeln Dads Nacken. Schnell wende ich den Blick ab. Ich finde es ja wirklich schön, dass meine Eltern sich lieben, aber manchmal würde ich doch lieber darauf verzichten, es so hautnah mitzubekommen.

Im nächsten Moment wünsche ich mir allerdings, dass meine Eltern sich wieder ganz auf sich konzentrieren, denn Dad wirft mir einen kritischen Blick durch den Rückspiegel zu.

»Kommst du etwa direkt von Stall? Du stinkst«, beschwert er sich, und Mom seufzt abgrundtief.

»Sie konnte sich wieder mal nicht losreißen«, sagt sie, und in mir steigt eine Welle von Trotz auf.

»Es wäre viel einfacher, wenn ihr mich nicht immer am Stall abholen würdet«, merke ich an. »Ich könnte doch mit dem Rad fahren und dann zu Hause duschen.«

Diese Worte quittiert Dad mit einem Schnauben.

»Du hast ja keine Ahnung, wie gefährlich es für ein junges Mädchen ist, abends allein unterwegs zu sein.«

Typisch. Gefühlt hat er keinen Tag meines Lebens ausgelassen, mich vor potenziellen Gefahren zu warnen.

»Erstens bin ich erwachsen, Dad«, erkläre ich betont ruhig. »Zweitens hast du mich, seitdem ich fünf bin, jedes Jahr in einen Selbstverteidigungskurs geschickt, und drittens ist es noch nicht mal ansatzweise Abend.«

»Dein Ton gefällt mir gar nicht, Fräulein.«

Das Grollen in seiner Stimme ist nicht zu überhören, aber in mir überwiegt die trotzige Seite.

»Dad, ich will wie eine normale junge Frau meine Freizeit verbringen dürfen«, rufe ich lauter als beabsichtigt und beobachte, wie Dads Fingerknöchel weiß werden, als er das Lenkrad fester greift.

»Wir sollten ohnehin einmal darüber sprechen, wie du deine Zeit verbringst.«

Mir wird kalt. Nicht auch noch Dad.

»Das besprechen wir drinnen«, mischt Mom sich ein, und ich registriere erst jetzt, dass wir vor unserem Haus angekommen sind.

»Geh dich duschen, Charlotte«, fordert Mom mich auf, und ich verdrehe innerlich die Augen. Wenn ich mit dem Rad hätte fahren dürfen, dann wäre uns allen diese unangenehme Autofahrt erspart geblieben.

Frustriert schließe ich die Tür auf, stelle meine Schuhe ordentlich nebeneinander in den dafür vorgesehenen Schrank und mache mich auf den Weg nach oben in mein Badezimmer.

Das obere Stockwerk unseres großen und geräumigen Hauses ist quasi mein alleiniger Verfügungsbereich. Ich habe mein eigenes Bad, ein Wohn- und ein Schlafzimmer.

Schnell schäle ich mich aus den engen Reitleggins und werfe sie auf den Berg Schmutzwäsche, der sich angesammelt hat. Dann trete ich in meine große Duschkabine und drehe den Hahn der Regendusche auf.

Sofort prasselt viel zu heißes Wasser auf mich nieder, und ich springe mit einem schmerzvollen Quietschen zur Seite. Vorsichtig reguliere ich die Temperatur des Wassers so, dass es sich angenehm anfühlt, und genieße das Prasseln des Wassers auf meiner Kopfhaut, während ich mir die Haare wasche.

Als ich fünf Minuten später sauber und mit einem Handtuch um den Körper geschlungen aus der Dusche komme, fühle ich mich etwas entspannter.

Vor meinem Kleiderschrank überlege ich einen Moment lang, ob ich es meinen Eltern recht machen will. Sie sind von meinem Kleidergeschmack nicht wirklich angetan.

Bei meiner Kleidung liebe ich es bunt und alternativ. Vielleicht sogar ein bisschen hippiemäßig. Anfangs haben meine Eltern heftigen Einspruch erhoben, aber inzwischen haben sie sich weitgehend damit abgefunden, dass ich mich nicht so entwickle, wie von ihnen erhofft.

Aus einem spontanen Impuls heraus entscheide ich mich für ein Kleid, das eine Art Kompromiss darstellt. Es ist ein zweilagiger ärmelloser Traum in zarten Grüntönen. Von der Taille abwärts besteht die obere Lage teilweise aus Spitze mit eingenähten Blättern und Blüten.

Insgesamt ist das Kleid nicht zu elegant, um von mir gehasst zu werden, aber gleichzeitig müsste es auch den Ansprüchen meiner Eltern standhalten können. Von meinem Schmuckständer schnappe ich mir schnell zwei lange Silberketten, die ich letztes Jahr von Priya zum Geburtstag geschenkt bekommen habe. Priya liebt Schmuck. Er gehört einfach zu ihrer Persönlichkeit und lässt sie funkeln. Obwohl ich selbst nicht so versessen auf Schmuck bin, trage ich die Ketten gern, die Priya für mich aussucht. Barfuß springe ich die Treppenstufen nach unten. Auf dem Sofa finde ich Dad vor.

»Mom macht Abendessen«, erklärt er und faltet die Zeitung zusammen, um mich anzusehen. »Und wir sollten uns mal unterhalten.«

Ich ziehe die Nase kraus. Unterhalten bedeutet meiner Erfahrung nach nie etwas Gutes, und in meinem Hals bildet sich ein Kloß, als ich mich vor Dad auf den großen, flauschigen Wohnzimmerteppich fallen lasse.

»Was gibt’s denn, Dad?«, frage ich und bemühe mich um einen sorglosen Tonfall.

Er runzelt die Stirn, streicht sich mit der Hand über den Schnauzbart und atmet tief durch, bevor er mir direkt in die Augen sieht.

»Deine Mutter und ich denken, dass du zu viel Zeit bei deinem Pferd verbringst«, sagt er schließlich.

»Nein«, sage ich und will erklären, was mir beruflich vorschwebt.

Dad hebt die Hand, damit ich ihn ausreden lasse. »Und ich finde zwar immer noch, dass es besser ist, den Tag am Stall zu verbringen, als sich herumzutreiben. Aber-«, wieder stoppt er mein Aufbegehren mit einer knappen Handbewegung, »ich verstehe, was deine Mutter meint. Das Reiten ist quasi alles, was dich ausmacht, und wenn du dich wenigstens einmal in eine Sache so reinknien würdest, wie in diesen Sport, dann wäre uns allen schon wahnsinnig geholfen.«

Zu meinem Ärger klingt Dad, als würde er mit einer Vierjährigen sprechen, und in meinem Innern kocht Wut auf.

»Und was genau soll ich deiner Meinung nach stattdessen tun?«

Noch während ich die Frage ausspreche, kenne ich die Antwort. Es ist die, die Mom mir seit vielen Jahren immer wieder gibt, wenn wir diese Diskussion führen. Nur, dass sie Dad auf ihre Seite gezogen hat, ist neu.

»Lern doch ein Instrument, Kind. Oder wie wäre es mit Golfen oder Tennis?«

Am liebsten würde ich mit dem Fuß aufstampfen. Wenn er mich schon wie ein Kind behandelt, dann kann ich mich doch auch wie eines verhalten, oder? Aber mir ist klar, dass es nichts bringen würde, darüber zu diskutieren, und so verschränke ich nur bockig meine Arme vor der Brust und schmolle.

Dad hat ja keine Ahnung, wie hart das Training wirklich ist. Es ist ja nicht so, als würde ich jeden Tag nur am Stall entspannen und stundenlang mit Ares das Gelände durchstreifen. Springtraining, Dressur und Stallarbeit gehören schließlich auch dazu.

»Tennis, Dad? Wirklich? Das passt doch überhaupt nicht zu mir. Außerdem bringt es mich nicht wirklich weiter, wenn ich später einmal mit Pferden arbeiten will.«

»Mit Pferden arbeiten?« An seiner Schläfe beginnt eine Ader bedrohlich zu pochen. »Ich dachte, dir wäre inzwischen klar, dass das nicht infrage kommt.« Er zwingt sich deutlich zu Ruhe und Beherrschung. »Du wirst einmal einen vernünftigen Beruf erlernen, in dem du auch etwas verdienst.«

»Ach ja, und du bist derjenige, der das entscheiden darf, oder wie?«

Frustriert schließe ich die Augen. Meine Eltern werden nie Ruhe geben, bis ich ihnen bewiesen habe, dass sie Unrecht haben und ich alles schaffen könnte, was ich mir vornehme. Moment mal! Mir kommt gerade ein verrückter und gleichzeitig verlockender Gedanke.

»Dad«, sage ich langsam und bedacht. »Wenn ich dir beweisen würde, dass ich etwas genauso gut erlernen kann wie das Reiten und trotzdem bei meinem Sport und meinen Zukunftsplänen bleiben will, lässt du mich dann in Ruhe?«

Er mustert mich eingehend. In seinen Augen streiten die Gefühle miteinander, und es ist ganz offensichtlich, dass er mit meiner Rebellion nicht zufrieden ist.

»Wie stellst du dir das vor?« Bei der Frage bildet sich eine steile Falte zwischen seinen Augenbrauen.

Ich unterdrücke ein Grinsen, denn ich weiß, dass ich jetzt zumindest seine Aufmerksamkeit habe. Ja, mein Plan ist völlig irre, abwegig und vielleicht auch gar nicht zu bewältigen, aber ich muss es zumindest versuchen.

»Also hör zu«, sage ich langsam. »Ich stelle mir das folgendermaßen vor.«

Kapitel 2

Ben

»Na, Bennie, hast du dir schon Gedanken gemacht, wen du zur Hochzeit mitbringen wirst?«

Ich schrumpfe auf meinem Stuhl zusammen und ärgere mich darüber, dass ich ganz eindeutig in der Unterzahl bin. Jessy und Georgie, meine besten Freundinnen, mustern mich neugierig, und ich fühle mich definitiv in die Ecke gedrängt. Georgie streicht ihrer fünf Monate alten Tochter liebevoll über den dunklen Haarflaum und grinst hinterhältig in meine Richtung.

»Drei gegen einen. Das ist wirklich nicht fair«, sage ich grummelnd.

»Olivia ist noch so klein, dass sie gar nicht zählt«, sagt Jessy grinsend, und Georgie widerspricht natürlich sofort.

»Mein Baby soll nicht zählen?«, fragt sie gespielt empört und lässt die Kleine auf ihren Knien auf und ab hopsen.

Mein Blick huscht durch das kleine Café, in dem wir nach längerer Zeit endlich mal wieder gemeinsam sitzen. Es ist nicht groß. Außer unserem Tisch stehen hier maximal noch sieben weitere, die alle unterschiedlich eingedeckt sind. Das Café ist hell und freundlich, es ist ein guter Ort, um sich zu treffen und ungestört zu unterhalten. Wobei diese Unterhaltung für meine Begriffe gerade viel zu sehr zu einem Verhör ausartet. So hatte ich mir dieses Treffen wirklich nicht vorgestellt.

Noch letztes Jahr haben wir alle drei zusammen in einer kleinen WG gewohnt, aber seit dieser Zeit ist einiges passiert. Jessy ist mit ihrem Verlobten Alex zusammen in ein eigenes Haus gezogen, und auch ich habe mir eine andere Bleibe gesucht. Ich lebe jetzt in einer WG in der Nähe des Campus und keine zwei Straßen von unserem ehemaligen Zuhause entfernt, das nun von Georgie, ihrem Mann Noah und ihrer Tochter Olivia bewohnt wird.

Ich beobachte, wie die Kleine zu ihr aufstrahlt, und wundere mich wieder einmal, wie sehr dieses Kind und Noah das Leben meiner Freundin verändert haben.

Georgie hatte früher immer wieder mit Depressionen zu kämpfen. Das hat sie mir schon erzählt, als wir uns kennengelernt haben. Auch wenn kaum jemand sonst es mitbekommen hat, wusste ich immer, wann sie sich hinter ihrer lebenslustigen Fassade versteckte.

Ich könnte es natürlich darauf schieben, dass ich so ein wahnsinnig gutes Gespür habe, aber wenn ich mal ganz ehrlich zu mir selbst bin, dann liegt es wohl eher daran, dass ich selbst Erfahrung damit habe, eine Maske zur Schau zu tragen.

Umso glücklicher macht es mich zu sehen, wie sehr meine Freundin auflebt, seit sie Noah hat und Olivia ihre kleine Familie vervollständigt. Ihre Depression scheint nahezu verschwunden zu sein, und die beiden haben vor drei Monaten standesamtlich geheiratet.

»So habe ich das nicht gemeint«, gibt Jessy grinsend an Georgie gewandt zurück und holt mich damit in die Gegenwart zurück. Gleich darauf wendet sie sich wieder mir zu und mustert mich forschend.

»Du hast versucht, uns abzulenken, Bennie«, sagt sie strafend. »Also noch mal: Wen bringst du zur Hochzeit mit?«

»Bis dahin sind es noch mehrere Monate«, maule ich und weiß selbst, dass ich mich gerade wie ein bockiges Kleinkind anhöre.

»Vier Monate sind nun wirklich keine Ewigkeit«, sagt meine beste Freundin streng. »Und wir müssen die Gästeliste fertigstellen.«

Plötzlich funkelt es in ihren Augen.

»Aber wenn du keine Plus Eins mitbringen möchtest, dann kann ich dich ja vielleicht mit einer meiner Cousinen aus Malibu verkuppeln«, schlägt sie vor und drückt sich nachdenklich einen Finger an die Nase. Erschrocken schüttele ich den Kopf, und meine nächsten Worte kommen etwas zu laut heraus, sodass zwei Frauen von einem Nebentisch interessiert zu uns herüberblicken.

»Bloß nicht!«, rufe ich erschrocken. »Ich bringe jemanden mit.«

Ich habe zwar keine Ahnung, wer das sein soll, aber alles ist mir lieber als eine erzwungene Hochzeitsverkupplung.

»Ach ja?«, schaltet sich Georgie wieder ein und hebt fragend eine Augenbraue. »Und wer soll das sein?«

»Das geht euch überhaupt nichts an«, sage ich grummelnd, und Jessy lacht hell auf.

»Du bist ein schrecklicher Geheimniskrämer, Benjamin Foster«, schimpft sie und zieht gleichzeitig einen eng beschriebenen Zettel aus der Tasche, auf dem sie mit einem Kugelschreiber etwas abhakt.

»Ben, mit Begleitung«, murmelt sie in Bühnenlautstärke und schielt mit einem belustigten Funkeln in den Augen in meine Richtung. Ich presse meinen Kiefer zusammen und knirsche mit den Zähnen.

Manchmal ist es doch wirklich eine Qual, wenn man sich als Mann gut mit Frauen versteht. Georgie und Jessy haben es beide faustdick hinter den Ohren, und wenn man die beiden kombiniert … nun, lassen wir das.

»Wie läuft es denn sonst so mit der Hochzeitsplanung?«, fragt Georgie interessiert und wendet sich an Jessy.

Die seufzt leise, und ein Teil ihrer fröhlichen Fassade bröckelt wie eine zu lange getrocknete Gesichtsmaske.

»Ich hatte mir das alles anders vorgestellt«, sagt sie nach einem Moment des Schweigens leise und starrt wie hypnotisiert auf ihre kurzen, gepflegten Fingernägel.

Georgie und ich wechseln einen beunruhigten Blick. Jessys Schultern sind mit einem Mal gebeugt, so als läge eine schwere Last auf ihren Schultern. Ich werfe Georgie einen fragenden Blick zu, aber sie hebt nur die Schultern.

Mit dem Kinn deute ich auffordernd auf unsere Freundin und forme mit den Lippen ein lautloses »Frag sie!«

Georgie atmet durch.

»Was meinst du, Süße?«, fragt sie dann langsam und so liebevoll, dass sich in meinem Hals ein Kloß bildet. Ich bin kein rührseliger Typ. Oder vielmehr: Ich arbeite hart daran, denn ich habe vom Leben gelernt, dass es nicht gut zu Männern ist, die ihre Emotionen offen zeigen.

Nur meinen Freundinnen gegenüber muss ich nicht schauspielern, und darüber bin ich froh. Mein Blick richtet sich wieder auf Jessy. Ihre Hände zittern, und als sie den Kopf hebt, kann ich Tränen in ihren Augen schimmern sehen.

»Es geht so viel schief«, sagt sie heiser und krallt ihre Hände um die Armstützen ihres Sessels, als wollte sie sich daran festhalten. Gerade als ich nachhaken will, was sie meint, spricht sie weiter.

»Mein Vater weigert sich nach wie vor zu kommen, und meine Mutter ist deswegen schon ganz verzweifelt.«

Beinahe wütend wischt sie sich mit dem Handrücken über die Augen. »Außerdem verheimlicht Alex mir etwas«, fügt sie mit bebender Stimme hinzu, und ich höre, wie Georgie neben mir scharf die Luft einsaugt.

»Wie kommst du darauf?«, fragt sie gepresst, und in ihrer Stimme höre ich unverkennbar Angst heraus. Ich kann sie verstehen, denn in meinem Innern toben ähnliche Gefühle.

Der Weg, den Jessy und Alex hinter sich haben, war alles andere als leicht. Er war gepflastert mit Lügen, Schmerzen und sehr vielen Tränen. Und leider sieht es aus, als wäre die Zeit der Tränen doch noch nicht vorbei.

»Er hat seine Nachrichten-App mit einem Fingerabdruck gesperrt«, murmelt Jessy nach einer Weile und sieht uns dabei nicht an. »Außerdem hat er in der letzten Zeit immer wieder Anrufe bekommen und ist dann regelrecht aus dem Zimmer gerannt.«

»Das muss doch nichts heißen«, versuche ich meine Freundin zu beruhigen und weiß gleichzeitig selbst, wie hohl meine Worte klingen.

»Wie lange ist das schon so?«, fragt Georgie, und ich meine fast, ihre Fingerknöchel knacken zu hören. Jessy zieht die Nase hoch.

»Seit etwa einer Woche«, sagt sie, und eine Träne rollt über ihre Wange. Sie sieht so traurig aus, dass ich es beinahe selbst fühle.

Glühende Wut breitet sich in meinem Bauch aus, und ich erinnere mich wieder einmal daran, wie gut es ist, dass ich mit der Liebe nichts mehr zu tun haben will.

Wenn ich in meinem Leben eine wichtige Lektion gelernt habe, dann ist es die: Wenn man liebt, gibt man einem anderen Menschen die Macht, einem das Herz zu brechen. Und wenn man sein Herz schützen will, dann verliebt man sich einfach nicht. Punkt.

»Prinzessin«, sage ich und gebe meiner Stimme einen beruhigenden Klang. »Ich werde mal mit Alex sprechen, okay? Und ich verspreche dir, dass du schon bald die zukünftige Mrs Hunter sein wirst.«

»Danke, du Spinner«, sagt Jessy leise, aber ihr Mund verzieht sich zu einem kleinen Lächeln. »Würdest du wirklich mit ihm reden?«, fragt sie hoffnungsvoll, und mein Herz wird ganz weit.

»Natürlich. Zur Not haue ich ihm auch eine rein«, verspreche ich und ziehe gespielt beleidigt die Augenbrauen zusammen, als die beiden in Gelächter ausbrechen.

»Deine Mom ist doof«, sage ich zu Olivia, die daraufhin ebenfalls gluckst.

»Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, knurre ich gespielt wütend und beuge mich vor, um Olivias kugeligen Bauch zu kitzeln.

»Die Vorstellung, dass du jemanden verhauen könntest, ist aber auch wirklich absurd«, grinst Jessy, und ich quittiere das mit unbewegter Miene.

»Immerhin kannst du wieder lächeln, Prinzessin.«

»Du bist eben mein Antidepressivum, Benjamin.«

»Nenn mich nicht Benjamin.«

Kapitel 3

Charlie

»Das klappt doch nie im Leben!«

»Danke, dass du mir Mut machst, Priya, echt!«

»Ich bin nur realistisch, Babe.«

Ich verdrehe die Augen und lasse meine Finger durch den Sand des Reitplatzes gleiten, während Priya angaloppiert. Meine Springstunde habe ich heute schon früher hinter mich gebracht als sonst, weil ich nachher noch einen Termin habe. Und dieser Termin ist auch der Grund dafür, dass meine beste Freundin mich gerade für verrückt hält.

»Niemand kann in so kurzer Zeit so ein Ziel erreichen!«, ruft Priya, und der Wind trägt ihre Stimme über den Platz zu mir. Trotzig grabe ich die Finger ein weiteres Mal in den Sand.

Natürlich ist mir klar, wie absurd die ganze Vereinbarung mit meinem Vater ist, aber ehrlich gesagt sehe ich gerade keine andere Chance, mich durchzusetzen.

»Jetzt noch mal ganz langsam.« Priya pariert neben mir durch und mustert mich aufmerksam.

»Du hast mit deinem Dad ausgemacht, dass du in einem halben Jahr an einem total bekannten Klavierwettbewerb teilnehmen und gewinnen musst? Und dafür darfst du dann den Beruf wählen, den du gerne lernen möchtest?«

Wenn sie das so sagt, dann klingt es wirklich ziemlich hirnrissig.

»Ich weiß, dass es sich verrückt anhört«, gebe ich zu und sehe zu ihr hoch. »Aber wenn ich es schaffe, dann habe ich nicht nur einen Wettbewerb, sondern auch meine Freiheit gewonnen.«

Priya seufzt, und ein sorgenvolles Lächeln huscht über ihr Gesicht.

»Ich weiß, Babe, aber ist dir eigentlich klar, wie viel Zeit es dich kosten wird, Klavier spielen zu lernen? Und wie bist du eigentlich überhaupt auf Klavier gekommen?«

Das ist leicht.

»Du kennst doch das uralte Klavier bei uns zu Hause. Ein Erbstück auf dem niemand spielt.« Ich lasse meine Finger spielerisch über imaginäre Tasten wandern. »Bis jetzt.«

»Hm«, macht Priya und streicht Toffee, die langsam unruhig wird, beruhigend über den Hals. »Wenn das mal gut geht.«

»Das wird es!«, sage ich mit mehr Überzeugung in der Stimme, als ich eigentlich empfinde und werfe einen schnellen Blick auf meine Fitnessuhr am Handgelenk.

»Aber ich muss jetzt ganz dringend los. Ich bin spät dran.«

Noch während des Sprechens springe ich auf und renne los.

»Ruf mich nachher auf jeden Fall an und erzähl mir alles«, brüllt Priya, und ich winke ihr über die Schulter zu, während ich zu meinem Rad laufe.

Ausgerechnet heute hat Mom mir erlaubt, mit dem Rad zu fahren. Allerdings auch nur, weil meine Springstunde am Morgen war und sie einen unaufschiebbaren Friseurtermin einhalten musste.

Tja, und gerade jetzt wäre ich wirklich dankbar für das Auto. Ich springe aufs Rad und registriere gerade noch, dass ich nicht einmal mehr genug Zeit haben werde zu duschen. Mist. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich werde sicher einen großartigen ersten Eindruck bei meinem neuen Klavierlehrer hinterlassen.

Atemlos trete ich in die Pedale und versuche zu retten, was zu retten ist.

Ben

Es ist zehn nach elf, und ich werfe bereits zum wiederholten Mal einen genervten Blick auf die laut tickende Uhr an der Wand des Unterrichtszimmers. Meine neue Klavierschülerin verspätet sich ganz offensichtlich, und wenn es etwas gibt, das ich überhaupt nicht leiden kann, dann ist es Unpünktlichkeit.

Obwohl ich selbst ein eher verpeilter Typ bin, sind mir die Unterrichtszeiten heilig, und ich erwarte von meinen Schülern, dass sie das genauso sehen.

Um die Wartezeit zu überbrücken, spiele ich einige Tonleitern durch. Nach der dritten habe ich mich warmgespielt und improvisiere gerade ein bisschen herum, als die Tür mit Karacho auffliegt und ich erschrocken herumfahre. Ich sehe auf die Gestalt im Türrahmen, blinzle und sehe noch einmal hin. Das Bild hat sich nicht verändert. Das Mädchen, oder vielmehr die junge Frau im Türrahmen erinnert mich an eine irische Prinzessin. Ihre Haare sind flammend rot, ihre Haut hell und ihre dunkelgrünen Augen blitzen, als sie mich ansieht.

»Hi, Sie müssen Benjamin Foster sein.« Ihre Stimme klingt klar, und irgendetwas daran jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.

»Äh, was? Ja, der bin ich«, bringe ich stotternd hervor und frage mich gleichzeitig verzweifelt, was mit mir los ist. Noch immer starre ich verwirrt auf die feuerrote Lockenpracht, die eine Art Eigenleben zu haben scheint. Durch eines der hohen Fenster fällt Tageslicht ins Zimmer und taucht sie in einen geheimnisvollen Lichtstrahl.

»Sorry, dass ich zu spät bin. Ich hab auf dem Reitplatz total die Zeit vergessen, und als ich endlich hier war, dachte ich, ich muss nach nebenan«, plappert mein Gegenüber munter drauflos, kommt auf mich zu und streckt mir die Hand entgegen.

»Hi, ich bin …«

»Charlotte, richtig?«, falle ich ihr ins Wort, stolz darauf, dass ich mich wieder gefangen habe.

»Charlie!« Es klingt empört. »Niemand nennt mich Charlotte, klar? Ich hasse diesen Namen.«

»Sorry.« Abwehrend hebe ich die Arme. »Ich dachte nur, weil …«

»Ja, auf meinem Anmeldebogen steht Charlotte«, gibt sie mit einem schmerzverzerrten Gesicht zu. »Aber nur, weil meine Eltern mich noch überhaupt nicht kannten, als sie eine Charlotte aus mir gemacht haben.«

Unwillkürlich muss ich schmunzeln, ob der Theatralik in ihrer Stimme. Kurz nutze ich die Gelegenheit, die junge Frau genauer zu betrachten. Erst jetzt registriere ich, dass ihre schlanken Beine in Reithosen stecken und ihre Fingernägel nicht ganz sauber sind. Wie merkwürdig. So ist bisher noch kein Schüler zu meinem Unterricht erschienen. Aber eigentlich ist es ja auch egal, was sie trägt. Immerhin ist sie jetzt da.

»Schön dich kennenzulernen, Charlotte«, begrüße ich sie und werfe einen Blick auf die Uhr an der Wand. »Allerdings bist du fast eine Viertelstunde zu spät, und in einer halben Stunde kommt schon mein nächster Schüler.«

Ein Schatten legt sich über ihr Gesicht.

»Aber ich brauche diese Zeit. Ich muss bis August Klavier spielen können.«

Verdattert halte ich inne. Ich bin ziemlich sicher, dass ich mich verhört habe, muss aber doch noch einmal nachfragen. »Du musst bitte was?«

August. Bis dahin ist es nicht einmal mehr ein halbes Jahr. Sicher habe ich mich verhört. Ganz sicher. Diese Sicherheit verschwindet allerdings im nächsten Moment wieder, als Charlotte, nein, Charlie wieder das Wort ergreift.

»Ich muss bis August Klavier spielen können«, wiederholt sie ganz langsam, als wäre ich begriffsstutzig. »Und zwar so gut, dass ich in der Anfängerkategorie der Cleveland International Piano Competition gewinne.«

»Du willst im August am CIPC teilnehmen?« Ich schnappe nach Luft. Ich habe in meiner Zeit als Klavierlehrer ja schon einiges erlebt, aber das hier ist neu.

»Ich will nicht nur teilnehmen! Ich will gewinnen«, stellt sie klar und entlockt mir damit ein fassungsloses Lachen.

»Dir ist schon bewusst, dass ich Klavierlehrer bin und kein Zauberer?«

Ich versuche bewusst, es lustig klingen zu lassen, dabei meine ich es ganz ernst. In einem halben Jahr lernt niemand wirklich gut Klavierspielen. Außer vielleicht, wenn man das absolute Wunderkind vor sich hat.

»Und wie stellst du dir das vor?«, frage ich Charlie, die mich aus großen Augen ansieht. Wie sie so dasteht mit ihrem wirren Haar und der hellen Haut, erinnert sie mich mit einem Mal an eine der Porzellanpuppen, die meine Granny sammelt und die bei ihr überall im Haus herumstehen. Sie wirkt zerbrechlich, und doch blitzt mir aus ihren Augen so viel Stärke entgegen, dass ich beinahe Angst habe, ihr einen Wunsch abzuschlagen. Allerdings bin ich hier wirklich nicht sicher, wie genau das ablaufen soll.

»Na, das müssen Sie mir sagen«, erklärt sie just in diesem Moment. »Ich habe von Klavier keine Ahnung, aber ich weiß, dass ich es lernen muss, und zwar schnell. Und dafür brauche ich Sie. Also: Wie läuft das ab?«

Eine so couragierte Art bin ich nicht gewohnt. Meine besten Freundinnen sind zwar auch starke Charaktere – besonders Georgie – aber Charlotte, Charlie, sie ist irgendwie anders.

»Hab ich Sie überrollt?« Plötzlich blitzt Reue in ihrem Gesicht auf. »Tut mir leid. Meine Mutter sagt immer, dass ich den Leuten schnell zu viel werde mit meiner Art. Ich kann auch einfach den Mund halten.«

Sie macht eine Geste, als würde sie ihre Lippen mit einem Schlüssel verschließen. »Ehrenwort.«

Ohne es zu wollen, breche ich in Gelächter aus, und sie schlägt sich die Hand vor den Mund.

»Scheiße.«

Wie sie so vor mir steht, erinnert sie mich mit einem Mal so sehr an einen begossenen Pudel, dass ich gar nicht anders kann. Das Lachen schüttelt mich immer mehr, und irgendwann bemerke ich, dass Charlie ebenfalls zu lachen begonnen hat.

»Na gut«, prustet sie. »Den Mund halten ist vielleicht wirklich nicht gerade meine Stärke. Aber dafür bin ich gut in anderen Sachen.«

Von einer Sekunde zur anderen bleibt mir das Lachen im Hals stecken. O, das glaube ich dir aufs Wort, schießt es mir durch den Kopf, und im nächsten Moment verschlucke ich mich an meiner eigenen Spucke. Ich beginne hektisch zu husten. Woher kommt das denn um alles in der Welt?

»Ist alles okay mit Ihnen?« Charlies erschrockenes Gesicht taucht neben mir auf, und sie klopft mir behutsam auf den Rücken. Leider macht die sanfte Berührung ihrer Hand die ganze Situation nicht besser. Eher im Gegenteil.

»Ja«, keuche ich dennoch und atme erleichtert auf, als sie wieder einen Schritt zurücktritt. »Bitte sag doch du und nenn mich Ben.«

»Du bist ganz rot im Gesicht, Ben«, stellt sie trocken fest, und ich beiße die Zähne zusammen. Verdammt! Was ist nur los mit mir? Ich bin doch sonst um keine Antwort verlegen. Mir fällt immer etwas ein, und für eine gute Pointe würde ich vieles tun.

»Ich …«

Das ist eine Premiere. Mir fällt nichts ein. Ich habe keine Ahnung, wie ich auf diese Situation reagieren soll. Also wirklich gar keine. Immerhin hat der Husten nachgelassen, und ich reiße mich zusammen.

»Sorry«, entschuldige ich mich schließlich und gehe nicht weiter auf das Thema von gerade ein. »Du hast also wirklich vor, im August den CIPC zu gewinnen. Was ist die Geschichte dahinter? Hast du eine Wette verloren? Nein warte«, mir kommt ein Gedanke, und ich recke wissend meinen Finger in die Höhe. »Du hast um eine Million Dollar gewettet, richtig? Und du warst betrunken, als du es getan hast.«

Charlie rollt mit den Augen. Ich sehe es ganz deutlich.

»Leider falsch«, sagt sie achselzuckend. »Ich bin erst achtzehn, und mein Dad würde mich umbringen, wenn ich trinken würde.«

Bei ihren Worten wird mir eiskalt. Es ist nicht die Tatsache, dass sie erst achtzehn ist, die mir zu schaffen macht, sondern der Rest ihres Satzes. Mein Dad würde mich umbringen.

»Du, das war nur ein Scherz.«

Charlie ist wohl aufgefallen, dass ich nicht mehr lache. »Mein Dad ist zwar der Sheriff und hat auch eine Waffe. Aber wenn ich betrunken wäre, würde er mich vermutlich nur bei Wasser und Brot im Keller einsperren. Er ist ja kein Unmensch.«

»Haha.«

Es klingt halbherzig, und ich hoffe, dass sie nicht merkt, wie nah mir diese Situation geht. Vor allem, weil ich nicht dazu bereit bin, auf Fragen zu antworten. Ich rede mit niemandem über das, was mich bedrückt. Niemals. Und schon gar nicht werde ich mit jemandem darüber sprechen, den ich gar nicht kenne.

»Du trinkst also keinen Alkohol?« Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren und das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. »Und dein Dad ist wirklich der Sheriff?«

»Nur kein Mitleid.« Sie zuckt die Achseln und streicht sich eine widerspenstige Haarsträhne hinter die Ohren. »Es ist nur noch viel schlimmer, als du es dir vorstellen kannst.«

»Noch schlimmer?«, ulke ich und frage mich gleichzeitig, wie es sein kann, dass ich hier mit einer Klavierschülerin sitze und wir miteinander plaudern, als würden wir uns schon Ewigkeiten kennen. Ich war schon immer ein offener Mensch, aber diese Situation ist selbst für mich merkwürdig.

»Viel schlimmer.«

Plötzlich klingt Charlie ernst. »Weißt du, ich bin eigentlich nur hier, um ihm etwas zu beweisen.«

Irritiert runzle ich die Stirn.

»Inwiefern kannst du deinem Dad etwas beweisen, indem du hier bei mir bist?«

»Doch nicht, indem ich bei dir bin.« Wieder rollt sie mit den Augen. »Ich meinte, dass ich ihm etwas beweise, indem ich Klavier lerne und diesen bescheuerten Wettbewerb gewinne.«

Nach dieser Erklärung bin ich nicht wirklich schlauer. Eher im Gegenteil.

»Hä?«

Meine Reaktion entlockt Charlie ein Schmunzeln.

»Das ist eine längere Geschichte«, sagt sie, und bei ihren Worten werfe ich einen Blick auf die Uhr.

»Fuck«, fluche ich leise, denn in weniger als zehn Minuten wird schon mein nächster Schüler kommen.

»Ich fürchte, wir kommen heute nicht mehr dazu, Klavier zu spielen«, sage ich bedauernd. »Aber gib mir doch bitte mal eine Kurzversion. Warum ist es so wichtig, dass du am CIPC teilnimmst und gewinnst?«

Einen Augenblick lang ist es still im Zimmer. Durch die Fensterscheiben tönt entferntes Vogelzwitschern zu uns, und es kommt mir vor, als könnte ich mein Herz schlagen hören. Nach einer kleinen Ewigkeit atmet Charlie tief durch.

»Weil meine ganze Zukunft davon abhängen könnte.«

Ihr Flüstern ist nahezu unhörbar, aber doch so, dass ich sie und ihre Worte verstehen kann. Allerdings nicht den Sinn dahinter. Was kann das Klavier nur mit ihrer Zukunft zu tun haben?

Aber bevor ich sie genau das fragen kann, klopft es an der Tür. Charlie und ich fahren zusammen, als wären wir zwei Kinder, die man beim Kekse klauen erwischt hat.

»Das muss mein nächster Schüler sein.«

»Wirst du mir helfen, Ben?«

Obwohl ich nicht sicher bin, ob das eine gute Idee ist, kann ich nach einem Blick in ihre grünen Augen nicht ablehnen.

»Ich werde dir helfen.«

Ich spreche leise, aber ein Lächeln umspielt meine Lippen. »Kannst du Mittwoch zur selben Zeit wieder hier sein?« Mittwoch ist übermorgen, und ich habe das Gefühl, es wäre noch unendlich viel Zeit bis dorthin.

»Ja!«

Die Antwort kommt schnell und klingt erleichtert.

Erneut klopft es an der Tür. Dieses Mal ungeduldiger.

»Herein.«

Jeremy, mein nächster Klavierschüler, kommt ins Zimmer geschlendert.

»Bin ich zu früh?«

An seiner Stimme und seinem Gesichtsausdruck kann man deutlich erkennen, dass er keine Lust hat, heute hier zu sein. Normalerweise verstehe ich ihn nur zu gut. Klavier zu unterrichten gehört nicht gerade zu meinen liebsten Beschäftigungen.

Na gut, das ist untertrieben. Ich hasse es. Ich hasse es, dass ich großenteils talentlosen und uninspirierten Kids erlauben muss, die schwarzen und weißen Tasten des großen Flügels zu malträtieren. Leider ist es die einzige Möglichkeit, meinen Berufswunsch zu verfolgen.

Schon seit meiner Kindheit weiß ich, was ich einmal werden möchte. Mein größter Traum ist es, eines Tages eine ganze Halle voller Menschen mit meiner Musik zu verzaubern.

»Tschüss, Ben.«

In Charlies Augen stehen viele Gefühle. Dankbarkeit, Verlegenheit und noch etwas, das mein Herz ins Stocken bringt.

»Bis Mittwoch.«

Die Worte kommen nur mühsam über meine Lippen. Ich beobachte sie, während sie den Raum verlässt und die Tür hinter ihr ins Schloss fällt.

Dann wende ich mich an Jeremy, der bereits am Klavier sitzt und die Nase rümpft.

»Warum stinkt es hier nach Pferd?«

 

Später am Tag habe ich endlich alle meine Unterrichtsstunden für heute hinter mich gebracht und fühle mich leer und ausgelaugt.

Der Raum mit dem Flügel, den die Wesleyan mir für meinen Unterricht zur Verfügung stellt, liegt leer vor mir. Wie am Ende jedes Tages desinfiziere ich die Tasten des Flügels mit einem Feuchttuch, schließe vorsichtig den Deckel und verberge das Prachtstück unter einer weichen Abdeckung.

Dann ordne ich die Noten, schließe die Tür hinter mir und atme tief durch.

»Was für ein Tag.«

Ich lasse meine Schultern kreisen, während ich das Universitätsgebäude verlasse und die kühle Luft inhaliere, die mir entgegenkommt.

Zu Fuß mache ich mich auf den Weg nach Hause. Die WG, in der ich zusammen mit einem schweigsamen Kerl namens Todd wohne, liegt nur ein paar Straßen vom Campus entfernt, und ich genieße die Bewegung, während sich meine Gedanken im Kreis drehen.

Immer wieder sehe ich grüne Augen und rotes Haar vor mir. Lange Beine in Reithosen und ein Lächeln, bei dem sich eine kleine Stupsnase niedlich kräuselt.

Scheiße, Foster! Nun reiß dich bitte mal zusammen.

Ich will nicht ständig an Charlie denken. Was hat sie mit mir angestellt, dass meine mühsam aufgebauten emotionalen Mauern so einfach nachgegeben haben? Ich will nie wieder so für jemanden fühlen, und schon gar nicht so schnell.

Dass Charlie mich so fasziniert, ist nicht gut. Eine Seite in mir schreit regelrecht danach, ihr nicht zu helfen, während die viel größere, verräterische Seite Mittwoch kaum noch erwarten kann. Unsere erste wirkliche Klavierstunde.

Genau, das ist es, und nicht mehr, rufe ich mir ins Gedächtnis. Du gibst ihr Klavierunterricht, und mehr wird nie zwischen euch beiden sein.

Inzwischen stehe ich vor dem großen Gebäude, in dem unsere Wohnung liegt, und krame umständlich meinen Schlüsselbund hervor.

Todd ist nicht da, als ich eintrete, und wie so häufig, wenn ich hierher zurückkomme, überrollt mich eine heftige Welle der Einsamkeit. Ich vermisse das kleine Haus, in dem ich mit Georgie, Jessy und Noah gelebt habe.

Ich vermisse Lucky, die dreifarbige Glückskatze, und ich vermisse Jessys Labrador Darcy. Natürlich freue ich mich für meine Freundinnen, deren Leben sich in eine klare Richtung entwickelt, aber gleichzeitig fühlt es sich an, als würde ich selbst ewig auf der Stelle treten.

Da fällt mir mein Versprechen an Jessy ein, und ich wähle Alex’ Nummer, während ich mir eine Tasse Kaffee aufgieße.

Es tutet ein paar Mal, bevor er sich meldet.

»Ja?«

»Ich bin’s, Ben.«

»Hey, Kumpel.« Alex klingt erschöpft. »Was gibt’s?«

»Eigentlich wollte ich nur fragen, ob du nicht heute Abend Lust hast, was trinken zu gehen.«

Noch während ich es ausspreche, rolle ich mit den Augen, weil es sich so merkwürdig anfühlt. Alex ist inzwischen ein guter Freund von mir, und jetzt komme ich mir gerade wie ein Spion vor.

»Klar.« Alex, der nichts von meinen Gedanken ahnt, klingt erfreut. »Wollen wir ins Joe’s