Cover

Mia Morgowski

Die Nächste, bitte

Ein Arzt-Roman

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Mia Morgowski

Mia Morgowski ist Graphik-Designerin und gebürtige Hamburgerin. Viele Jahre hat sie in verschiedenen Werbeagenturen gearbeitet. 2008 erschien ihr Debütroman «Kein Sex ist auch keine Lösung», der es auf die Spiegel-Bestsellerliste schaffte und sich bisher fast 200 000–mal verkaufte. Die Verfilmung kommt im Herbst 2011 in die Kinos. Zu Recherchezwecken für ihren neuen Roman war Mia Morgowski bei diversen Ärzten. Ihrem Hausarzt bleibt sie dennoch treu.

 

Mehr zu der Autorin unter: www.miamorgowski.de

 

Weitere Veröffentlichungen:

Kein Sex ist auch keine Lösung

Auf die Größe kommt es an

Über dieses Buch

Paul Rosen will Karriere machen: als Anti-Aging-Doc. Da stimmt das Geld, und die Frauen ziehen sich freiwillig aus. Nur Nella nicht. Die findet ihren neuen Hausarzt zwar ungeheuer attraktiv, aber auch ganz schön unverschämt. Und vor allem total unfähig. Denn das von ihm empfohlene Mittel gegen ihre Flugangst entpuppt sich zwei Tage später als wirkungslos. Der Trip nach Genf ist die Hölle. Und der einzige Arzt an Bord – Dr. Paul Rosen! Doch der Halbgott in Weiß hat ganz andere Sorgen: Sein zukünftiger Chef denkt, er sei verheiratet. Nur wo kriegt Paul so schnell eine Ehefrau her?

 

Das beste Mittel gegen Langeweile und Liebeskummer: der neue Arzt-Roman von Bestsellerautorin Mia Morgowski.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung: yellowfarm gmbh, Stefanie Freischem

(Abbildung: plainpicture/Schiesswohl)

Skizzen im Innenteil: Mia Morgowski

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-25637-0 (1. Auflage 2011)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-44261-0

www.rowohlt-digitalbuch.de

 

ISBN 978-3-644-44261-0

Eine Frau wechselt im Leben mehrfach den Lover, aber niemals ihren Hausarzt. Nella Johannsen

1. Paul

Mittwochvormittag

«Falls Sie mein Schulterblatt suchen – das ist auf der anderen Seite.»

«Ich weiß.»

«Und warum grapschen Sie dann an meinem Busen herum, Dr. Rosen?»

«Ich grapsche nicht an Ihrem Busen herum, sondern untersuche Ihren Pectoralis.»

Genervt lasse ich die Hände sinken und strafe meine Patientin, Konstanze Schlichting, mit strengem Hausarztblick. «Sie haben doch über diffuse Rückenschmerzen geklagt, oder etwa nicht?»

Frau Schlichting nickt aufmüpfig.

«Na also. Die Ursache für diese Schmerzen muss aber nicht zwangsläufig in Ihrer Schulter zu finden sein. So etwas kann auch mal ausstrahlen. Vom Pectoralis zum Beispiel. Und den untersuche ich gerade, nicht Ihren Busen.»

Himmel, was mache ich hier eigentlich? Warum lasse ich jetzt schon seit beinahe einem halben Jahr tagtäglich diesen Schwachsinn über mich ergehen? Ich meine, ich habe doch nicht sechs Jahre Medizin studiert, mich anschließend durchs praktische Jahr gequält und nebenher noch diverse Fortbildungen besucht, um mich nun mit solchen Verrückten herumzuschlagen. Warum kommen die überhaupt in meine Sprechstunde, wenn sie ohnehin alles besser wissen? Und wie, zur Hölle, konnte ich nur annehmen, mein Vater finanziere mir mein Studium, ohne dabei einen Hintergedanken zu hegen? Schöner Mist. Einen Idioten hat er gesucht. Einen, der in seiner Praxis die Patienten betreut, auf die er keine Lust hat. Weil sie einem nämlich den letzten Nerv rauben.

Dabei war das überhaupt nicht so geplant. Also, von mir jedenfalls nicht. Weder wollte ich in der Hausarztpraxis meines Vaters arbeiten, noch hatte ich vor, hier in Hamburg zu versauern. Mir war nämlich bereits im ersten Studiensemester klar, wo ich hingehöre: New York. Oder Toronto. Meinetwegen auch Lausanne oder Monaco. Nur, um mal ein paar Beispiele zu nennen. Das sind doch Metropolen mit echten Perspektiven. Dort bekommt man nämlich für seine Fähigkeiten noch etwas geboten. Anerkennung beispielsweise und – noch viel wichtiger: Geld. Denn wenn man sich, wie ich, auf Anti-Aging spezialisiert hat, kann man davon einiges verdienen.

Ein jugendliches Äußeres lassen sich die Leute heutzutage etwas kosten. Das, was die Rolex in den Achtzigern und der Porsche Boxster Ende der Neunziger war, ist heute das faltenfreie Gesicht. Statussymbol Nummer eins. Denn auch wenn Lifting für mich persönlich noch kein Thema ist – schließlich haben meine besten Jahre gerade erst begonnen –, kann ich den Wunsch danach durchaus nachvollziehen. Und solange sich die Bedürfnisse meiner Patienten in einem vertretbaren Rahmen bewegen, erfülle ich sie ihnen. Warum auch nicht? Sonst suchen sich die Leute einen anderen Arzt, der dann sein Konto füllt. Besser also, ich lege selbst Hand an. So bekomme ich das Geld und der Patient höchste Qualität. Für beide Beteiligten also ein gutes Geschäft.

Und mal ganz ehrlich: Nach gefühlten tausend Fortbildungen habe ich mir ein bisschen Entschädigung in Form von Ruhm und Reichtum auch wirklich verdient. Vom Institut für Liquid-Lifting über die Anti-Aging-Academy bis hin zur Molekularkosmetischen Klinik habe ich nämlich jede nur erdenkliche Möglichkeit genutzt, meine Kenntnisse zu vertiefen. Im Anschluss an die Ausbildung folgten dann noch zahlreiche Studien für Pharmafirmen. Ich habe einige tausend Falten unterspritzt und nebenbei im Bereich Ernährung, Körpertraining und Hormonersatz so gut wie jedes Zertifikat erworben, das sich die Branche hat einfallen lassen. Kurz: Ich bin nicht nur einer der Besten auf dem Gebiet der nichtoperativen Faltenbehandlung, ich kann dem Alterungsprozess auch ganzheitlich entgegenwirken.

Nur ist dieser ganzheitliche Ansatz inzwischen kaum mehr gefragt. Wer sich heute optisch verjüngen will, hat meist keine Zeit. Er möchte sofort sichtbare Ergebnisse, nicht erst nach jahrelangem Gemüseverzehr. Außerdem darf man sich da nichts vormachen: Gesunde Ernährung mag in vielerlei Hinsicht sinnvoll sein, aber wer genetisch auf Tränensäcke, Schlupflider und Nasolabialfalten programmiert ist, dem hilft das Grünzeug auch nicht viel.

Leider hat mein Vater für diese Art der Medizin keinerlei Verständnis. Schlimmer noch: Mein Vorhaben, mich auf ästhetische Schönheitsmedizin zu spezialisieren, hält er für ausgemachten Schwachsinn. Für ihn ist alles, was mit Facelift zu tun hat, ein Albtraum und Anti-Aging nur etwas für Amerikaner. Und von denen gibt es hier, im Hamburger Stadtteil Sankt Georg, nun mal keine. Das behauptet er jedenfalls. Sehr schade, denn wäre er nur ein bisschen empfänglich für Trends und würde mal ein paar Euro in die Praxisausstattung stecken, könnte auch bei ihm am Ende des Quartals die Kasse klingeln. Schon ein, zwei neue Behandlungsgeräte würden ihn auf Dauer finanziell besser dastehen lassen. Dann würde er möglicherweise sogar endlich eine anständige Kaffeemaschine anschaffen. Dieser Filterkaffee, den er uns zumutet, schmeckt nicht nur abscheulich, sondern ist vermutlich sogar gesundheitlich bedenklich.

Aber Geld interessiert meinen Vater nun mal nicht, und Geldausgeben noch viel weniger. Er gönnt sich nur das Nötigste, fährt einen schätzungsweise hundert Jahre alten Daimler, besitzt einen etwa ebenso alten Rauhaardackel mit Namen Bruno, und in Stoßzeiten sowie als Urlaubs- oder Krankheitsvertretung muss meine Mutter in der Praxis aushelfen. Unentgeltlich selbstverständlich. Aber dafür macht er ihr immerhin in regelmäßigen Abständen Geschenke. Etwa alle zehn Jahre. Das letzte Mal, an das ich mich erinnern kann, war im Jahr 2002. Damals meldete der Elektrofachhandel Brinkmann Insolvenz an und veräußerte seinen Restbestand zu Dumpingpreisen. Mein Vater erwarb bei dieser Gelegenheit einen Radiowecker und für meine Mutter ein Epiliergerät.

So ein Leben möchte ich nicht führen. Niemals. Und das nicht nur, weil ich mich vor Epiliergeräten fürchte.

Warum ich trotzdem in seiner Praxis gelandet bin? Weil ich mich habe überreden lassen. Von meiner Mutter. Anfang des Jahres beschloss mein Vater nämlich, mir einen Strich durch die Karriereplanung zu machen. Kaum war ich mit meinen Fortbildungen durch, da bekam er einen Herzinfarkt. Einfach so. Nichts Dramatisches, aber schlimm genug, um ihn für eine Weile außer Gefecht zu setzen. Und an dieser Stelle kam dann meine in Tränen aufgelöste Mutter ins Spiel. Immer schon seine Geheimwaffe. Ob ich denn nicht wenigstens die Krankenvertretung machen könne, wollte sie wissen. Nur ein paar Monate und vielleicht noch eine klitzekleine Übergangszeit. Seit in unserem Einzugsgebiet so viel gebaut würde, komme Vater mit der Arbeit ohnehin kaum noch hinterher. Außerdem solle er nach der Reha nicht gleich wieder das volle Arbeitspensum vor sich haben. Und deswegen sei meine Unterstützung unerlässlich.

Und hier bin ich nun. Am Ende dieser vermeintlichen Übergangszeit und am Ende meiner Nerven.

Doch es gibt einen Lichtstrahl am Horizont. Bald wird sich mein Leben von Grund auf ändern. Bald hat das Horrorszenario hier ein Ende. Weil ich dann nämlich im Ausland den längst verdienten Karrieresprung machen werde. Weit weg von dieser vorsintflutlichen Praxis mit den verstaubten Geräten und dem noch verstaubteren Patientenstamm. Falls alles so läuft, wie ich es eingefädelt habe, werde ich schon bald Partner von Professor Schümli sein, einem angesehenen Schweizer Schönheitschirurgen, der mit seiner kleinen, exklusiven Privatklinik in Genf expandieren will. Hierfür sucht er einen professionellen Partner. Einen, der sich genau um den Bereich kümmert, der mein Spezialgebiet ist: Anti-Aging. In seiner Klinik tummeln sich bereits jetzt die Prominenten, und bald werden diese sich darum reißen, von mir behandelt zu werden. Dann finden sich in meiner Patientenkartei Namen wie Beckham, Hilton oder Ricola, und sehr bald wird auch Schümlis neue Klinik eine Institution und werde ich ein reicher Mann sein.

«Herr Doktor?» Frau Schlichting, die sich inzwischen den kompletten BH vom Leib gezerrt hat, presst ihren Busen gegen meinen Bauch. «Ich wollte Ihnen eben nicht zu nahe treten, aber  na ja, Sie wissen schon  Ihr Ruf eilt Ihnen nun mal voraus.»

Also, viel näher könnte sie mir eigentlich kaum mehr treten. «Frau Schlichting, wollen Sie damit andeuten, mein Ruf ist es, dass ich Brust und Schulter, also vorn und hinten, nicht unterscheiden kann?»

Sie schürzt die Lippen. «Nein, nein, das vielleicht nicht gerade. Aber vorn und hinten, das scheint mir schon ein gutes Stichwort zu sein »

«Ich verstehe nicht ganz.»

«Na ja, Ihr Ruf als Frauenheld  Der eilt Ihnen voraus. Und jetzt tun Sie bloß nicht so, als würde Ihnen das nicht schmeicheln.»

Ich sag’s ja: Hier sind nur Verrückte. Wäre dies nicht die Praxis meines Vaters, hätte ich Konstanze Schlichting vermutlich längst zum Kollegen Krunze überwiesen. Dem eilt nämlich ebenfalls ein Ruf voraus, und zwar der des Vollstreckers. Wer auf irgendeine Art und Weise schräg rüberkommt, wird von Dr. Krunze schneller in die Psychiatrie gesteckt, als er «Ich fühle mich heute irgendwie nicht wohl» sagen kann. Ja genau, zu Krunze sollte ich Frau Schlichting vielleicht mal überweisen. Dann ist sie dort, wo sie hingehört. In ihrem Fall würde die Diagnose lauten: supranasale Symptomatik – ein vorgetäuschter Fachausdruck, der lediglich dazu dient, den behandelnden Kollegen zu warnen: Achtung, die Patientin hat eine ausgeprägte Meise im Oberstübchen.

Eventuell sollte ich bei Frau Schlichting zusätzlich «Überdosis Klinik unter Palmen» vermerken. Denn ausgestattet mit dem Gala-befeuerten Verlangen nach Skandalen und klatschblattmäßiger Unterhaltung taucht sie einmal die Woche in meiner Sprechstunde auf, um in meinem Privatleben herumzustochern. Und als hätte ich sonst nichts zu tun, geht sie mir mit ihren ausgetüftelten Pseudowehwehchen, denen man weder mit modernster Labordiagnostik noch ausgefuchsten Untersuchungsmethoden auf die Schliche kommen kann, mächtig auf die Nerven.

«Liebe Frau Schlichting, meine Tätigkeit hier dient einzig dem Wohle der Patienten. Falls die eine oder andere Dame dabei den Eindruck bekommen hat, dass »

«Papperlapapp», unterbricht sie mich. «Jetzt hören Sie mal mit dem Quatsch auf, Dr. Rosen. Ich bin ja nicht blöd.» Plötzlich kichert sie wie eine wahnsinnige schamanische Kräuterhexe. «Seit Sie hier in der Praxis praktizieren, braucht man drei Wochen, um einen Termin zu bekommen. Früher konnte ich ohne Voranmeldung in der Sprechstunde erscheinen.»

«Früher gab es auch dieses Neubaugebiet gegenüber nicht. Seitdem ist das Wartezimmer voll, und deswegen bin ich hier. Nicht umgekehrt.»

Frau Schlichtings Kichern wird noch einen Tick wahnsinniger. «Nein, Herr Dr. Rosen, das stimmt so nicht.» Den Rest des Satzes raunt sie mir direkt ins Ohr: «Es liegt sehr wohl an Ihnen!»

Ich komme nicht dazu, mich ein weiteres Mal zu rechtfertigen, denn jetzt drückt sie mir ihre Brust noch etwas fester gegen den Körper und sieht mich mit dem Augenaufschlag eines in die Jahre gekommenen Dessous-Models an. «Also bei mir dürften Sie Ihrem Ruf gern einmal gerecht werden »

In diesem Moment klopft es. Kurz, aber energisch, und zwei Sekunden später betritt mein Vater unaufgefordert den Raum.

«Oh, guten Tag Frau Schlichting, wo drückt denn der Schuh heute?», fragt er in lockerem Tonfall. Etwa so, als träfe er sie gerade zufällig in der überfüllten U-Bahn und nicht mit dem Busen voraus an den Bauchnabel seines Sohnes gepresst. «Kümmert mein Junior sich gut um Sie?» Verschmitzt zwinkert er ihr zu.

Von seiner Charmeoffensive angestachelt, zwinkert sie zurück. Ob sie meinem Vater wohl auch schon Avancen gemacht hat, überlege ich. Möglicherweise hat er mir deshalb heimlich ihre Karteikarte untergejubelt. Vielleicht ist sie ihm aber auch einfach nur auf die Nerven gegangen. So wie mir jetzt.

«Ach, danke, Herr Doktor. Ihr Sohn ist ganz reizend zu mir. Sie können sich glücklich schätzen, eine so tüchtige Hilfe zu haben.»

Mein Vater winkt ab. «Dafür habe ich Paul schließlich studieren lassen. Und nun ist es an der Zeit, dass er seine Studiengebühren abarbeitet. Hahaha!»

Witzig. Die Schlichting findet es offenbar tatsächlich komisch, denn sie klatscht in die Hände, wofür sie sich endlich von meinem Bauch lösen muss. Brüstewackelnd stimmt sie meinem Vater zu. «Wie praktisch! Dann müssen Sie sich um Ihre Nachfolge ja keine Sorgen machen, nicht wahr? Der Junior wird den Laden hier schon schmeißen.» Wieder dieser Augenaufschlag.

Herrje, jetzt stochert die dumme Kuh auch noch in der Familienwunde herum: das elende Praxisübernahme-Thema, das eigentlich gar keines ist. Von Übernahme kann nämlich keine Rede sein. Mein Vater wird vermutlich noch praktizieren, wenn Daimler, Rauhaardackel und auch das Epiliergerät längst das Zeitliche gesegnet haben. Und meinetwegen soll er das auch. Ich will seinen Provinzkarteikasten ganz bestimmt nicht haben. Und wenn er sich endlich eingesteht, ohne die erforderlichen Neuanschaffungen und modernen Konzepte nicht mehr klarzukommen, werde ich ohnehin längst in der Schweiz sein. Dann kann er sich einen anderen suchen, der nach seiner Pfeife tanzt.

«Hat mein Sohn Ihren Pectoralis untersucht?» Schon fängt mein Vater an, sich einzumischen. «Schulterschmerzen können durchaus mal von der Brust her ausstrahlen, nicht wahr, Paul? Vergiss den Pectoralis nicht!»

Unglaublich. Als wäre ich Student im ersten Semester, hat er sich hinter meinem Rücken an den Schreibtisch geschlichen und studiert meine Eintragungen in der Patientenakte. Noch etwas, das längst nicht mehr zeitgemäß ist. Ich meine, wer benutzt denn heute noch herkömmliche Karteikarten? Ich kenne jedenfalls keinen Kollegen, der sich nicht kaputtlachen würde, wenn man ihm davon erzählte. Im Zeitalter der Digitalisierung erfolgen die Eintragungen natürlich längst am Computer. Und ohne selbst ein Technikfreak zu sein, wage ich dennoch zu behaupten, dass mein Vater sich aufgrund der fehlenden Elektronik langsam zum Gespött der Branche macht. Mal abgesehen davon, dass er mit anderen Praxen bald nicht mehr kommunizieren kann. Aus diesem Grund hat meine Mutter zumindest schon mal einen Computer für den Empfang angeschafft, und ich habe mir selbst einen in mein Sprechzimmer gestellt. Ich möchte nämlich nicht ausgelacht werden.

«Paul! Hast du den Pectoralis untersucht?» Mein Vater gibt nicht auf.

Was glaubst du wohl, was ich hier gerade mache?, hätte ich gern erwidert, aber wenn einem die entblößte Brust einer Frau am Bauch klebt, kann so eine Antwort schon mal falsch interpretiert werden. Also knurre ich nur zustimmend.

Mein alter Herr ignoriert es. Zufrieden, sich ein bisschen eingemischt zu haben, leitet er seinen Rückzug ein. «Also, Frau Schlichting, ich wünsche Ihnen gute Besserung. Bis zum nächsten Mal!», flötet er fröhlich und wirft noch einen letzten Blick auf ihren Busen, ehe er seinen Kontrollgang beendet und sich trollt.

Kaum hat er das Sprechzimmer verlassen, springt die Schlichting auf. Kurz befürchte ich, sie würde nun halbnackt hinter meinem Vater herstürzen und behaupten, ich hätte statt des Pectoralis ihren Busen begrapscht. Doch sie greift sich nur schweigend den BH und streift sich mit einstudierter Laszivität die Träger über. Dann plinkert sie mich an. Jetzt folgt die Kumpel-Nummer: «Also mal unter uns, Herr Dr. Rosen, Sie sind doch gar nicht der Typ für eine Hausarztpraxis in St. Georg. Sie haben doch bestimmt andere Pläne, oder?»

Mir reicht es. Das zahlt mir doch kein Mensch. Und seit man für Beratung und Untersuchung nur noch 35 € pro Quartal bekommt, beschränkt sich mein Bedürfnis nach Smalltalk mit Patienten ohnehin auf attraktive Blondinen und männliche Sportbootbesitzer. Vor allem auf solche, die ihr Große-Jungen-Spielzeug zum Freundschaftspreis an mich veräußern möchten.

«Frau Schlichting, ich könnte wirklich noch stundenlang mit Ihnen plaudern, aber das Wartezimmer ist voll, und ich bin leider bereits im Verzug. Sie sind kerngesund und lediglich ein bisschen verspannt. Deshalb sollten Sie regelmäßig Ihre Gymnastik machen.» Mein Blick ist streng. «Aber das sagte ich Ihnen ja bereits, als Sie wegen der zwickenden Hüfte, dem steifen Hals, den Quietschgeräuschen im Knie und der Morgensteifheit hier waren.» Pause. Und erneuter strenger Blick. «Wenn also sonst nichts mehr anliegt »

Dann würde ich Sie jetzt gern hier herauskatapultieren.

2. Nella

Mittwochvormittag

11 Uhr 05. Scheiße, Scheiße, Scheiße! Kann meine Versichertenkarte nicht finden! Verdammt. Habe um 12 Uhr 30 einen Arzttermin, und die Versichertenkarte ist hierfür nun mal unerlässlich. Ist fast so etwas wie ein Clubausweis: Ohne kommt man nicht rein.

11 Uhr 10. Herrje – bin so gut wie tot. Falls ich am Freitag ohne Medizin ins Flugzeug steigen muss, sterbe ich definitiv. Höchstwahrscheinlich sogar noch ehe der Snack serviert wird. Und der Snack ist, in Bezug auf den Flug, momentan das Einzige, auf das ich mich freue.

11 Uhr 25. Gerade fällt mir ein, dass ich die Karte letzte Woche dazu benutzt habe, einen Ohrring zwischen den Bodendielen herauszufischen. Vielleicht sollte ich also mal in der Schmuckschublade nachsehen.

11 Uhr 30. Schmuckschublade negativ. Viele Suchmöglichkeiten verbleiben jetzt nicht mehr. Ich lebe schließlich nur in einer 1-Raum-Wohnung und nicht in einer 16-Zimmer-Promi-Villa.

Hm, was wohl Angelina Jolie macht, wenn sie ihre Karte verliert? Sämtliche Poolreiniger aus der Nachbarschaft zusammentrommeln, damit die ihr beim Suchen helfen? (Muss beim nächsten Umzug unbedingt darauf achten, einen Pool im Haus zu haben, um wenigstens einen wohlgeformten Poolreiniger um Hilfe bitten zu können.)

Möglicherweise hat Angelina Jolie auch nur deshalb so viele Kinder, weil Brad Pitt es satthatte, dauernd das Haus voller Poolreiniger zu haben. Und jetzt müssen die Kids beim Suchen helfen.

Dummerweise ist bei mir momentan weder an eine ausschwärmende Kinderschar noch an Umzug zu denken. Selbst wenn ich auf den Pool verzichte.

11 Uhr 35. Warum musste Leo sich auch versetzen lassen? Und dann ausgerechnet in die Schweiz. Ich meine, schlimm genug, dass es dort leckere Schokolade gibt – teuer ist es auch noch. Und weit weg. Hamburg–Genf–Hamburg, und das jedes zweite Wochenende, wer kann sich solchen Luxus schon erlauben?

Wäre definitiv schlauer gewesen, ich hätte Leo nicht weisgemacht, mein Laden werfe ausreichend Gewinn ab und ich sei finanziell unabhängig. Denn nur weil ich mich einigermaßen ernähren und eine Zwergenbehausung zahlen kann, heißt das ja noch lange nicht, dass ich reich bin. Vielleicht sollte ich einfach mal nörgeln. Andere Frauen tun das schließlich auch. Und je mehr Geld die Leute haben, um so mehr stöhnen sie ja bekanntlich. Wahrscheinlich wirke ich in Leos Augen schon total unglaubwürdig.

11 Uhr 38. Orte, an denen ich die Karte schon gesucht habe:

Orte, an denen ich Karte noch suchen könnte:

11 Uhr 51. Langsam wird es knapp. Bestimmt schließt die Praxis pünktlich, bei so etwas kennen Ärzte ja keine Gnade. Jedenfalls solange man nicht mit aufgeschlitzten Pulsadern gegen ihre Tür hämmert.

12 Uhr 15. Immer noch keine Spur von Karte. Kann nicht glauben, dass mir das passiert! Bin normalerweise weder schusselig noch unordentlich. Erst seit ich die dreißig überschritten habe, unterläuft mir ab und zu eine kleine Unaufmerksamkeit. Vermutlich verhält sich das wie mit der Altersweitsichtigkeit: ein schleichender Prozess. Irgendwann werde ich mir für alles eine Erinnerung schreiben müssen. Dann trage ich meinen Haustürschlüssel um den Hals und muss mich in regelmäßigen Abständen beim DRK melden, damit ich nicht still und einsam in meiner Wohnung vor mich hin verwese. Uhuhuuu, furchtbare Vorstellung. Bin sehr froh, für solche Sachen jetzt Leo zu haben. Leonard, genau genommen, aber das ist mir zu lang. Jedenfalls im Bett. Und wenn ich mich ärgere oder Tagebuch schreibe oder die Telefoneinheiten ticken. Leonard sage ich nur, wenn er mir nach dem Restaurantbesuch in den Mantel hilft. Eventuell würde ich es auch beim Juwelier sagen («Oh, Leonard, sieh doch nur, der Zweikaräter. Ist der nicht wunderschön?») oder – falls wir eines Tages gemeinsam reisen – am Flughafenschalter («Leonard, würdest du uns bitte zwei Sitzplätze vor den Tragflächen organisieren?»).

Himmel, mir wird schlecht. Wenn ich nur ans Fliegen denke, wird mir schon speiübel. Wie soll ich nur den kompletten Flug überstehen, ohne geeignete Medizin?

12 Uhr 21. Was für eine Schnapsidee, sich für das Flugzeug zu entscheiden! Statt wie sonst gemütlich mit dem Zug zu fahren, lockte auf einmal dieser Schnäppchenpreis: Hin- und Rückflug für nur 159 €! Wie sollte man denn da widerstehen können? Die Bahnfahrt ist meist teurer. Und dauert länger. Genau genommen kam ich beim letzten Mal so spät an, dass Leo und mir nur Zeit für ein gemeinsames Abendessen am Hauptbahnhof blieb. Danach musste ich sofort zurück, um den Laden rechtzeitig öffnen zu können.

Bin sehr froh, dass Elisa und Mashavna dieses Mal im Second-Fashion-Café die Stellung halten, so kann ich einen Tag länger bleiben. Freu mich total!

Ich meine, man muss im Leben ja auch mal dankbar sein. Schließlich ist es nicht selbstverständlich, dass man seinen Lebenstraum verwirklichen und gemeinsam mit den besten Freundinnen einen Secondhandladen mit angrenzendem Café eröffnen konnte. Ich hoffe nur, dass mein vom Universum vorgesehenes Glückskontingent damit nicht aufgebraucht ist. Ein paar Wünsche hätte ich nämlich noch.

12 Uhr 30. Unter anderem, dass der Flug problemlos verläuft!

12 Uhr 40. Jippie! Karte gefunden! Sie war im Portemonnaie, was total abwegig ist, da ich nur acht Kartenfächer habe, die eigentlich für Konto- und Bonuskarten reserviert sind. Zum Arzt geht man schließlich nicht so häufig wie zu Douglas.

12 Uhr 42. Uah! Leider zu spät. Schaffe es nun definitiv nicht mehr zu Dr. Rosen. Sehr ärgerlich. Brauche also neuen Termin, was ein Ding der Unmöglichkeit ist, da die Praxis enormen Zulauf hat, seit der arrogante und schnöselige Sohn vom Senior dort praktiziert. Dabei dachte ich bislang immer, der Sinn von Gemeinschaftspraxen bestünde darin, die Wartezeiten für Patienten zu verkürzen. Ob Dr. Rosen senior das auch weiß?

12 Uhr 55. Na ja, genau genommen kenne ich den arroganten, schnöseligen Rosen-Sohn ja gar nicht. Bin mir aber sicher, dass er arrogant und schnöselig ist. Ärztesöhne sind immer arrogant und schnöselig. Bilden sich ein, sie wären was Besseres und könnten jede Frau haben, die ihnen vor die Linse spaziert. Widerlich.

Werde einfach am Nachmittag in die Praxis gehen und behaupten, mein Termin sei um 15 Uhr. Dann soll mir erst mal jemand nachweisen, dass das nicht stimmt.

13 Uhr 11. Aber was, wenn Dr. Rosen mittwochs nachmittags gar keine Sprechstunde hat? Da sind doch die meisten Praxen geschlossen, weil die Ärzte ihre Zeit mit Golfspielen und Geldzählen verbringen, oder?

13 Uhr 15. Blick ins Internet sagt mir: Praxis Dr. Rosen hat 5 Tage von 9 bis 13 und 15 bis 18 Uhr geöffnet. Hätte mich auch gewundert, wenn der alte Mann viel Zeit zum Geldzählen braucht. Einen besonders reichen Eindruck macht der nämlich nicht. Und ’ne Sportskanone scheint er mir auch nicht gerade zu sein. Wobei es in meinen Augen im Grunde genommen sowieso fragwürdig ist, ob man Golf wirklich als Sport bezeichnen kann. Auch wenn das immer alle behaupten. Ich meine, Schlägerschwingen mit am Boden festgeklebten Füßen – das scheint mir doch eher was für Rentner oder Übergewichtige zu sein. So betrachtet ist Golf dann doch vielleicht etwas für Dr. Rosen, leicht rundlich ist er nämlich bereits. Ansonsten sieht er aus wie eine Mischung aus Dr. Stefan Frank und dem Landarzt. Also, dem alten, nicht Wayne Carpendale.

Oh Gott, was ist, wenn ich nachmittags mit dem Junior vorliebnehmen muss und der aussieht wie Wayne Carpendale? Dann traue ich mich vielleicht nicht, mein Anliegen vorzutragen. «Flugangst», höre ich ihn schon sagen, «das ist doch eine Mädchenkrankheit. Flugangst gibt es gar nicht wirklich.»

Arroganter, schnöseliger Idiot!

14 Uhr 30. Bin vor der Nachmittagssprechstunde noch mal schnell ins Café, die Mädels zur Mittagszeit unterstützen. Seit Elisa schwanger ist, braucht sie für alles etwas länger. Sie hat jetzt auch bereits frappierende Ähnlichkeit mit ihrem Hund. Also, figürlich, meine ich. Melanie ist ein Mops, den Elisa von einem Arbeitskollegen bekommen hat, und der inzwischen so etwas wie das Maskottchen unseres Ladens ist. Meist liegt er irgendwo rum und schnarcht.

Meine andere Freundin, Mashavna, schnarcht nicht. Und sie ist weder dick noch schwanger. Allerdings hat sie ihren Namen channeln lassen (hab vergessen, wie das ging). Eigentlich heißt sie nämlich Yvonne. Ihr Aufgabenbereich ist das Café – mit Mode hat sie nichts am Hut. Dafür macht sie aber tolle Grünkern-Quiches. Und Dinkel-Vollkornspaghetti mit mondbeschienener Tomatensauce.

Hach ja, weiß gar nicht, was ich ohne die beiden machen würde.

Das war schon ein wirklich schicksalhafter Tag, an dem wir zufällig bei der Pediküre nebeneinandersaßen. Mashavna meint, es hätte an der Planetenkonstellation gelegen, wohingegen Elisa steif und fest behauptet, ihr Fußpilz sei schuld gewesen. Sonst hätte sie für ein derartiges Luxusverhalten gar keine Zeit gehabt. Damals arbeitete sie nämlich noch als Graphikerin, und zwar mehr oder weniger Tag und Nacht. Erst seit sie schwanger ist und keine Lust mehr hat, sich von egomanischen Halbirren (Originalzitat Elisa) herumkommandieren zu lassen, ist sie zu uns gestoßen.

«Hast du in letzter Zeit mal den Landarzt gesehen?», fragte mich Mashavna, als ich den beiden von meinen Carpendale-Befürchtungen erzählte. «Anscheinend nicht. Der ist nämlich total nett und nimmt seine Patienten immer ernst. Also, wenn dein Doktor so drauf ist, wäre er ein echter Traummann.»

Elisa schüttelte sich. «Den findest du gut? Der ist doch schon im Film schnöselig und arrogant. Der könnte glatt ein echter Arzt sein.»

Fühle mich angesichts dieser Prognosen noch verunsicherter als vorher. Ich konnte es außerdem kaum glauben, dass sich ausgerechnet meine beiden hochintelligenten, seifenoperresistenten Freundinnen derartigen Vorabend-Schmonzetten hingaben.

«Ich war in der letzten Woche krank», entschuldigte Mashavna ihren TV-Fehltritt, «da guckt man nun mal alles, was gerade so läuft.» Sie räumte das Geschirr von einem freigewordenen Tisch, goss sich heißes Wasser in einen Teebecher und setzte sich kurz zu uns. «Dein Arzt ist bestimmt wahnsinnig nett und verständnisvoll», versuchte sie mir Mut zu machen. «Und attraktiv. Ein echter Held.»

Sie bekam so große Augen, dass Elisa es nicht länger mit ansehen konnte. «Schwachsinn. Ärzte sind nur im Fernsehen gutaussehend und nett. Im wahren Leben sind das emotionale Krüppel. Betrügen ihre Ehefrauen, tragen in ihrer Freizeit rosa Poloshirts und schlingen sich Kaschmirpullis um die Schultern. Außerdem gehen sie in jeder freien Minute Golf spielen, haben zwei kleine blonde Streberkinder und natürlich einen prächtigen Hund.» Sie steckte sich den Zeigefinger in den Hals. «Einen Golden Retriever.» Wie um Frauchens Behauptung zu bestätigen, öffnete Mops Melanie träge ein Auge. Sekunden später ließ sie es wieder zufallen.

Irritiert blickte ich Elisa an. Eigentlich dachte ich ja, in der Schwangerschaft würden Weichzeichnerhormone freigesetzt, die einen alles durch die rosarote Brille sehen lassen. Offenbar war Elisa aber dagegen resistent.

«Jetzt mach Nella doch nicht solche Angst», schimpfte Mashavna. «Hauptsache ist doch, dass der Typ ihr eine wirksame Medizin verschreibt.» Und zu mir gewandt zitierte sie den kleinen Zettel, der an ihrem Yogi-Teebeutel hing: «Selbstvertrauen meistert alle Schwierigkeiten. Also: Augen zu und durch.»

Ich konnte mir nicht helfen, aber ich fand die Vorstellung, dass mir ein rosatragendes, ehebrechendes Retriever-Herrchen ein wirksames Mittel gegen Flugangst verschreiben würde, irgendwie furchteinflößend. Daran würde auch ein selbstbewusstes Auftreten nichts ändern.

Mashavna sah mich mitfühlend an. «Du musst dir wirklich keine Sorgen machen», erklärte sie und setzte ihren Teebeutelweisheiten noch einen oben drauf: «Momentan steht Jupiter nämlich im Zeichen der Jungfrau. Das bedeutet: Dich umgibt eine unwiderstehliche Aura. Du kannst jeden haben, und keiner kann sich deinem Charme entziehen.» Sie kicherte. «An deiner Stelle würde ich geradezu darauf hoffen, dass der junge Dr. Rosen Dienst hat!»

3. Paul

Mittwoch, früher Nachmittag

«Ich lasse mich scheiden!»

Birte Morgenroth, eine der beiden Arzthelferinnen in der Praxis meines Vaters, ist noch nicht ganz zur Tür hereingekommen, da überfällt sie mich mit dieser Nachricht. Zum Glück ist meine Mutter bereits gegangen. Sie hat heute die Vormittagsschicht übernommen, da die andere Sprechstundenhilfe im Urlaub ist. Ich hätte nämlich nur wenig Lust, ein derart brisantes Gespräch in Gegenwart meiner Mutter zu führen.

«Finden Sie die Entscheidung nicht ein wenig übereilt?», frage ich vorsichtig und ignoriere Birtes strengen Blick. «Ich meine, so etwas will doch in Ruhe überlegt werden. Vielleicht sollten Sie lieber noch einmal darüber schlafen.»

Wer jetzt denkt, ich sei ein einfühlsamer Mensch, ein geduldiger Zuhörer und ein noch besserer Berater, der irrt. Allerdings ist die Frage, ob Birte Morgenroth sich scheiden lässt oder nicht, für mein Leben nicht ganz unwichtig.

«Übereilt? Man kann wohl kaum von übereilter Trennung sprechen, wenn man seinen nur noch mäßig aufregenden Partner nach acht langweiligen Ehejahren verlassen möchte. Vor allem », sie macht eine Pause und malt verträumt mit dem Zeigefinger imaginäre Linien auf den Anmeldetresen, «… wenn man endlich den Richtigen gefunden hat.»

Mir stellen sich die Nackenhaare auf. Normalerweise wäre dies jetzt ein Grund zur Freude. Für Birte und alle, die sie gern haben. Für mich ist es ein Albtraum. Und für meinen Blutdruck der Overkill.

Mit pochendem Herzen lehne ich mich gegen die Eingangstür. Zugegeben, es war eine Schnapsidee, ausgerechnet mit der Sprechstundenhilfe meines Vaters eine Affäre einzugehen. Aber um Birte kommt man einfach nicht herum. Weder als Patient noch als Arzt in dieser Praxis. Seit zehn Jahren arbeitet sie schon für meinen Vater und ist – ihren eigenen Angaben zur Folge – so etwas wie seine gute Fee. Hätte man mich gefragt, ich hätte gesagt: Sie ist ein Drachen. Um mal in der Fabelwelt zu bleiben. Nicht nur an der Anmeldung führt Birte ein strenges Regiment, auch sonst sollte man es sich mit «Frollein» Morgenroth, wie mein Vater sie trotz ihrer Hochzeit vor acht Jahren nennt, nicht verscherzen. Sie hat das Herz eines japanischen Yokosuka-Piloten und das Auftreten eines durch den Wesenstest gefallenen Rottweilers. Manchmal auch umgekehrt. Sie ist also eigentlich nicht gerade die Art von Frau, die Männerherzen höherschlagen lässt. Warum ich trotzdem mit ihr im Bett gelandet bin, weiß ich ehrlich gesagt gar nicht mehr. Möglicherweise lag es daran, dass sie sich mir an den Hals geworfen hat und ich, aus den eben aufgezählten Gründen, nicht nein sagen mochte. Vielleicht war auch ein kleines bisschen Neugierde mit im Spiel. Denn den oberkorrekten Vorzimmerfeldwebel meines Vaters mal auf zerwühlten Laken die Fassung verlieren zu sehen übte schon einen gewissen Reiz auf mich aus. Ein oder zwei gemeinsame Nächte, mehr sollten es nicht werden. Und mehr konnten es auch gar nicht werden, denn Birte ist ja, wie bereits erwähnt, verheiratet.

Als vielbeschäftigter Arzt, der noch dazu kurz vor einem wichtigen Karrieresprung steht, bin ich auch überhaupt nicht interessiert an einer festen Bindung. Lieber lasse ich mich mit verheirateten Frauen ein, das spart Zeit und Geld gleichermaßen. Denn verheiratete Frauen haben in der Regel, neben ihren häuslichen und ehelichen Pflichten, keine Zeit zu verplempern und kommen gleich zur Sache. «Nich lang schnacken – schneller knacken», pflegt ein Kollege, den ich ab und zu auf einer Fortbildung treffe, zu sagen. Und recht hat er, auch wenn man ein solches Lebensmotto besser nicht allzu laut herausschreien sollte.

Im Alltag erweist sich eine geheime Liaison jedenfalls als äußerst praktisch. Es wird nicht lange um den heißen Brei herumgeredet, sondern stattdessen, nicht selten mit erschreckendem Pragmatismus, ein passender Termin für das gemeinsame Schäferstündchen gesucht. Und die Tatsache, dass man zudem stets im Verborgenen agieren muss, ist dabei ein nicht zu unterschätzender Pluspunkt. Denn Aktivitäten, wie beispielsweise den Hund Gassi zu führen, die Freunde des anderen kennenzulernen oder gar gemeinsam Urlaub zu planen, sind bei einer Affäre natürlich tabu. Zum Glück, kann ich nur sagen. Was mir aus diesem Grund in den letzten Jahren an schlechten Filmen, schrägen Freunden und unwegsamen Spazierwegen erspart geblieben ist, möchte ich mir gar nicht näher ausmalen. Und dann ist da ja noch, wie bereits erwähnt, der Geldfaktor. Gerade als Arzt muss man ständig auf der Hut sein. Viele Frauen wollen sich erstens in deinem Doktortitel sonnen, um dich dann zweitens – ganz nebenbei – finanziell auszunehmen. Und hat der Mann erst einmal seine Kreditkarte gezückt, gibt es für Frauen meist kein Halten mehr. Heute soll es eine Tasche sein, morgen die passenden Schuhe dazu. Übermorgen fehlt ein Kaschmirmantel, dann eine Nerzstola und ein Brillantring. Dann harmoniert die Haarfarbe mit all dem nicht mehr, das Auto erscheint plötzlich mickrig, und die Wohnung wird für den ganzen Krempel zu klein. Kurz: Es ist ein Fass ohne Boden. Bei einer verheirateten Frau allerdings kein Problem. Da ist man als Liebhaber in der glücklichen Lage, gar nichts kaufen zu dürfen. Viel zu auffällig! Zwar sagt man ja den meisten Ehemännern nach, dass sie sich im Kleiderschrank, in der Schmuckschatulle und in der Seele ihrer Frau etwa so gut auskennen wie ein Tasaday in Tokio, aber Vorsicht! Mit Ausnahmen muss man immer rechnen.

Natürlich gibt es auch Nachteile, wenn man die Affäre ist, also der Fremd-Mann: Man wird gnadenlos vollgequatscht. Frauen wollen ständig und über alles reden. Über ihre Befindlichkeiten, ihren Mann, über den neuen Fitnesstrainer, die Ehe von Tom Cruise und – besonders beliebt – über ihre Menstruation. Sie fühlen ständig irgendetwas und schrecken nicht davor zurück, es dir mitzuteilen. Bis ins kleinste Detail. Frauen brauchen mehr Aufmerksamkeit als ein nepalesischer Zimmerbambus, und ich bin heilfroh, dass bei einer Affäre die Gesprächszeit begrenzt ist.

Aber wenn man über diese kleinen Unwegsamkeiten hinwegsieht, sind verheiratete Frauen im Grunde genommen gut zu handhaben. Und so dankbar. Gebeutelt von den Strapazen ihrer freudlosen Ehe, reicht es meist an Aufmerksamkeit, wenn man nach dem Sex nicht sofort einschläft. Besondere Glücksmomente kann man erzeugen, wenn man ihnen ein Kompliment macht, Interesse zeigt oder sie etwas fragt. Beispielsweise: Wie war dein Geburtstag/deine Präsentation/der Abend im Theater/dein Besuch beim Enthaaren?

Nicht selten empfinde ich allerdings Mitleid mit den betrogenen Ehemännern. Und zwar nicht weil sie die Gehörnten sind, sondern weil sie wirklich die Arschkarte gezogen haben. Man kann es Frauen nun mal nicht recht machen, wird aber als Ehemann ständig zu Höchstleistungen angestachelt. Verdient man beispielsweise viel Geld, ist man entweder zu selten zu Hause, oder es ist nicht genug Geld. Geht man in Elternzeit, verlieren Frauen den Respekt. Kauft man ihnen ein Haus, beschweren sie sich über die Gartenarbeit. Schenkt man ihnen eine Ferienwohnung, könnte diese gern etwas größer und nach Möglichkeit woanders sein. Blablabla.

Nein, ein Ehemann möchte ich nicht sein. Niemals.

«Paul?», macht sich Birte Morgenroth wieder bemerkbar, «passt dir mein Vorschlag nicht?» Der Rottweiler in ihr scheint unruhig zu werden. Ihre Stirn kräuselt sich bereits beängstigend, und es scheint mir nur noch eine Frage der Zeit, bis sich Schaum um ihren Mund bildet.

«Entschuldigung, was hast du gesagt?» Vor lauter Stress vergesse ich, Birte zu siezen. Das passiert mir in der Praxis nur höchst selten. Hier muss man schließlich immer damit rechnen, dass mein Vater überraschend um die Ecke biegt. Und der hält nichts vom Duzen, es sei denn, man ist blutsverwandt.

Birte ignoriert das gern. «Ich möchte, dass wir meine Scheidung am Wochenende in Ruhe besprechen und gegebenenfalls erste Schritte in die Wege leiten. Es gilt keine Zeit zu verlieren.» Jetzt hat der Yokosuka-Pilot die Oberhand, und der scheint fest entschlossen, die alles zerstörende Bombe abzuwerfen. Und zwar schon an diesem Wochenende.

Wozu nur die Eile? Meinetwegen muss sie sich doch gar nicht scheiden lassen. Im Gegenteil.

Mist, ich bin wahrlich ein Vollidiot. Als Liebhaber kann man nämlich eigentlich nur einen einzigen Fehler machen, und den habe ich offenbar gemacht: zu verständnisvoll sein. Dann denken Frauen sofort, du seiest der einzige Mann auf Erden, der ihnen alles geben kann: multiple Orgasmen, Kelly Bag und niemals endende Aufmerksamkeit. Da tickt offenbar selbst Birte Morgenroth nicht anders. Und im Grunde genommen hätte ich mir natürlich auch denken können, dass eine Frau, die ihre Haare zum Knoten hochsteckt und ihre Röcke grundsätzlich wadenlang trägt, unter ihrem weißen Kittel auch eine weiße Weste behalten möchte.

Birte ändert die Taktik. «Hach, Paul », stößt sie auf eine Art und Weise aus, die so gar nicht zu ihr passt. Dazu ergreift sie meine Hand und streichelt mit dem Daumen zärtlich über meinen Handrücken.

Ich bekomme eine Gänsehaut und … Da fällt mir etwas ein. «Frollein Morgenroth», versuche ich im Tonfall meines Vaters die nötige Würde zurückzuerlangen, «dieses Thema möchte ich lieber ein andermal mit Ihnen besprechen.» Nämlich gar nicht. «Allerdings ist es am Wochenende ungünstig. Ich werde verreisen und komme erst Mitte nächster Woche zurück.»

An diesem Wochenende werde ich nämlich nach Genf fliegen, um meine Pläne mit Professor Schümli festzuzurren. Ich soll seine neuen und alten Praxisräume besichtigen und – wenn alles nach Plan läuft – noch vor meiner Abreise den Vertrag unterzeichnen. Dann ziehe ich spätestens in einem halben Jahr in die Schweiz, und mein alter Herr kann sich einen neuen Handlanger suchen. Und Birte sich einen neuen Liebhaber.

Allerdings sollte mein Vorhaben bis dahin geheim bleiben. Mein Vater würde mir den Alltag in der Praxis zur Hölle machen, und Birte scheint mir eindeutig auf einem ähnlichen Trip zu sein.

«Ich fahre zur Hochzeit eines Exkommilitonen in die Schweiz», trage ich Birte deshalb dieselbe Lüge vor, die ich auch meinem Vater aufgetischt habe. Im Geiste mache ich drei Kreuze, dass ich sie nicht mit meiner Flugbuchung beauftragt habe. Wer weiß, ob mein Geheimnis bei einer frustrierten Ehefrau sicher wäre.

«Aber hier im Plan steht weder etwas von einer Dienstreise, noch hast du dich in die Urlaubsliste eingetragen», geht der Stress auch schon los. «Wie stellst du dir das vor? Ich habe schließlich Termine für dich gemacht. Und außerdem bist du für nächsten Mittwoch zum Nachmittagsdienst eingetragen.» Sie fixiert mich mit kaltem Blick. «Du kannst hier unmöglich weg.»

Wie bitte? Es kann ja wohl nicht sein, dass eine Angestellte darüber entscheidet, wie und mit wem ich mein Wochenende verbringe. Affäre hin oder her. Außerdem hätte Birte zum Thema Scheidung ja mal ein paar Frauenzeitschriften zu Rate ziehen können. Im Wartezimmer liegen schließlich genug davon herum. Dann wüsste sie nämlich jetzt, dass höchstens zwei Prozent aller Liebhaber von einer verheirateten Frau verlangen, dass sie sich scheiden lässt. Insbesondere dann nicht, wenn man bereits mit ihr schläft.

«Ich habe diesen Urlaub mit meinem Vater abgesprochen. Wenn er vergessen hat, dich zu informieren, ist das nicht mein Problem.» Ich bleibe sachlich, vergesse allerdings wieder, Frollein Morgenroth zu siezen. «Und noch etwas » Langsam werde ich sauer. «Wenn du mal in deinen Wochenplan gucken würdest, dann wüsstest du, dass ich bereits diese Woche Mittwochnachmittag Dienst habe. Und der beginnt», genervt blicke ich auf die Uhr, «genau jetzt!»

4. Nella

Mittwochnachmittag