ALASTAIR HUMPHREYS

EIN

SOMMER

DREI

MELODIEN

KEIN

TALENT

Aus dem Englischen
von Astrid Gravert

1. Auflage 2020

© Alastair Humphreys, 2019

© 2020 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Die englische Originalausgabe ist unter dem Titel »My Midsummer Morning« bei William Collins, London, erschienen

Übersetzung: Astrid Gravert

Lektorat: Regina Carstensen

Umschlaggestaltung und Karte: FAVORITBUERO, München

Satz: typopoint GbR, Ostfildern

Fotos: Alastair Humphreys

www.dumontreise.de

FÜR SARAH

Little darling, the smiles returning to the faces …

The Beatles, »Here comes the Sun«

»Aber ich war in Spanien und auf dem Weg in ein neues Leben.«

»Du hast es so gewollt. Mach was draus.«

Laurie Lee, An einem hellen Morgen ging ich fort

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»Ich musste in Bewegung sein, um atmen zu können.«

INHALT

TAGTRAUM

LEBEN

AUGENBLICK

LAURIE

ABENTEUER

BECKS

MUSIKSTUNDE

ANFÄNGE

NACH SPANIEN

ANGST

ERSTER AUFTRITT

HOFFNUNG

ERMUTIGUNG

VORBEREITUNG

DER ERSTE TAG

DIE ERSTE NACHT

GEPÄCK

LIEDER

EHE

KINDERWAGEN

KLEOS

SPIELE

HILFE

FISCHEN

EIN TAG

MORGENDÄMMERUNG

GESUNDHEITSCHECK

RHYTHMUS

FESTMAHL

PRIVILEG

VERÄNDERUNGEN

TRAMPEN

CAMPING

IM SCHUPPEN

STRASSENMUSIK

MENSCHEN

DER SCHÖNSTE TAG

GRACE

BROT

SIESTA

REZEPTE

POSTBOTE

ABEND

WÖLFE

FREMD SEIN

ANKOMMEN

KAFFEE

FREUNDLICHKEIT

GLÜCKSSPIEL

BUSCANDO

MUT

GEDANKENSPIELE

ALLEIN

FIESTA

RUHEPAUSE

CHORIZO

PARTY

SCHATZSUCHE

WALD

ERLAUBNIS

THUNDER ROAD

INTERVALL

BERGE

FLUSS

LETZTER AUFTRITT

MAUER

DIE LETZTE NACHT

MADRID

VERGANGENHEIT

BELOHNUNG

SONNTAGSBRATEN

DER GEIGENKASTEN

PACKLISTE

DANK

TAGTRAUM

W enn ich Reisebücher lese, sage ich mir manchmal: Du könntest dieses Buch jetzt weglegen, hinausgehen und dich auf den Weg machen. Die sonnenbeschienene Straße ruft. Du musst nirgendwo sonst sein. Kannst dich frei entscheiden.

Nur mal angenommen.

Wenn ich gehen könnte, würde ich es tun?

Eine staubige hellgraue Straße windet sich durch die Orangenhaine. Sommerhitze und Zitrusgeruch. Zikaden schreien in der ruhigen Stille. Ein silbernes Flussband durchzieht das grüne Tal unten. Das eintönige Läuten einer Glocke und Steinhäuser, die sich um eine Kirche drängen. Das Blau entfernter Berge. Der Tag liegt lang und offen vor mir.

Beim Wandern halte ich den glatten Hals einer imaginären Geige dicht unters Kinn, die Finger tanzen auf den Saiten. Mit der rechten Hand tue ich so, als würde ich einen Bogen führen, und ich pfeife, während ich gehe. Ein Lebenslied. Eines der Lieder, die sich mir tief eingebrannt haben, persönlich und lieb gewonnen. Mein Einsatz ist vorbei, und ich bin außer Atem. Ich gehe vom Pfeifen der Melodie zum Schreien des Refrains über. Das Aufstampfen mit den abgetragenen Stiefeln unterbricht meinen Gehrhythmus, aber ich kann dadurch meine überschäumende Lebensfreude herauslassen. Ein Lied, ein Tanz, eine Reise, alles für mich.

Die spanische Sonne brennt auf meinem Rücken. Aber ich nehme es mit Wollust, als Beweis meiner Fitness, eine glänzende Medaille für mein tägliches Pensum von zweiunddreißig Kilometern. Ich bin schlank und stark geworden, gestählt. Mein Rucksack enthält nur das Nötigste, und das reicht. Eine Decke, Brot, eine halbe Flasche Wasser. Außen ist meine Geige befestigt, die richtige. Sie ist zerbrechlich, aus glattem Ahornholz und der magische Schlüssel zu dieser Reise. Ohne sie bin ich normal. Noch ein Mann, der im Laufe der Jahrhunderte durch Spanien zieht. Aber mit dieser Geige bin ich ein Musikant und ein Träumer. Heute Abend, unterm Sternenhimmel, werde ich Musik und Lachen in das Dorf auf der anderen Seite des Tals bringen. Tänzer werden Münzen in meinen umgedrehten Hut auf dem Boden werfen, die im Mondlicht glänzen, wenn sie sich drehen.

Wohin ich auch gehe, ich hinterlasse Glück, und die ganze Welt liegt vor mir. Die zufriedene Erschöpfung nach physischer Anstrengung unter einem blauen Sommerhimmel. Sich einfach nur darauf konzentrieren, von der Kunst zu leben, die man liebt. Sorgloser Sonnenschein. Musikalische Einsamkeit und die verlockende Spontaneität der Straße.

Nur mal angenommen.

Wenn ich gehen könnte, würde ich gehen?

LEBEN

I ch sah auf. Seufzte. Ich war nicht in Spanien, sondern irgendwo in der Nähe von Slough, saß in einem langsamen Zug ins Nirgendwo. Ich klappte das Buch zu, eine Geschichte von Sonne, Musik und Abenteuer. Montagmorgen zog vorbei, mit Nieselregen und Trostlosigkeit. Ich sah Pubs mit Flachdächern, Lagerhäuser aus Beton, kahle Bäume, matschige Parkplätze, Kettenläden, Stacheldrahtzäune, Müll und Pfützen. Hier lebte ich. Das war mein Leben.

Bücher bringen mich weit weg. Das genieße ich, denn ich bin mit Fernweh geschlagen, der Sehnsucht, woanders zu sein. Mein ganzes Erwachsenenleben bin ich entweder durch die Welt gezogen, habe mich darauf vorbereitet, oder mir gewünscht, ich würde es tun. Ich werde ganz aufgeregt, wenn es Zeit zum Packen ist und den Pass in die Hosentasche zu stecken, und niedergeschlagen, wenn ich nach Hause komme und den Pass in die Schublade lege. Zurückzukommen ist zwangsläufig enttäuschend, macht die Hoffnung zunichte, dass Wegzufahren irgendwie alle meine Probleme gelöst haben könnte.

Zum ersten Mal las ich An einem hellen Morgen ging ich fort, als ich vom Reisen zu träumen begann und anfing, mein eigenes Leben zu leben. Der Autor, Laurie Lee, hatte England noch nie verlassen, bevor er 1935 in Vigo anlegte. Er hatte die vage Idee, Richtung Süden durch Spanien zu wandern und seinen Lebensunterhalt durch Geigespielen zu bestreiten. Laurie schlief unter freiem Himmel ohne Zeitplan oder Deadline, lebte von Brot und billigem Wein und flirtete fröhlich. Das Buch ist ein wunderschöner bukolischer Lobgesang auf pures Abenteuer und auf die Freiheit, möglich durchs Geigenspiel. Es trug mich fort zu sonnenbeschienenen Hügeln und Dörfern, und ich träumte davon, Laurie eines Tages nach Galizien zu folgen. Ich wollte die gleiche Unsicherheit und Spannung in meinem beständigen, von Gewohnheiten geprägten Leben.

Aber es gab ein großes Problem. Ich konnte weder Geige noch irgendein anderes Instrument spielen. Ich hatte ein Jahr Klavierunterricht gehabt, als ich ungefähr zehn war, bis meine Mutter es leid war, einen unwilligen, talentlosen Jungen zum Üben zu zwingen und ich aufhören durfte. Ich erinnere mich noch an den Musiklehrer in der Schule, Mr McKeown (ein Tyrann, der später als Pädophiler geoutet wurde), der sich über mein schüchternes, unmelodisches Singen vor der Klasse lustig machte, sodass die in Gelächter ausbrach. Ich lief vor Scham rot an und kämpfte mit den Tränen. Von da an fürchtete ich den Musikunterricht. Heutzutage werde ich beim bloßen Gedanken nervös, öffentlich auftreten zu müssen. Ich hasse Karaoke und Tanzen. Mir rutscht das Herz in die Hose, wenn ich den Satz höre: »Stellen Sie sich den anderen vor und erzählen Sie uns ein bisschen von sich.«

Realistisch betrachtet könnte ich mich niemals mit Straßenmusik durch Spanien schlagen. Aber Lauries Spuren mit der Brieftasche zu folgen statt mit einer Geige wäre einfach eine Wanderreise. Das ging am Kern der Sache vorbei. Fünfzehn Jahre schob ich den Plan auf, an einem Sommermorgen in Spanien loszugehen. Ich träumte oft von der Reise, aber der musikalische Aspekt machte den Plan zunichte. Stattdessen fuhr ich mit dem Fahrrad um die Welt. Ich durchquerte Südindien und die Wüste Rub al-Chali. Ich durchquerte Island mit dem Schlauchboot. Ich ruderte über den Atlantik, war auf Grönland und auf dem Arktischen Ozean nahe dem Nordpol. Jede Expedition brachte Fähigkeiten und Ideen für weitere Reisen. Es gelang mir sogar, diese Abenteuer zu meinem Beruf zu machen. Ich war der glücklichste Mann in der Stadt.

Aber dann hörte bei der Reise nach Jerusalem – wenn man das Leben mal so betrachtet – die Musik auf. Ich stellte fest, dass ich schon seit Jahren auf demselben Stuhl gesessen hatte und aus dem Fenster des Pendlerzugs starrte. Die ewig gleichen Programme wiederholten sich. Wachsende Panik ergriff mich wegen der Türen, die sich hinter mir schlossen. Ich nannte mich einen Abenteurer, aber mein Leben war nicht mehr abenteuerlich. Ich war nicht mehr stolz auf die Geschichte, die ich schrieb.

Die Frau neben mir im Zug war spät dran und wütend. Sie tippte ihren Unmut nieder, dokumentierte ihn in hin- und hergehenden Textnachrichten. Tipp. Tipp. Tipp. Pause. Beep. Tipp. Tipp. Tipp. Ich lenkte meine Aufmerksamkeit von den Straßen auf mein Spiegelbild im schmutzigen, regenbespritzten Fenster. Was ich sah, gefiel mir nicht. Ich fand mich langweilig. Ich hatte mich angepasst und war häuslich geworden. Für die meisten Menschen ist das der akzeptierte Lebensweg. Ich beneide sie. Für mich funktionierte es nicht. Ich musste in Bewegung sein, um atmen zu können. Ich hatte aufgegeben. Ich war nicht mehr neugierig, frei oder hatte Freude am Leben. Ich sehnte mich danach, wieder unterwegs zu sein, die berauschende Luft neuer Orte einzuatmen, ein schwieriges, aber unmittelbares Ziel zu haben. Stattdessen tingelte ich umher und erzählte dieselben alten Geschichten, um die Rechnungen zu bezahlen.

Im überfüllten Zug las ich die letzte Seite des Buchs. Dann blickte ich durch das regennasse Fenster. Der Zug wurde langsamer und hielt. Es war meine Station.

»Spanien entfernte sich von mir, leuchtend hell am Horizont, und ich ließ es dort unter den kupferfarbenen Wolken zurück.« Und ich dachte, ja, ich sollte das Leben leben, das ich noch leben könnte.

AUGENBLICK

I ch blickte auf das Buch in meinem Schoß und seufzte. Dann holte ich das Handy aus der Tasche, krümmte und verrenkte mich dazu auf dem engen Sitz. Statt in die sozialen Medien zu flüchten, öffnete ich Google.

Ich gab mit dem Daumen den Suchbegriff »Geigenlehrer in der Nähe« ein.

Eine Website tauchte auf, ich fand eine E-Mail-Adresse, und bevor ich Zeit zum Nachdenken hatte, begann ich zu schreiben.

AN: Becks Violin

VON: Alastair Humphreys

BETREFF: Können Sie mir ganz schnell Geigespielen beibringen?

Jede Reise, jede Richtungsänderung beginnt mit einer winzigen Tat, die sich schnell widerrufen und leicht vergessen lässt. Eine Handlung ohne verbindliche Konsequenzen, sodass es keinen Grund gibt, es nicht zu tun. Keinen Grund außer Trägheit oder Angst. Der schwierigste Teil jedes Abenteuers ist dieser eine Moment. Die Entscheidung, einen Anfang zu machen, in Bewegung zu kommen, die Grenzen deiner Normalität zu verschieben, vielleicht sogar dein ganzes Leben umzukrempeln.

Ich drückte auf »Senden«.

LAURIE

L aurie Lee und ich begegneten uns zum ersten Mal als Teenager, obwohl er dreiundsechzig Jahre älter war als ich. Laurie lebte in einem grünen Tal in Gloucestershire und war, ermutigt vom Alkohol, hauptsächlich damit beschäftigt, mit jedem Mädchen im Dorf zu schlafen. Ich las Cider mit Rosie für den mittleren Schulabschluss in Englisch, vermied Blickkontakt mit dem jähzornigen, nach Nikotin und Tweed riechenden Lehrer und konzentrierte mich mit ganzer Willensanstrengung darauf, dass die Mittagsglocke mich rettete. Es war nicht das letzte Mal, dass ich Laurie beneidete.

Als Laurie und ich uns das nächste Mal begegneten, in unseren Zwanzigern, suchten wir beide das Abenteuer. In meinem letzten Jahr an der Universität fiel mir in der Reiseecke eines Charity Shops eine alte Ausgabe von An einem hellen Morgen ging ich fort, die Fortsetzung von Cider mit Rosie, in die Hände.

»Das wird dir gefallen«, bemerkte der Freund, mit dem ich dort herumstöberte. »Es handelt von einem Typen, der durch Spanien wandert, immer ein bisschen angetrunken vom Wein.«

Ziggy erinnerte sich gut und gerne daran, dass seine Eltern das Hörbuch auf langen Autoreisen im Sommer abspielten, während die Kinder zusammengequetscht auf der Rückbank saßen, die Beine an den Kunstledersitzen klebend. Dies ist das dritte Reisebuch, das ich schreibe, in dem Ziggys Familie schon früh vorkommt. Das ist kein Zufall. Sie haben auf der ganzen Welt gelebt und gearbeitet, abseits der Konvention, nicht das getan, was alle anderen tun, nur weil es alle anderen tun.

Ziggy und ich trafen uns regelmäßig in einem schmierigen Café, um unsere Kater zu pflegen oder uns nach einem Lauf am Fluss entlang bei frostigen Temperaturen zu erholen. Wir sprachen unaufhörlich übers Reisen und über Abenteuerpläne, die wir gerade hatten. Ziggy wollte in Afrika leben. Ich wollte auf Reisen gehen. Wir waren wie nervöse Rennpferde, die darauf warteten, dass sich endlich das Startgatter öffnet, ungeduldig, dass der langweilige Teil zu Ende geht und wir über die Startlinie ins richtige Leben stürmen konnten. Bis dahin verbrannte ich meine Energie im Boxclub der Universität, mit Footballspielen im Matsch und Blödsinn. Es machte Spaß, aber noch einmal: Eigentlich wollte ich das tun, was Laurie tat.

Im Café, in dem so reger Betrieb herrschte, dass die Scheiben beschlagen waren, schlug ich, den Teebecher in der Hand, das Buch auf. Auf dem Cover war ein junger Mann abgebildet, der unter klarem blauem Himmel barfuß auf ein Dorf mit roten Dächern zuwanderte. Ich habe noch dieselbe Ausgabe, sie ist jetzt vergilbt und abgegriffen. An bestimmten Stellen öffnet sich sie von selbst, denn ich lese es fast jedes Jahr wieder.

Auf der Universität habe ich als Ersatz für ein interessantes Leben Bücher über Polarforschung und Bergsteigen verschlungen. Diese Geschichten am Rande des Möglichen, in denen die Besten der Besten das Härteste vom Harten vollbringen, waren aufregend, aber unerreichbar für einen unerfahrenen Jungen wie mich. Lauries Buch war anders. Es kam mir wie eine poetische Version meines eigenen Lebens vor. Ein junger Mann, der die dörfliche Enge satthat, träumt davon, die Welt zu sehen. Er hat nicht viel Geld. Seine Mutter winkt zum Abschied im Garten. Zuerst hat er mehr Heimweh als Heldengefühle. Soweit alles wie bei mir.

Mir wurde klar, dass ich mich auf einen Beruf vorbereitete, den ich nicht so aufregend fand, wie das Leben meiner Meinung nach sein sollte. Ich stellte mir vor, wie enttäuscht ich sein würde, wenn ich es durchzog, wenn ich einen Job machte, der gesellschaftlichen Erwartungen entsprach. Und wie ich dann in vierzig Jahren in Rente ging und nichts vorzuweisen hatte als ein paar Kinder, die mich nicht respektierten, ein paar Urlaubsfotos und einen üblen Geruch des Bedauerns über unerfüllte Träume.

Ich war nur auf die Universität gegangen, weil alle meine Freunde es getan hatten. Es war eine privilegierte, aber naive Entscheidung, denn es war mir buchstäblich nicht in den Sinn gekommen, dass es möglich war, etwas anderes zu machen. Ich wurde zum Lehrer ausgebildet, träumte aber davon, Entdecker zu sein – was für eine unrealistische Idee. Während meine Klassenkameraden ihre Lebensläufe an verschiedene Colleges schickten, informierte ich mich über die Aufnahmebedingungen in der Fremdenlegion, über die vom Special Air Service (SAS) und vom MI6. Ich wollte Chaos, keine Stundenpläne. Heute erstaunt es mich, dass ich damals so wenig über das Leben wusste, dass es nur diese beiden Optionen gab: die Legion oder die Unterrichtsplanung. Vernünftig und realistisch oder spannend, aber absurd.

»Wie soll in einem verflixten Büro irgendetwas Aufregendes passieren?«, rief Laurie aus, nachdem er im Anschluss an die Schule einen Job bei Randall & Payne, einem Wirtschaftsprüferbüro, angenommen hatte. Lauries Freundin sagte: »Wenn es nicht unverschämt ist zu fragen, warum verschwindest du nicht aus Stroud? Du verschwendest deine Zeit und wirst hier niemals glücklich werden. Selbst wenn du anderswo kein Glück findest, du wirst zumindest leben.«

Wenig später gab Laurie mit einem kurzen Brief seinen Job auf:

Sehr geehrter Mr Payne,

ich eigne mich nicht für Büroarbeit und kündige meine Stelle bei Ihrer Firma.

Hochachtungsvoll Laurie Lee.

Laurie verließ seine Heimat an einem Morgen im Hochsommer und wanderte nach London. Er hatte noch nie zuvor eine große Stadt gesehen. Er fand Arbeit beim Bau von »drei unschönen Wohnblocks«, schob eine Schubkarre mit Zement vorbei an Cockneys und Schwindlern, denen es hauptsächlich um Gelegenheitsdiebstahl, Glücksspiel und billige Zigaretten ging. Laurie sparte Geld, wartete den richtigen Augenblick ab und hielt durch. »Nie in meinem Leben habe ich mich so stark gefühlt«, notierte er nachträglich. »Ich erinnere mich, dass ich eines Morgens auf dem windigen Dach stand, in den bewegten Himmel blickte und plötzlich dachte, dass ich überall auf der Welt hingehen könnte, wenn der Job beendet war.«

Laurie zog verschiedene fremde Länder für sein erstes Abenteuer in Betracht, »Namen mit einem leicht theatralischen Beigeschmack«. Aber ein hübsches argentinisches Mädchen hatte ihm einen einzigen spanischen Satz beigebracht: »Déme un vaso de agua, por favor.«

Und so entschied sich Laurie für Spanien.

An einem hellen Morgen ging ich fort war an dem Tag in dem Café wie ein Sirenengesang für mich, und seitdem hatte Spanien es mir angetan. Und Lauries Art zu reisen. Er wanderte langsam und lebte einfach (außer nach einem unverhofften Glücksfall, wenn er verschwenderisch einkaufte. Ein einziger Straßenmusikauftritt brachte so viel ein, dass Laurie ein paar Liter Wein kaufen konnte, die er mit ein paar Mädchen auf einer Dachterrasse trank, von der man die ganze Stadt überblickte). Er campte auf Hügelkuppen, lebte in den Tag hinein und genoss die Begegnungen mit den Menschen, die er unterwegs traf.

Laurie hat meine Auffassung vom Reisen geprägt. Reiseschriftsteller müssen nicht so tun, als wären sie unfehlbar oder unbesiegbar wie die traditionellen Forscher, die nichts erschüttert. Reisen mussten nicht aufsehenerregend oder von Konkurrenzdenken geprägt sein. Abenteuerreisen waren nicht selbst ernannten »Abenteurern« vorbehalten. Laurie zeigte mir eine andere Sicht; dass normale Menschen – wie ich – auch die Welt sehen konnten. Ich musste mich nur aufmachen. Ich brauchte keine Erfahrungen oder besondere Kenntnisse. Die würde ich unterwegs sammeln. Dieser dürre junge Poet, arm und naiv, machte mir Mut und gab mir gleichsam die Erlaubnis loszulegen.

Alles, was ich mir vom Leben erhoffte, war da draußen, versteckt vor aller Augen, und wartete darauf, dass ich es entdeckte. Genug Entschuldigungen! Ich wäre selbst schuld, wenn ich meine Chance im Leben verpasste. Ich konnte zwar nicht Geige spielen und deshalb nicht als Straßenmusikant durch Spanien ziehen, aber ich konnte doch bestimmt etwas anderes?

Sehr geehrter Mr Walker,

danke, dass Sie mir eine Stelle als Lehrer an Ihrer Schule anbieten. Ich würde sicher gerne dauerhaft hier arbeiten. Aber es gibt auf der Welt so viel zu sehen und zu unternehmen. Ich bin sicher, das Unterrichten würde mir Freude machen, wenn ich mich daran gewöhne, aber es würde immer etwas an mir nagen. Deshalb habe ich beschlossen, meinen ursprünglichen Plan durchzuführen und zwei oder drei Jahre mit dem Rad um die Welt zu fahren. Tief in meinem Innern weiß ich, dass es wahrscheinlich vernünftiger wäre, Lehrer zu werden. Aber noch tiefer in mir weiß ich, dass ich es immer bereuen würde, wenn ich jetzt die Chance hätte, etwas zu tun, und sie nicht ergreifen würde.

Mit freundlichen Grüßen

Alastair Humphreys

ABENTEUER

An: Alastair Humphreys

Von: Becks Geige

Betreff: Re: Können Sie mir ganz schnell Geigespielen beibringen?

Hi Alastair, danke für deine E-Mail. Wow, was für eine spannende Aufgabe! Ich würde dir gerne helfen und bin sicher, dass wir dir für dein Abenteuer einige Melodien (mit Hingabe!) beibringen können …

Becks

BECKS

D ie leichtfertige E-Mail, im Zug geschrieben, hatte etwas in Bewegung gesetzt. Aus einem Traum wurde ein Entschluss: Wie Laurie mit einer Geige und ohne Geld durch Spanien zu ziehen. Am nächsten Morgen ging ich zum ersten Mal im Leben in eine Musikalienhandlung. Ich war nicht in der Stimmung, eine Geige zum Ausprobieren zu leihen oder nach Schnäppchen bei eBay zu suchen, während ich mich langsam und vorsichtig vortastete. Ich musste schnell und entschlossen vorgehen, bevor mein unrealistischer Anfall von Begeisterung verflog. Ich verließ den Laden mit einer glänzenden neuen Geige unterm Arm.

Der Plan für ein Abenteuer ist gut, wenn dich die Idee begeistert und dir gleichzeitig Angst macht und du nicht sicher bist, ob sie genial oder bescheuert ist.

Ich hatte keine Ahnung, wie man auf meinem neuen Instrument spielte, und die Idee, auf der Straße für Geld zu spielen, war lächerlich. Trotzdem schien es mir vernünftig, vor dem Sommer zumindest eine Handvoll Lieder zu lernen. Aber welche sollte ich wählen? Mit Sicherheit Thunder Road. Einen Dylan-Song, der mich als Bohemien erscheinen ließ, vielleicht einen Flamenco oder zwei. Ich würde sie auswendig lernen, und wenn ich dann in Spanien wäre, könnte ich sie sofort spielen. Es wäre öde, immer wieder dieselben Stücke darzubieten, aber es würde reichen, den Plan umzusetzen, eine Menge aufzurütteln und die Menschen dazu zu bewegen, auf der Straße zu tanzen.

Meine erste Unterrichtsstunde änderte alles.

Als ich zu der Geigenlehrerin fuhr, kaute ich an den Nägeln, starrte stirnrunzelnd aufs Navi, verlangsamte das Tempo bei Bodenschwellen in der Wohnsiedlung und spähte durch die Scheibenwischer. Ich parkte das Auto, wich den Pfützen aus, als ich die Straße entlangging, die Geige neben mir baumelnd. Es kam mir albern vor, so zu tun, als wäre ich Musiker, und ich sah mich nach allen Seiten um, ob mich jemand beobachtete. Die Neigung, mir Gedanken darüber zu machen, was andere Leute denken, war eines der größten Hindernisse, die vor mir lagen. Ich fand Becks Haus, eine normale Doppelhaushälfte. Die Mülleimer waren voll, der Rasen musste gemäht werden. Ich klingelte.

Als ich »Geigenlehrer« gegoogelt hatte, war ich überrascht gewesen, wie viele es gab. Dutzende Profilfotos blickten mich an. Wonach sollte ich gehen? Einige trugen Brillen und hatten ordentliche Frisuren: richtige Lehrer, vernünftig und kompetent. Einige waren alt und sahen streng aus: erfahren, kein Zweifel, aber spaßfreier Unterricht in einem nach Katzen stinkenden Haus war nicht gerade verlockend. Andere sahen jung, klug und ernsthaft aus: klassische Musiker, die wahrscheinlich nebenbei ein bisschen unterrichteten, um über die Runden zu kommen. Und dann Becks. Das Foto zeigte eine Frau mit gewellten schulterlangen Haaren, die in einem kurzen, schwarzen Kleid knöcheltief im Meer stand und eine elektrische Geige hielt. Ein Arm war mit Tattoos bedeckt, und am Finger steckte ein Totenkopfring. Sie blickte finster in die Kamera. Fasziniert klickte ich ihr Profil an.

Background: Weltreisen und Tourneen mit Metall- und Rockbands.

Musikalische Einflüsse: Iron Maiden, Slash, Prodigy, Tschaikowsky und Schostakowitsch.

Ich entschied mich für Becks.

Sie öffnete lächelnd die Tür.

»Hey, wie geht’s, Alastair? Komm rein!«

Ich zog die Schuhe aus, und Becks schloss die Tür hinter mir. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück.

Ich folgte ihr ins Wohnzimmer. An der Wand hingen Schild und Schwert eines Zauberers. Überall im Raum standen Ork- und Koboldfiguren stramm. Ich versuchte, keine großen Augen zu machen.

Ich vermutete, dass unsere Leben ziemlich unterschiedlich waren. Aber das war mir nur recht. Mich interessieren Menschen, die einen anderen Weg gehen, das Leben aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Mein Lehrer sollte über meine Unfähigkeit lachen, nicht die Stirn runzeln. Ich brauchte jemanden, der fand, dass mein Plan einen Versuch wert war, auch wenn er vielleicht fehlschlug. Jemanden, der Rastlosigkeit verstand.

»Setz dich«, sagte Becks und bot mir das Sofa an.

Ich setzte mich, grinste, und zum ersten Mal begann ich, meine Idee zu erklären. Ich erzählte Becks von mir, von Laurie, den staubigen hellgrauen Straßen, und dass ich es bräuchte, mir noch einmal selbst Angst einzujagen, ein letztes Mal.

»Also eigentlich, ähm«, schloss ich beredt, »möchte ich nächsten Sommer einen Monat durch Spanien wandern, ohne Geld. Ich werde Straßenmusik machen! Aber daraus wird nur was, wenn du mir vorher Geigespielen beibringst. Wir haben noch sieben Monate. Was meinst du? Bist du dazu bereit?«

Becks lachte, ein herrliches australisches Gackern.

Und dann legten wir los.

Ich wusste, dass sich eine Geige in den Händen eines Anfängers schrecklich anhört. Mir war nicht klar, dass es einem Schauer über den Rücken jagt.

Ich würde in Spanien verhungern.

MUSIKSTUNDE

S etz dich ans Klavier. Drück eine Taste. Vorausgesetzt, jemand hat dein Klavier richtig gestimmt, hast du einen perfekten Ton gespielt. Niemand kann es besser. Glückwunsch!

Nun nimm eine Gitarre oder Ukulele und leg sie dir in den Schoß. Drück mit einem Finger deiner linken Hand auf eine der Metallsaiten am Hals. Schön fest. Dann zupf dieselbe Saite mit dem rechten Daumen. Du wirst einen erkennbaren Ton hören.

Jetzt nimm meine Geige. Klemm sie dir unters Kinn. Auf diese lächerliche Art muss man sie halten. Aber keine Sorge: Es ist keine Stradivari. Entspann dich. Du wirst sie nicht kaputtmachen. Halte den Geigenhals leicht mit dem linken Daumen, sodass du die anderen Finger auf die Saiten legen kannst.

Wohin soll ich die Finger legen, fragst du, denn die Geige hat keine Bünde? Na ja, das liegt an dir: Du musst die Position schätzen, den Ton hören und entsprechend korrigieren. (Übrigens, du hast hoffentlich die Saiten richtig gestimmt, das ist nämlich auch dein Job.)

Schließlich nimm den Bogen, halte ihn locker mit den Fingerspitzen der rechten Hand. Du benutzt diesen merkwürdigen Bogen mit Pferdehaar (korrekt von dir gespannt und mit Kolophonium eingerieben), um einen Ton zu produzieren. Jetzt streiche mit dem Bogen über die Saiten, weder zu zart, noch zu kräftig. Vollkommen gerade. Nicht zu schnell, nicht zu langsam. Selbst beim Schreiben läuft mir ein Schauer über den Rücken, wenn ich mir das grauenhafte Geräusch vorstelle, das du produzieren wirst!

Oh, Laurie, warum hast du mir die Geige auferlegt? Es ist so schwer! Es gibt nur weniges, was schöner klingt als eine Geige in den Händen von jemandem, der schon jahrzehntelang spielt. Yehudi Menuhin, wenn er Elgars Violinkonzert oder Bachs Konzert für zwei Violinen spielt. Wie kann solch göttlicher Klang demselben Instrument entströmen, mit dem ich gerade so ein schreckliches Quietschen produziert habe? Ich habe keine Jahrzehnte Zeit, um es zu lernen. Ich habe nur sieben Monate.

ANFÄNGE

I ch begriff rasch, dass man Geigespielen nicht schnell lernen kann. Wenn man Kinder für Musik begeistern will, ist es das falsche Instrument. Es klingt lange Zeit grässlich, bevor man etwas richtig spielen kann. Aber ich habe mich dahintergeklemmt und versucht, das Beste daraus zu machen, indem ich neben dem wöchentlichen Unterricht jeden Abend eine Stunde geübt habe. Laurie hatte auch jeden Tag geübt, aber ohne den Luxus eines Schuppens in sicherem Abstand zur Familie. Laurie hörte manchmal Klagen von unten wie: »Oh Mum, muss er das tun? Er spielt schon den ganzen Abend.«

Ich habe die meiste Zeit meines erwachsenen Lebens versucht, hart zu arbeiten und möglichst viel aus meinen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu machen. Ich habe trainiert, mutiger und optimistischer zu werden, als ich von Natur aus bin. Ich habe anstrengende physische Herausforderungen in abgelegenen Gegenden gesucht, um Unbehagen und Zweifel in mir auszulösen. Wenn eine Perle entstehen soll, wirft man ein bisschen Sand ins Gehäuse einer Auster.

Abenteuer bedeutet, etwas zu unternehmen, das dir Angst macht, und zu riskieren, dass du daran scheiterst und bei der Verfolgung deiner Ziele leidvolle Erfahrungen machst. Aber je mehr Expeditionen ich unternommen habe, desto versierter wurde ich in den »sinnlosen Bußübungen in der Wildnis«, wie der britische Forscher Wilfred Thesiger es nannte. Ich ging sie mit Selbstvertrauen statt Unsicherheit an. Ich wurde gut in dem, was ich tat, und hatte ziemlichen Erfolg. Ich verlor die Unsicherheit und nichts konnte mich noch überraschen. Mit anderen Worten, ich glitt in das bequeme, sichere Leben, das ich durch die Abenteuer eigentlich vermeiden wollte. Also begann ich anders über Abenteuer zu denken.

Vor Jahrhunderten bedeutete das Wort, »einen Verlust zu riskieren«, »gefährliche Unternehmungen« sowie »Erprobung der eigenen Chancen«. Ein Abenteurer war ein »Glücksspieler«. Um ehrlich zu sein, konnte ich nicht sagen, dass meine jüngsten »Abenteuer« diesen Kriterien entsprachen. Wenn ich weiter abenteuerlich leben wollte, musste ich das, was ich gut konnte, lassen. Könnte etwas so »Leichtes« wie ein Instrument spielen zu lernen als Abenteuer gelten? Allmählich dachte ich, ja, es könnte. Die Vorstellung, Straßenmusik zu machen, jagte mir schreckliche Angst ein. Sie war mit Verletzlichkeit, Risiko, Angst zu versagen, Unsicherheit und Aufregung verbunden. Und das war genau das, was ich von einem Abenteuer erwartete!

Der Winter ging in den Frühling über und die Tage wurden länger. Mein Geigenspiel war grässlich, aber ich übte weiter, weil mir beigebracht worden war, dass man die meisten Probleme im Leben lösen konnte, wenn man sich nur bemühte. Ich musste besser werden, wenn die Wanderung durch Spanien nur entfernt realisierbar werden sollte. Abgesehen davon übte ich Geige, weil ich Spaß daran hatte, etwas Neues zu lernen, das absolut nichts mit Arbeit zu tun hatte, mit Familie, wer ich war oder was ich jemals getan hatte. Man ist verletzlich, wenn man übt, denn man stellt bewusst seine Schwäche zur Schau. Allein diese Abwechslung war erfrischend, und ich habe es genossen.

Das Geigenspiel zu lernen erfordert größte Konzentration. Für mich als krampfhafter Multitasker war diese Konzentration beruhigend. Spätabends im Schuppen verflogen alle meine Sorgen. Als Anfänger zu Bescheidenheit gezwungen zu sein und mich achtsam dem Rhythmus meines Fortschritts hinzugeben, tat gut. Es war das totale Gegenteil von Ungeduld und Wut, die immer aufflammen, wenn ich etwas nicht hinkriege. Ich bekam eine Ahnung davon, wie schön es sein musste, richtig spielen zu können. Als junger Mann spielte Laurie regelmäßig auf Tanzveranstaltungen im Gemeindehaus. Er verdiente fünf Shilling die Nacht plus Limonade und so viele Brötchen, wie er verdrücken konnte.

Als Erwachsene lernen wir selten neue Fertigkeiten oder trauen uns, eine andere Richtung einzuschlagen. Wir verlangen von unseren Kindern, dass sie mutig und risikofreudig sind, entschlossen und offen für neue Erfahrungen. Wir ermuntern sie ständig, Dinge auszuprobieren, zum Beispiel ein Instrument zu lernen. Und wir Erwachsene? Wir bleiben bei dem, was wir gut können, und verstecken uns dahinter, wie wir Dinge immer gemacht haben. Erwachsene schämen sich, Anfänger zu sein, und schrecken deshalb davor zurück.

Wir trösten uns damit, kompetent zu sein, selbst in kleinen, unveränderlichen Nischen. Wir stagnieren und geben uns mit dem zufrieden, was wir haben. Selten gehen wir über uns hinaus, denn es birgt das Risiko, zu versagen und schmerzliche Erfahrungen zu machen. Aber sich zu strecken ist immer schmerzlich. Seit Jahrzehnten war ich nicht mehr so inkompetent gewesen.

Becks Unterrichtsstunden fanden jetzt nicht mehr bei ihr zu Hause, sondern in der örtlichen Schule statt. Jede Woche wartete ich vor dem Klassenzimmer und lauschte den gekonnten Tonleitern und Arpeggios des Schülers vor mir. Als der kleine Junge in seiner viel zu großen Schuluniform den Raum verließ, musste ich dem Impuls widerstehen, ihn zu ohrfeigen, als ich zu meiner Foltersitzung mit der armen Becks an ihm vorbeischlurfte. Einzugestehen, dass ich ein Anfänger war, war beschämend. Trotzdem genoss ich die besondere Schwierigkeit des Instruments und den langsamen, aber merklichen Fortschritt von Note zu Tonleiter, »Baa Baa Black Sheep« zu »Jingle Bells«.

Als die geplante Abreise näher rückte, konnte ich trotz meines Engagements den Winter und Frühling hindurch nur eine Handvoll Lieder stockend spielen. Dylan kam nicht in Frage. Tatsächlich kam Straßenmusik nicht in Frage, besonders wenn ich davon meinen gesamten Lebensunterhalt bestreiten wollte. Nur Becks hatte mir jemals beim Spielen zugehört, aber ich hatte sie dafür bezahlt. Würde ich jemanden so schlecht spielen hören wie mich, würde ich ihm niemals Geld geben!

Ich gestand mir widerwillig ein, dass es unrealistisch war, ohne Geld durch Spanien zu ziehen. Die einzig vernünftigen Optionen waren, die Reise um ein Jahr zu verschieben, bis ich besser geworden war, oder mit Geld zu reisen und nur zum Spaß ein bisschen Straßenmusik zu machen.

Aber die einzig vernünftigen Optionen sind nicht die einzigen Optionen.

Ich kaufte mir ein Ticket nach Spanien – und los ging’s.

NACH SPANIEN

S alz und Diesel in der Luft, das Klirren von Leinen, die Hafenmauer warm und grobsandig, mein Gesicht der heißen Sonne entgegengestreckt. Der Hafen von Vigo war das Erste gewesen, was Laurie jemals von einem fremden Land gesehen hatte. Und jetzt war ich hier. Mir gefiel die Verbindung. Es war das erste Mal, das unsere Wege sich trafen, seit ich im Woolpack, seinem Pub im Dorf, etwas getrunken und dabei von seiner Reise geträumt hatte. Ich beneidete Laurie darum, wie intensiv dieser Moment für ihn gewesen sein musste, als er zum ersten Mal »Ausland« zu Gesicht bekam. »Ich kam in einer in feuchtgrünes Sonnenlicht getauchten Stadt an, in der es nach den Abfällen des Meeres roch.«

Ein Abenteuer begann, ein weiteres. Zu lange war das letzte her. Ich erinnerte mich an die vertraute Mischung aus Nervosität, Melancholie und Vorfreude. Ich führte einen kleinen Freudentanz auf, dass ich da war, hüpfte umher und ballte vor Begeisterung die Fäuste. Dann nahm ich meinen Rucksack, um die gewundenen, kopfsteingepflasterten Straßen Vigos entlangzugehen, so wie Laurie es getan hatte. Jedes Detail war nun auch für mich neu. Der Duft roter Geranien, ein Eimer Wasser, das sich wie Quecksilber über das Pflaster ergoss. Selbst nach so vielen Jahren des Reisens genieße ich es, irgendwo anzukommen, wo ich zuvor noch nie war. Laurie beschrieb es als »lebendigste Zeit seines Lebens, die freieste, sonnigste. Ich erinnere mich, dass ich dachte, ich kann gehen, wohin ich will, ich habe alle Zeit und Freiheit der Welt.«

Es war schon später Vormittag, aber Spanien schlief noch. Ich stieg zur alten Festung hinauf und blickte von den moosbedeckten Mauern hinunter. Terrakottadächer zogen sich bunt durcheinander bis hinunter zum Hafen. Bewaldete Hügel legten ihre grünen Arme um die blaue, mit Inseln betupfte Bucht. Früher am Tag hatten Boote unbeschwerte Strandhungrige, beladen mit Picknickkörben, zu diesen Inseln gebracht. Ich beobachtete, wie Afrikaner versuchten, ihnen Sonnenhüte zu verkaufen. Ihre Waren hatten sie auf Planen ausgebreitet, damit sie leichter fliehen konnten, falls die Polizei auftauchte. Ich hatte Verständnis für sie, Migranten müssen geschäftstüchtig sein. Wie sie besaß ich kein Geld. Ich wusste, wie es war, arm zu sein, aber nie zuvor hatte ich gar nichts gehabt. Jedoch anders als die Hutverkäufer trug ich freiwillig keinen Cent bei mir. Überhaupt war der Vergleich absurd. Ich war im Besitz eines Passes, der es mir erlaubte, in Europa, in Spanien zu sein. Kurz nach Sonnenaufgang hatte ich meine letzten Münzen auf einer Parkbank zu einer kleinen Pyramide gestapelt, danach war ich gegangen. Ich wünschte, ich hätte mir einen Sonnenhut gekauft.

Ich brannte darauf, unterwegs zu sein, die Stadt zu verlassen und die Berge anzusteuern. Hoch oben fühlte ich mich immer wohler. Aber vorher musste ich Geige spielen. Ich war nicht in der Lage, Kaninchen in Wäldern zu fangen, war es gewohnt, meine Vorräte in Supermärkten einzukaufen. Also musste ich Geld verdienen. Es war an der Zeit, mich mutig meinem neuen Abenteuer zu stellen. Aber ich konnte mich nicht überwinden, die Geige auszupacken.

Ich entdeckte einen Wunschbrunnen, und im selben Moment war ich enttäuscht und erleichtert zugleich, dass die im Tausch gegen Träume hineingeworfenen Münzen unerreichbar waren. Außerdem war es noch ein bisschen zu früh, um Münzen und Träume von Kindern zu stehlen. Ich durchstreifte die Straßen, meine Augen scannten den Boden. Ich hielt Ausschau nach verloren gegangenen Münzen, aber hauptsächlich suchte ich nach Entschuldigungen. Wunschbrunnen sind voll davon.

Schließlich kam ich wieder ins Stadtzentrum, dorthin, wo ich bereits zwei- oder dreimal gedacht hatte, hier wäre die beste Stelle, um Straßenmusik zu machen. Es wurde endlich Zeit, damit anzufangen. Aber zu meinem Ärger war schon jemand dort, saß mit gekreuzten Beinen auf »meinem« Platz und spielte Blockflöte, den umgedrehten Hut vor sich. Jemand, der sich vordrängelte, das hatte mir gerade noch gefehlt!

Normalerweise hätte ich ihn kaum bemerkt: Er war kein guter Musiker. Er hatte kein Charisma, und man sah ihm an, dass er nicht sonderlich erfolgreich war in dem, was er machte. Er fiel nicht einmal als besonders Not leidend auf. Heute denke ich anders über den Mann, eigentlich tat ich es schon damals. Ich trödelte verschämt ans entgegengesetzte Ende des Platzes und beobachtete ihn voller Ehrfurcht. Er war ein Musiker! Er konnte tatsächlich Lieder spielen! Er hatte sich den besten Platz in der Stadt erobert und war mutig genug gewesen, in der Öffentlichkeit zu spielen. Ich hatte bislang nichts davon zustande gebracht. Wie sehr wünschte ich in diesem Moment, ich könnte wie dieser Straßenmusiker sein! Ich wollte ihn fragen, wie viel er verdient hatte, mir seinen Rat und seinen Segen holen. Aber ich war zu schüchtern, um hinüberzugehen und mit ihm zu sprechen.