Charlaine Harris

Vor Vampiren wird gewarnt

Roman

Deutsch von Britta Mümmler

 

dtv digital

 

Deutsche Erstausgabe 2011

© der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung -und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 41087 - 8 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 21283 - 0

 

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Dieses Buch ist unserem Sohn Patrick gewidmet, der unsere Hoffnungen, Träume und Erwartungen für sein Leben nicht nur erfüllte, sondern übertraf.

MÄRZ

Erste Woche

 

»Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich dich einfach so allein lasse«, sagte Amelia. Ihre Augen waren verquollen und rot. So sahen sie, mal mehr, mal weniger, schon seit Tray Dawsons Beerdigung aus.

»Du musst tun, was du tun musst«, erwiderte ich und schenkte ihr ein besonders strahlendes Lächeln. Ich konnte die Schuld, Scham und allgegenwärtige Trauer als schwarzes Knäuel durch Amelias Gedanken trudeln sehen. »Es geht mir schon viel besser«, versicherte ich ihr und hörte mich dann fröhlich immer weiterplappern; irgendwie schien ich kein Ende finden zu können. »Ich kann wieder prima laufen, und die Löcher sind auch alle zugeheilt. Siehst du?« Ich zog meinen Jeansbund ein wenig herunter, um ihr eine Stelle zu zeigen, die herausgebissen gewesen war. Die Zahnabdrücke waren kaum noch zu erkennen, auch wenn die Haut nicht sonderlich glatt und noch deutlich heller war als die umliegenden Partien. Hätte ich nicht eine so enorme Dosis Vampirblut bekommen, würde die Narbe jetzt noch aussehen, als hätte mich ein Hai gebissen.

Amelia sah hin und schnell wieder weg, als könne sie es nicht ertragen, den Beweis für den Angriff zu sehen. »Es ist nur so, dass Octavia mir dauernd E-Mails schreibt und sagt, ich müsse nach Hause kommen und den Urteilsspruch des Hexenrates, oder was davon übrig ist, akzeptieren«, sagte sie hastig. »Und ich muss mir all die Reparaturen an meinem Haus mal ansehen. Seit wieder ein paar Touristen da sind und die Leute zurückkommen und ihre Häuser wieder aufbauen, ist auch der Laden für Magie wieder geöffnet. Ich kann dort Teilzeit arbeiten. Außerdem, sosehr ich dich mag und so gern ich hier wohne, seit Tray tot ist…«

»Glaub mir, ich versteh dich.« Wir waren das Ganze schon ein paar Mal durchgegangen.

»Es ist nicht so, dass ich dir die Schuld daran gebe«, sagte Amelia und versuchte, meinen Blick aufzufangen.

Sie gab mir wirklich nicht die Schuld. Da ich ihre Gedanken lesen konnte, wusste ich, dass sie die Wahrheit sagte.

Nicht mal ich gab mir, zu meiner eigenen Überraschung, vollständig die Schuld daran.

Gut, es stimmte, dass Tray Dawson, Amelias Freund und ein Werwolf, getötet worden war, während er als mein Bodyguard fungierte. Und es stimmte auch, dass ich das in meiner Nähe lebende Werwolfrudel um einen Bodyguard gebeten hatte, weil sie mir einen Gefallen schuldeten und mein Leben beschützt werden musste. Aber ich war dabei gewesen, als Tray Dawson von der Hand eines schwertschwingenden Elfen getötet wurde, und ich wusste, wer dafür verantwortlich war.

Ich fühlte mich also nicht direkt schuldig. Aber ich war tief unglücklich darüber, dass ich zusätzlich zu all den anderen schrecklichen Erlebnissen auch noch Tray verloren hatte. Meine Cousine Claudine, eine vollblütige Elfe, war ebenfalls in dem Elfenkrieg gestorben, und da sie wirklich und wahrhaftig mein Schutzengel gewesen war, vermisste ich sie in vielerlei Hinsicht. Und sie war schwanger gewesen.

Mich quälten starke Schmerzen und alle möglichen Gefühle des Bedauerns, körperlich wie seelisch. Während Amelia mit den Armen voller Kleider die Treppe hinunterlief, stand ich in ihrem Schlafzimmer und versuchte, mich zu sammeln. Schließlich richtete ich mich gerade auf und griff nach einem Karton voll Badezimmerkrimskrams. Langsam und vorsichtig stieg ich die Treppe hinunter, und so schaffte ich es bis nach draußen zu Amelias Auto. Sie hatte gerade die Kleider über die Kartons gebreitet, die schon im Kofferraum standen, und drehte sich um.

»Das sollst du doch nicht!«, rief sie besorgt. »Deine Wunden sind noch nicht alle verheilt.«

»Mir geht’s gut.«

»Ganz und gar nicht. Du schreckst immer zusammen, wenn jemand überraschend ins Zimmer kommt, und ich merke doch, dass deine Handgelenke noch wehtun«, sagte Amelia, griff nach dem Karton und schob ihn auf die Rückbank. »Außerdem verlagerst du dein Gewicht immer noch aufs linke Bein und hast Schmerzen, wenn es regnet. Trotz all des Vampirbluts.«

»Die Schreckhaftigkeit vergeht wieder. Und mit der Zeit verblassen die Erinnerungen, dann denk ich auch nicht mehr ständig daran«, sagte ich zu Amelia. (Wenn die Telepathie mich eines gelehrt hatte, dann, dass die Menschen die gravierendsten und schmerzlichsten Erinnerungen in sich begraben konnten, wenn man ihnen nur genug Zeit und Ablenkung gab.) »Es ist ja nicht einfach das Blut irgendeines Vampirs. Es ist Erics Blut. Ein sehr wirksames Zeug. Und meine Handgelenke sind schon viel besser.« Dass genau in diesem Moment die Nerven darin herumzüngelten wie Schlangen, erwähnte ich lieber nicht. Ein Resultat davon, dass sie mehrere Stunden lang gefesselt gewesen waren. Dr. Ludwig, eine Ärztin der Supranaturalen, hatte mir versichert, dass meine Nerven – und meine Handgelenke – wieder völlig normal funktionieren würden, irgendwann.

»Ja, und da wir gerade von Blut reden…« Amelia holte tief Luft und nahm allen Mut zusammen, um etwas zu sagen, von dem sie wusste, dass es mir nicht gefallen würde. Doch weil ich es schon wusste, noch ehe sie es ausgesprochen hatte, war ich gewappnet. »Hast du mal daran gedacht … Sookie, du hast mich zwar nicht um Rat gefragt, aber ich finde, du solltest lieber kein Blut mehr von Eric bekommen. Ich meine, ich weiß, dass du mit ihm zusammen bist, aber du musst auch an die Konsequenzen denken. Manchmal wandeln die Leute sich ganz zufällig. Es ist ja nicht so, als wär’s eine mathematische Gleichung.«

Ich wusste es zu schätzen, dass Amelia sich Sorgen um mich machte, aber hier war sie auf privates Territorium vorgedrungen. »Wir tauschen kein Blut«, sagte ich. Doch. »Er nippt nur mal an mir, wenn … na, du weißt schon, im Augenblick des Glücks.« Zurzeit erlebte Eric allerdings viel mehr Augenblicke des Glücks als ich, leider. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf, dass der magische Zauber des Schlafzimmers zurückkehren würde; denn wenn irgendein Mann fähig war, jemanden durch Sex zu heilen, dann Eric.

Amelia lächelte, und genau darauf hatte ich es abgesehen. »Wenigstens …« Sie wandte sich ab, ohne den Satz zu beenden, aber sie dachte: Wenigstens hast du Lust auf Sex.

Ich hatte gar nicht so sehr Lust auf Sex, sondern eher das Gefühl, ich sollte immer wieder aufs Neue versuchen, ihn zu genießen. Aber darüber wollte ich nun wirklich nicht reden. Die Fähigkeit loszulassen – der Schlüssel zu gutem Sex – war mir während der Folter abhandengekommen. Ich war absolut hilflos gewesen und konnte nur hoffen, dass ich mich auch in dieser Hinsicht wieder erholen würde. Ich wusste, dass Eric meinen Mangel an Erfüllung spürte. Er hatte mich schon mehrmals gefragt, ob ich sicher sei, dass ich Sex haben wolle. Fast jedes Mal hatte ich ja gesagt, mit der Fahrrad-Theorie im Hinterkopf. Ja, ich war heruntergefallen. Aber ich war immer bereit, wieder aufzusteigen und es noch einmal zu versuchen.

»Wie läuft eure Beziehung denn so?«, fragte Amelia. »Von den Freuden der Lust mal abgesehen.« Mittlerweile waren all ihre Sachen im Auto verstaut. Jetzt schindete sie Zeit, da sie den Moment fürchtete, in dem sie in ihr Auto steigen und abfahren musste.

Es war nur Stolz, der mich davon abhielt, mich bei ihr auszuheulen.

»Ich glaube, es läuft ziemlich gut mit uns«, erwiderte ich und bemühte mich sehr, fröhlich zu klingen. »Ich weiß allerdings immer noch nicht, was ich selbst empfinde und was den Blutsbanden geschuldet ist.« Es tat irgendwie gut, nicht nur über meine ganz normale Mann-Frau-Liebesbeziehung reden zu können, sondern auch über meine übernatürliche Verbindung mit Eric. Schon bevor ich im Elfenkrieg verwundet worden war, hatte Eric und mich das verbunden, was die Vampire Blutsbande nennen, da wir bereits mehrmals das Blut des anderen gehabt hatten. Ich konnte spüren, wo in etwa Eric sich aufhielt und in welcher Stimmung er war, und genauso erging es ihm mit mir. In meinem Hinterkopf war er immer irgendwie präsent – so als hätte man einen Ventilator oder eine Klimaanlage eingeschaltet, damit es ein wenig summt, weil man dann besser einschlafen kann. (Es war gut für mich, dass Eric nur nachts wach war, denn so konnte ich wenigstens einen Teil des Tages ganz ich selbst sein. Ob er dasselbe empfand, wenn ich abends ins Bett ging?) Das soll nicht heißen, dass ich Stimmen in meinem Kopf hörte oder so etwas – zumindest nicht mehr als sonst. Aber wenn ich mich glücklich fühlte, musste ich mich immer erst mal versichern, dass ich selbst es war, die sich glücklich fühlte, und nicht Eric. Dasselbe galt für Wut. Eric steckte voller Wut, voll kontrollierter und sorgsam unterdrückter Wut, vor allem in letzter Zeit. Aber vielleicht bekam er die auch von mir. Ich hatte zurzeit nämlich selbst eine ziemliche Wut im Bauch.

Ich hatte Amelia komplett vergessen und war unvermittelt in mein depressives Loch gefallen.

Sie riss mich wieder heraus. »Das ist doch bloß eine faule Ausrede«, sagte sie scharfzüngig. »Komm schon, Sookie. Entweder du liebst ihn oder du liebst ihn nicht. Hör endlich auf, das Nachdenken darüber immer aufzuschieben, indem du eure Blutsbande für alles verantwortlich machst. Bla, bla, bla. Wenn du diese Blutsbande so sehr hasst, warum hast du dann nicht versucht herauszufinden, wie du dich davon befreien kannst?« Amelia registrierte den Ausdruck in meinem Gesicht, und plötzlich schwand ihre Gereiztheit. »Soll ich Octavia mal fragen?«, fragte sie in sanfterem Ton. »Wenn es einer weiß, dann sie.«

»Ja, das würde ich gern herausfinden«, sagte ich nach einem kurzen Augenblick. Ich holte tief Luft. »Du hast vermutlich recht. Ich war so deprimiert, dass ich alle Entscheidungen aufgeschoben oder die bereits getroffenen nicht umgesetzt habe. Eric ist wirklich großartig. Aber ich finde ihn … etwas übergriffig.« Eric hatte eine starke Persönlichkeit und war es gewohnt, der große Fisch im Teich zu sein. Und er wusste, dass er noch alle Zeit der Welt hatte.

Die hatte ich nicht.

Darauf war er bisher nicht zu sprechen gekommen, aber früher oder später würde er es tun.

»Aber übergriffig oder nicht, ich liebe ihn«, fuhr ich fort. Das hatte ich noch nie laut ausgesprochen. »Und darauf kommt es vermutlich an.«

»Vermutlich.« Amelia versuchte, mich anzulächeln, doch es blieb ein kläglicher Versuch. »Hör zu, mach einfach weiter damit, mit dieser Selbsterforschung.« Einen Augenblick lang stand sie nur da, mit diesem erstarrten halben Lächeln im Gesicht. »Also, Sook, ich mache mich jetzt besser auf den Weg. Mein Dad erwartet mich. Bestimmt wird er sich wieder in all meine Angelegenheiten einmischen, sobald ich in New Orleans ankomme.«

Amelias Dad war reich, mächtig und glaubte kein bisschen an Amelias Kräfte. Doch er machte einen großen Fehler, wenn er ihre Hexenkünste nicht respektierte. Amelia trug magische Kräfte in sich, sie war damit geboren worden, wie jede echte Hexe. Und wenn Amelia eines Tages erst mal mehr Übung und Disziplin hatte, würde sie richtig angsteinflößend sein – mit voller Absicht angsteinflößend, und nicht mehr, weil ihre Fehler so furchtbar drastisch waren. Hoffentlich hatte ihre Mentorin Octavia ein Programm in petto, um Amelias Talent zu fördern und auszubilden.

Nachdem ich Amelia auf der Auffahrt nachgewinkt hatte, schwand das breite Lächeln aus meinem Gesicht, und ich setzte mich auf die Veranda und weinte. Es brauchte in letzter Zeit nicht viel, damit ich in Tränen ausbrach, und die Abreise meiner Freundin war jetzt genau der richtige Anlass. Es gab so vieles, um das ich weinen musste.

Meine Schwägerin Crystal war ermordet worden. Mel, ein Freund meines Bruders, war hingerichtet worden. Tray, Claudine und der Vampir Clancy waren in Ausübung ihrer Pflicht getötet worden. Und weil sowohl Crystal als auch Claudine schwanger gewesen waren, standen sogar noch zwei weitere Tote auf der Liste.

Das hätte in mir vor allem wohl die Sehnsucht nach Frieden auslösen sollen. Doch statt zum Ghandi von Bon Temps zu mutieren, wusste ich tief in meinem Herzen, dass es noch jede Menge Leute gab, die ich tot sehen wollte. Für die meisten Toten, die meinen Lebensweg pflasterten, war ich nicht direkt verantwortlich. Doch mich quälte der Gedanke, dass keiner von ihnen gestorben wäre, wenn es mich nicht gegeben hätte. In meinen düstersten Momenten – und dies war einer von ihnen – fragte ich mich, ob mein Leben den Preis wert war, den es gekostet hatte.

MÄRZ

Ende der ersten Woche

 

Als ich an einem bewölkten, kühlen Morgen ein paar Tage nach Amelias Abreise aufstand, saß mein Cousin Claude auf der vorderen Veranda. Claude verstand es nicht so gut wie mein Urgroßvater Niall, seine Anwesenheit zu verbergen. Weil Claude ein Elf war, konnte ich seine Gedanken nicht lesen – doch ich konnte immerhin erkennen, dass sein Geist da war, falls das nicht etwas zu undurchsichtig formuliert ist. Obwohl die Luft recht frisch war, ging ich mit meinem Kaffee auf die Veranda hinaus, denn ich hatte es geliebt, den ersten Becher auf der Veranda zu trinken, bevor ich … vor dem Elfenkrieg.

Ich hatte meinen Cousin seit Wochen nicht gesehen, auch während des Elfenkriegs nicht, und auch er hatte seit Claudines Tod keinen Kontakt mit mir aufgenommen.

Ich hatte einen zweiten Becher für Claude mitgebracht und reichte ihn ihm. Schweigend nahm er ihn entgegen. Die Möglichkeit, dass er ihn mir aus der Hand schlagen könnte, hatte ich in Betracht gezogen. Sein unerwartetes Auftauchen warf mich aus der Bahn. Ich hatte keine Ahnung, was jetzt kommen würde. Der Wind fuhr durch sein langes schwarzes Haar und ließ es flattern wie ebenholzfarbene Bänder. Seine karamellbraunen Augen waren gerötet. »Wie ist sie gestorben?«, fragte er.

Ich setzte mich auf die oberste Verandastufe. »Das habe ich nicht gesehen«, sagte ich, über meine Knie gekauert. »Wir waren in diesem alten Gebäude, das Dr. Ludwig als Krankenhaus benutzte. Ich glaube, Claudine wollte verhindern, dass die feindlichen Elfen den Flur entlangkommen und das Zimmer stürmen, in das ich mich mit Bill, Eric und Tray verkrochen hatte.« Ich sah zu Claude hinüber, um mich zu vergewissern, ob er das Gebäude kannte, und er nickte. »Ich bin ziemlich sicher, dass Breandan sie getötet hat; eine ihrer Stricknadeln steckte in seiner Schulter, als er plötzlich in der demolierten Tür auftauchte.«

Breandan war der Feind meines Urgroßvaters und ebenfalls ein Elfenprinz gewesen. Er vertrat die Überzeugung, dass Menschen und Elfen keinen Umgang miteinander haben sollten. Und daran glaubte er geradezu fanatisch. Er wollte, dass die Elfen ihre Streifzüge in die Welt der Menschen völlig aufgaben, trotz ihrer großen finanziellen Investitionen in die irdische Geschäftswelt und all der Dinge, die sie dort produzierten … Dinge, mit deren Hilfe sie sich der modernen Welt anpassen konnten. Breandan verabscheute vor allem die gelegentlichen Liebesbeziehungen mit Menschen, ein Luxus, den sich die Elfen gönnten, und die Kinder aus diesen Liaisons hasste er ebenfalls. Er wollte, dass die Elfen abgeschottet lebten, in ihre eigene Welt eingesperrt, und nur mit ihresgleichen Umgang hatten.

Seltsamerweise hatte mein Urgroßvater beschlossen, genau das zu tun, nachdem die Elfen besiegt waren, die an diese Apartheidspolitik glaubten. Nach all dem Blutvergießen kam Niall zu dem Schluss, dass Frieden unter den Elfen und Sicherheit für die Menschen nur gewährleistet wären, wenn sich die Elfen in ihre Welt zurückzögen. So hatte Breandan im Tod doch noch sein Ziel erreicht. In meinen düstersten Momenten fand ich, dass Nialls Entscheidung den ganzen Elfenkrieg sinnlos gemacht hatte.

»Sie hat dich verteidigt«, sagte Claude und holte mich damit zurück in die Gegenwart. Es lag nichts in seiner Stimme. Keine Anschuldigung, keine Wut, nicht mal eine Frage.

»Ja.« Es war Teil ihrer Aufgabe gewesen, mich zu beschützen. Auf Nialls Befehl hin.

Ich nahm einen großen Schluck Kaffee. Claudes Becher ruhte unberührt auf der Lehne des Verandaschaukelstuhls. Vielleicht fragte Claude sich, ob er mich töten sollte. Claudine war seine letzte lebende Schwester gewesen.

»Du wusstest von der Schwangerschaft«, sagte er schließlich.

»Sie hat es mir erzählt, kurz bevor sie getötet wurde.« Ich stellte meinen Becher ab, schlang die Arme um meine Knie und wartete darauf, dass der Schlag auf mich niederging. Anfangs machte es mir nicht einmal etwas aus, was umso schrecklicher war.

»Ich weiß, dass Neave und Lochlan dich in ihrer Gewalt hatten«, sagte Claude. »Humpelst du deshalb?« Der Themenwechsel überraschte mich.

»Ja«, erwiderte ich. »Sie hatten mich einige Stunden in ihrer Gewalt. Niall und Bill Compton haben sie getötet. Nur damit du es weißt – es war Bill, der Breandan getötet hat, mit dem Eisenspaten meiner Großmutter.« Der Handspaten war eigentlich schon seit Generationen in meiner Familie, doch ich verband ihn immer mit meiner Großmutter.

Lange Zeit saß Claude, so wunderschön und rätselhaft wie eh und je, einfach nur da. Er sah mich nie direkt an und trank auch seinen Kaffee nicht. Dann schien er eine Entscheidung getroffen zu haben, denn er stand einfach auf und ging die Auffahrt in Richtung Hummingbird Road entlang davon. Ich weiß nicht, wo sein Auto parkte. Mir schien es, als wäre er den ganzen Weg von Monroe zu Fuß gekommen oder auf einem Zauberteppich hergeflogen. Ich ging zurück ins Haus, sank gleich hinter der Tür auf die Knie und weinte. Meine Hände zitterten. Meine Handgelenke schmerzten.

Während wir uns unterhielten, hatte ich die ganze Zeit darauf gewartet, dass er zu seinem Schlag ausholte.

Jetzt wurde mir klar, dass ich leben wollte.

MÄRZ

Zweite Woche

 

»Heb deinen Arm ganz hoch, Sookie!«, sagte JB. Vor lauter Konzentration hatte sich sein hübsches Gesicht in Falten gelegt. Mit einem Zweikilogewicht in der Hand hob ich langsam meinen linken Arm. Herrje, tat das weh. Und rechts war es das Gleiche.

»Okay, jetzt die Beine«, sagte JB, als meine Arme vor Anstrengung zitterten. JB war kein staatlich anerkannter Physiotherapeut, aber er war Personal Trainer und hatte daher praktische Erfahrung damit, Leuten über verschiedene Verletzungen hinwegzuhelfen. So viele auf einmal wie bei mir hatte er wahrscheinlich noch nie gesehen, denn ich war gebissen, mit dem Messer verletzt und gefoltert worden. Doch ich hatte JB die Einzelheiten nicht erklären müssen, und er würde nicht bemerken, dass meine Verletzungen alles andere als typisch für die waren, die man bei einem Autounfall davontrug. Ich wollte nicht, dass irgendwelche Spekulationen über meine körperlichen Probleme in Bon Temps die Runde machten – deshalb ging ich weiterhin gelegentlich zu Dr. Amy Ludwig, die verdächtig einem Hobbit glich, und bat JB du Rhone um Hilfe, der zwar ein guter Trainer war, aber dumm wie Toastbrot.

JBs Ehefrau, meine Freundin Tara, saß auf einer der Hantelbänke und las ›Was Sie erwartet, wenn Sie schwanger sind‹. Tara war im fünften Monat und entschlossen, die beste Mutter zu werden, die sie nur sein konnte. Und weil JB zwar willens, aber nicht besonders helle war, übernahm Tara die Rolle des Elternteils, der die meiste Verantwortung trug. Sie hatte sich ihr Highschool-Taschengeld als Babysitter verdient und dadurch ein wenig Erfahrung in der Kinderbetreuung. Als sie jetzt die Seiten umblätterte, runzelte sie die Stirn, ein mir aus unserer Schulzeit vertrauter Anblick.

»Hast du inzwischen einen Arzt gefunden?«, fragte ich, nachdem ich meine Beinübungen beendet hatte. Meine vordere Oberschenkelmuskulatur brannte, vor allem der verletzte Muskel im linken Bein. Wir hatten uns in dem Fitnesscenter getroffen, in dem JB arbeitete, und es war schon nach Geschäftsschluss, weil ich kein Mitglied war. Aber JBs Chef hatte dem vorübergehenden Arrangement zugestimmt, um JB bei Laune zu halten. JB war ein enormer Gewinn für das Fitnesscenter; seit er dort arbeitete, hatten sich wesentlich mehr neue Kundinnen angemeldet.

»Ich glaube schon«, sagte Tara. »Es standen vier zur Auswahl im Landkreis, und wir haben mit allen gesprochen. Inzwischen hatte ich schon meinen ersten Termin bei Dr. Dinwiddie, hier in Clarice. Es ist ein kleines Krankenhaus, ich weiß, aber ich bin kein Risikofall, und es ist so nah.«

Clarice war nur ein paar Meilen entfernt von Bon Temps, wo wir alle wohnten. Man brauchte weniger als zwanzig Minuten von meinem Haus bis zum Fitnesscenter.

»Ich habe viel Gutes über ihn gehört«, sagte ich. Die Schmerzen in meinen Oberschenkeln machten mich ganz schwummerig im Kopf. Kalter Schweiß trat mir auf die Stirn. Gewöhnlich hatte ich mich immer für fit gehalten, und meistens war ich auch glücklich gewesen. Doch jetzt gab es Tage, an denen ich es gerade mal schaffte, aufzustehen und zur Arbeit zu gehen.

»Sook«, sagte JB, »sieh dir mal an, was hier für ein Gewicht draufliegt.« Er lächelte mich breit an.

Jetzt erst bemerkte ich, dass ich zehn Dehnübungen mit fünf Kilo mehr drauf gemacht hatte als üblich.

Ich erwiderte sein Lächeln. Es hielt nicht lange an, aber ich wusste, ich hatte etwas erreicht.

»Vielleicht kannst du dann ja mal bei uns babysitten«, sagte Tara. »Wir werden dem Kind beibringen, dich Tante Sookie zu nennen.«

Ich würde eine Nenntante werden. Ich würde auf ein Baby aufpassen. Sie vertrauten mir. Unwillkürlich begann ich, Pläne für die Zukunft zu machen.

MÄRZ

Dieselbe Woche

 

Die nächste Nacht verbrachte ich mit Eric. Wie mindestens drei- oder viermal die Woche wachte ich keuchend auf, von Grauen erfüllt, orientierungslos wie auf hoher See. Ich klammerte mich an ihn, als würde ein Sturm mich davonwehen, wenn er nicht mein Anker wäre. Ich weinte bereits, als ich aufwachte. Das passierte nicht zum ersten Mal, doch dieses Mal weinte Eric mit mir, blutige Tränen, die seine bleichen Wangen auf erschreckende Weise rot streiften.

»Nicht«, bat ich ihn. Ich hatte mich immer bemüht, ganz die Alte zu sein, wenn ich mit ihm zusammen war. Doch er wusste es natürlich besser. Heute Nacht konnte ich seine Entschlossenheit spüren. Eric hatte mir etwas zu sagen, und er würde es mir sagen, ob ich es hören wollte oder nicht.

»Ich konnte deine Angst und deine Schmerzen in jener Nacht spüren«, begann er. »Aber ich konnte nicht zu dir kommen.«

Endlich erzählte er mir das, was ich schon so lange wissen wollte.

»Warum nicht?«, fragte ich, sehr bemüht, meine Stimme ruhig klingen zu lassen. Es mag unglaubwürdig erscheinen, aber ich war in einer so labilen Verfassung gewesen, dass ich mich nicht getraut hatte, ihn danach zu fragen.

»Victor wollte mich nicht gehen lassen«, erzählte Eric. Victor Madden war sein Boss und von Felipe de Castro, dem König von Nevada, damit beauftragt worden, das eroberte Königreich Louisiana zu leiten.

Meine erste Reaktion auf Erics Erklärung war bittere Enttäuschung. Diese Story hatte ich schon einmal gehört. Ein mächtigerer Vampir als ich hat mich dazu gezwungen: Bills Entschuldigung für die Rückkehr zu seiner Schöpferin Lorena, vielen Dank auch. »Klar«, erwiderte ich, drehte mich um und kehrte ihm den Rücken zu. Der kalte Kummer der Ernüchterung beschlich mich. Ich beschloss, mich anzuziehen und zurück nach Bon Temps zu fahren, sobald ich genug Kraft dafür aufbrachte. Die Anspannung, Frustration und Wut in Eric zehrten an mir.

»Victors Leute hatten mich mit Silberketten gefesselt«, sagte Eric hinter mir. »Ich hatte überall Brandwunden.«

»Wirklich.« Ich versuchte, nicht ganz so skeptisch zu klingen, wie ich war.

»Ja, wirklich. Ich wusste, dass du irgendwie in Gefahr schwebtest. Victor war an dem Abend im Fangtasia, so als hätte er schon im Voraus gewusst, dass er dort sein sollte. Als Bill anrief, um mir zu sagen, dass sie dich gekidnappt hätten, gelang es mir noch, Niall anzurufen, ehe drei von Victors Leuten mich an die Wand ketteten. Als ich … nun ja, protestierte, sagte Victor, er könne mir nicht erlauben, im Elfenkrieg Partei zu ergreifen. Ganz egal, was dir passiert, sagte er, ich dürfe mich nicht einmischen.«

Wut ließ Eric eine ganze Zeit lang verstummen. Sie floss auch durch mich hindurch, wie ein beißender, eisiger Strom. Mit erstickter Stimme nahm er den Faden seiner Geschichte wieder auf.

»Pam hatten Victors Leute ebenfalls gefangen genommen und isoliert, obwohl sie sie nicht anketteten.« Pam war Erics Stellvertreterin. »Da Bill in Bon Temps war, konnte er Victors telefonische Nachrichten ignorieren. Niall traf sich bei deinem Haus mit Bill, um deine Spur aufzunehmen. Bill hatte von Lochlan und Neave schon gehört. Das hatten wir alle. Wir wussten, dass deine Zeit bald ablaufen würde.« Ich lag noch immer mit dem Rücken zu Eric da, aber ich hörte nicht nur seine Stimme. Sondern auch Kummer, Wut, Verzweiflung.

»Wie konntest du dich von den Ketten befreien?«, fragte ich in die Dunkelheit hinein.

»Ich erinnerte Victor daran, dass Felipe dir Schutz versprochen hatte, und zwar höchstpersönlich. Victor tat so, als würde er mir nicht glauben.« Ich spürte, wie das Bett ruckelte, als Eric sich in die Kissen zurückwarf. »Einige der Vampire waren stark und ehrenhaft genug, sich daran zu erinnern, dass sie Felipe verpflichtet waren und nicht Victor. Sie wollten sich Victor zwar nicht offen widersetzen, ließen Pam aber hinter seinem Rücken unseren neuen König anrufen. Und als Pam Felipe am Apparat hatte, erzählte sie ihm, dass du und ich geheiratet hatten. Dann verlangte sie, dass Victor ans Telefon gerufen wurde und Felipe mit ihm redete. Victor wagte es nicht, sich zu weigern, und Felipe befahl ihm, mich gehen zu lassen.« Vor ein paar Monaten war Felipe de Castro König von Nevada, Louisiana und Arkansas geworden. Er war mächtig, alt und sehr gerissen. Und er stand tief in meiner Schuld.

»Hat Felipe Victor bestraft?« Die Hoffnung stirbt zuletzt.

»Ja, da liegt’s«, sagte Eric. Irgendwo auf seinem langen Lebensweg hatte mein geliebter Wikinger anscheinend auch mal Shakespeares ›Hamlet‹ gelesen. »Victor behauptete zunächst, er hätte unsere Trauung schon ganz vergessen.« Obwohl sogar ich manchmal versuchte, sie zu vergessen, machte mich das doch wütend. Victor selbst hatte mit in Erics Büro gesessen, als ich Eric den Zeremoniendolch überreichte – in völliger Unkenntnis darüber, dass ich mit dieser Handlung eine Vermählung vollzog, nach Vampirart. Nun, ich war vielleicht ahnungslos gewesen, aber Victor ganz bestimmt nicht. »Und dann sagte Victor zu unserem König, dass unsere Ehe sowieso eine einzige Farce sei und ich nur meine menschliche Geliebte vor den Elfen retten wolle. Vampirleben dürften aber nicht für die Rettung von Menschen geopfert werden. Und er sagte zu Felipe, dass er Pam und mir nicht geglaubt habe, als wir ihm erzählten, Felipe habe dir Schutz versprochen, nachdem du ihn vor Sigebert gerettet hattest.«

Ich drehte mich herum und sah Eric an. Das Mondlicht, das durch das Fenster hereinfiel, tauchte ihn in silbrig-dunkle Schatten. Meine kurze Erfahrung mit jenem mächtigen Vampir, der eine so große Machtfülle an sich gerissen hatte, sagte mir, dass Felipe de Castro beileibe kein Dummkopf war. »Ist ja nicht zu fassen. Warum hat Felipe Victor nicht getötet?«, fragte ich.

»Darüber habe ich natürlich auch viel nachgedacht. Ich glaube, Felipe muss so tun, als würde er Victor glauben. Anscheinend erkennt Felipe selbst langsam, dass Victors Ehrgeiz sich seit seiner Ernennung zum Repräsentanten des gesamten Bundesstaates Louisiana bis zur Unanständigkeit gesteigert hat.«

Ich stellte fest, dass ich Eric ganz emotionslos betrachten konnte, während ich über das nachdachte, was er gesagt hatte. Mit meiner Vertrauensseligkeit hatte ich mir in der Vergangenheit schon oft die Finger verbrannt, und diesmal würde ich mich dem Feuer nicht ohne sorgfältiges Abwägen nähern. Es war das eine, mit Eric zu lachen oder sich auf die Nächte zu freuen, in denen wir uns gemeinsam in der Dunkelheit wälzten. Doch etwas ganz anderes war es, ihm weitaus verletzlichere Gefühle zu offenbaren. Mit Vertrauen hatte ich es gerade wirklich nicht so.

»Du warst ziemlich mitgenommen, als du zum Krankenhaus kamst«, sagte ich ausweichend. Als ich in der alten Fabrik wieder zu mir kam, die Dr. Ludwig als eine Art Feldlazarett nutzte, war ich so schwer verletzt gewesen, dass ich meinte, es sei einfacher zu sterben als zu leben. Bill, der mich gerettet hatte, litt an einer Vergiftung, weil Neave ihn mit ihren Silberzähnen gebissen hatte, und es war ungewiss gewesen, ob er überleben würde. Und der bereits tödlich verwundete Tray Dawson, Amelias Werwolffreund, hatte noch lange genug durchgehalten, um durchs Schwert zu sterben, als Breandans Truppen das Krankenhaus stürmten.

»Während du in Neaves und Lochlans Gewalt warst, habe ich mit dir gelitten«, erwiderte Eric und sah mir direkt in die Augen. »Ich litt mit dir, ich blutete mit dir – nicht nur, weil wir durch Blutsbande verbunden sind, sondern wegen der Liebe, die ich für dich empfinde.«

Skeptisch zog ich eine Augenbraue hoch. Ich konnte nicht anders, auch wenn ich spürte, dass er es ernst meinte. Ich wollte gern glauben, dass Eric mir sehr viel schneller zu Hilfe geeilt wäre, wenn er gekonnt hätte. Und ich wollte gern glauben, dass er das Echo des Horrors meiner Zeit bei den Elfenfolterern vernommen hatte.

Doch Schmerzen, Blut und Grauen waren meine eigenen gewesen. Er hatte sie vielleicht auch empfunden, aber an einem anderen Ort. »Ich glaube dir, dass du da gewesen wärst, wenn du gekonnt hättest«, sagte ich mit einer Stimme, die viel zu ruhig war. »Das glaube ich wirklich. Ich weiß, dass du sie getötet hättest.« Eric beugte sich auf einen Ellbogen gestützt zu mir und drückte mit seiner großen Hand meinen Kopf an seine Brust.

Ich konnte nicht abstreiten, dass ich mich besser fühlte, seit er sich dazu durchgerungen hatte, es mir zu erzählen. Doch ich fühlte mich nicht so viel besser, wie ich gehofft hatte, auch wenn ich jetzt wusste, warum er nicht gekommen war, als ich nach ihm schrie. Ich konnte sogar verstehen, warum es so lange gedauert hatte, bis er es mir erzählte. Hilflosigkeit war etwas, das Eric nicht oft erlebte. Er war ein Supra, und er war unglaublich stark und ein großartiger Kämpfer. Aber er war kein Superheld, und gegen etliche zu allem entschlossene Mitglieder seiner eigenen Art konnte er allein nichts ausrichten. Und mir wurde klar, dass er mir jede Menge Blut gegeben hatte, als er sich selbst noch von den Nachwirkungen der Silberketten erholen musste.

Schließlich entspannte sich etwas in mir angesichts der Logik seiner Geschichte. Ich glaubte ihm mit meinem Herzen und nicht nur mit meinem Verstand.

Eine rote Träne fiel auf meine nackte Schulter und rann hinab. Ich wischte sie mit dem Finger ab, legte den Finger an seine Lippen – und gab ihm seinen Schmerz zurück. Ich hatte genug eigenen.

»Ich glaube, wir müssen Victor töten«, sagte ich, und sein Blick traf den meinen.

Es war mir endlich gelungen, Eric zu überraschen.