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1   Gemeinsame Ziele verringern Feindseligkeiten zwischen Kindern

Sherifs Robbers Cave Experiment zur Entstehung und Überwindung von Intergruppenkonflikten

Quelle:

Sherif, M., Harvey, O. J., White, B. J., Hood, W. R., & Sherif, C. W. (1988). The Robbers Cave experiment: Intergroup conflict and cooperation. Wesleyan: Wesleyan University Press. (Original publiziert 1954).

Kurzbiografie:

Muzafer Sherif wurde 1906 in Ödemis (Türkei) geboren. Er studierte 1926 in Istanbul und Harvard und promovierte 1935 an der Columbia University in New York. Bis 1972 war er als Professor an der University of Philadelphia tätig. Er starb 1988.

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Wie kommt es dazu, dass Individuen Gruppen bilden? Wie können wir erklären, dass es zwischen Gruppen zu Feindseligkeiten kommt und was kann man tun, um diese Feindseligkeiten zu überwinden? Finden wir diese Prozesse schon in der Kindheit? Diese Fragen untersuchten Muzafer Sherif und Kollegen in ihrem berühmten Ferienlagerexperiment mit 11 Jahre alten Jungen. Zu Beginn der Studie wurden die Kinder in zwei Gruppen eingeteilt, die keinen Kontakt miteinander hatten. Nach einer Phase der Gruppenbildung wurden die beiden Gruppen in Wettbewerbssituationen zusammengebracht. Es zeigte sich, dass die Gruppen Feindseligkeiten und Vorurteile gegeneinander ausbildeten, obwohl die einzelnen Kinder vorab keinerlei aggressive Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen. Als die Kinder in Situationen gerieten, in denen sie zur Lösung von Problemen gruppenübergreifend zusammenarbeiten mussten, zeigten sich eine Reduktion in den Feindseligkeiten und ein Aufbrechen der Gruppenstrukturen. Die Studie macht deutlich, wie bereits in der Kindheit soziale Strukturen Feindseligkeiten hervorrufen können, weist aber auch einen Weg zur Überwindung von Intergruppenkonflikten.

1.1   Ausgangspunkt und leitende Frage

Den Ausgangspunkt der Arbeit von Sherif und Kollegen bildet ihr Interesse am Einfluss der sozialen Umwelt auf das Erleben und Verhalten von Individuen. In früheren Studien zum autokinetischen Effekt hatte Sherif (1935) gezeigt, dass auch Wahrnehmungsurteile sozial beeinflussbar sind. Der autokinetische Effekt beschreibt den Befund, dass ein kleiner Lichtpunkt in einer dunklen Umgebung als bewegt wahrgenommen wird. Menschen unterscheiden sich im Ausmaß dieser subjektiven Illusion. Sherif untersuchte die Wahrnehmungsurteile, wenn Personen in einer Gruppe an einer Studie zum autokinetischen Effekt teilnahmen. Der spannende Befund war, dass sich die Urteile der einzelnen Personen nach wenigen Durchgängen einander annäherten, d. h., dass sich eine Art impliziter Norm ausbildete. Zudem schien dieser Maßstab das Urteil der einzelnen Personen auch über die Gruppenphase hinausgehend zu beeinflussen. Insgesamt verdeutlichen diese frühen Arbeiten, dass Gruppenprozesse sogar eine Auswirkung auf einfache Wahrnehmungsurteile haben können.

Aufbauend auf diesen Arbeiten wandten sich Sherif und Kollegen der Frage zu, wie Gruppen im Rahmen alltäglicher Interaktionen gemeinsame Normen ausbilden. Darüber hinaus erforschten sie, wie Konflikte zwischen Menschen entstehen und wie die Existenz von Feindseligkeit und Aggression zu erklären seien. Während frühere Forschung den Blick auf individuelle Dispositionen gerichtet hatte (z. B. Freud 1930/1994), verfolgte Sherif die Theorie, dass sich Konflikte und damit einhergehende Aggressionen als Folge von Gruppenstrukturen ergeben können. Nach seiner Theorie des realistischen Gruppenkonfliktes führt eine Wettbewerbssituation zwischen zwei Gruppen (i. d. R. aufgrund begrenzter Ressourcen) dazu, dass sich eine Präferenz für die Eigengruppe und eine Abwertung der Fremdgruppe ergibt. Das heißt, unabhängig von den Eigenschaften einzelner Personen (z. B. Verträglichkeit, Selbstregulationsfähigkeiten, Empathie) können durch die soziale Struktur Feindseligkeit und Aggression entstehen.

Diese aus der Sozialpsychologie stammenden Überlegungen waren auch aus entwicklungspsychologischer Sicht sehr interessant, da ein paar Jahre zuvor Piaget (1932) eine Theorie der Entwicklung des moralischen Urteils vorgelegt hatte. Seine Arbeiten legten nahe, dass sich im Laufe der mittleren Kindheit ein Übergang vom heteronomen zum autonomen moralischen Urteil zeigt. Das heißt, jüngere Kinder gehen davon aus, dass Normen durch anerkannte Autoritäten festgelegt werden und eine Art objektive Gültigkeit besitzen. Ältere Kinder (ab 10 – 12 Jahren) verstehen, dass Normen ein Produkt sozialer Interaktion und daher veränderbar sind. Das sich entwickelnde Verständnis der gegenseitigen Abhängigkeit in der Entstehung von Normen war für Sherif und Kollegen eine wichtige entwicklungspsychologische Voraussetzung dafür, dass in einer Gruppe neue Normen entstehen können. Aus entwicklungspsychologischer Sicht war es daher besonders interessant, die Entstehung von gruppenspezifischen Normen und von Intergruppenkonflikten bei Kindern ab 10 Jahren zu untersuchen.

Aufbauend auf diesen beiden Forschungsprogrammen entwickelten Sherif und Kollegen eine groß angelegte Studie, die als Ferienlagerexperiment zu den Klassikern der Psychologie gehört. Die Studie untersuchte, wie in sozialen Gruppen Normen entstehen, wie sich Feindseligkeiten zwischen Gruppen ergeben und wie diese Feindseligkeiten überwunden werden können. Das Feldexperiment fand über einen Zeitraum von 3 Wochen in einem Pfadfinderlager statt, welches im Robbers Cave State Park in Oklahoma gelegen war (daher auch die Bezeichnung Robbers Cave Experiment). Die Studie zeichnete sich nicht nur durch ihre ungewöhnlich lange Dauer, sondern auch durch eine hohe Dichte an Beobachtungen und Messungen aus. Neben einer ausführlichen teilnehmenden Beobachtung (durch die Begleiter der Kinder) kamen auch verschiedene quantitative Maße (z. B. soziometrische Analysen) zum Einsatz. Das Feldlagerexperiment stellt eine bis heute herausragende Arbeit zur Entstehung von Normen und Gruppenkonflikten im Kindesalter dar.

1.2   Das Experiment im Detail

Aufbau

Die Studie bestand aus drei Phasen. Die erste Phase diente der Gruppenbildung. Dazu wurden die insgesamt 22 11-jährigen Jungen in zwei Gruppen (die Adler und die Klapperschlangen) aufgeteilt, die anfangs keinen Kontakt miteinander hatten. Die Jungen durchliefen in ihrer Gruppe jeweils eine Reihe von Aktivitäten und lösten Aufgaben. Zum Beispiel mussten sie gemeinsam ein Zelt aufschlagen, um darin schlafen zu können, oder sich ein Essen zubereiten. Die Forscher legten großen Wert darauf, dass sich die Aufgaben aus natürlichen Problemstellungen ergaben (z. B. etwas zu essen) und nicht von außen vorgegeben wurden. Die Autoren vermuteten, dass die Interaktion und die gegenseitige Abhängigkeit in der Zielerreichung innerhalb jeder Gruppe dazu führen, dass sich sowohl relativ stabile gruppeninterne Hierarchien als auch Normen herausbilden würden.

Die zweite Phase diente dazu, die Gruppen in Konflikt miteinander zu bringen. Dazu wurden über mehrere Tage hinweg Wettbewerbssituationen kreiert (z. B. Tauziehen, Baseballspiele), in denen die Gruppen gegeneinander antraten. Durch die Vergabe von Punkten an das jeweils gewinnende Team und die Verleihung eines Preises für das Team mit der höchsten Gesamtpunktzahl standen die beiden Gruppen im Wettbewerb um eine knappe Ressource. Da die Ressourcen begrenzt waren, d. h., letztlich nur eine Gruppe gewinnen konnte, nahmen die Forscher an, dass es zu einem kompetitiven Kontext und zu Frustration kommen würde. Als Folge davon sollte es zu Feindseligkeiten zwischen den Gruppen und einer zunehmenden Solidarität innerhalb der Eigengruppe kommen.

Die dritte Phase war der Frage gewidmet, wie sich die entstandenen Spannungen zwischen den Gruppen reduzieren ließen. Sherif et al. erwarteten, dass bloßer Kontakt zwischen den Gruppen (z. B. gemeinsames Warten, gemeinsame Essenszeit) keinen Effekt haben sollte (Kontakthypothese). Vielmehr verfolgten sie die Hypothese, dass ein neues, übergeordnetes Ziel, zu dessen Erreichung beide Gruppen zusammenarbeiten müssen, die Beziehung zwischen den Gruppen verbessern würde (Hypothese gemeinsamer Ziele). Um die Kontakthypothese zu überprüfen, brachten sie beide Gruppen zuerst in unterschiedlichen Situationen zusammen (z. B. warteten sie gemeinsam auf den Einlass zu einer Veranstaltung). Um die zweite Hypothese zu prüfen, kreierten die Forscher Problemsituationen, die die Kinder nur durch gemeinsame Anstrengung lösen konnten. In einer Situation waren die Jungen beispielsweise vor das Problem gestellt, dass die gemeinsame Wasserversorgung nicht mehr funktionierte und sie das Problem beheben mussten. In einer anderen Situation konnten sie einen Lieferwagen, der Nahrungsmittel holen sollte, nur durch gemeinsames Ziehen wieder zum Laufen bringen.

Ergebnis und Interpretation

In der ersten Phase zeigte sich, dass sich nach wenigen Tagen relativ stabile Hierarchien innerhalb der Gruppen gebildet hatten. In jeder Gruppe konnte eine Art Anführer identifiziert werden. Dieser Junge zeichnete sich dadurch aus, dass Initiativen für gruppenbezogene Aktivitäten in größerem Ausmaß von ihm ausgingen als auch dadurch, dass seine Initiativen und Vorschläge mit höherer Wahrscheinlichkeit umgesetzt wurden. Die Realisierung der Initiativen anderer Gruppenmitglieder hing in größerem Ausmaß davon ab, dass sie durch den Anführer unterstützt wurden. Zugleich zeigte sich, dass sich in jeder Gruppe Normen etabliert hatten. Diese Normen umfassten bestimmte Einstellungen (z. B. durfte man in der Adler-Gruppe nicht sagen, dass man Heimweh hatte) und Verhaltensweisen. Beispiele für letzteres waren feste Regeln, wie bestimmte Aufgaben verteilt wurden, oder wie bestimmte Spiele gespielt werden mussten.

Die zweite Phase zeichnete sich durch eine zunehmende Konkurrenz gegenüber der Fremdgruppe aus. Dies ging einher mit Abwertungen der anderen Gruppen, Schimpfwörtern und teilweise körperlichen Auseinandersetzungen. Die Adler-Gruppe verbrannte die Flagge der Klapperschlangen. Teilnehmende Beobachtungen durch die Gruppenbegleiter zeigten, dass es zwar nach einer Niederlage in einem Wettkampf teilweise zu Desorganisation bzw. Auflösungserscheinungen innerhalb der verlierenden Gruppe kam, letztlich aber durch vereinte Aktivitäten gegen die Fremdgruppe eine erhöhte Solidarität innerhalb der Eigengruppe erreicht wurde. Die quantitativen Analysen ergaben, dass die Jungen fast ausschließlich Eigengruppenmitglieder, aber kaum Kinder aus der Fremdgruppe als Freunde bezeichneten. Zudem hatten die Kinder negative Stereotype über die Fremdgruppe ausgebildet.

Die dritte Phase war der Überwindung der entstandenen Feindseligkeiten gewidmet. Es ergab sich, dass bloßer Kontakt zwischen den Gruppen zu keiner Veränderung führte. Die Mitglieder blieben weiterhin streng nach Gruppen getrennt und zeigten weiterhin eine Abwertung der Fremdgruppe z. B. durch Schimpfwörter. Eine Veränderung ergab sich jedoch, als die Gruppen zusammenarbeiteten, um ein Problem zu lösen. Die Forscher beobachteten, dass sich die Jungen nach der Zusammenarbeit vermehrt über die Gruppengrenzen hinweg austauschten und miteinander ins Gespräch kamen. Die Spannung schien um so mehr abzunehmen, je mehr die Gruppen miteinander kooperierten. Die Beobachtungen wurden unter anderem durch soziometrische Analysen bestätigt. So zeigte sich am Ende der dritten Phase eine Zunahme der Wahl von Fremdgruppenmitgliedern als Freunde. Darüber hinaus zeigte sich ein drastischer Rückgang im Ausmaß der negativen Stereotype gegenüber der Fremdgruppe. Die Befunde stützen die zweite Hypothese, dass gemeinsame Kooperation, um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen, Spannungen zwischen Gruppen reduziert.

Bedeutung und Bewertung

Der Studie von Sherif und Kollegen kommt gerade in heutiger Zeit eine neue Brisanz zu, da sie aufzeigt, wie bereits im Kindesalter aus sozialen Konkurrenzsituationen Feindseligkeiten zwischen Gruppen entstehen können. Zugleich weist sie einen Weg, wie diese Feindseligkeiten durch die gemeinsame Arbeit an einem übergeordneten Ziel überwunden werden können. Eine zentrale Einsicht dieser Arbeit ist, dass sich Feindseligkeiten und Konflikte durch die soziale Struktur und Limitationen an Ressourcen ergeben und nicht notwendigerweise etwas mit individuellen Dispositionen zu tun haben. Das heißt, unabhängig von der Bezugnahme auf individuelle Prozesse (z. B. die Lerngeschichte oder die Emotions- und Selbstregulationsfähigkeiten einzelner Individuen), können wir Feindseligkeiten und Konflikte zwischen Personen durch die Art der sozialen Struktur erklären.

Obwohl die Arbeit ursprünglich aus sozialpsychologischen Überlegungen heraus motiviert wurde, bietet sie eine umfassende Untersuchung von Themen, die verstärkt im Mittelpunkt gegenwärtiger entwicklungspsychologischer Forschungen stehen. Dazu gehören die Fragen nach der Entstehung von Normen als auch der Entwicklung von Intergruppenverhalten und die mögliche Überwindung von Intergruppenkonflikten.

Gerade die erste Phase der Studie zeigt, wie in der Interaktion zwischen Kindern teilweise arbiträre Normen innerhalb von Gruppen entstehen und eine zentrale Rolle in der Kohäsion von Gruppen spielen, indem sie deren gemeinsame Aktivität regeln. Die Studie nimmt damit ein breites Interesse an den Grundlagen der Normativität vorweg, die heute vor allem in der frühen Kindheit genauer erforscht werden (für eine Übersicht siehe Rakoczy / Schmidt, 2013). Diese Forschungen zeigen, dass Kinder im Alter von 2 – 3 Jahren die verpflichtende Kraft von Regeln verstehen und andere Personen zur Einhaltung von Regeln auffordern (Rakoczy et al., 2008). Unter bestimmten Umständen schließen 3-jährige Kinder auf die Existenz einer Norm, selbst wenn sie eine Handlung nur ein einziges Mal gesehen haben (Schmidt et al., 2016). Die Reichweite sozialer Normen zeigt sich in vielen Bereichen. So zeigen Studien, dass die Neigung junger Kinder, auch eigentlich unnötige Verhaltensweisen einer anderen Person genau zu imitieren (die sog. Über-Imitation), auf der normativen Annahme beruht, dass diese Handlungen so ausgeführt werden müssten (Kenward, 2012; für eine Übersicht siehe Höhl et al., 2019). Weitere Studien legen nahe, dass auch der Gebrauch neuer Wörter (Paulus / Wörle, 2019) und von Werkzeugen (Casler et al., 2009) von jungen Kindern als normativ aufgefasst wird – sie protestieren dagegen, wenn jemand anders damit umgeht.

Auch die Frage, wie Normen in Gruppenprozessen entstehen und tradiert werden, beschäftigt die gegenwärtige Entwicklungspsychologie. In einer Studie spielten Triaden von 5-jährigen Kindern zusammen (Göckeritz et al., 2014). Nach kurzer Zeit stellten die Kinder Spielregeln auf und forderten die Einhaltung dieser Regeln auch von neu hinzukommenden Kindern ein. Dabei unterscheiden junge Kinder, wer eine Regel aufgestellt hat. Falls die Regel von einer Gruppe aufgestellt wurde, glauben Kinder im Grundschulalter, dass diese Regel nur durch eine gemeinsame Entscheidung geändert werden kann (Zhao / Kushnir, 2018). Falls die Regel jedoch durch einen Erwachsenen aufgestellt wurde, nahmen sie an, dass sie auch nur durch die Person abgeändert werden könne. Insgesamt zeigt sich, dass schon junge Kinder starke normative Einstellungen ausbilden und regelkonformes Verhalten auch von anderen Personen einfordern. Zugleich entwickelt sich ein Verständnis, dass Regeln unterschiedliche Ursprünge haben und daher auf unterschiedliche Art abänderbar sind.

Darüber hinaus hat sich die entwicklungspsychologische Forschung verstärkt mit Fragen der Entstehung von Gruppeneinstellungen beschäftigt. Bereits im Kindergartenalter finden sich Effekte von Gruppenzugehörigkeit. Wenn 5-jährige Kinder zufällig in zwei Gruppen aufgeteilt werden, die sich nur in der Farbe des T-Shirts (blau oder rot) unterscheiden (sog. Minimal Groups), zeigen Kinder Eigengruppenpräferenzen in einer Vielzahl von Bereichen (Dunham et al., 2011). Zum Beispiel mochten die Kinder andere Kinder mit derselben T-Shirt-Farbe lieber und teilten auch mehr mit ihnen. Neuere Studien zeigen, dass Kindergartenkinder loyaler zu ihrer Eigengruppe als einer Fremdgruppe stehen (z. B. ein Geheimnis nicht verraten), selbst wenn ihnen dies Nachteile bereitet (Misch et al., 2016). Dabei scheint es so zu sein, dass sich im Kindergartenalter zuerst eine Präferenz für die Eigengruppe entwickelt, während eine dezidierte Ablehnung der Fremdgruppe erst mit Beginn des Schulalters auftritt (Buttelmann / Böhm, 2014). Aktuelle Forschungen beschäftigen sich mit der Frage, wie die negativen Konsequenzen der sich früh entwickelnden Intergruppenprozesse überwunden werden können. Die Studie von Sherif und Kollegen bietet hierfür einen immer noch aktuellen Ansatzpunkt.

Eine zentrale Limitation der Studie liegt in der Tatsache, dass sie nur mit Jungen durchgeführt wurde, ihre Befunde also nicht auf Mädchen generalisierbar sind. Neuere Studien weisen in der Tat auf Geschlechtsunterschiede hin. Zum Beispiel berichten Benozio und Diesendruck (2015), dass bei 3 – 6 Jahre alten Kindern die Präferenz der Eigengruppe und Abneigung gegenüber der Fremdgruppe bei Jungen stärker ausgeprägt ist als bei Mädchen. Die Erforschung der Entwicklung von Geschlechtsunterschieden im frühen Intergruppenverhalten ist eine spannende Aufgabe für die aktuelle entwicklungspsychologische Forschung.

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Die Studie von Sherif und Kollegen kann aus einer Reihe von Gründen als Klassiker der Entwicklungspsychologie bezeichnet werden. Zum einen stellt das sich über 3 Wochen erstreckende Studiendesign mit einer Vielzahl an qualitativen Beobachtungen und quantitativen Messungen eine bis heute unerreichbare Fülle an Einsichten über die Entstehung von Intergruppenbeziehungen im Kindesalter bereit. Zum anderen thematisiert die Studie Phänomene (z. B. die Entstehung von Normen, die Entwicklung von Intergruppenkonflikten), die im Mittelpunkt gegenwärtiger entwicklungspsychologischer Forschung stehen.

1.3   Lernen und Lesen

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1. Was bedeutet die Aussage, dass Sherif und Kollegen den Ursprung von Feindseligkeiten in der Struktur sozialer Beziehungen und nicht in individuellen Dispositionen verorten?

2. Welches Vorgehen war erfolgreich, um die zwischen den Gruppen entstandenen Feindseligkeiten zu reduzieren?

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Video „5 Minute History Lesson, Episode 3: Robbers Cave“: www.youtube.com/watch?v=8PRuxMprSDQ; 12.04.2019

 

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Benozio, A., & Diesendruck, G. (2015). Parochialism in preschool boys’ resource allocation. Evolution and Human Behavior, 36(4), 256 – 264. doi: 10.1016/j.evolhumbehav.2014.12.002

Buttelmann, D., & Böhm, R. (2014). The ontogeny of the motivation that underlies in-group bias. Psychological Science, 25(4), 921 – 927. doi: 10.1177/0956797613516802

Casler, K., Terziyan, T., & Greene, K. (2009). Toddlers view artifact function normatively. Cognitive Development, 24(3), 240 – 247. doi: 10.1016/ j.cogdev.2009.03.005

Dunham, Y., Baron, A. S., & Carey, S. (2011). Consequences of “minimal” group affiliations in children. Child Development, 82(3), 793 – 811. doi: 10.1111/j.1467-8624.2011.01577.x

Freud, S. (1930/1994). Das Unbehagen in der Kultur und andere kulturtheoretische Schriften. Mit einer Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernard Görlich. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch.

Göckeritz, S., Schmidt, M. F. H., & Tomasello, M. (2014). Young children’s creation and transmission of social norms. Cognitive Development, 30(1), 81 – 95. doi: 10.1016/j.cogdev.2014.01.003

Höhl, S., Keupp, S., Schleihauf, H., McGuigan, N., Buttelmann, D., & Whiten, A. (2019). ‘Over-imitation’: A review and appraisal of a decade of research. Developmental Review, 51, 90 – 108. doi: https://doi.org/10.1016/j.dr.2018.12.002

Kenward, B. (2012). Over-imitating preschoolers believe unnecessary actions are normative and enforce their performance by a third party. Journal of Experimental Child Psychology, 112(2), 195 – 207. doi: 10.1016/j. jecp.2012.02.006

Misch, A., Over, H., & Carpenter, M. (2016). I won’t tell: Young children show loyalty to their group by keeping group secrets. Journal of Experimental Child Psychology, 142, 96 – 106. doi: 10.1016/j.jecp.2015.09.016

Paulus, M., & Wörle, M. (2019). Young children protest against the incorrect use of novel words: Toward a normative pragmatic account on language acquisition. Journal of Experimental Child Psychology, 180, 113–122

Piaget, J. (1932). Le jugement moral chez l’enfant. Paris: Presses Universitaires de France.

Rakoczy, H., & Schmidt, M. F. H. (2013). The early ontogeny of social norms. Child Development Perspectives, 7(1), 17 – 21. doi: 10.1111/cdep.12010

Rakoczy, H., Warneken, F., & Tomasello, M. (2008). The sources of normativity: Young children’s awareness of the normative structure of games. Developmental Psychology, 44(3), 875 – 881. doi: 10.1037/0012-1649.44.3.875

Schmidt, M. F. H., Butler, L. P., Heinz, J., & Tomasello, M. (2016). Young children see a single action and infer a social norm: Promiscuous Normativity in 3-Year-Olds. Psychological Science, 27(10), 1360 – 1370. doi: 10.1177/0956797616661182

Sherif, M. (1935). A study of some social factors in perception: Chapter 3. Archives of Psychology, 187, 23 – 46. doi: 10.1080/15374416.2013.812037

Sherif, M., Harvey, O. J., White, B. J., Hood, W. R., & Sherif, C. W. (1988). The Robbers Cave Experiment: Intergroup conflict and cooperation. Wesleyan: Wesleyan University Press. (Original publiziert 1954).

Zhao, X., & Kushnir, T. (2018). Young children consider individual authority and collective agreement when deciding who can change rules. Journal of Experimental Child Psychology, 165, 101 – 116. doi: 10.1016/j. jecp.2017.04.004

2   Was lernen Kinder durch Beobachtung?

Banduras Studie zum sozialen Lernen im Kindergartenalter

Quelle:

Bandura, A. (1965). Influence of models’ reinforcement contingencies on the acquisition of imitative responses. Journal of Personality and Social Psychology, 1, 589 – 595.

Kurzbiografie:

Albert Bandura wurde 1925 in der kanadischen Provinz Alberta geboren. Er studierte Psychologie an der University of British Columbia und der University of Iowa. Dort promovierte er 1952. Kurz darauf wurde er an die Stanford University berufen, wo er seitdem als Professor für Psychologie tätig ist. Bandura gilt als einer der einflussreichsten Psychologen in der Geschichte der Psychologie.

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Welche kognitiven Prozesse liegen der kindlichen Fähigkeit zum Beobachtungslernen und zur Imitation beobachteter Handlungen zugrunde? In seiner einflussreichen Studie erforschte Bandura (1965), ob die wahrnehmbaren Konsequenzen, die ein Anderer für sein Handeln erfährt, das Lernen und die Imitation aggressiver Handlungen bei 3- bis 5-jährigen Kindern beeinflussen. Dazu beobachteten drei Gruppen an Kindern, wie eine erwachsene Person eine lebensgroße Plastikpuppe aggressiv behandelte (z. B. sie schlug und trat). Eine Gruppe sah, wie die Person für ihre Handlungen belohnt wurde, die andere Gruppe, wie sie bestraft wurde, und die dritte Gruppe beobachtete keine Konsequenzen. Als die Kinder selbst mit der Puppe spielen konnten, zeigte die Gruppe, die die Bestrafung gesehen hatte, deutlich weniger aggressives Verhalten als die anderen beiden Gruppen. Dies spricht dafür, dass die beobachteten Konsequenzen die Wahrscheinlichkeit der Imitation beeinflussen. Dieser Effekt wird als stellvertretende Belohnung bzw. Bestrafung bezeichnet.

2.1   Ausgangspunkt und leitende Frage

Banduras Arbeit ist vor dem Hintergrund der damals im amerikanischen Raum dominierenden behavioristischen Tradition anzusiedeln. Eine zentrale Idee des Behaviorismus ist, dass Verhalten durch Verstärkung und Bestrafung beeinflusst wird (operante Konditionierung). Als Verstärkung gilt, was die Auftretenswahrscheinlichkeit eines Verhaltens erhöht, als Bestrafung, was sie senkt. Der Fokus im Behaviorismus liegt dabei auf beobachtbarem Verhalten, den es auslösenden Stimuli sowie den wahrnehmbaren Konsequenzen.

Im Rahmen des behavioristischen Paradigmas kam es zu einem verstärkten Interesse am Lernen durch Beobachtung. Wie ist es möglich, dass wir neue Verhaltensweisen durch die Beobachtung des Verhaltens anderer erwerben? Ein damals viel diskutierter Vorschlag von Miller und Dollard (1940) verblieb eng im Rahmen der behavioristischen Theorie. Die Autoren postulierten, dass Imitation selbst eine Folge von Verstärkungslernen sei. Falls imitatives Verhalten verstärkt wird, neigen Individuen dazu, Verhalten systematisch zu imitieren. Imitation wird in diesem Modell also genauso über behavioristische Lernmechanismen (z. B. Verstärkung) erklärt wie jedes andere Verhalten. Das Modell setzt freilich voraus, dass das Verhalten bereits im Repertoire des Beobachters vorhanden ist, sodass seine Ausführung auch verstärkt werden kann (Bandura et al., 1961). In einer ersten Studie hatten Bandura und Kollegen (1961) jedoch gezeigt, dass junge Kinder auch neuartige aggressive Verhaltensweisen imitieren. Neuartig bezieht sich dabei nicht darauf, dass Kinder diese Handlungen nicht ausführen können (sonst könnten sie sie auch nicht imitieren), sondern dass sie sie in einer bestimmten Kombination oder Anordnung von Einzelhandlungen noch nie ausgeführt haben. Die Kinder, die beobachteten, wie eine erwachsene Person eine lebensgroße Modellpuppe beispielsweise mit einem Hammer schlug und trat, zeigten dieses Verhalten häufiger als Vergleichsgruppen.

Bandura folgte den behavioristischen Grundideen insoweit, als er die Idee übernahm, dass Verstärkung und Bestrafung einen Effekt auf Verhalten haben. Die Auftretenswahrscheinlichkeit von Verhaltensweisen ist von ihrer Verstärkung und Bestrafung abhängig. Eine zentrale Frage war nun, ob diese selbst erfahren werden müssen oder ob die Beobachtung schon hinreichend ist, um Verhalten zu beeinflussen – eine Sichtweise, die prima facie nicht mit Grundannahmen des klassischen Behaviorismus im Einklang war. Eine weitere Frage war, ob die wahrgenommene Verstärkung und Bestrafung das tatsächliche Lernen der Verhaltensweisen (d. h., den Erwerb) beeinflusst oder nur die Ausführung des Verhaltens (das eigentliche Lernen aber nicht tangiert). Diese Fragen standen im Mittelpunkt der Studie von Bandura (1965).

2.2   Das Experiment im Detail

Aufbau

Die Studie folgte einem experimentellen Design und bestand aus drei Gruppen von Kindern im Alter von 3 bis 5 Jahren. In einer ersten Phase wurde den Kindern gesagt, dass sie einen kurzen Film schauen können. Alle Kinder sahen, wie ein erwachsenes Modell eine überlebensgroße Puppe (Bobo-Doll-Puppe) auf verschiedene, neuartige Weisen aggressiv behandelt. Dazu zählte unter anderem die Puppe umzuwerfen, sich auf sie zu setzen und auf die Nase zu schlagen oder ihr mit einem Hammer auf den Kopf zu hauen (Abb. 2.1). Begleitet wurden diese Verhaltensweisen durch entsprechende verbale Aggressionen.

Der weitere Fortgang des Films unterschied sich je nach Gruppe. In der Verstärkungsgruppe wurde das Modell positiv verstärkt: Es bekam Süßigkeiten durch eine andere Person und wurde für sein Verhalten gelobt. In der Bestrafungsgruppe wurde das Modell mit erhobenem Zeigefinger für sein Verhalten geschimpft und leicht geschlagen. In der dritten Gruppe erfuhr das Modell keinerlei Konsequenzen.

Danach wurden die Kinder in einen Raum geführt, der unterschiedliche Spielzeuge enthielt, unter anderem auch eine Bobo-Doll-Puppe und andere Objekte, die zuvor beobachtet wurden. Sie konnten 10 Minuten lang frei spielen. Es war von besonderem Interesse, ob die Kinder die Puppe aggressiv behandeln würden und ob es Unterschiede zwischen den drei Gruppen gab.

Schlussendlich wollte Bandura herausfinden, ob alle Kinder die beobachteten und für sie neuartigen Handlungen gelernt hatten (auch wenn sie diese in der Bestrafungsbedingung vielleicht nicht zeigten). Dazu wurden sie von der Versuchsleiterin gebeten, ihr zu zeigen, was das Modell in dem Film mit der Puppe getan hatte, wofür ihnen eine Belohnung versprochen wurde.

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Abb. 2.1: Fotoausschnitte aus dem Film „Social Learning of Aggression through Imitation of Aggressive Models“ einer Folgestudie von Bandura. Die Fotos zeigen das am Modell (in dieser Folgestudie eine Frau im Gegensatz zum Originalexperiment; obere Fotoreihe) erlernte aggressive Verhalten der Kinder (mittlere und untere Fotoreihe) in Banduras Experiment (www.youtube.com/watch?v=dmBqwWlJg8U, 28.5.2019).

Ergebnis und Interpretation