Stefan Mühldorfer

Tagsüber dieses strahlende Blau

Roman

 

 

 

 

© 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

 

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eBook ISBN 978 - 3 - 423 - 40656 - 7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978 - 3 - 423 - 13964 - 9

 

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Zwei

Drei

Vier

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Fires – keep them burning

 

 

für Ann

Eins

Ich heiße Robert Ames und bin siebenunddreißig. Meine Frau sagt, ich sehe jünger aus. Ich weiß nicht, ob das überhaupt eine Rolle spielt. Früher war mir mein Alter egal, jedenfalls war es nicht mehr als eine einfache Antwort auf eine einfache Frage. Erst im Lauf der Jahre ist mir bewusst geworden, dass die Frage nach dem Alter tiefer geht, als einem im ersten Moment selber lieb ist: Sie ist im Grunde die Frage danach, wo man im Augenblick steht. Dabei ist das Gefährliche an der Frage, dass man nicht sagen kann, wann sie einen zum ersten Mal überrascht (nämlich dann, wenn man erkennt, dass es diesen Zusammenhang gibt); ab diesem Moment jedenfalls – ob man es sich nun eingestehen will oder nicht – hat sich ziemlich viel verändert.

Letzten Endes, so denke ich heute, geht es doch immer um das, was man erreicht hat. Das Gefühl des eigenen Erfolgs verleiht dir eine gewisse Befriedigung und Sicherheit, und über die Jahre habe ich ein ziemlich gutes Gespür dafür entwickelt, ob die Leute, mit denen ich zu tun habe, bereit sind, die Geschichte, die ich ihnen präsentiere, zu akzeptieren. Ich merke das an der Art, wie mein Gegenüber auf meine Antwort – ich bin siebenunddreißig und Versicherungsmakler – beiläufig nickt und zusätzlich das eine oder andere wissen will, zum Beispiel, ob man Kinder hat und welche Schule die Kinder besuchen. Ein paar klare, einfache Antworten können dir hier viel Sympathie einbringen. Dabei heißt das für sich allein streng genommen noch rein gar nichts.

Ich weiß nicht, warum, aber das laue Gefühl möglichen Scheiterns steckt bei mir immer mit im Gepäck (vielleicht eine Folge meiner zu hohen Ansprüche). Nicht dass ich davor Angst hätte – meistens redet man sich ja ohnehin etwas ein in Momenten, in denen die Dinge nicht so laufen, wie man es gerne hätte. Auch ich neige dann manchmal dazu, zu pessimistisch zu sein, alles ein wenig zu eng zu sehen, wie man so schön sagt, und das bekommt mir in der Regel überhaupt nicht.

Vor elf Jahren, kurz nachdem ich Kala geheiratet hatte und mit ihr nach Hamilton in dieses kleine Haus gezogen bin, in dem wir auch heute noch wohnen (ihr Vater hatte uns eine beträchtliche Summe zugeschossen, um uns einen guten Start zu verschaffen), hatte ich gerade meinen ersten Job nach dem Studium ergattert, verdiente ganz ordentlich und richtete mich auf ein ziemlich normales Leben ein. Ein normal erfolgreiches, muss ich sagen, denn natürlich dachte ich damals nicht im Geringsten daran, dass meine Vorstellung und die Realität zwei verschiedene Dinge waren, die miteinander kollidieren konnten, und dass Entscheidungen einem auch manchmal in dem einen oder anderen Punkt aus der Hand genommen werden können.

Ich kann mir nichts vorwerfen – meine damalige Naivität hatte auch ihr Gutes. Ich glaube, ein gewisser, manchmal völlig unbegründeter Optimismus war für mich einfach Teil des Programms, auch wenn ich es selber niemals so ausgedrückt hätte. Man könnte es auch so sagen: Ich hatte eine ziemlich gute Nase dafür, wann ein Wechsel oder eine Veränderung anstand – und meist habe ich dann ohne allzu großes Nachdenken die Konsequenzen gezogen.

Heute bin ich in vielerlei Hinsicht dickhäutiger geworden. Den Druck zur Veränderung spüre ich immer noch, trotzdem behalte ich lieb gewordene Gewohnheiten noch eine Weile bei, fast so, als wäre Konstanz ein Charakterzug, der sich lohnt, oder ein Wert an sich oder etwas, worauf man zumindest stolz sein kann. Nehmen wir unser Haus: Ich finde, Kala und ich haben hier eine gute Zeit miteinander verbracht. Wir könnten uns ein neues zulegen, ein größeres. Kala spricht schon länger davon. Und ich? Ich merke nur, dass in diesen vier Wänden eine Menge passiert ist, was sie mir ans Herz hat wachsen lassen.

Ich versuche, mein Kopfkissen so zusammenzuknüllen, dass es bequem unter meinen Nacken passt (eine Marotte von mir, die Kala beim Einschlafen verrückt macht). Aus irgendeinem Grund bin ich heute Nacht mehrmals aufgewacht und einmal habe ich mich sogar ins Wohnzimmer gesetzt und ziellos im Hamilton Observer geblättert, als würde ich nach etwas suchen, von dem ich selber nicht weiß, was es ist. Schließlich bin ich bei einem Artikel über eine Krankenschwester aus Bratislava hängen geblieben, die seit 1975 im Hospital oben an der James Street arbeitet und erzählt, warum es ihr schwergefallen ist, hier Fuß zu fassen, und dass die Patienten sie auch heute noch fragen würden, woher sie käme, dann aber mit der Slowakei überhaupt nichts anfangen könnten, eine Tatsache, die sie sehr bedrückend fand (was ich gut verstehen kann) – wer wohnt schon gern in einem Land, in dem sich niemand ein Bild von der Gegend machen kann, aus der du kommst? Diese Krankenschwester jedenfalls bewegt sich – so gestand sie – privat fast ausschließlich in einem Kreis von Exiltschechen oder Exilslowaken, eine Konsequenz, die ich zwar folgerichtig, aber nicht unbedingt vielversprechend finde. Sonst kann ich mich an nichts weiter erinnern.

Draußen fährt ein Auto durch die Straße. Ein tiefes, sonores Blubbern schwappt in die Vorgärten, fängt sich zwischen den eng stehenden Häusern und verliert sich weiter vorn an der nächsten Kreuzung. Die Tragina Ave ist eine unauffällige kleine Straße in einem ziemlich unscheinbaren Viertel von Hamilton. Wer hier wohnt, hat sich etwas aufgebaut oder ist gerade dabei, das merkt man der Gegend an. Alte Paare, bei denen die Kinder längst aus dem Haus sind. Junge Familien, die im Sommer bis tief in die Nacht im Garten sitzen und um die Wette grillen. Blumenbeete in Reih und Glied rund um militärisch getrimmte Rasenflächen. Manchmal, wenn ich spätabends vor dem Zubettgehen eine kleine Runde um den Block drehe, überkommt mich das Gefühl, dass die Welt an diesem Ort zu einem sehr überschaubaren Platz geronnen ist.

Kala und mir ist die Eingewöhnung damals alles andere als leichtgefallen. Dabei hat uns niemand einen Stein in den Weg gelegt, ganz im Gegenteil. Man grüßte uns höflich, aber zurückhaltend, so, als wolle man erst einmal abwarten, in welche Richtung sich die Sache mit uns entwickeln könnte. Ich glaube, unsere eigentliche Eintrittskarte in diese Gegend war, dass wir geblieben sind – wie alle anderen um uns herum auch. Diese Beharrlichkeit hat jede anfängliche Skepsis uns gegenüber zum Erliegen gebracht. Es war, als sähen die Leute darin eine Bestätigung ihrer Art zu leben, so etwas wie die unausgesprochene Versicherung, dass ihr Entwurf und unserer scheinbar gar nicht so weit auseinanderliegen (auch wenn in Wirklichkeit natürlich Welten dazwischenliegen können, was ich in dem Fall sogar annehme).

Seitdem gehören wir dazu (was immer das heißen mag) und könnten hier genauso gut alt werden wie all die anderen, was Kala unerträglich findet. Ich weiß nicht, was genau sie daran stört, vielleicht ist es am ehesten das Gefühl, dass in der Tragina Ave der Puls des Lebens so langsam, unbeirrt und alltäglich schlägt, dass du ihn manchmal gar nicht mehr wahrnimmst. Hier kannst du dich in eine Vertrautheit mit den Dingen um dich herum einspinnen lassen, und wenn du irgendwann wieder herausmöchtest, stellst du fest, dass es dafür vielleicht schon längst zu spät ist.

Im Süden endet die Tragina Ave in Bartonville als Sackstraße direkt unterhalb der presbyterianischen und der katholischen Kirche, die man über einen kurzen Fußweg und eine Treppe erreichen kann. In der anderen Richtung kreuzt sie die Main Street (auf der man direkt ins Zentrum kommt und die ich benutze, wenn ich zur Arbeit fahre) und führt dann hinunter zur Barton Street, an der die Centre Mall liegt, wo Kala und ich alle Einkäufe erledigen. Unser Haus liegt im südlichen Teil, also zwischen der Main Street und den beiden Kirchen und nur ein paar Fußminuten vom Montgomery Park entfernt, wo ich mit Jonathan, unserem Sohn, ab und an ein bisschen Baseball spiele (leider bin ich kein besonders begnadeter Werfer, also schlägt er ein Luftloch nach dem anderen, und das Ganze endet damit, dass er ziemlich schnell die Lust verliert, nur um sich später zuhause bitter über mich zu beklagen).

Es ist kurz vor sechs. Kala atmet ruhig und gleichmäßig. Sie dreht mir den Rücken zu, die Decke hoch bis zu den Schultern gezogen, so, dass ich nicht einmal ihren Nacken mit den kurz rasierten schwarzen Haaren sehe. (Wenn ich hinter ihr stehe, bin ich immer versucht, sie dort zu küssen.) Dass ich vor ihr wach bin, ist nicht ungewöhnlich. Meist liege ich dann noch ein paar Minuten im Bett und spiele in Gedanken meinen Tag durch: welche Termine anstehen, welche Gespräche ich führen muss und ob sie glatt verlaufen werden oder kompliziert.

Lebensversicherungen zu verkaufen ist ein Geschäft, das ziemlich viel Fingerspitzengefühl erfordert, schließlich zaubere ich keine weißen Kaninchen aus dem Hut, bevor ich wieder hinter irgendeinem Vorhang verschwinde, sondern nehme die Leute an der Hand und entwickle zusammen mit ihnen den schlüssigsten Weg, wie sie aus dem, was sie mitbringen, das eine oder andere machen können. Die meisten sind sich darüber wohl nicht ganz im Klaren, sonst würden sie kein so langes Gesicht ziehen, wenn sie hören, dass eine Versicherung, für die sie monatlich fünfzig Dollar abzweigen wollen, in zwanzig Jahren höchstens zwanzigtausend abwerfen wird. In der Regel versuche ich gleich von Anfang an, die hohen Erwartungen zu dämpfen: Je früher die Realität ins Spiel kommt, desto besser. Mittlerweile kann ich sehr gut einschätzen, wie ich vorgehen muss, aber wenn mich Kunden ins offene Messer laufen lassen wollen, dann tun sie das auch. Aus irgendeinem idiotischen Grund nehmen sie meine Berechnungen persönlich, so, als hätte ich ihnen gerade gesagt, welche Perspektiven sich für ihr weiteres Leben noch ergeben könnten, und spätestens dann wird es ungemütlich.

Aber nichts von alledem steht für heute zu befürchten: ein Bilderbuchfreitag vor einem Bilderbuchwochenende (sagt der Wetterbericht). Als Erstes werde ich ins Büro fahren, mein obligatorisches Schwätzchen mit Glandis halten und ein bisschen telefonieren – warmlaufen, wie Walter Buck es nennt (Walter ist der Chef des Versicherungsbüros, in dem ich arbeite). »Lass dir von einem alten Hasen wie mir einen Tipp geben«, hatte Walter mir gleich zu Beginn eröffnet, nachdem er meine Anstrengungen, ein halbwegs ebenbürtiger Geschäftspartner zu werden, ein paar Wochen mit der gebotenen Zurückhaltung mitverfolgt hatte. »Zeig den Leuten, dass das, was du im Gepäck hast, eine nützliche Investition sein kann. Wenn jemand glaubt, dass ihm das guttut, freu dich für ihn. Wenn jemand nichts davon wissen will, hak die Sache ab und schau nach vorn. Aber misch dich nicht in Dinge ein, die dich nichts angehen. Ich hab was gegen Besserwisser, Robert. Und wenn du hundert Mal der Meinung bist, dass jemand auf dem Holzweg ist – beiß dir auf die Lippen! Du bist Versicherungsmakler und kein Therapeut.«

Walter ist einen halben Kopf kleiner als ich, vielleicht eins fünfundsiebzig, mit einer untersetzten, bulligen Statur, die ihm etwas sehr Gegenwartsbezogenes verleiht (was in unserem Metier nicht von Nachteil sein muss). Noch auffälliger sind allerdings seine Augenbrauen, zwei dichte, buschige, schwarze Matten, die über der Nase fast zusammenstoßen und die hohe Stirn vom Rest des Gesichts abschneiden. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, aber wenn Walter dich anschaut, vermittelt er dir fortwährend den Eindruck, er wüsste schon, was du ihm sagen willst, und als könntest du ihn mit nichts wirklich überraschen.

Wir beide ergänzen uns auf eine angenehm praktische Art: Walter kommt ziemlich direkt und ohne Umschweife zur Sache (Menschen, die wissen, was sie wollen, lieben ihn dafür), während ich mir leichter tue, den anderen reden zu lassen und erst einmal abzuwarten. Dagegen ist nichts einzuwenden: Jeder von uns sucht sich den Kundenkreis, der zu ihm passt, wenngleich Walter mit seiner Methode zwangsläufig ein wenig erfolgreicher ist. (Zumindest habe ich es noch an keinem Monatsende geschafft, ihn in der Gesamtzahl der abgeschlossenen Policen hinter mir zu lassen.) Vielleicht strahlt er aber auch einfach nur eine Sicherheit aus, die mir abgeht. Ich konnte mit seinem Rat damals im Übrigen nicht allzu viel anfangen. Erst sehr viel später habe ich verstanden, dass das einer der Gründe ist, warum er sich in seiner Branche so weit nach oben geboxt hat und schließlich dahin gekommen ist, wo er heute steht.

Walter wird dieses Jahr dreiundfünfzig – ich weiß das so genau, weil er in letzter Zeit anfängt, mit seinem Alter zu kokettieren, ein untrügliches Zeichen dafür, dass irgendetwas nicht stimmt. Heute Abend hat er Kala und mich auf ein Fest in Port Dover eingeladen (Kala ist nicht sonderlich begeistert, und so wie es aussieht, werde ich ohne sie rausfahren müssen). Er hat sich da ein lauschiges Cottage geleistet, mit Blick auf den See, dazu einen rasanten kleinen Katamaran im Hafen. Seine Frau hasst Segeln, also hat Walter im Schnitt mindestens ein Wochenende im Monat, an dem er tun und lassen kann, was er will. Es ist kein Geheimnis, dass er seine Frau dort draußen betrügt, was mir für Michelle wirklich leidtut, denn natürlich kennen wir uns, und die Vorstellung, dass ein Arbeitskollege ihres Mannes besser über intime Details dieser Ehe Bescheid weiß als die Ehefrau, behagt mir ganz und gar nicht. Persönlich bin ich der Meinung, dass Michelle diese Information bräuchte, um sich in jeder Hinsicht frei entscheiden zu können (was vermutlich der Grund ist, warum Walter sie ihr vorenthält), und es bedrückt mich, dass ich in dieser Sache ungewollt zum Mitwisser geworden bin.

Ich habe mir abgewöhnt, anderen Leuten in ihre Lebensgestaltung hineinzureden. Ich finde, das führt zu nichts; man neigt in Momenten, in denen es gut läuft, ohnehin dazu, sein eigenes Konzept zu verallgemeinern (als ob es das allein Seligmachende sei). Walter macht es mir mit seinem Verhalten gegenüber Michelle allerdings nicht leicht, was dazu geführt hat, dass ich auch schon mit Kala darüber gesprochen habe. Natürlich sind wir zu keinem befriedigenden Ergebnis gekommen. Kala hätte es, glaube ich, begrüßt, wenn ich einen unmissverständlichen Akzent gesetzt hätte. Einen, der in der Folge ein paar persönliche Nachteile nach sich zieht, dadurch aber im Endeffekt nur noch an Glaubwürdigkeit gewinnt. Alles in allem also eine Geschichte, die du dir guten Gewissens für deine Kinder aufhebst, um ihnen die Wichtigkeit eines eigenen Standpunkts zu verdeutlichen. Eine Geschichte, die dir – wenn du es einmal brauchst – mit etwas Glück sogar den Glauben an dich selbst zurückgeben kann. Mit anderen Worten: Kala findet, dass ich mir einen neuen Job suchen sollte. Das erscheint mir aber entschieden zu hart. Ich bin der Meinung, dass die Sache zu privat und zu persönlich ist und deshalb für Konsequenzen dieser Art denkbar ungeeignet. Außerdem fühle ich mich in meiner Arbeit wohl. Warum soll ich Walters Problem zu meinem machen? Das zu akzeptieren, fällt Kala, glaube ich, ziemlich schwer.

Natürlich bedaure auch ich, dass es überhaupt so weit gekommen ist. Walter und ich reden normalerweise nicht über allzu viel Privates, und wenn, dann auf einer unverbindlichen Ebene, bei der man selber bestimmt, wie viel man von sich preisgeben will oder nicht. Das ist genau die Mischung, die ich brauche. Ich halte nichts davon, mein Privatleben in die Arbeit hineinzuziehen. Ich will mich nicht verpflichtet fühlen und mute das auch keinem anderen zu. Wenn ich jemanden nicht ausgesprochen sympathisch finde, halte ich mich mit persönlichen Bemerkungen sehr zurück, denn oft ziehen sie eine aufgesetzte, künstliche Art von Vertrautheit nach sich (je intimer der Gesprächsgegenstand, desto schlimmer), eine Vertrautheit, die man ursprünglich nie und nimmer haben wollte und die einem dann noch lange nachhängt (wie ich überhaupt finde, dass Intimität und Nähe manchmal eine ziemlich einseitige Angelegenheit sind).

Walter ist da keine Ausnahme. Natürlich lernte ich irgendwann seine Frau kennen und er meine, wir halten uns auf dem Laufenden, was die Kinder so treiben (Walter hat einen Sohn, der sechzehn ist und anscheinend nicht besonders viel von ihm wissen will) oder was am Wochenende los war, mehr nicht. Dabei lassen wir es bewenden, und das ist auch gut so. Dann, vor vielleicht einem Jahr, ging mit Walter eine Veränderung vor. Am Anfang fiel mir nur auf, dass er scheinbar grundlos meine Nähe suchte. Er klopfte mir des Öfteren auf die Schulter (was er bis dahin nie getan hatte), überhaupt wirkte er seltsam euphorisch. Gleichzeitig machte er den Eindruck, als wolle er etwas mit mir teilen, könne sich aber irgendwie nicht dazu entschließen, darüber zu reden.

Eines Montags, hinter mir lag ein unschönes Wochenende (Kala und ich waren uns wegen eines Telefonanrufes ihrer Mutter, bei dem sie in den üblichen dürren Worten ihr Kommen ankündigte, furchtbar in die Haare geraten, woraufhin ich die Nacht in stummem Protest auf der Couch im Wohnzimmer verbracht hatte), tauchte Walter damals in meinem Büro auf, wanderte um den Schreibtisch herum zum Fenster und blieb dort eine Weile stehen. Und dann rückte er ziemlich unvermittelt mit dem heraus, was ich mir ohnehin seit geraumer Zeit gedacht hatte: dass er seine Frau betrüge, viel mehr könne er gar nicht sagen, aber es täte ihm gut, mit jemandem darüber zu reden, jemand Außenstehendem wie mir (dabei kann es in einer Angelegenheit wie dieser einen Außenstehenden gar nicht geben). Vielleicht habe ich in diesem Augenblick versäumt, ihm klarzumachen, dass mir sein Problem zwar nicht egal war, ich aber trotzdem keine Lust hatte, es mit ihm zu teilen. Stattdessen schwieg ich und hörte zu.

Warum? Teils weil ich eigenen Gedanken nachhing, teils weil mich die Geschichte in irgendeinem Detail plötzlich berührte. Für einen Moment sah ich in Walter einen in die Jahre gekommenen Versicherungsmakler, der aus welchem Grund auch immer seine Ehe verpfuscht hatte, aber irgendwo da draußen in seinem kleinen Cottage mit einer wildfremden Kathrin oder Miriam oder Vanessa einen ehrlichen Neuanfang suchte, einen Ausweg aus einem persönlichen Dilemma, wie wir es manchmal alle haben. Und ich war in diesem Augenblick bereit, an Walter zu glauben, wenn ich das so pathetisch sagen darf. Zumindest daran, dass das Leben auch für ihn noch Optionen bereithielt: keine wirklich bahnbrechenden vielleicht, aber ehrliche; solche, die ergriffen werden konnten.

Erst nach und nach dämmerte mir, dass Walter an etwas Weitergehendem augenscheinlich gar kein Interesse hatte, dass ein Wochenende im Bett mit einer fremden Frau ihm als Option schon genügte. Aber da war es bereits zu spät für mich, meinen Irrtum wieder zu korrigieren, denn offensichtlich interpretierte Walter die Tatsache, dass ich ihm damals zugehört, ein, zwei Fragen gestellt habe, als Indiz dafür, dass ich ihn verstehen oder dass sein Handeln in meinen Augen Sinn machen könnte. Jedenfalls fühlte er sich prompt ermutigt, mich fortan nach jedem solchen Wochenende in das eine oder andere schmutzige kleine Detail einzuweihen (das war im Übrigen auch die Zeit, in der ich anfing, mit Kala über die Sache zu diskutieren), bis ich mich irgendwann – und das fiel mir weiß Gott nicht leicht, denn ich bin kein sehr direkter Mensch – aufraffte, ihm zu erklären, dass es mir lieber wäre, wenn er seine Geschichten für sich behalten würde, weil sie schließlich nur mit ihm zu tun hätten, mit ihm allein, und ich dafür garantiert der falsche Abnehmer wäre. Womöglich hielt Walter meine Reaktion für irgendeine komische Art von Respekt vor seinem Privatleben, womöglich fühlte er sich aber auch geschmeichelt und witterte in mir insgeheim einen bedauernswerten Beziehungsromantiker – all das war mir ehrlich gestanden völlig egal. Ich hatte erreicht, was ich erreichen wollte. Seitdem ergeht er sich nur noch in gelegentlichen vagen Andeutungen, die ich nicht weiter kommentiere und mit denen ich gut leben kann.

Kala hat sich in der Zwischenzeit herumgedreht; ihr linker Arm liegt wie ein totes Tier auf meiner Bettdecke. Ich spiele kurz mit der Idee, sie zu wecken und ihr ins Ohr zu flüstern, ob wir uns lieben wollen, aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Es ist nicht so, dass ich mir nicht vorstellen könnte, jetzt, in diesem Augenblick, Sex zu haben – ich glaube, in dieser Hinsicht unterscheidet sich mein Hormonhaushalt nicht wesentlich von dem des Durchschnittskanadiers. Es ist eher so, dass Kala und ich zurzeit ein wenig nebeneinander herleben. Jeder von uns erledigt seinen Job so gut wie möglich und weiß, dass er sich dabei auf den anderen verlassen kann. Zwischen uns hat sich ein kleiner Kanon an Gewohnheiten eingeschlichen (so etwas wie eine Liste der Dinge, die gemeinhin zu einem harmonischen Familienleben gehören), Gewohnheiten, auf die wir zurückgreifen können und die das Leben im positiven Sinne ein Stück berechenbarer machen (zumindest bilde ich mir das ein). Allerdings reagieren manche Lebensbereiche auf einen derartigen Eingrenzungsversuch sehr empfindlich – zum Beispiel der Sex. Also habe ich mir vorgenommen, ihn aus dem Kanon der Gewohnheiten wieder auszuklammern, auch wenn das – so wie jetzt – mit einem gewissen Verzicht verbunden ist.

Kaum bin ich aus dem Bett, im Gang, sind alle Grübeleien Geschichte. Ich spähe kurz ins Kinderzimmer: Jonathan liegt auf dem Bauch, den Kopf zur Seite gedreht, als wolle er die Tür im Auge behalten. Sein leicht geöffneter Mund drückt sich aufs Kissen, die Lippen verschoben zu einem einzigen entspannten Der-Welt-entrückt-Sein. Dieses Jahr wird er sechs, und er und ich, wir werden noch eine Menge Spaß zusammen haben. Leise tappe ich nach unten in die Küche, wo die Kaffeemaschine schon auf mich wartet. Die kühle Luft des neuen Morgens streift meine Schultern. Durch das gekippte Fenster höre ich das verschleimte Husten von Ray Vernon, unserem Nachbarn, dann das Rauschen der Toilettenspülung. Und während die Maschine sich schmatzend daranmacht, heißes Wasser nach oben zu saugen, und mit einem brodelnden Gurgeln in den Filter spuckt, stehe ich da, eingehüllt von ihren vertrauten Geräuschen, und träume mit offenen Augen.

Auf einmal muss ich wieder an Walter Buck und seine Optionen denken. Ich gebe zu: Sich darüber zu sehr den Kopf zu zerbrechen, führt zu nichts, vor allem wenn man die Zukunft (etwas, das sich allenfalls anzudeuten scheint, aber eindeutig noch nicht begonnen hat) mit auf die Rechnung nimmt. Es gibt keine Optionsscheine auf künftiges Glück, die man einlöst, wenn die Entwicklung einem gefällt. Die Sache ist ganz einfach: Entweder du riskierst etwas und fällst dabei notfalls auf die Nase oder du lässt die Finger davon. Dazwischen – das ist jedenfalls meine Meinung – existiert wenig, auch wenn wir das alle gerne hätten. Was Walter angeht, glaube ich, dass er gerade dabei ist, seine Optionen verstreichen zu lassen (obwohl er sich natürlich einbildet, das Beste aus seiner Situation herauszuholen). Er ist sich wohl schlichtweg nicht darüber im Klaren, was er will, und das ist für einen Mann in seinem Alter kein gutes Zeichen.

Nicht dass ich mich in diesem Punkt so viel besser fühle. Aber ich glaube, wenn man die Richtung, die das Leben einschlägt, nicht mehr selbst bestimmt, sollte man wenigstens Augen und Ohren offenhalten für Signale von außen und davon bekommt Walter schließlich eine ganze Menge (und sei es nur, dass ihm seine Wochenenden in Port Dover verdammt viel Spaß machen). So hast du die Chance, nach und nach einige entschiedene Argumente für das zu sammeln, was du gerade tust, und irgendwann die Konsequenzen zu ziehen (das meine ich, wenn ich davon spreche, eine Option zu ergreifen). Der Rest ergibt sich dann oft von ganz allein. Es kommt ohnehin nicht so sehr darauf an, was passiert, sondern wie man mit dem, was passiert, zurechtkommt. Ich gieße mir eine Tasse Kaffee ein und trinke ihn schwarz. Dann gehe ich nach oben ins Bad, um mich fertig zu machen.

Zwei

Draußen zeigt der Himmel sein strahlendes Blau, aber die Luft ist ziemlich frisch, und ich kann mir in diesem Augenblick nicht vorstellen, dass es stimmt, was die Nachrichten im Radio angekündigt haben: bis zu dreißig Grad und gegen Abend möglicherweise ein paar Wärmegewitter. Seit sie Hoch- und Tiefdruckgebiete genauso marktschreierisch losschlagen wie Börsenkurse, traue ich den Prognosen noch weniger als vorher. Lautlos lasse ich den Wagen von der Einfahrt rückwärts auf die Straße rollen, wo ich einen Moment still dasitze und zu den Fenstern im ersten Stock hinüberstarre. Die Vorhänge im Schlafzimmer sind zugezogen, aber im Bad brennt Licht. Kala und ich haben uns irgendwann darauf geeinigt, dass ich sie wecke, wenn ich aus dem Haus gehe. Das mag vielleicht nicht die romantischste Lösung sein, aber eine sehr praktikable.

Am Anfang unserer Ehe wäre uns das vorgekommen wie Verrat an der gemeinsamen Sache. Wir teilten den Morgen so selbstverständlich wie unser Bett und das Bad. Wir tummelten uns, wenn man so will, in einem seligen Kontinuum, in dem sich alles immer irgendwie wechselseitig aufeinander bezog: unsere Träume. Ein paar maßlose oder begrenzte Erwartungen an die nächsten vierundzwanzig Stunden. Was wir gestern nicht gesagt hatten, aber eigentlich noch sagen hatten wollen. Und so machten wir es im Prinzip die ganze Zeit, nur dass wir nach und nach sehr viel weniger redeten und unsere Träume immer öfter außen vor ließen. Natürlich hat keiner von uns unter der Situation gelitten (sonst hätten wir sie wohl nicht so lange beibehalten). Es ist nur so, dass ich diesen Punkt mit auf die Liste der Angewohnheiten setzen würde, die eine Ehe anfangs erleichtern, ihr aber später nicht mehr besonders gut bekommen. Ja, im Grunde halte ich es sogar für ein Spiel mit dem Feuer, wenn zwei Menschen fortlaufend ihre Zweisamkeit strapazieren, denn das ist der sicherste Weg, sie auf kurz oder lang ganz zu verlieren. (Manchmal stellt man allerdings auch auf diese Weise fest, dass sie nie existiert hat.)

Viertel nach sieben. Ungerührt pumpt die Main Street den anschwellenden Verkehr hinein ins Herz der Stadt. Wie Walter es aufnehmen würde, wenn ich seine Einladung ausschlage – nur für den Fall, dass Kala tatsächlich nicht mitkommt? Jonathan übernachtet heute bei ihren Eltern, wir könnten also die Gelegenheit beim Schopf packen und endlich wieder einen Abend zu zweit verbringen. Undenkbar. Ich weiß, wie sehr Walter darauf brennt, mir sein Allerheiligstes zu präsentieren, diesen Ort seiner geheimnisvollen Vitalisierung, wie er sich mir gegenüber einmal ausgedrückt hat.

Hoppla, das war knapp! Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich geträumt – lang genug, um dem Chrysler vor mir beinahe die Stoßstange einzudrücken. Aufgeschreckt von meinem abrupten Bremsmanöver dreht sich die junge Frau am Steuer zu mir herum: Durch die zwei Scheiben, die uns trennen, bohrt sich ein vorwurfsvoller Blick. Doch bevor ich eine Geste der Entschuldigung oder Besänftigung loswerden kann, hat sie ihren energischen kleinen Kopf schon wieder nach vorn geworfen, mustert mich allerdings ganz unverhohlen über den Rückspiegel, als müsste sie sich für alle Fälle mein Gesicht einprägen.

Ich lasse den Abstand betont groß werden, um zu demonstrieren, dass ich auf jede weitere Form der Annäherung getrost verzichten kann und stelle die Temperatur der Klimaanlage zwei Grad höher. Dieser Van war ein Zugeständnis an Kala, die fand, jetzt, wo Jonathan älter wird, könnte uns ein wenig mehr Platz nicht schaden. In Wirklichkeit – das wissen wir beide – ging es ihr darum, ihrem Vater guten Willen zu demonstrieren. Natürlich war ihm unser Japaner immer ein Dorn im Auge. Und natürlich köderte er uns irgendwann mit einem unschlagbaren Angebot für den Neuen.

Richard ist stellvertretender Verkaufsleiter bei einer Ford-Niederlassung in Mississauga. Außerdem ist er dreiunddreißig Jahre verheiratet, setzt sich über die Launen von Claire mit einer Leichtigkeit hinweg, die ich aufrichtig bewundere, und verbringt einen Gutteil seiner Freizeit damit, unschuldigen Kreaturen auf dem Mahagoniboden seines Schlauchboots den Schädel einzuschlagen, nur um sie abends mit der Miene des Siegers am Campingtisch zu filettieren und auf den Grill zu werfen. Dazu das obligatorische Lächeln für den obligatorischen Schnappschuss – an Claires Stelle würde es mir schwerfallen, Jahr für Jahr auf den Auslöser zu drücken. So viel Selbstgefälligkeit geht mir gewaltig gegen den Strich (obwohl ich ihn ansonsten für den idealen Schwiegervater halte). Vielleicht stört mich auch, dass Richard das Spektakel, das er veranstaltet, so ungeniert heiligspricht (manchmal starre ich stundenlang auf die Wasseroberfläche; wenn du erst mal einen solchen Prachtkerl am Haken hast, Robert, weißt du, wovon ich rede; zweimal die Woche hochwertige Eiweiße, und deinen Herzinfarkt bekommt ein anderer), während es für mich bloß ein verdammt berechenbares, selbstbeweihräucherndes kleines Spiel auf Leben und Tod ist, bei dem immer nur einer die Zeche zahlt – der arme Kerl, der anbeißt. Chapeau!

Jedenfalls möchte ich nicht, dass Richard meinem Sohn auf diese Weise Ehrfurcht vor der Natur und Schöpfung vermittelt. Kala findet, ich übertreibe. Sie liebt ihren Vater, seine Leidenschaft genauso wie seine Begeisterungsfähigkeit (beides hat sie im Übrigen von ihm geerbt). »Würde jeder mehr darauf schauen, was ihm wirklich guttut«, meint sie, »würden die Leute sich nicht gegenseitig das Leben schwer machen.« Grau ist alle Theorie. Auch diesen Sommer werden wir wieder zwei, drei Wochenenden mit Richard und Claire in einem der vielen Provincial Parks verbringen, die für Richards Jagdinstinkt die passende Kulisse abgeben. Und der Einzige, der sich das Leben schwer macht, bin ich.

Ich will mich nicht beklagen: Kala ist niemand, der einen unter Druck setzt, um eigene Vorstellungen zu verwirklichen. Sie hält sich einfach an ein paar lebensnahe Maximen, und dazu gehört nun mal, dass es ihr nicht im Traum einfallen würde, ein sorgfältig geplantes Wochenende mit ihren Eltern für eine Grundsatzdiskussion aufs Spiel zu setzen, die nur mir am Herzen liegt und bei der aller Voraussicht nach nicht besonders viel herauskommt. Ich mache in ihren Augen ohnehin den Fehler, zu sehr den Horizont zu fixieren, Dinge zusammenzufügen, die vielleicht gar nicht zusammengehören, nur um am Ende mit einem sehr weit hergeholten, sehr künstlichen Gegenprogramm anzutreten (wehret den Anfängen), das allen Beteiligten die gute Laune verdirbt.

In der Hinsicht waren Kala und ich schon immer ein ungleiches Paar und – um ehrlich zu sein – ich fürchte, dass sich daran auch in Zukunft nicht viel ändern wird. Ich sage deshalb fürchten, weil wir uns im Augenblick bei Meinungsverschiedenheiten schwerer tun als früher. Kaum steht ein Thema im Raum, beziehen wir aus irgendeinem Grund entgegengesetzte Positionen und reiten so lang darauf herum, bis uns die Lust am Diskutieren vergangen ist. An den passenden Feldern, die dafür genügend Futter abwerfen, herrscht auch bei uns kein Mangel: Erziehungsfragen (siehe Richard), das zweite Kind, die Häufigkeit der Besuche bei ihren Eltern, wie Yoga die körperliche, vor allem aber die geistige Beweglichkeit beeinflusst (Kalas neuer Kurs steht auf ihrer Prioritätenliste ganz oben) – von Walter ganz zu schweigen (ich habe mir angewöhnt, ihn einfach seltener zu erwähnen).

Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir ständig dasselbe Spiel spielen, obwohl wir beide unter den Spielregeln leiden. Ein entspanntes kleines Signal, und wir könnten uns die Hände reichen – nur dass keiner von uns dieses Signal aussendet. Dabei bin ich im Grunde meines Herzens ein kompromissbereiter Mensch. Was ich tue oder wie ich es tue, ist das Eine. Aber am wohlsten fühle ich mich, wenn ich mir selbst und anderen klarmachen kann, warum ich es tue. Kala wittert hinter dieser Einstellung einen etwas wirklichkeitsfremden Idealismus, ein regressives Überbleibsel aus meiner Lass-uns-darüber-reden-Phase. »Du bist so theoretisch«, sagt sie dann – als wäre damit alles hinreichend erklärt. Trotzdem behaupte ich, dass es sich mit einem Theoretiker wie mir ganz gut leben lässt – besser jedenfalls als mit einem dieser schneidigen Praxisanbeter, die dir, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, wo der Hase langläuft, bevor er sich überhaupt auf den Weg gemacht hat. Und seien wir ehrlich: Wäre es anders, bräuchte ich mir über all das jetzt gar nicht den Kopf zu zerbrechen.

Vielleicht ist das ja der geeignete Moment, ein paar Worte darüber zu verlieren, wie Kala und ich uns kennen gelernt haben. Kala erzählt die Geschichte mit einem sehr viel kürzeren Vorlauf, aber in meiner Version liegt die erste Weichenstellung schon lange zurück (genau genommen zwanzig Jahre), und deshalb gönne ich Paul Snyder seinen Platz darin (obwohl Kala der Meinung ist, dass wir uns auch so über den Weg gelaufen wären). Aber schön der Reihe nach.

Mein Punkt null jedenfalls liegt in Pickering, wo Paul und ich in derselben Straße wohnten. Eigentlich hatten wir so gut wie keinen Kontakt – das übliche pubertäre Geplänkel mit dem Basketball in der Garageneinfahrt, mehr nicht. Ansonsten lavierten wir uns durch das typische Nicht-Fisch-nicht-Fleisch-Alter, in dem du dir einbildest, die Welt würde nur auf dich warten, obwohl sie gar keine Notiz von dir nimmt. Bald darauf zogen Pauls Eltern nach Clarkson, und das war es dann.

Das heißt: nicht ganz. Zehn Jahre später erkannte mich eben jener Paul unter der Dusche des Tennisclubs, in dem ich abends und an den Wochenenden meine überschüssigen Energien loswurde. Zuerst fühlte ich mich von seiner forschen Vertraulichkeit ein wenig überrollt, schob es dann aber auf die unerwartete Art unseres Wiedersehens – nackt und sehr weit weg von dem, was wir damals gewesen waren. Wir verabredeten uns auf ein Bier und plauderten über die alten Zeiten, bevor wir herausfanden, dass die Vergangenheit so ziemlich das Einzige war, was wir gemeinsam hatten. Also gingen wir in Ermangelung einer besseren Idee dazu über, uns auf dem Hartplatz des Clubs in unregelmäßigen Abständen die Bälle um die Ohren zu schlagen. Ich glaube, es fiel uns schwer, einen Schlussstrich zu ziehen: Wir konnten uns nichts geben, hatten uns aber auch nichts getan – der Rest war Sentimentalität am falschen Fleck (oder pure Feigheit).

Nüchtern betrachtet waren wir so verschieden wie ein

 

 

wirklich

 

What they talk about when they talk about love 

(tatsächlich indiziert die Werkchronologie eine systematisch gestufte Schaffensentwicklung, was auf eine Wechselwirkung zwischen geistigen Einflussfaktoren und der in den jeweiligen Zeitraum fallenden literarischen Produktion schließen lässtW-Bus

Nägel mit Köpfen zu machen

   

FiresKeep them burning

  von damals

Mittlerweile habe ich den Jackson Square hinter mir gelassen und bin in die Queen Street abgebogen. Der Verkehr ist jetzt so dicht, wie es sich für einen Freitagmorgen gehört. Der übliche kurze Rückstau, dann geht es zügig bergauf. Unter mir läuft die Stadt in die Breite wie ein zu flüssig angerührter Pudding. Honigfarbenes Licht strömt über die Fassaden aus Metall und Glas, die Sonne glättet die Kanten. Selbst nach all den Jahren genieße ich es, hier hochzufahren. Ich schwebe in die Denlow Avenue, den Scenic Drive entlang (wer dort wohnt, hat alles richtig gemacht), vorbei an den Vertrauen erweckenden Nachbar-passt-auf-Schildern, die hier die Straßen säumen. Am Cliffview Park ein Schwenk nach links, und schon bin ich in der Upper Paradise Road, die – das fand ich von Anfang an – ihren Namen verdient hat, auch wenn die etwas zu vorlaute Aufdringlichkeit, mit der sich Normalität hier in Szene setzt, nicht unbedingt meinem Geschmack entspricht. Rückversetzte Garagen mit automatischen Toren, die problemlos für zwei Autos und das übliche Arsenal motorisierter Gartenhelfer herhalten. Vorgärten, die sich den Luxus schmiedeeiserner Laternen für den Weg zur Haustür gönnen. Hier und da ein Segelboot, das sich unter einer robusten blauen Plane versteckt. Der Grauschopf von Nummer sechsundzwanzig steht in der Einfahrt neben seinem Rasenmäher und blickt mir nach, voll Vorfreude auf das Wochenende, das er gleich wie jeden Freitag mit dem ihm lieb gewordenen Ritual gebührend einleiten wird. Ein Hauch schwereloser, Zeit überdauernder Transzendenz streift wie der Wind durch die Blätter. Ist Ihre Familie für ein Leben ohne Sie ausreichend abgesichert? Denken Sie an Ihre Zukunft. Kommen Sie zu uns.