Gunter Stemmler

Schuld und Ehrung.

Die Kommunalpolitiker Rudolf Keller und Friedrich Lehmann zwischen 1933 und 1960 - ein Beitrag zur NS-Geschichte in Frankfurt am Main

2., erweiterte Auflage

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

1.1 Einführung

1.2 Vorgehensweise und Aufbau

1.3 Forschungsstand

1.4 Quellenlage

1.5 Nationalsozialismus und Kommunalpolitik - allgemeine Ausführungen

1.6 Die Johann Wolfgang Goethe-Universität und die Aufarbeitung der NS-Zeit

2. Rudolf Keller

2.1 Ehrungen durch die Universität sowie Ehrungstexte

2.2 Allgemeine Ehrungen und städtische Würdigungen

2.3 Kellers Tätigkeiten nach 1945

2.4 Kellers Beziehungen zur Universität nach 1945

2.5 Kellers Verhältnis zur NSDAP

2.6 Kellers berufliches Wissen und Wirken während des „Dritten Reiches“

2.6.1 Zur Universität und ihren Ehrenbürgern

2.6.2 Entlassungen

2.6.3 „Arisierung“ von Kunstwerken und Büchern

2.6.4 Zum Theater

2.6.5 Büchereien und „Entartete Kunst“

2.6.6 Antisemitische Schulpolitik

2.6.7 Antizigane Schulpolitik

2.6.8 Antikirchliche Schulpolitik

2.6.9 Grundlegende Tendenzen der Schulpolitik

2.6.10 DAF und HJ

2.6.11 NS-Schulalltag

2.6.12 Kindergärten und -horte

2.6.13 Swing-Jugend

2.6.14 Taubstummenerziehungsanstalt

2.6.15 Weitere verschiedene Einblicke

2.7 Allgemeines Wissen vom „Dritten Reich“

2.8 Widerstand oder Anpassung?

2.9 Charakterisierung Kellers

2.10 Kellers Beziehung zum Oberbürgermeister Krebs

2.11 Fama zu Keller

2.12 Kellers „Schutzhaft“

2.13 Die versuchte Entfernung aus dem Amt

3. Friedrich Lehmann

3.1 Ehrungen durch die Universität sowie Ehrungstexte

3.2 Allgemeine Ehrungen und städtische Würdigungen

3.3 Lehmanns Tätigkeiten nach 1945

3.4 Lehmanns Beziehungen zur Universität nach 1945

3.5 Lehmanns Mitgliedschaft in der NSDAP

3.5.1 Aufnahmeantrag

3.5.2 Besonderheiten

3.5.3 Mitgliedskarte

3.5.4 Beiträge

3.5.5 Parteiabzeichen

3.5.6 Verschiedene Beweise und Hinweise

3.6 Lehmanns berufliches Wissen und Wirken während des „Dritten Reiches“

3.6.1 Zur Universität und ihren Ehrenbürgern

3.6.2 „Arisierung“ von Kunstwerken, Büchern und Immobilien

3.6.3 Personalausgaben

3.6.4 Soziales und „Euthanasie“

3.6.5 Weitere verschiedene Einblicke

3.6.6 Deportationen

3.7 Die Frage von Lehmanns Widerstandstätigkeit

3.7.1 „Finanzsabotage“?

3.7.2 Bargeld gesichert?

3.7.3 Gegen Kindergärten an die NSV?

3.7.4 Hilfe verfolgter Personen?

3.7.5 Vertrauensmann der Organisation Goerdeler?

3.8 Charakterisierung Lehmanns

3.9 Lehmanns Beziehung zum Oberbürgermeister Krebs

3.10 Lehmanns Ernennung zum Honorarprofessor

3.11 Lehmanns Entfernung aus dem Amt 1946

3.12 Lehmanns Bewertung seiner Gegenwart

4. Synthese

4.1 Die Rolle Willy Hartners bei den Ehrungen

4.2 Vorteile für Keller und Lehmann durch die Mitarbeit im Nationalsozialismus

4.3 Übergeordnete Bewertung: die Verantwortung von Kommunalpolitikern

4.4 Allgemeine Einschätzung zu Keller und Lehmann

4.5 Fazit - mit persönlichem Nachwort

5. Nachweise

5.1 Archivalien sowie weitere Quellen

5.1.1 Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main

5.1.2 Archiv der Johann Wolfgang Goethe-Universität

5.1.3 Hessisches Hauptstaatsarchiv Wiesbaden (HHStAW)

5.1.4 Bundesarchiv (BArch)

5.1.5 Landesarchiv Berlin (LAB)

5.1.6 St. Katharinen- und Weißfrauenstift in Frankfurt am Main

5.1.7 Gedruckte Quellen für die Universität Frankfurt

5.1.8 Datenbanken und digitale Angebote

5.2 Literaturverzeichnis

5.3 Indizes

5.3.1 Personenregister

5.3.2 Sachregister

5.4 Lebensläufe: Rudolf Keller und Friedrich Lehmann

1. Einleitung

1.1 Einführung

Mit dieser Untersuchung soll auf zwei Personen näher eingegangen werden, die in Frankfurt am Main während des „Dritten Reiches“ in relevanten politischen Positionen tätig waren, die dort in der Nachkriegsgesellschaft über achtungsvolle Ehrenämter verfügten und deshalb auch von der Johann Wolfgang Goethe-Universität hoch geehrt wurden: dies waren der für die Universität zuständige Stadtrat Rudolf Keller und der Stadtkämmerer Friedrich Lehmann. Beide waren versierte Kommunalpolitiker, die von 1933 bis 1945 im Rahmen ihrer Ämter eine lokale systemstabilisierende Funktion für die NS-Herrschaft innehatten.1

Anstoß für diese Arbeit war die Diskrepanz zwischen ihren Ehrungen durch die Goethe-Universität samt den Begründungen auf der einen Seite und der Tatsache auf der anderen Seite, daß beide Personen während des „Dritten Reiches“ in Frankfurt am Main zentrale kommunalpolitische Ämter innehatten. Auf diese prima facie Ungeheuerlichkeit war ich im Rahmen meiner Befassung mit dem Aufkommen und den wesentlichen Entwicklungsstufen bei den Ehrenbürgern und Ehrensenatoren der Universität Frankfurt gestoßen.

Drei Aufgaben sollen mit diesem Unterfangen angegangen werden:

1. Es soll vertieft der Frage nachgegangen werden, über welche NS-Vorgänge die beiden Personen aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit informiert und wie sie ggf. darin involviert waren.

2. Für die Nachkriegszeit sollen ergänzend wenige einschlägige Aspekte aufgegriffen werden, die sowohl für beide Personen als auch für die Zeit charakteristisch sind.

3. Im Besonderen soll schließlich auch kurz auf ihre Beziehungen zur Universität und deren Ehrungen eingegangen werden.

1.2 Vorgehensweise und Aufbau

Für die Untersuchung wird sich neben einigen ausgewählten zentralen Quellen vor allem auf Veröffentlichungen über die NS-Zeit in Frankfurt am Main gestützt, bei denen Beispiele erwartet werden konnten, wie beide Personen in den nationalsozialistischen Machtapparat involviert waren. Auf dieser Basis wurden eine kommentierte Informationssammlung gestaltet und Interpretationen zu konkreten Verwicklungen in das NS-System und seinen Verbrechen formuliert.

Als Einstieg wurde für beide Personen jeweils mit ihrer Auszeichnung durch die Universität begonnen und damit quasi ein offizielles Fazit zu ihrem Leben vorangestellt. Es soll also für diese Darstellung - nach Personen getrennt - zuerst ihre akademische Würdigung an der Universität veranschaulicht werden. Dann soll der Kontext mit weiteren Ehrungen, die sie damals erhielten, kurz vorgestellt werden. Anschließend wird dargelegt, aufgrund welcher Tätigkeiten nach 1945 ihre Beziehungen zur Goethe-Universität zu sehen sind, worauf sich also auch die Ehrungen stützen könnten. Daraufhin wird auf die Frage der Mitgliedschaft in der NSDAP eingegangen - dies geschieht im Bewußtsein, daß diese Frage nicht davon ablenken darf, was beide Personen von 1933

bis 1945 wußten und worin sie sich verwickeln ließen.3 Eine zentrale Stelle nimmt dann eine Überblicksdarstellung ein, von welchen NS-Vergehen und Verbrechen sie als Kommunalpolitiker beruflich gewußt haben müssen und womit sie diesbezüglich betraut waren. Anschließend wird sich mit dem Aspekt Widerstandsleistungen befaßt, um dann ihre allgemeine Charakterisierung darzulegen wie auch ihre Beziehungen zum Oberbürgermeister Krebs. Im Zusammenhang mit dem, was als ihr Widerstand genannt wird, gehört die Prüfung von bestimmten Feststellungen über sie, die sich als Erzählungen tradiert haben. Es folgen ansatz- und ausschnittsweise Einzelaspekte wie Kellers versuchte Entfernung aus dem Amt zu Beginn der NS-Zeit und das Ende der Amtszeit Lehmanns 1946, Kellers Schutzhaft sowie Lehmanns Ernennung zum Honorarprofessor. Diese Darlegungen sind teilweise ausführlich und detailliert, damit die Leserinnen und Leser sich selbst ein Bild davon machen und meine Bewertungen nachvollziehen können. Nach dieser Befassung mit beiden Personen wird zum Abschluß eine allgemeine Bewertung als erstes Fazit gezogen. Weil an der Universität Professor Hartner eine gewichtige Rolle bei ihren Auszeichnungen spielte, soll dabei auch dem etwas nachgegangen werden.

Einen bedeutsamen Bewertungsmaßstab bildet der hohe ethische Standard aus den Ehrungstexten und Lobesworten, wobei es naheliegt, daß diese Würdigungen dem von den Geehrten vermittelten Selbstbild entsprechen.

1.3 Forschungsstand

Über einen sehr langen Zeitraum konnten während der Nachkriegszeit deutsche Kommunalbeamte und viele Bürgermeister sowie Stadträte als politische Kommunalbeamte ihre tiefgehende Verflechtung in die unsäglichen Machenschaften des NS-Regimes leugnen, da es ihnen gelang, sich als quasi unpolitische Verwalter einer lokalen Sachpolitik zu gerieren.4 Einen bedeutsamen Beitrag in der Aufdeckung dieser Lüge als Märchengeschichte erzielte Wolf Gruner mit mehreren Veröffentlichungen, in denen er in zahlreichen Beispielen aus deutschen Kommunen belegte, welchen Beitrag zur örtlichen NS-Herrschaft die Stadtverwaltungen lieferten und wo sie bisweilen sogar zur treibenden Kraft bei der Ausgrenzung und Verfolgung ihrer jüdischen „Mit“-Bürger wurden. Es wird deshalb sowohl auf allgemeine Aussagen von ihm als auch vor allem auf seine Frankfurter Beispiele zurückgegriffen.

Zur Übervorteilung und Ausplünderung jüdischer Frankfurter durch die Frankfurter Stadtverwaltung ist auf die wissenschaftliche Aktivität von Monica Kingreen zu verweisen.5 Zum Frankfurter Magistrat veröffentlichte Bettina Tüffers mehrere Forschungen: Das ist zum einen ihre Monographie „Der Braune Magistrat: Personalstruktur und Machtverhältnisse in der Frankfurter Stadtregierung 1933-1945“ sowie zum anderen der einschlägige Aufsatz „Der Frankfurter Stadtkämmerer Friedrich Lehmann 1932–1946“, veröffentlicht im „Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst“. Hinzu kommt ein weiterer Aufsatz von ihr: „Politik und Führungspersonal der Stadtverwaltung Frankfurt am Main. Die personelle Zusammensetzung des Magistrats“. In der Buchreihe über die Geschichte der Stadtverordnetenversammlung hat sich nach dem Band über die Zeit bis 1933 von Karl Maly dann Michael Bermejo mit verfolgten Stadtverordneten und Stadträten befaßt: „Die Opfer der Diktatur. Frankfurter Stadtverordnete und Magistratsmitglieder als Verfolgte des NS-Staates“. Insgesamt gesehen gibt es zu Frankfurt in der Zeit des „Dritten Reiches“ aus den letzten 10 und teilweise 20 Jahren zahlreiche relevante Untersuchungen vieler Historiker. Ich bin auf Keller und Lehmann bereits in meinem Buch „Die Vermessung der Ehre. Zur Geschichte der Ehrenbürger, Ehrensenatoren sowie Ehrenmitglieder an deutschen Hochschulen und an der Universität Frankfurt“ eingegangen. 6

Diese Forschung soll einen Einzelbeitrag zum besseren Verständnis der Verwicklungen von Kommunalpolitikern und -beamten in der NS-Zeit und deren Umgang damit in der Nachkriegszeit geben. Lothar Gall: „Wer zu wirklichen Einsichten … nach dem Einfluß … auf die Politik gelangen will, bleibt auf die genaue Analyse eines klar abgrenzbaren und abgegrenzten Einzelfalls verwiesen in dem Bewußtsein des je Individuellen und Besonderen.“7 Vom Wissenschaftsverständnis her sehe ich die Aussage von Max Weber als grundlegend an, die er in seinem richtungsweisenden Vortrag „Wissenschaft als Beruf“ traf: „Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist - es sei wiederholt - nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir.“8

1.4 Quellenlage

Die Aktenlage zum Verhalten von Keller und Lehmann während des „Dritten Reiches“ ist unvollständig. Das betrifft laut der Forschungsliteratur auch die zu ihrem Umfeld, wonach „die Elite der Stadtverwaltung …[,] die sowohl über die Motive als auch über die Möglichkeiten verfügt haben dürfte, sie belastende Akten aus der Welt schaffen“9 ließ. Neben Kriegsverlusten, von Nazi-Seite gegen Kriegsende vernichteten Akten und zudem auch in der Nachkriegszeit manipulierten Vorgängen wird es zu späterer Zeit auch aus Nachlässigkeit nicht überlieferte Bestände geben.10 Es ist offen, welche Ausmaße dies jeweils hat. Darüber hinaus fehlen zum Beispiel ungewöhnlicherweise einige „Persilscheine“ in der Spruchkammerakte von Lehmann.11

Es kam in der Nachkriegszeit sogar zur Fälschung von Protokollen, so im Senckenberg-Museum.12

Es sind auch Akten der NS-Zeit aus dem städtischen Eigentum herausgekommen, sei es durch Diebstahl, Unachtsamkeit oder fehlende Zerstörung bei vorgesehener Entsorgung, da welche durch

ein Antiquariat öffentlich angeboten wurden.13

„´Wenn nur in der Welt ist, was in den Akten steht, reicht es umgekehrt aus, Akten zu vernichten, um eine unliebsame Wirklichkeit zu tilgen´“.14 Diese allgemeine Betrachtungsweise zu Tätern übersieht die Möglichkeiten geschichtswissenschaftlicher Arbeit: Wesentlich ist bei einer rudimentären Quellenlage eine strukturgeschichtliche Betrachtung der Funktionen der Beteiligten und der daraus sich ergebenden wahrscheinlichkeitsgestützten Ableitungen ihres Wirkens und Wissens. Zudem zeigt sich dann in einer Sammlung einzelner überlieferter Vorgänge, wie sich Stück um Stück ein Gesamtbild herauskristallisiert. Dieses Verfahren wurde hier gewählt.

1.5 Nationalsozialismus und Kommunalpolitik - allgemeine Ausführungen

Für eine allgemeine Einschätzung der Position von Kommunalpolitikern und städtischen Beamten15 im „Dritten Reich“ dient hier eine Vergegenwärtigung wesentlicher Momente: Das totalitäre NS-System stand als solches allen anderen Machtzentren und entscheidungsmächtigen Organisationen feindlich gegenüber; hiervon waren auch die Kommunalverwaltungen betroffen. Außerdem kam der totalitäre Ansatz, der die Herrschaft über sämtliche Lebensbereiche anstrebte, in eine überaus weitgefächerte Berührung mit dem System der allgemeinen Daseinsvorsorge der Stadt, wie sie sich im 19. Jahrhundert entwickelt und in der Weimarer Zeit sogar noch ausgeweitet hatte. Demnach waren Stadtverwaltungen bereits mehr oder weniger in fast allen Lebenssituationen involviert oder in angrenzenden Bereichen tätig, sie waren überaus mannigfaltig informiert oder (potentiell) interessiert. Die Ursache hierfür lag darin, daß die Bürger Defizite in ihrem Lebensumfeld als kommunale Bringschuld verstanden und Kommunalverwaltungen Mißstände beheben wie auch Entwicklungsmöglichkeiten nutzen wollten. Deshalb engagierten sich Stadtverwaltungen in erstaunlich vielen Belangen innerhalb ihrer Stadtgrenzen. Als ein Beispiel mag die Aktivität des Frankfurter Oberbürgermeisters Adickes bei der Gründung der Frankfurter Universität als Bürgerstiftung dienen. Weil also die Stadtverwaltung vielfältig mit dem städtischen Leben verflochten war und die Nationalsozialisten überall herrschen wollten, gab es für leitende Kommunalbeamte überaus zahlreiche Kontaktpunkte zum NS-Wirken.

Dabei sind Stadträte amtsbedingt informiert oder über städtische Aufgaben in vielem persönlich mittelbar oder unmittelbar involviert. Zudem ist es eine Eigenschaft erfolgreicher Politiker, sehr gut informiert zu sein, und zwar sowohl in ihrem Tätigkeitsgebiet als auch allgemein. Haben sie die Funktion als Fachleute und „Macher“, dann müssen sie aktiv sein, können nicht nur aussitzen oder delegieren. (Dies betrifft auch die Amtsleiter einer Stadtverwaltung.) Da Keller und Lehmann an der politischen Spitze ihrer Aufgabenfelder standen - und nicht auf die Funktion von „Frühstücksdirektoren“ beschränkt waren -, läßt sich die Bandbreite und Tiefe ihres Wirkens und Wissens hinreichend erahnen.

Zur zweifelsfreien Bewertung einzelner Handlungen ist zu sagen, daß dies letztendlich intime Kenntnisse der Verwaltung voraussetzen würde, um beurteilen zu können, ob ein bestimmtes Verhalten zum Beispiel tatsächlich als Widerstand oder als Hilfe für Verfolgte gedacht war. Denn es setzt das Wissen voraus, welche Personen bekannt waren, Dinge zu beschleunigen oder abzubremsen, wer kompetent und wer eher inkompetent war, um nachvollziehen zu können, ob Keller und Lehmann einen Weg wählten, der in der scheinbar gewünschten Richtung zum Erfolg führen sollte, oder der - mit Hintergedanken gewählt - das Gegenteil des vorgegebenen Zieles bewirkte.

Bei den NS-Verbrechen gegen die jüdischen „Mit“-Bürger ist sich zu vergegenwärtigen, daß dies ein jahrelanger Prozeß war, der mit der Etablierung der NS-Herrschaft begann und dann in der ganzen Bandbreite des Lebens die jüdischen „Mit“-Bürger entrechtete, enteignete, entmenschlichte, zur Emigration trieb oder aus der Stadtgesellschaft entfernte, um sie schließlich durch Deportationen - euphemistisch „Evakuierung“ genannt - aus der Stadt zu entfernen und sie dann im Genozid zu ermorden. Bis einschließlich dem Beginn der Deportationen fand dies unter den Augen ihrer „Mit“-Bürger stand und unter der Mit-Verantwortung bzw. dem Mit-Wissen der Kommunalpolitik und Stadtverwaltung. Es war keine willkürliche Jagd auf Opfer, wie es vom Stalinismus berichtet wird, wo Opferquoten durch Absperrungen von Marktplätzen mit anschließenden Massenverhaftungen erreicht worden sein sollen; und es war auch keine Verfolgung durch Fremde, wie man sie sich bei einer Invasion in einem Krieg und der Verfolgung aufgrund vorbereiteter Listen vorzustellen hat. Sondern es war ein in zahllosen kleinen und großen Schritten mittels brutaler, hemmungsloser Gewalt, mittels Pseudorecht, Verweigerung von Rechtsansprüchen und - sofern passend - rechtlichen Verfahren vollzogener Raub und Mord an den eigenen Nachbarn. Von daher ist zu erwarten, daß die Stadtverwaltung von Frankfurt am Main in unzähligen Fällen davon gewußt haben muß oder sogar darin verwickelt war. Es stellt sich nur die Frage, inwieweit die jeweilige Amtsführung und die politisch Verantwortlichen darüber informiert waren resp. es zuvor angeordnet hatten. Es ist davon auszugehen, daß die Führungskräfte von allen grundsätzlichen Entwicklungen, von den meisten Neuerungen wie auch von den gewichtigen Vorgängen innerhalb der Stadt(verwaltung) Kenntnis hatten. Sie hatten ohne Zweifel die formale Verantwortung für alles, was in den ihnen zugewiesenen Bereichen geschah; in vielen Fällen werden sie aufgrund ihrer Beteiligung auch eine unmittelbare oder mittelbare persönliche Verantwortung getragen haben.

1.6 Die Johann Wolfgang Goethe-Universität und die Aufarbeitung der NS-Zeit

Für die Ehrungen von Keller und Lehmann durch die Goethe-Universität wäre der Kontext der Nachkriegszeit an der Universität näher zu betrachten.16 Es kann hier im Rahmen dieser Darstellung nur auf den Sachverhalt als solchen hingewiesen werden. Einen ersten - zum Teil zwiespältigen und oszillierenden - Eindruck vom Umgang mit der NS-Zeit vermitteln akademische Auszeichnungen in der Nachkriegszeit. Dabei war eine Bandbreite an Haltungen von Senat und Fakultäten bei Wiedergutmachungen wahrzunehmen: Themen, um die es in den Sitzungen dieser Gremien ging,

waren die Wiederanerkennung aberkannter Promotionen17 oder die Gewährung der erworbenen Anrechte von Emeritus-Bezügen emigrierter Professoren. Darüber hinaus kamen schließlich Wünsche auf Wiedereinstellung von Professoren auf, die wegen ihrer Verwicklungen in das „Dritte Reich“ nicht mehr an der Universität Frankfurt lehrten.

Ein gesamtgesellschaftliches Versagen bei der Befassung mit der NS-Vergangenheit wie auch solche Vorgänge an den Hochschulen im Allgemeinen und der Goethe-Universität im Besonderen waren Motiv und Motivation für viele, die in den Studentenunruhen - die in Frankfurt schon vor der „68er-Bewegung“ begannen - als Protagonisten oder auch nur als Sympathisanten aktiv wurden. Die teilweise erheblichen Auseinandersetzungen an der Goethe-Universität sind ohne dieses begründete Unbehagen der Studierenden an ihrer Vätergeneration kaum denkbar; auch von daher erhält die nähere Betrachtung zweier Kommunalpolitiker aus der NS-Zeit, die Ende der 50er Jahre durch die Universität geehrt wurden, ihre Bedeutung.

1 Siehe zu weiteren führenden städtischen Verwaltungsbeamten aus der NS-Zeit sowie Führungskräften aus der Wirtschaft, welche von der Goethe-Universität diese akademischen Ehren nach dem Zweiten Weltkrieg erhielten, in Stemmler, Vermessung. Zum Stadtrat Bruno Müller siehe z. B. Stemmler, Buch, S. 163f.

2 Siehe Stemmler, Ehre, S. 108f.

3Vgl. Schneider/Conze/Flemming/Krause-Vilmar, Vergangenheiten, S. 11f.

4 Für „Wahlbeamte“ und führende Beamte auf lokaler Ebene trifft die Aussage von Görtemaker/Safferling, Akte, S. 453 zu: „das Bild des ´unpolitischen Beamten´ .., den es doch gerade im Dritten Reich nicht gegeben hatte - und den es auch danach nicht gab, weil es ein Mythos war: eine imaginäre Denkfigur, die … gar nicht existieren konnte, weil Politiknähe und Politikberatung zum Wesen und zu den Kernaufgaben … gehören.“

5 Ich danke Monica Kingreen, daß sie mir freundlicherweise ihr unveröffentlichtes Manuskript über die „Arisierung“ von Kulturgut zur Verfügung gestellt hat. Siehe Stemmler, Keller; Stemmler, Keller (1878-1960; Stemmler, Lehmann.

6 Siehe Stemmler, Keller; Stemmler, Keller (1878-1960); Stemmler, Lehmann.

7 Gall, Man, S. 124.

8 Weber, Wissenschaft, S. 85.

9 Daub, Stadt, S. 320; siehe auch S. 319. Vgl. dazu Habersack, Zwangsarbeit, S. 249: „Das städtische Arbeitsamt war … zumindest beteiligt, und sein Leiter wird die Fremd- und Zwangsarbeiter betreffenden Unterlagen nicht grundlos kurz vor dem Einmarsch der Amerikaner am Mainufer vernichtet haben.“ Siehe Hansert, Senckenberg-Forschungsmuseum, S. 16f.

10 Vgl. Schneider, Probleme.

11 Diese Einschätzung bestätigte Dr. Diether Degreif vom HHStAW mündlich [am 28.07.2010]. Siehe HHStAW, Abt. 520 F (A-Z), Bl. 3, Nrn. 34-39; Bl. 25verso.

12 Siehe Hansert, Senckenberg-Forschungsmuseum, S. 16f.

13 Dies geschah von Bidspirit im Juli 2018 in bezug zu Personalakten; der Link besteht nicht mehr.

14 Cornelia Vismann, in: Vec, Milos, Wie Verfolger den Verfolgten ähneln, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 01.12.2010, S. 31.

15 Siehe zu Loyalitätsverpflichtungen auf den Führer in Lohalm, Kriegstage, S. 62, mit Verweis auf das Gesetz über die Vereidigung der Beamten und Soldaten der Wehrmacht vom 20.08.1934, Reichsgesetzblatt 1934 I, S. 785, zum Hitlergruß durch Beamte der Hinweis auf die Schreiben des Reichsminister des Innern vom 12.07.1933 und 13.07.1933 und zum Treueverhältnis der Beamten zum Führer auf das Deutsche Beamtengesetz vom 26.01.1937, Reichsgesetzblatt 1937 I, S. 39ff.

16 Siehe dazu allgemein Hammerstein, Goethe-Universität, und Ders., Goethe-Universität, Nachkriegszeit, sowie Stemmler, Vermessung; und z. B. auch Denkschrift [siehe unter Gedruckte Quellen].

17 Eine Forschungsarbeit von Katharina Becker M. A. zum Thema stehe vor der Veröffentlichung.

2. Rudolf Keller

2.1 Ehrungen durch die Universität sowie Ehrungstexte

Im Sommer 1959, 14 Jahre nach dem Ende des totalitären nationalsozialistischen Regimes, schlug Professor Willy Hartner als einer der Fakultätsvertreter dem Senat vor, den früheren Frankfurter Stadtrat Rudolf Keller zum Ehrenbürger der Universität zu ernennen: „Der Senat begrüsst diesen Vorschlag. Über die gleichzeitige Anregung Prof.Hartner´s, Stadtrat Dr.Keller in Anbetracht seiner besonderen Verdienste sogleich zum Ehrensenator zu ernennen, findet eine längere Aussprache statt. Es wird beschlossen, eine endgültige Entscheidung bis zur nächsten Senatssitzung zurückzustellen.“18 Nach den Semesterferien gelang es im Oktober Hartner, der „nochmals eindringlich die Verdienste [würdigte, GSt.], die sich Stadtrat a.D. Dr. Keller insbesondere nach dem Kriege um die gesamte Universität erworben hat“,19 den Senat zu überzeugen: „Der Senat beschliesst auf Vorschlag des Prorektors [Prof. Geißendörfer, GSt.] in erster Lesung einstimmig, Stadtrat a.D.Dr.Keller … zugleich mit der Würde des Ehrenbürgers die Würde eines Ehrensenators zu verleihen.“20 Dieser Beschluß wurde am 4. November bestätigt.21 Die Urkunde trägt das Datum vom 11. November.22 Im Urkundentext steht zusätzlich zur Würdigung der Beziehung Kellers zur Universität eine nicht übliche persönliche Würdigung, die vom neuen Rektor Willy Hartner verfaßt worden ist: „Sie [die Universität, GSt.] gibt zugleich ihrer Bewunderung und ihrem Dank dafür Ausdruck, dass Herr Stadtrat Dr. K.[eller] in der dunkelsten Zeit der deutschen Geschichte mit beispielhaftem Mut dem Unrecht entgegengetreten ist und die Idee der Freiheit verteidigt hat.“23 Keller verstarb keine drei Monate später am 28. Januar 1960, 81 Jahre alt.

In der Traueranzeige der Universität heißt es: „Sein Sinn für Recht und Menschlichkeit, verbunden mit großer Güte und höchster Bescheidenheit, prägten Leben und Wirken des Heimgegangenen“. 24 In der Medizinischen Fakultät wurde Anfang Februar sein Tod durch den Dekan mitgeteilt und Keller mit den Worten gewürdigt: Er war ein „Schulmann von grossem Format im wahrsten Sinne des Wortes. Nach seiner Pensionierung begann eigentlich erst seine Tätigkeit im Grossen Rat. Im Interesse der Universität und im Kuratorium hat er immer entscheidend im Sinne der Universität gehandelt. Zum Zeichen des ehrenden Gedenkens der Verstorbenen erheben sich die Mitglieder der Fakultät von ihren Sitzen.“25

Keller wurde im wesentlichen somit durch die

a) Ehrenbürgerwürde gelobt, außerdem durch die

b) Würde eines Ehrensenators,

c) durch die Ausnahme, welche die Doppel-Ehrung darstellte, sowie

d) durch die Besonderheit einer urkundlichen Würdigung seines - angeblichen - Verhaltens in der NS-Zeit.

2.2 Allgemeine Ehrungen und städtische Würdigungen

Zu Kellers Verabschiedung als Dezernent erklärte Alfred Wolters, Direktor der Städtischen Galerie, gut ein Jahr nach dem Ende des „Dritten Reiches“ unter anderem: „Sie haben das Schiff der Stadt wahrhaftig … auch durch Schwärme von Seeräubern hindurch steuern müssen. Dass es Ihnen gelungen ist, trotzdem die köstliche Fracht im Ganzen zu erhalten und zu bergen, das bedeutet sehr viel.“ Außerdem behauptete Wolters, es sei Keller gelungen, Krebs „bei sehr wesentlichen Entscheidungen schliesslich in vielen Fällen“ zu überzeugen.26 Daß der Kulturdezernent bei Arisierungen zum Kreis der „Seeräuber“ gehörte, hatte Wolters anscheinend schon verdrängt. Und er hatte wohl auch nicht die vielfältigen Verluste an Kulturobjekten im kriegszerstörten Frankfurt vor Augen, wenn er meinte, Keller habe sie „im Ganzen“ erhalten und geborgen; dies stellt eine Lobhudelei unter weitgehendem Realitätsverlust dar - außer, man interpretiert es als Teil einer Argumentationsstrategie, welche mittels Leugnen Kulturpolitiker und Kulturmanager in ein besseres Licht stellen sollte. Wenn es Keller gelungen wäre, Krebs bei „sehr wesentlichen Entscheidungen“ zu überzeugen, dann würde dies im Umkehrschluß bedeuten, daß Keller teilweise Mitverantwortung für kultur- und schulpolitische Untaten von Krebs trägt.

Keller wurde über die Ehrung der Universität hinaus in den 50er Jahren mit weiteren hohen Auszeichnungen bedacht: 1954 hat er die Goethe-Plakette des Landes Hessen bekommen.27 Er wurde auf Vorschlag des Magistrats 1953 mit dem Verdienstkreuz am Bande ausgezeichnet, und 1958 anläßlich „seines 80. Geburtstages wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz verliehen“.28

In den Städtischen Mitteilungen erhielt „Stadtrat a. D. Dr. Keller zum Gedächtnis“ unter anderem folgendes Lob: „Trotz der Ungunst der Zeitverhältnisse hat er es verstanden, durch eine sachliche und zielstrebige Verwaltungstätigkeit den traditionellen Ruf des Frankfurter Schulwesens und der kulturellen Einrichtungen der Stadt Frankfurt aufrechtzuerhalten und sie vor einer einseitigen Ausrichtung und einer Beschränkung des freien Geisteslebens zu bewahren. … Das Frankfurter Schul- und Kulturwesen hat durch Stadtrat Dr. Keller eine tiefgehende und nachhaltige Förderung erfahren … Bei der Trauerfeier … auf dem Hauptfriedhof legte Bürgermeister Dr. Walter Leiske einen Kranz nieder und sagte hierbei: ´Mit dem Magistratskollegium nehme ich … Abschied von unserem verehrten Kollegen … er war ein aufrechter Demokrat´“.29

2.3 Kellers Tätigkeiten nach 194530

Keller war im Juli 1946 als hauptamtlicher Stadtrat mit fast 68 Jahren wegen einer Altersgrenze nicht wiedergewählt worden.31 Ansonsten war er nach dem Zweiten Weltkrieg in Frankfurt und Hessen mit vielen respektablen Ämtern bedacht worden; er wirkte in einflußreichen Positionen bis ins höchste Alter. Er wurde nach dem Krieg Vorsitzender der Städeladministration;32 er war dies von 1948 bis zu seinem Tod.33 Er wurde als „kommissarischer Leiter der Staatlichen Hochschule für Musik … 1949 in den Rundfunkrat des Hessischen Rundfunks gewählt, dessen Vorsitz er seit 1951 innehat[te].“34 Er wirkte im Rundfunkrat als Mitglied vom 7. Juli 1949 bis zum 28. Januar 1959, und er hatte zusätzlich noch die leitenden Funktionen eines stellvertretenden Vorsitzenden vom 3. März 1951 und die des Vorsitzenden ab dem 11. Mai 1951 bis zu seinem Ausscheiden. Der Rundfunkrat ist „vorrangig für die Einhaltung der gesetzlich festgelegten Programmvorgaben zuständig“.35 Keller saß bei seinem 80. Geburtstag auch noch im Verwaltungsausschuß des Freien Deutschen Hochstifts;36 in das Gremium war er schon im Januar 1934 als „städtischer Vertreter“37 entsandt worden. In Frankfurt gab es die „´Deputation für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung´, die sich aus Magistratsmitgliedern und sachverständigen Bürgern zusammensetzt, … 1932 wurde Stadtrat Dr. Keller der Vorsitz der Deputation übertragen; er bekleidete nach 1933 und auch nach 1945 dieses Amt.“38 Er kam 1934 in den Vorstand der Frankfurter Museums-Gesellschaft und saß dort in der unmittelbaren Nachkriegszeit sowie in den 50er Jahren; 1959 wurde er zum Ehrenmitglied ernannt.39 Und er wirkte im Vorstand der 1948 wiederbelebten Georg und Franziska Speyer´schen Studienstiftung, der er schon 1939 angehörte hatte, als die Auflösung beschlossen worden war; deren Liquidation war 1943 erfolgt.40

2.4 Kellers Beziehungen zur Universität nach 1945

In der Zeit des „Dritten Reiches“ war Keller für Oberbürgermeister Krebs der „Verbindungsmann“41 zur Universität. Keller war seit der Weimarer Zeit im Großen Rat und im Kuratorium der Universität gewesen und kurz sogar interimistisch Kurator. Im Wintersemester 1951/52 sowie im Sommersemester 1952 nahm Keller die Positionen des stellv. Vorsitzenden des Kuratoriums und des Geschäftsführenden Vorsitzenden ein. Der Geschäftsführer nahm an den Sitzungen des Vereins der Freunde und Förderer teil.42 Noch zu seinem 75. Geburtstag erwähnt die Frankfurter Rundschau, er sei „Mitglied des Großen Rates und des Kuratoriums der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität“,43 und als er 80 Jahre alt war, schreibt sie, daß er „stellvertretender Kurator der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität“44 sei.

Es gab einen Vorgang nach dem Krieg, der Kellers akademische Würdigung in einen Kontext stellt, über dessen Relevanz nur spekuliert werden kann: Keller hatte im April 1946 entscheidenden Einfluß auf die erste Ernennung eines Ehrenbürgers nach dem Zweiten Weltkrieg. Er nahm damals an zwei Sitzungen des Senats teil und wurde im Protokoll aufgeführt unter „Ferner“; er kam nur zu diesen beiden Sitzungen, nicht in die unmittelbar zuvor und anscheinend nie mehr danach.45 Warum er anwesend war, ist offen, auch, ob dies für die gesamte Sitzung zutrifft; es gibt keinen Hinweis, daß seine Teilnahme bei den beiden Sitzungen zeitlich begrenzt war. (In der zweiten Sitzung gehörte zu den Teilnehmern unter „Ferner“ auch Hartner, der Keller Jahre später für die akademischen Würden vorschlug, und Professor Beutler, der 1948 um eine Ehrung für Keller bat.46) „Stadtrat Dr. Keller regt an, Herrn Hartmann von der Bauer´schen Giesserei … die ´Ehrenbürgerwürde der Universität Frankfurt/Main´ zu verleihen. Stadtrat Dr. Keller wird einen entsprechenden Antrag stellen.“47 Aus der nächsten Sitzung des Senats heißt es: „Die Uebertragung der Ehrenbürgerwürde an den Inhaber … Johann Georg Hartmann … wurde, wie in der letzten Sitzung bereits beschlossen, bestätigt.“48 (Es stellt sich hier die Frage, ob es bei verschiedenen Handlungen der Beteiligten ein Manus manum lavat gab.)

2.5 Kellers Verhältnis zur NSDAP

Die Frage der Mitgliedschaft in der NSDAP war wesentlich in der Nachkriegszeit bei einigen Vorgängen im Rahmen der Entnazifizierung. Zur Positionierung der Beteiligten in der NS-Zeit wie auch zu ihrem Verhalten danach kann die Frage der Mitgliedschaft Einblicke verschaffen. Aber die Frage der Verantwortung für politische Ämter in der NS-Zeit läßt sich nicht auf diesen Aspekt beschränken. Staatsauffassung´“

Die auch heute noch vorgenommene Bezeichnung einer Person als „Nazi“ kann im historischpolitischen Diskurs einerseits die formale Parteimitgliedschaft meinen - unabhängig davon, ob und wie weit die Person von der NS-Ideologie überzeugt war -, oder sie kann andererseits funktional eine relevante Mitwirkung im totalitären System ausdrücken sollen.

Gemäß Michael Bermejos Forschungen beantragte Keller die Mitgliedschaft bei der NSDAP am 29. April 1933, „der er am 1. Mai 1933 beitrat.“49 Bettina Tüffers schreibt in ihren biographischen Angaben von einer Ablehnung des Antrags.50

In einem „Fragebogen“ für seine städtische Personalakte antwortete Keller mit Unterschrift vom 18. Juni 1933: „4. der N.S.D.A.P. angemeldet [am, GSt.] 29.4.1933“.51 So vermittelte er eineinhalb Monate nach seinem Beitrittsgesuch offiziell eine entsprechende Verbindung zur NSDAP. Er erklärte sich auch „rückhaltlos bereit“52 , „ auf dem Boden der nationalsozialistischen Welt- und Staatsauffassung´“53 mitzuwirken.

Keller unterzeichnete seinen „Fragebogen“ des „Military Government of Germany“ am 2. August 1946 und antwortete auf die Frage, ob er „jemals“ Mitglied gewesen sei, mit „nein“.54

Die Stadt Frankfurt hatte durch das „Hauptverwaltungsamt“ am „8. März 1937“ unter städtischen Mitarbeitern allgemein nach ihren Aufgaben als NSDAP-Mitglied gefragt: „Mit Einverständnis des Herrn Oberbürgermeisters soll auf Veranlassung des Herrn Personalamtsleiters“ gefragt werden, ob „städtische Bedienstete aktiv in der Partei“ seien. Dort antwortete Keller auf die Frage nach der Parteizugehörigkeit mit „nein“. Auf die Frage: „Weshalb bisher ein Amt in der Partei usw. nicht bekleidet wurde“, entgegnete Keller: „Bisher war mir diese Möglichkeit nicht gegeben.“ Und auf die Frage: „Ob Sie künftig g.F. ein Amt … übernehmen wollen oder nicht“, antwortete Keller: „Ja, soweit es die … Pflichten zulassen.“55 In einem Formular des Hauptverwaltungsamts vom 14. März 1938 verneinte er die Mitgliedschaft in der NSDAP.56 Nach dem Krieg ging Keller in einem Brief an den Oberbürgermeister vom 9. Dezember 1945 nur auf die zweite Befragung ein: „In einem Fragebogen des Jahres 1938 habe ich angegeben: ´Am 28.4.1933 zur Partei angemeldet.´ Diese Anmeldung erfolgte s. Zt. auf Grund einer Besprechung mit Oberbürgermeister Dr. Krebs, der mir erklärte, dass der Eintritt in die Partei von allen Beamten gefordert werden würde. … Zu meiner großen Erleichterung wurde meine Meldung schon nach wenigen Wochen zurückgewiesen … Es ist bekannt, dass ich schon am Tage der Besetzung des Rathauses in Schutzhaft genommen wurde, dass Gauleiter Sprenger meine sofortige Entlassung aus dem Amte forderte und dass diese Versuche, mich zu entfernen, 12 Jahre hindurch, bis in das Jahr 1944, immer wiederholt wurden. Ich habe niemals Beiträge an die Partei entrichtet, keine Versammlungen besucht oder mich irgendwie betätigt, so dass ich wahrheitsgemäss versichern konnte, dass ich niemals Pg. oder auch nur ´Anwärter´ gewesen bin.“57

Wenn der Gauleiter dies tatsächlich bis 1944 wiederholt versucht hätte, müßte Krebs bis zu dem Datum stets zu ihm gestanden haben, was bedeutet, daß Krebs überzeugt war, die Bilanz der Handlungen Kellers war für seinen, Krebsens Kurs als Nazi, positiv, sprich: braun. Das Endergebnis, nämlich 12.000 ermordete Frankfurter Juden,58 belegt, daß dieser Kurs ein NS-Kurs war. Und: Das Engagement auf Seiten eines Nazis gegen andere Nazis heißt nicht, daß dies ein Widerstand gegen den Nationalsozialismus war.59

2.6 Kellers berufliches Wissen und Wirken während des „Dritten Reiches“

Was wußte Keller und wobei wirkte er mit in jenen Jahren? Die Beantwortung dieser Fragen hängt für die Anfangszeit auch von seinen Ämtern ab. Denn wann Keller Kulturdezernent wurde, läßt sich anscheinend weder aus der Forschungsliteratur noch aus den Akten entnehmen. Diese Lücke, wie sie offenbar in den Akten herrscht, ist verwunderlich: Es fragt sich, ob sie während jener Zeit entstand, weil es der Oberbürgermeister bewußt an einer formalen Ernennung fehlen ließ, oder ob es nach dem Krieg zur Lücke kam. Kellers Amtsvorgänger Max Michel war Jude und wurde von seinem Amt am 13. März 1933 suspendiert.60 Am 14. März wurde Linder Michels Nachfolger als Personaldezernent und am 18. April übernahm Bruno Müller Michels Funktion beim Revisionsamt. Im Mai kam Keller in Deputationen; so hatte der Oberbürgermeister mit einer Verfügung vom 5. Mai in einer „Dezernatsverteilung“ Keller an die Spitze der „Kulturdeputation“ gesetzt.61 Es ist zu vermuten, daß Keller eher im Mai als zuvor zusätzlich zum für die Kultur zuständigen Stadtrat62 wurde. Der Oberbürgermeister schrieb am 27. März 1934 an den Regierungspräsidenten über Keller: „Daneben leitete er bis Herbst vorigen Jahres das städtische Kulturamt, dem die Betreuung der Kultureinrichtungen der Stadt … obliegt. Danach habe ich die Leitung dieses Amtes übernommen und ihn zum stellvertretenden Vorsitzenden bestellt.“63

Zur Erläuterung ist hier auf eine Veränderung durch die Nationalsozialisten aufgrund ihres Führerprinzips zu verweisen: Um dieses nach außen hin sichtbar werden zu lassen, wurden in Frankfurt die Dezernenten als Amtsleiter bezeichnet. Am „5. Januar 1934“ legte der Oberbürgermeister fest, daß „künftig … nicht mehr die Bezeichnung ´Dezernenten´, sondern ´Amtsleiter´“ aufgrund der „Führerverantwortlichkeit in der Verwaltung der Gemeinden“ zu verwenden sei.64 Somit wurde ein „Kulturdezernent“ Keller damals als Leiter des Kulturamts eingeordnet, wobei der Oberbürgermeister ihn zudem zeitweise formal die Rolle des stellvertretenden Leiters des Kulturamts zuwies; weil die Funktion in diesem Amt de facto die des Kulturdezernenten war, bezeichne ich ihn so, um diese Stellung zu betonen; darüber hinaus gehört der Terminus Kulturamtsleiter in der Zeit zur Lingua tertii imperii.65

2.6.1 Zur Universität und ihren Ehrenbürgern

Was sagt die Forschungsliteratur - mit einer ansatzweisen Betrachtung der Quellen -, worin Keller von Amts wegen involviert war, und worüber er von Amts wegen informiert war? Es soll zuerst auf Bezüge zur Universität eingegangen werden: Die Entwicklung einer durch die Stadt nicht nur wesentlich finanziell, sondern auch ideell getragenen Universität, die durch die Nationalsozialisten etwa ein Drittel ihres Lehrkörpers und viele Mitarbeiter und Studierende verlor, läßt über die zwölf Jahre der totalitären Herrschaft auch den Kulturdezernenten (und den Stadtkämmerer) nicht ohne Verantwortung am Geschehen sein. Zumindest wird Keller früh über Entlassungen an der Universität informiert gewesen sein. Und das Kulturamt berichtete am 3. Januar 1939 auf die Anfrage des Oberbürgermeisters, daß an der Universität „die restlose Entfernung der Juden abgeschlossen worden sei“.66

Aber nicht nur die Universität selbst, sondern auch das Ergehen ihrer Ehrenbürger verdient einen Blick bezüglich des Verhaltens von Rudolf Keller. In das Vorhaben, den Ehrenbürger der Universität Otto Goldmann dieser Würde zu berauben,67 war Keller involviert; es obliegt einer detaillierten Untersuchung, ob man meint, er habe das Vorgehen befördert oder behindert.

Keller übernahm in der Georg-Speyer-Stiftung das Vorstandsamt von Herbert Beit von Speyer 1889-1941), dem Sohn eines Ehrenbürgers der Universität; jener mußte sein Amt als Vorstandsmitglied der Stiftung am 11. Dezember 1938 aufgeben und Keller übernahm es am 7. März 1939. (Beit von Speyer lebte im Ausland und war in der Stiftung aus nationalsozialistischer Sicht als unerwünscht angesehen worden.) Keller gehörte 1939 auch zum Vorstand der Georg und Franziska Speyer´schen Studienstiftung, als der Vorstand die Auflösung beschloß. Die Liquidation erfolgte schließlich 1943. 1948 wurde die Stiftung wiederbelebt. Im Vorstand saß unter anderem wieder Keller.68

Wenige Jahre nach dem Tod des Ehrenbürgers Beit von Speyer kaufte die Stadt „das Anwesen der Familie Beit von Speyer … Die Stadt bezeichnete den Kauf bei einem Quadratmeterpreis von 17,00 RM und angesichts der guten Lage und des ausgezeichneten Zustands des Anwesens als ´äußerst vorteilhaft´“. Keller war darin involviert.69

Der enteignungsartige Raub jüdischer Immobilien war bisweilen auch für die Nutzung durch die Universität gedacht gewesen; es stellt sich die Frage, inwieweit Keller darin involviert war. Dazu gehörte der „Kauf großbürgerlicher Villen in guter Lage im Frankfurter Westend und am Mainufer. Der zuständige Bauamtsleiter, Dr. Bruno Müller, führte in einer Besprechung im Dezember 1936 auf, … [es, GSt.] werde die Stadt versuchen, derartige Grundstücke zum Geländewert anzukaufen. Dies war jedoch nicht das einzige Motiv der Stadt. Sie sah in den weiträumigen Anwesen geeignete Unterbringungsmöglichkeiten für Institutionen der Universität und stellte die Gebäude nach dem

Kauf … der Universität zur Verfügung.“70 „Genau einen Tag nach der Beendigung der Jagd auf jüdische Männer konnte Oberbürgermeister Krebs in der Gemeinderatssitzung fünf herrschaftliche Immobilien aus dem Besitz jüdischer Familien vorstellen, die zu ´günstigsten´ Preisen für mehr als eine halbe Million Reichsmark erworben worden waren, denn ´die letzte Woche hat das Problem wesentlich schneller reifen lassen, als es unter anderen Umständen gereift wäre´. Die Nutzung für

die Universität oder für andere Einrichtungen … standen dem Oberbürgermeister vor Augen.“71 Es ist anzunehmen, daß Keller auch hierüber schon zuvor informiert worden war.

Arthur von Weinberg, Ehrenbürger und Ehrensenator der Universität sowie auch Ehrenbürger der Stadt Frankfurt am Main, wurde zum Verkauf seines Wohnsitzes Haus Buchenrode gezwungen; dort wurde dann ein musisches Gymnasium eingerichtet. Keller72 wird die Umstände dieser Vertreibung einer der berühmtesten Persönlichkeiten der Stadt gekannt haben.73

Der NS-Oberbürgermeister Krebs versuchte, die Schwächung der Universität durch Gründung von Instituten und von vergleichbaren Einrichtungen auszugleichen.74 Dazu gehörten Bemühungen zur Etablierung des Deutschen Apothekenmuseums. Zu diesem Zweck war nach einigen anderen Vorschlägen schließlich die Villa von Richard Merton vorgesehen. So hieß es in einem Schreiben an das Kulturamt: „Herr Oberbürgermeister hat inzwischen ein neues Haus (Merton, Am Leonhardsbrunn 12) … ausgesucht“75. Von daher war für Keller die Herkunft des Hauses zweifelsfrei bekannt. Richard Merton war der 16. Ehrenbürger der Universität gewesen.76 Auch war Keller bereits früh in die Gründungsaktivität für eine Institution der empirischen Sozialforschung eingebunden, die dann zum Soziographischen Institut führte. Dies unternahm Forschungen für sozialrassistische Anwendungen; beispielsweise ging es um eine „planmäßige Neu-Ausrichtung … des landwirtschaftlichen Lebensraums“77 im großen Stil.

2.6.2 Entlassungen

Auch in Entlassungen von Mitarbeitern städtischer Kultureinrichtungen war Keller involviert.78798081