Gotham Noir

 

 

Gotham Noir

Teil 1: Kollateralschaden

Christian Humberg

 

Impressum

 

Originalausgabe | © 2020

Verlag in Farbe und Bunt

Am Bokholt 9 | 24251 Osdorf

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Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

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Alle Rechte liegen beim Verlag.

 

Herausgeber: Björn Sülter

Lektorat & Korrektorat: Telma Vahey

Cover-Gestaltung: EM Cedes

Cover-Illustration: Terese Opitz

Satz: EM Cedes

 

ISBN (Print): 978-3-95936-159-0

ISBN (Ebook): 978-3-95936-160-6

Teil 1: Kollateralschaden

Von oben sah man nur die Lichter.

Die Stadt funkelte und strahlte, als wolle sie den Nachthimmel herausfordern. Stein, Metall, Glas und Stahl ragten mit nahezu trotzig scheinender, amerikanischer Selbstverständlichkeit aus ihren Straßenschluchten empor. Unten schoben sich unzählige Fahrzeuge im immer gleichen Schrittverkehr über die Avenues, lebten gut acht Millionen Menschen ihre hektische Eintönigkeit. Unten regierten der Lärm, der Dreck, der Smog und die Uhr, jeden Tag und jede Nacht.

Von oben betrachtet war die Stadt, die niemals schlief, jedoch prachtvoll. Eine Bühne aus Licht, die sich bis zum Horizont erstreckte und auf den Morgen und den Beginn des nächsten Stücks wartete.

New York Citys funkelndes Meer aus Edelsteinen, von oben war es wunderschön.

Es sei denn, man stürzte.

Kapitel 1: Vom Ende aller Dinge

Gregory Boswick starrte in das Dunkel der Nacht, und das Dunkel starrte zurück. Zumindest kam es Greg so vor. Verflucht, seit wann war er so schreckhaft? Jedes Rascheln des Windes in den Büschen, jedes Plätschern des Wassers am Inselufer war eine Zerreißprobe für seine angespannten Nerven.

Und das alles wegen Mitch.

»Sind Sie wirklich sicher, dass Sie allein hier warten wollen, Sir?«, fragte Anslin. Es klang ungläubig – und mehr als ein bisschen angewidert.

Greg wandte sich um. Sein Assistent trug einen langen, braunen Mantel, der leicht im Nachtwind wehte. Hinter ihm konnte Greg die Skyline Manhattans glitzern sehen, so nah und doch wie aus einer anderen Welt.

Greg nickte seufzend. »Ganz sicher. Mitchs Nachricht war eindeutig: Er und ich, unter vier Augen auf Ellis Island.«

»Um Mitternacht, Sir?«

Verdammt, was wollte der Glatzkopf von ihm hören? Dass New York Citys oberster Mann weitaus Besseres zu tun hatte, als sich an einem gottverlassenen Ort wie diesem seine alten Knochen steif zu frieren? Dass dieser Hang zur Dramatik, den Mitch manchmal an den Tag legte, lächerlich war? Mitch war eben Mitch. Einem wie ihm widersprach man nicht, man rollte höchstens mit den Augen.

»Was der Mensch braucht, das muss er haben«, antwortete Greg gottergeben und winkte ab. »Gehen Sie ruhig, Anslin. Ich komme schon klar. Sowie die Besprechung vorüber ist, kehre ich aufs Boot zurück.«

Sie waren mit einer kleinen Jacht gekommen, die im Besitz der Stadt war. Normalerweise diente sie Empfängen und Partys, die die Grenzen des Protokolls sprengten, als extravaganter Rahmen.

Anslin nickte gehorsam und wandte sich um in Richtung Anleger. Nach wenigen Schritten verschmolz seine gertenschlanke Gestalt mit dem Dunkel, und Greg war allein mit der Nacht.

Schweigend schlug er seinen Kragen hoch und rieb sich die Hände. Die Kälte war wirklich unmenschlich. Verblüffend, wie stark sie sich von der Tageshitze, die jetzt im Sommer vorherrschte, unterschied. Nicht einmal neunzehneinundneunzig in den Armeezelten vor Kuwait war es nachts so kalt gewesen.

Wenn der Alte nicht bald auftaucht, dachte Greg grimmig, bin ich ein Eisblock.

Anslin, dieser Stiefellecker, hatte nicht unrecht: Was sie hier taten, war lächerlich. Mitch wollte vermutlich aus der Sache aussteigen. Warum sonst hätte er sich vor dem eigentlichen Termin melden sollen? Aber dafür hätte auch ein Anruf genügt oder ein Treffen irgendwo in Manhattan. Tagsüber.

Stattdessen schlich Greg nun zur Geisterstunde um die altehrwürdigen Mauern der ehemaligen Einwanderungsstation herum. Noch dazu um deren südliche Bauten, die von der Renovierung und Umgestaltung in ein Museum ausgenommen worden waren. Wo am Nordende der Insel roter Backstein, militärisch streng gestutzter Rasen und polierte Fahnenmasten dominierten, die ab Sonnenaufgang wieder von Heerscharen von Touristen heimgesucht würden, herrschten hier halbe Ruinen vor, deren Fenster wirkten wie dunkle, glotzende Augen. Dichtes Buschwerk wucherte wild.

Die Stille war beinahe ohrenbetäubend. Wären da nicht der Wind und die leise Andeutung von Verkehrslärm aus der Battery gewesen, die über den Hudson herüberwehten, Greg wäre sich vorgekommen wie der letzte Mensch auf Erden.

Langsam fuhr er mit der Hand unter den Mantel und tastete nach dem Revolver. Er führte stets einen bei sich, aus Prinzip. Als leitender Bürgermeister einer der größten Städte der Welt musste er wachsam sein, Bodyguards hin oder her.

Andererseits: War nicht auch das lächerlich? Vor wem fürchtete er sich denn? Etwa vor Mitch und dem Wind?

Greg zuckte zusammen, als seine Armbanduhr piepste. Punkt Zwölf. Weit und breit keine Spur von …

»Guten Abend, Mr Mayor.«

Im ersten Schreckmoment hätte er fast aufgeschrien. Dann fasste er sich, ignorierte sein wild pochendes Herz und drehte sich um. Fahler Mondschein fiel durch die Wipfel der Bäume und zauberte ein stetig wogendes Bild aus Nacht und Licht vor ihn. Inmitten dieses Bildes stand jemand.

»Mitch?«, fragte Greg und kniff die Lider enger zusammen. War das wirklich sein alter Partner?

»Erwartest du jemand anderen?«, erklang die vertraute Stimme. Noch immer konnte Greg sein Gegenüber kaum erkennen. Hier, wo nicht einmal mehr Straßenlaternen brannten, war alles Schemen und Schatten.

»Nein. Ich … ich hab dich nur nicht kommen hören.« Greg schüttelte den Kopf, verscheuchte die Skepsis. »Also, was gibt’s? Was kann nicht bis morgen warten und auf dem Festland besprochen werden? Warum dieser irre Aktionismus, hm?«

Wolken zogen vor den Mond. Die Schatten wurden wieder dichter. Fast schien es Greg, als stünde ihm doch niemand gegenüber. Dann sprach Mitch weiter. »Es muss hier beginnen.«

Greg stutzte. Klang so jemand, der aussteigen wollte? »Wovon redest du?«

»Von Ellis Island. Tor zur Neuen Welt. Symbol und Hoffnungsträger. Der perfekte Platz für einen Anfang.«

»Wie überaus pathetisch …«, spottete Greg. Der Wind frischte auf und zerrte an seinem dünnen, grauen Haar. »Wirst du sentimental auf deine alten Tage? Überhaupt: Welchen Anfang meinst du? Sollte der Anfang nicht schon längst in der Stadt geschehen sein und …«

Greg verstummte, als Mitch einen Schritt näher trat und er sein Gesicht besser erahnen konnte. Weißes Haar, fahle Haut, dunkle Augen?

Pechschwarze Augen. Ohne Weiß.

»Mitch? Was in aller Welt ist mit dir?«

Die Äste wogten weiter im Wind, raubten hier Mondlicht und schenkten es dort. Mitch wanderte mit ihnen. Hatte er Greg eben noch gegenüber gestanden, befand er sich einen Augenblick später rechts von ihm, dann links. Als wäre er ein Teil der Nacht und über Naturgesetze erhaben.

Was passiert hier?, dachte Greg Boswick. Er ahnte es, doch diese Wahrheit erschien zu grauenvoll, um sie ernsthaft zu erwägen. »W… wer sind Sie?«, stotterte er die Schatten an, und ihm war plötzlich, als gleite eine Hand aus Eis über seinen Rücken und besudele seine Seele. »Nicht Mitch, so viel ist klar. Also, was wird das hier?«

»Ein Anfang«, antwortete das Ding in der Finsternis. Sehnsucht und Verlangen lagen in den zwei Worten. Entschlossenheit. Dann schritt es wieder auf Greg zu – und New Yorks Bürgermeister sah!

Einen Sekundenbruchteil später wirbelte Greg herum und rannte panisch ins Dunkel.

Nein, dachte er flehend. Unmöglich. Das ist un-möglich.

Jedes Wort war wie ein Rettungsring im Meer des Chaos, dessen Wellen über ihn zu schwappen drohten. Wahnsinn und Verzweiflung zerrten an seinem Geist, nackte Angst an seinem Herzen. Anslin – das war die Lösung! Er musste Anslin finden, und dann würde schon alles normal werden, sich fügen. Selbstverständlich würde es das. Was denn sonst?

Doch die Schatten waren überall. Hinter jeder Hausecke, um die Greg eilte, und neben jedem Busch, den er umrundete: Das grauenvolle Ding war bereits da. Es erwartete ihn im Spiel des Mondlichts mit den Wolken und den Bäumen. Und es schien zu grinsen.

»Anslin!«, schrie Greg panisch, peitschte sich weiter. »Anslin, wo sind Sie?«

Keine Antwort. Da waren nur der Wind und die Wellen und die Nacht.

Die Nacht.

Greg war, als riefe sie nach ihm. Jeder dunkle Winkel, den er bei seiner Flucht passierte, schien plötzlich tentakelartige Auswüchse zu besitzen und ihn packen zu wollen. Was eben noch der breite Schatten eines Baumstamms auf dem Kiesweg gewesen war, mutete nun an wie ein klaffendes Loch in der Wirklichkeit – ein Abgrund, der gierig auf ihn wartete. Mannshohe Büsche mutierten vor seinen schreckensweit aufgerissenen Augen zu sinisteren Ungeheuern, die sich auf ihn stürzen und ihm die Seele rauben würden, wenn er ihnen zu nahe kam. Findlinge, die nachtschwarz auf dem Rasen standen, wurden zum überdimensionierten Gelege einer ihm unvorstellbaren Höllenbrut.

Das bildest du dir nur ein, redete der analytische Teil seines Verstandes ihm zu.

Und trotzdem ist es echt, erwiderte seine Furcht.

»Anslin!« Ein neuer Versuch, schriller und flehender als zuvor. So schrien Kinder, keine mächtigen Politiker. »Ansliiin!«

Nichts. Dieser elende Landesteg mochte genauso gut auf der Rückseite des Mondes liegen. Greg rannte und rannte, und mit einem Mal wusste er, dass er die Jacht nie erreichen würde. Die Schatten ließen es nicht zu. Sie hatten ihn herbestellt – zu dieser Stunde, an diesen verlassenen Ort –, und nun würden sie ihn nie wieder freigeben.

»Anslin«, keuchte er, einen kalten Stein der Erkenntnis in seinen Eingeweiden. Dann stolperte er über einen echten und fiel der Länge nach ins Gras.

Als der erste Schmerz verging, stand das Ding direkt über ihm. Eine Gestalt aus Mondschein und Finsternis, die ihre unheiligen Arme nach ihm auszustrecken schien. Ihr Mund öffnete sich, weiter als es menschenmöglich schien, und Greg war, als sähe er in dieser Öffnung das Ende aller Dinge.

Ars, flüsterte der Unheimliche, und irrte Greg sich, oder erklangen diese Laute plötzlich hinter seiner Stirn? Ars diavoli …

Das genügte. Die höhnischen Laute rissen Greg aus seiner Starre – und einen Herzsschlag später riss er den Revolver empor! Laut hallten die Schüsse durch die Stille der Nacht.

Sie trafen … nichts.

Unmöglich, keuchte Gregs Logik entsetzt, Schutzschild vor dem Wahnsinn.

Tödlich, ahnte sein Instinkt.

Das Ding beugte sich zu ihm nieder – unbeirrt und unverwundet. Die gierigen Hände kamen näher und näher. Gregory Boswick starrte in das Dunkel der Nacht, und das Dunkel starrte zurück. Er wusste, dass er es nicht aufhalten konnte. Es gab keinen Ausweg mehr.

Oder?

Ars diavoli …, hallte die unheimliche Stimme in seinem Geist wider.

Dann ging alles ganz schnell. Greg riss den Mund auf und schloss die Augen. Der Lauf seiner Waffe schmeckte nach Rauch und Ewigkeit, doch als er ihn erst einmal an den Lippen spürte, vergingen sein Zittern und seine Furcht. Selbst die Kälte fiel von ihm ab. Mit einem Mal gab es nur noch Sicherheit, nur noch Halt.

Gregs letzter Gedanke galt seiner Stadt. Vergib mir, bat er und drückte ab, als die Tränen kamen.

Kapitel 2: Supergirl

»Ich will nur mit Ihnen reden, okay?«

Sarah Dolan hob langsam die Hände und trat einen winzigen Schritt näher. Eisiger Wind zerrte an ihrem feuerroten Haar und an der Uniform. Dennoch schwitzte sie. Dreck knirschte unter ihren Sohlen, und über dem flachen Hochhausdach funkelten ferne Sterne.

»Hauen Sie ab!«, brüllte der Mann im schwarzen Anzug. Er saß auf dem steinernen Wasserspeier und drehte sich nicht zu ihr um. Sarah beschloss, letzteres als gutes Zeichen zu interpretieren, und schlich noch etwas näher. Verdammt, wo blieben die Psychologen?

»Sie waren mal bei der Truppe, oder?«, fragte sie in bemühtem Plauderton. Sie musste die Stimme heben, um über den Wind und den Verkehrslärm, der aus Dutzenden Metern Tiefe zu ihr drang, gehört zu werden. »Ich glaube, ich habe Sie vor Jahren an der Akademie gesehen. Sie bekamen einen Orden oder so. Mitchell, richtig? Detective Alan Mitchell.«

Der Mann rutschte ein Stück nach vorn, dem Abgrund entgegen. Sarah blieb sofort stehen.

»Sie sollen abhauen, hab ich gesagt!«, rief er. Seine Schultern zuckten. »Sofort!«

Dann schenkte er ihr einen Schulterblick. Sarah sah Tränen und Verzweiflung in seinen Augen. Falten durchzogen sein altes Gesicht, und ein dünner Rotzfaden lief aus seiner Nase. Das zerzauste weiße Haar und die buschigen Brauen erinnerten kaum noch an den Mann aus ihrer Erinnerung.

Sarah schluckte. »Wollen Sie das wirklich tun, Sir?«, sagte sie sanft und betete, dass es dem entsprach, was die Psychofritzen in diesen Situationen sagten. »Sie sehen nicht so aus.«

Mitchell schnaubte trocken. Seine makellos sauber polierten Halbschuhe baumelten in der Luft. Selbst von hinten sah seine Kleidung ordentlich aus. Vermutlich gereichte der Knoten seiner Krawatte jedem britischen Gentleman zur Ehre.

Machten sich Leute zum Sterben fein, die gar nicht sterben wollten?

Rede mit ihm, schoss es ihr durch den Kopf. Überrede ihn nicht, denn das kannst du vielleicht nicht. Halte ihn einfach beschäftigt. Und das schnell!

Sarah atmete durch. »Erklären Sie’s mir?«

Schweigen. Nur der Wind und die Straße sangen ihr Lied.

»Mr Mitchell? Ich will nichts weiter als es verstehen, Sir. Erklären Sie’s mir. Bitte.«

Zwei Meter. Das war alles, was sie noch von der Dachkante und dem steinernen Wasserspeier trennte. Ob sie einfach springen und versuchen sollte, den Mann zu packen? Aber was, wenn er sich wehrte? Was, wenn sie sich verschätzte und sich mitsamt Mitchell vom Hochhaus stürzte?

»Warum ich springe?« Der Alte weinte leise. »Das kann niemand verstehen.«

»Versuchen Sie’s«, drängte sie vorsichtig. »Ich hab’s nicht eilig. Und das Straßenpflaster läuft Ihnen garantiert nicht weg.«

Wieder sah er sie an. »Weil sie kommen«, sagte er. Für einen kurzen Moment klang er fast wie ein Kind, das einen schweren Fehler begangen hatte und nun nicht mehr weiter wusste. »Sie kommen wirklich

Okay, das war ein Anfang. »Wer, Sir? Von wem sprechen Sie?«

Sirenengeheul hallte durch die Nacht. Eine regelrechte Explosion von Blaulicht reflektierte in den gläsernen Fassaden der gegenüberliegenden Hochhäuser.

Gemeinsam zerstörten sie den Moment. Die kindliche Offenheit, die eben noch in Mitchells Tonfall gelegen hatte, verschwand so plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Zurück blieb nüchterner Fatalismus.

»Da ist diese Party, okay?«, begann der Alte leise. Nachdenklich. »Im fünfzigsten Stock eines Apartmentpalastes, hinten am Central Park West. Kostbare Möbel, moderne Kunst an den Wänden. Alles voller High Society. Lakaien in weißen Jacketts reichen Häppchen herum, die mehr kosten, als der Hausmeister im Monat verdient. Eine fünfköpfige Band aus Jazz-Größen, eigens aus New Orleans eingeflogen, spielt künstlerisch wertvolle Fahrstuhlmusik. Die Prominenz smalltalkt und bewundert sich selbst.«

»Sir?«

Mitchell scherte sich nicht um Sarahs fragenden Blick. Er erzählte einfach weiter. »Am Ende der Partyzone, gleich vor den Panoramafenstern zum Park, steht ein Tresen, okay? Poliertes Mahagoni, Chrom und Cocktailgläser. Ein einsamer Barmann füllt die Tabletts seiner Kellner nach, während vor ihm zwei einsame Zecher schon seit Stunden ihre Langeweile in Red Label auf Eis ertränken. Die beiden kennen sich nicht, das sieht der Wirt sofort. Sie sitzen an verschiedenen Enden der Theke.« Er seufzte. »Auf einmal dreht sich der eine Zecher zum anderen um. ›Wissen Sie‹, lallt er seinem Nebenmann entgegen, ›was das Tolle an diesen modernen Hochhäusern ist?‹ Der Nebenmann hebt überrascht eine Braue. ›Ich hab keinen Schimmer‹, brummt er. Ihm ist nicht nach reden, verdammt. Hätte er reden wollen, wäre er bei seiner oberflächlichen dritten Gattin im oberflächlichen Partygetümmel geblieben. Doch Mann Eins lässt sich davon nicht abschrecken. ›Wenn man hier aus dem Fenster fällt‹, sagt er mit einer Alkoholfahne, die man noch in New Jersey riechen muss, ›stürzt man schnurstracks dem Bürgersteig entgegen – aber zwei Meter vor dem Boden macht man einfach kehrt und fliegt wieder zurück.‹«

Sarah schüttelte den Kopf. Was redete Mitchell denn da? So hilflos hatte sie sich noch nie gefühlt. Scheiße, wo blieb diese elende Verstärkung? »Sir, ich fürchte, ich begreife nicht ganz, was Sie mir damit …«

Der Alte hob abwehrend die Hand. Seine Mundwinkel zuckten leicht. Dennoch blieben sein Blick leer und seine Wangen tränenfeucht. »Mann Zwei winkt natürlich ab. ›Sie hatten ein paar Gläser zuviel, mein Freund‹, sagt er. Mann Eins fängt aber prompt an zu lachen, steht auf und tritt schwankend zum Fenster. ›Wenn Sie’s nicht glauben, zeig ich’s Ihnen!‹, verkündet er mit schwerer Zunge – und noch bevor ihn jemand stoppen kann, reißt er das Fenster auf und springt! Mann Eins wird schlagartig nüchtern. Voller Entsetzen blickt er an der Fassade nach unten und sieht den Unbekannten dem sicheren Tod entgegenstürzen. Aber dann, exakt zwei Meter vor dem Boden, macht der Kerl kehrt und fliegt wieder zurück.«

Mitchell lachte leise. Es klang entsetzlich hohl. »Mann Zwei steigt also wieder ins Zimmer, streicht sich den Scheitel glatt und grinst. Mann Eins ist vollkommen begeistert. ›Das … das will ich auch‹, stammelt er, klettert auf die Fensterbank und springt ebenfalls. Er fällt und fällt und fällt, und als er zwei Meter über dem Bürgersteig ist, fällt er weiter, schlägt unten auf und stirbt sofort. Mann Eins, der oben am Fenster steht, nickt nur, schließt das Fenster und setzt sich wieder an die Bar, wo sein Drink wartet. Schweigen. Nach ein, zwei Minuten tritt vorsichtig der Barmann zu ihm. ›Nichts für ungut, ja?‹, sagt der Wirt. ›Du bist ’n echt feiner Kerl und all das … Aber wenn du was getrunken hast, kannst du ein richtiges Arschloch sein, Superman!‹«

Aus dem leisen Lachen wurde ein Glucksen. Mitchell sah Sarah an und schien ihre perplexe Miene noch mehr zu genießen als den seltsamen Witz. »Den habe ich immer schon gemocht«, sagte er dann sanft und mehr zu sich selbst als zu ihr. »Ich glaube, ich probiere das auch mal aus.«

Sarah begriff. »Nein, Sir, nicht! Bitte, Sie …«

War es zu spät für Worte? Der Alte stieß sich mit den Händen vom Wasserspeier ab und kippte nach vorn, die Augen fest geschlossen.

Im selben Sekundenbruchteil sprang Sarah vor. Sie streckte die Hand nach ihm aus … und bekam doch nur noch Luft zu fassen.

 

Lieutenant Hilarius Mandel hasste die allmorgendliche Besprechung mehr als seinen Vornamen – und den hasste er inniglich. Wann immer die Officers, Sergeants und das ganze übrige Gesocks des 66. Reviers im »Schlauch« zusammenkamen, dem großen Saal des dritten Stocks, ging es zu wie in einem Kindergarten für Schwererziehbare. Schon jetzt, da er vor der geschlossenen Tür stand, hörte Mandel das Gezeter und die lauten Rufe. Er straffte die Schultern, umfasste den Griff seines hölzernen Gehstocks fester und atmete tief ein.

Also los.

»Setzen Sie sich, Leute!«, rief er über den Lärm hinweg, der ihn jenseits der Schwelle erwartete. »Alles hinsetzen und Klappe halten!«

Doch die gut zwanzig versammelten Männer und Frauen des Police Departments von New York City hatten andere Pläne.

»Hey, Hillie, haben Sie’s schon gehört?«, fragte Pete Boone laut. Der stämmige Sergeant saß in der ersten Reihe, gleich neben dem Fenster. Rote Flecken der Empörung prangten in seinem Diabetiker-Gesicht, und sein blaues Uniformhemd spannte.

Mandel humpelte unbeirrt weiter. »Schnauze, Boone. Sie kennen das Spiel.«

»Spiel? Aber, Hillie, die Neue hat …«

»Ich sagte: Schnauze, Boone. Oder ich sorge eigenhändig dafür, dass man Ihre Pensionierung ein paar Wochen nach hinten verschiebt, verstanden?« Mandel hatte die kleine Bühne am Kopfende des rechteckigen Saales erreicht und humpelte nun hinter das ramponierte Rednerpult. Die Luft roch nach Schweiß und bitterem Automatenkaffee. »Das gilt übrigens für Sie alle. Es ist Dienstag, Leute. Dienstags passieren immer Sachen – genau wie an jedem anderen Tag. Und genau wie jeden anderen Tag beginnen wir auch diesen mit der Ansprache, verstanden? Wer hält die? Ich. Und was halten Sie? Den Mund, verdammt!«

Die letzten Sätze unterstrich er, indem er mit dem Stock auf das billige PVC des Fußbodens klopfte. Das brachte endlich Ruhe in den Sauhaufen. Einer nach dem anderen nahmen die Uniformierten Platz. Stuhlbeine quietschten über den Boden, Privatgespräche verstummten. Einzig Boone murmelte sich noch etwas mürrisch in den grau melierten, kurzen Bart, doch Mandel ignorierte ihn.

Die Wut in den Mienen der Anwesenden war offensichtlich. Trotzdem – oder gerade deshalb – durfte es keine Abweichung von der Routine geben. Nicht heute.

»In Ordnung«, sagte Mandel und ließ den Blick über seine Untergebenen schweifen. »Folgendes liegt an: Wir haben einen offenbar blutig in die Hose gegangenen Raubüberfall an der 10th Ecke C. Boone und DeSoto, Sie übernehmen.«

Ellen DeSoto nickte und machte sich diensteifrig eine Notiz. Boone, der Partner der Vierzigjährigen aus Queens, hob jedoch abwehrend die Hand. »Verflucht, Hillie, Mitch ist …«

»Sanders und Curdin«, ignorierte Mandel ihn nun sogar noch lauter, »Ihnen gebührt die Ehre, unseren hochwohlgeborenen Kollegen von der Drogenfahndung zur Hand zu gehen.«

Jay Sanders, ein braungebrannter Muskelprotz mit militärisch kurzem Blondschopf, stöhnte. Mehrere andere Officers stimmten ein. »Dem DEA?«, fragte Sanders. »Ach, Scheiße, Hill. Sind die immer noch nicht fertig?«

»Das werden die nie«, brummte Carla Curdin, genannt CeeCee. »Dazu sind die viel zu unfähig.« Sie und Sanders gingen schon seit über fünf Jahren miteinander auf Streife und, wie man munkelte, inzwischen auch in die Kiste. Das Revier ahnte es, CeeCees Familie nicht. Cops waren verschwiegen.

Mandel verkniff sich einen Tadel. Er konnte den Unmut der Truppe verstehen. Im Sechsundsechzigsten mochte man keine Schlipsträger, so einfach war das. Erst recht keine, die sich für etwas Besseres hielten. Und die Drug Enforcement Administration befand sich nun schon seit Monaten im Sondereinsatz hier in Alphabet City und behandelte das zu ihrer Unterstützung verpflichtete NYPD wie einen Haufen minderwertiger Wasserträger.

Seufzend drehte Mandel sich um und sah zur weißen Tafel, die die Wand hinter der Bühne dominierte. Der Office Guy – so hießen die administrativen Angestellten im hausinternen Jargon – hatte Dienstplan und Zuteilungen bereits mit buntem Marker angeschrieben. Mit geübtem Blick vergewisserte sich der Lieutenant, dass er keine dringende Sache vergessen hatte.

»Scheint, als wäre es das schon gewesen«, beendete er dann die Ansprache. Kurz und knackig – so mochte er sie ohnehin am liebsten. »Bleibt noch eine interne Kleinigkeit zu erledigen: Wir haben Zuwachs bekommen, Leute. Sergeant Sarah Dolan – ja, von genau den Dolans – unterstützt das Sechsundsechzigste seit gestern Abend. Mit Beginn ihrer nächsten Schicht wird sie einen Partner benötigen, und ich hatte da an Sie gedacht, Odd Oddo.«

Sergeant Oddo Costanza, ein keine eins siebzig großer und vollkommen kahlköpfiger Kollege mit verqueren Ansichten und einem messerscharfen Verstand, schüttelte seinen italienischen Dickschädel. »Auf gar keinen Fall, Sir«, sagte er entschieden.

Mandel seufzte innerlich. »Ich hab mich wohl verhört.«

»Lieutenant, das können Sie mir nicht antun«, erklärte sich der Sergeant und stand sogar dafür auf. »Schlimm genug, dass dieser Frischling mit dem Silberlöffel im Mund ausgerechnet zu uns kommt – aber dann diese Sache mit Mitch? Vergessen Sie’s.«

»Ich soll den Befehl vergessen, den ich Ihnen gerade gab, Sergeant?«, fragte Mandel drohend. »Ist es das, was Sie Nebbich mir sagen wollen? Dass Sie auf den Streifen an meinem Uniformkragen scheißen?«

Odd Oddo sah sich hilfesuchend um.

»Er redet nicht von der Befehlskette«, schaltete sich Boone ein, »sondern von Vertrauensmangel. Mensch, Hillie, jetzt stellen Sie sich nicht dümmer als Sie sind. Partner müssen aufeinander bauen können. Sie müssen sich gegenseitig den Allerwertesten retten, wenn’s drauf ankommt. Und mir geht’s da ganz wie Oddo: Nach dem, was da kürzlich passiert ist, bezweifle ich stark, dass der Augenstern unseres Commissioners dazu fähig wäre.«

»Sergeant Dolan kommt mit den wärmsten Empfehlungen zu uns und …«

Der Rest von Mandels Protest ertrank im Gejohle seiner Untergebenen. »Womit denn auch sonst?«, rief Odd Oddo aufgebracht. »Wir reden hier schließlich von Thomas Dolans einzigem Töchterlein!«

»Sergeant Dolans familiärer Hintergrund hat absolut nichts mit ihrer Qualifikation …«

Abermals kam Mandel nicht dazu, den Satz zu beenden. Laut hallte der Unmut des Reviers von den Wänden des Schlauchs wider.

Schließlich hob Mandel die Hände. »In Ordnung, in Ordnung«, rief er. »Ich verstehe Sie ja, Leute. Aber Sie müssen auch die Befehlskette verstehen! Für den Moment haben Sie Ihre Aufträge: Boone und DeSoto gehen auf Räuberjagd, Sanders und Curdin zu den Drogenschnüfflern; der Rest bleibt hier und wartet auf neue Scheiße. Wir wissen schließlich alle, dass die nie lange auf sich warten lässt.«

»Und was wird aus Prinzessin Dolan?«, hakte Costanza provozierend nach. »Was wird aus Supergirl?«

Supergirl. Allem Anschein nach hatte nicht nur Mandel bereits den Bericht der Neuen gelesen. Gelächter brandete auf. Mandel biss die Zähne zusammen und massierte sich den Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger, doch der Kopfschmerz blieb.

»Überlassen wir Sergeant Dolan für’s Erste dem Captain«, sagte Mandel, und es klang wie eine Kapitulation. »Einverstanden?«

Gott, wie er diese Besprechungen hasste!

 

Das 66. Revier lag tief im alten Herzen Manhattans. Die Nachbarschaft beschränkte sich auf eine winzige Handvoll Blocks in Alphabet City, dem ehemaligen Künstlerviertel, und trat auf modernen Straßenkarten kaum noch namentlich in Erscheinung. Dabei waren ihre exzentrische Art und ihr eher ruhiges Pflaster nach wie vor ein Magnet für schräge Kreative.

Sogar die Polizeiwache spiegelte dies wider. Das vierstöckige Gebäude aus rotem Backstein war mehr als hundertfünfzig Jahre alt und wirkte noch älter. Es lag etwa eine halbe Gehstunde vom East River entfernt und glich einem kleinen, fett gewordenen Leuchtturm, der sich verlaufen hatte. Breite steinerne Stufen führten zum Haupteingang, einer zweiflügeligen schweren Tür, über der eine in Stein gemeißelte, überdimensionierte Polizeimarke prangte.

Sarah Dolan hatte die Wache an diesem Morgen erst zum zweiten Mal betreten und wünschte sich schon weit weg. Wahrscheinlich erfüllte ihr das Schicksal diesen Wunsch gerade.

Captain Frank R. Lowden seufzte. »Ich hoffe, Sie erwarten keine Sonderbehandlung, Sergeant.« Der zweiundsechzigjährige Dienststellenleiter – graues Haar, dichter Schnurrbart, schwarze Hosenträger und klarer Blick – saß an seinem Schreibtisch und sah sie an.

»Sir, nein, Sir«, antwortete Sarah. Er hatte ihr einen Stuhl angeboten, doch sie blieb lieber stehen. Gestraffte Schultern und ein gerader Rücken. Wenn du schon untergehst, geh in Würde, Soldatin. »Warum sollte ich, Sir?«

Lowden hob eine Braue, ersparte sich aber die Antwort. »Wissen Sie, wie meine Jungs Sie inzwischen nennen?« Es lag keinerlei Vorwurf in seiner Stimme. Das machte es irgendwie noch schlimmer.

»Ja, Sir.«

»Keine zehn Stunden im Dienst, und schon einen Ruf. Das schafft nicht jeder, Sergeant Dolan.«

Sarah schwieg. Es gab nichts mehr zu sagen. Alles stand in ihrem Bericht – und in den strafenden Blicken ihrer Kollegen. Supergirl, das war sie geworden. Vom blaublütigen Polizeiadel zum Witz des Reviers binnen einer einzigen Schicht. Und zur Versagerin, zumindest laut der Blicke.

»Ich kannte Mitchell, wussten Sie das?«, fragte Lowden. Er hatte sich zurückgelehnt und die breiten Hände vor der Brust gefaltet. »War ein guter Mann, zu seiner Zeit. Ein sehr guter.«

»Ja, Sir.«

»Hatte über dreißig Dienstjahre auf dem Buckel, als er in Pension ging. Ich war schon sein Sergeant, da kannte ich meine Frau noch nicht.«

Ein frustrierter Seufzer drang aus Sarahs Kehle, bevor sie ihn zurückhalten konnte. Sofort ärgerte sie sich dafür.

Lowden beugte sich vor, schien ihn gehört zu haben. »Na, so sprechen Sie doch endlich, Dolan«, sagte er ein wenig mürrisch.

»Sir.« Sie zögerte, obwohl ihr das lächerlich vorkam. »Offen, Sir?«

Nun wirkte er frustriert. Lowden massierte sich die faltige Stirn mit den Fingerkuppen. »Natürlich offen. Wenn ich höfliche Halbwahrheiten hören möchte, besuche ich meine Schwägerin, die mich insgeheim hasst. Auf meiner Wache reden wir nicht um den heißen Brei.«

Sarah atmete kurz durch. Also gut. »Sir, Detective Mitchell war geistig verwirrt und emotional sehr aufgewühlt. Er redete Unfug. Ich verstehe die Trauer und die Wut der Kollegen, Sir, aber … Bei allem Respekt – niemand von Ihnen war heute Nacht vor Ort. Niemand kann die Situation beurteilen. Das steht auch alles in …«

»In Ihrem Bericht, ja, ja.« Lowden winkte ab. »Den habe ich gelesen, Sergeant. Aber den Mann, den Sie dort beschreiben, kenne ich nicht.«

wollte