Cover

Kurzbeschreibung:

Die beliebte Biker-Tales-Reihe von Sandra Binder geht weiter!


Isa wollte nie ein Teil der gefährlichen Welt ihres Bruders werden und hält sich deshalb fern von seinem Club, dem Los Bribones MC. Doch dann begegnet sie Patrick und verliert prompt ihr Herz an den charmanten Iren. Er bringt sie zum Lachen, wie kein anderer je zuvor, und bei ihm fühlt sie sich zum ersten Mal frei. Nach jedem ihrer heimlichen Treffen frisst ihr schlechtes Gewissen sie jedoch beinahe auf – denn Pat ist nicht nur ein Outlaw, er ist ein Member des Nachbarclubs Satan’s Advocates. Isa ist sicher, dass ihre Liebe zu ihm einen Verrat an ihrem Bruder darstellt. Waffenstillstand hin oder her, sie spürt schon lange, dass es zwischen den Clubs kriselt. Und es scheint nur noch ein winziger Funke zu fehlen, um den alten Hass erneut zu entfachen


Wie immer bei dieser Reihe gilt: Jeweils zwei Bände bilden eine Geschichte.

Sandra Binder

Geliebte des Feindes

Biker Tales 5

Roman


Edel Elements

Inhaltsverzeichnis

Prologue – Isa

Chapter One – Can’t Stop Thinking About You

Interlude – Bad News

Chapter Two – Foolish Hearts

Chapter Three – Only A Little Secret

Interlude – Loyalty

Chapter Four - What I Never Wanted

Interlude – It’s A Trap

Chapter Five – Must Be In My Blood

Chapter Six – My Brother’s Anger

Interlude – Mexican Affairs

Chapter Seven – Under My Enemy’s Spell

Glossar

Spanische Begriffe

Prologue – Isa

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt man. Ich habe diese Redewendung immer gehasst. Muss ich mich in eine Schublade zwängen lassen, nur weil meine Eltern oder Geschwister dort stecken? Darf, kann ich denn nicht selbst entscheiden, wer ich sein will?

Ich habe mein Leben lang darum gekämpft, als eigenständiges Individuum angesehen zu werden, aber diese Welt hat es mir nicht leicht gemacht. Für die Leute war ich niemals Isabella. Ich war nur die Tochter oder die Schwester von jemandem. Ein armes Mädchen, in den Augen der anderen. Eine schwache Frau, die mit dieser Verwandtschaft nur kriminell oder drogenabhängig werden könne.

Mein Vater war Carlos Ramirez, der bisher wohl berüchtigtste und gefürchtetste President des Los Bribones MC. In unserem Zuhause war er ein liebevoller Mann, der stets laut lachte; außerhalb dieser Wände war er bekannt für seine Grausamkeit, seinen Stolz und sein aufbrausendes Gemüt. Niemals verzieh er etwas, gab keine zweiten Chancen – und er schoss, bevor er fragte. Seinen Ruf pflegte er besser als sein Motorrad, denn jener war es, der ihm Respekt verschaffte. Mir hingegen bescherte er tiefste Einsamkeit.

Wo ich auch hinkam, wer meinen Namen hörte, der meinte über mich Bescheid zu wissen. An der Schule nannten sie Nando und mich ›die schwarze Brut‹. Nicht nur die Schüler, die Lehrer schürten ebenfalls Vorurteile gegen uns. Wann immer etwas geschah, von harmlosen Streichen über Prügeleien bis hin zu Drogenmissbrauch, es musste ein Ramirez dahinterstecken, denn wir waren die Gesetzlosen, das Böse.

Im Gegensatz zu mir wurde mein Bruder diesem Ruf gerecht. Er tat so ziemlich alles, was Gott verboten hatte, und interessierte sich nicht für die Meinungen ›normaler‹ Leute oder irgendwelche Konsequenzen. Er war schließlich Carlos Ramirez’ einziger Sohn, und damit war Rebellion seine Lebensaufgabe. Mit fünfzehn war Nando bereits der selbsterklärte König der High School, keiner legte sich mit ihm an. Schüler wie Lehrer hatten Angst vor ihm und dem Club und versuchten, Reibungspunkte mit unserer Familie möglichst zu vermeiden.

Da mein Bruder sechs Jahre älter war als ich, hatte er die Weichen für meinen Ruf bereits gelegt, da war ich noch auf der Elementary. Ich hatte keine Chance auf eine weiße Weste, so sehr ich mich bemühte.

Ich schrieb gute Noten, blieb stets freundlich und hilfsbereit, egal wie misstrauisch mir jemand begegnete, und ich engagierte mich bei verschiedenen gemeinnützigen Organisationen. Zwar sprach es keiner aus, aber ich glaube, meine Lehrer und Mitschüler vertrauten mir aufgrund meines Verhaltens noch weniger als Nando. Denn ich passte nicht in das dämonische Bild, das sie sich von den Ramirez’ ausgemalt hatten, und deshalb musste etwas an mir falsch sein. Die meisten Kinder wollten schlichtweg nichts mit mir zu tun haben, und wenn ich mich doch einmal mit einem Mädchen anfreundete, verboten deren Eltern früher oder später den Kontakt zu mir.

Ich verstand ihr Verhalten, aber ich akzeptierte es nicht. Daher kämpfte ich eisern weiter für einen besseren Ruf, auch wenn ich wenig Erfolg verzeichnete. Ich wollte doch nur ich sein – unabhängig von meinem Familiennamen.

Ich war sechzehn, da starb mein Vater. Bis heute weiß ich nicht genau, wie es passiert ist, nur, dass er zu diesem Zeitpunkt im Gefängnis war und es eine Art Racheaktion gewesen sein musste. Jedenfalls gestattete man uns zur Beerdigung keinen offenen Sarg, was genug über seinen Tod aussagte, wie ich finde. Ich war wütend und traurig über den Mord an meinem Vater, den ich trotz allem geliebt und respektiert hatte, aber ich muss gestehen, dass es mich nicht überraschte. Und das wiederum schockierte mich weitaus mehr als sein Tod selbst.

An Carlos Ramirez’ Grab beschloss ich, die Welt der Bribones niemals zu betreten. Ich schwor mir, meinen Vater als den Mann im Gedächtnis zu behalten, der mir an meinem Kinderbett vorgesungen, der mir Spielzeug von seinen Ausfahrten mitgebracht hatte und der mit mir zur Sonntagsmesse gegangen war. Den anderen Mann, den ich aus den Erzählungen fremder Leute kannte, den wollte ich vergessen.

Doch während ich am Todestag meines Vaters dessen Welt abschwor, entschied sich Nando dafür, in seine Fußstapfen zu treten.

Ich liebte meinen großen Bruder mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt, auch wenn ich seine Entscheidungen selten verstand. Nachdem er jedoch zum President des Accaciafield-Chapters gewählt worden war, begann ich, einen Teil von ihm zu verabscheuen. Ich fühlte mich verraten, allein gelassen mit meinem Zorn auf dieses System, und ich war mir sicher, dass sich die Geschichte unseres Vaters mit Nando wiederholen würde. Allerdings liebte ich ihn zu sehr, um ihm den Rücken zu kehren, daher ignorierte ich lediglich den Teil von ihm, der mir Angst machte. Ich sah Nando als meinen großen Bruder an, der für mich da war, mich beschützte und dem ich meine Sorgen anvertrauen konnte. Den Kerl mit der Kutte und der Harley kannte ich nicht, und ich wollte ihn auch nicht kennenlernen.

Von da an ging ich nicht mehr ins Clubhaus, mied alle Bribon-Partys und brach die Kontakte zu den Membern und ihren Familienangehörigen ab. Doch obwohl ich mich derart zurückzog und mein Vater fort war, konnte ich noch immer nicht Isabella sein. Ich war jetzt Fernando Ramirez’ Schwester. ›Das Böse‹ war lediglich eine Generation nach vorn gerückt und ich war ein Teil davon, egal, wie sehr ich mich dagegen wehrte.

Als wäre es nicht schon schwer genug, ein Teenager zu sein: Nando, der Club und wohl hauptsächlich meine eigenen Ängste machten mir diese Jahre zu einer einsamen Hölle. Nach wie vor fand ich keine Freunde außerhalb des Clubs, und einen Jungen kennenzulernen war schier unmöglich. Nicht nur, weil sich die anständigen Kerle von mir fernhielten, Nando hatte auch ein Auge auf jeden, der nur in meine Richtung schielte.

Ein einziges Mal hatte ich einen festen Freund: Nate. Wir waren achtzehn und so verliebt, wie zwei Teenager nur sein konnten. Er war ein lieber Kerl, hochintelligent, und wenn er lächelte, zogen mehrere Schwärme Schmetterlinge durch meinen Bauch. Nate war bei der Schülerzeitung, er war einer der Besten unseres Jahrgangs und kam aus einer angesehenen Familie. Er wollte Journalist werden und ich war sicher, dass er das Zeug dazu hatte.

Wir hielten unsere Beziehung geheim, denn Nates Eltern hätten mich niemals akzeptiert. Außerdem fürchtete sich mein Freund gehörig vor meinem Bruder.

So gerne hätte ich aller Welt erzählt, dass Nate mein Date für den Abschlussball war. Ich hätte mir gewünscht, dass er mich zu Hause abholte, mir ein Anstecksträußchen überreichte und meine Mutter ein Foto von uns beiden machte, sodass ich mich später immer daran erinnern konnte. Es waren Kleinigkeiten, die für andere völlig normal waren, für mich jedoch unerreichbar schienen. Stattdessen belog ich Nando, erzählte ihm, dass ich mit meiner Freundin Shelly zum Ball ginge und auch bei ihr übernachten würde. Shelly, die nicht wirklich meine Freundin war, hatte ich mit ein paar Dollar bestechen können, für mich zu lügen, während ich ein Hotelzimmer und Champagner für Nate und mich organisierte. Wenn ich schon nicht mein Traumdate haben konnte, wollte ich wenigstens eine traumhafte erste Nacht mit meinem Freund verbringen.

Ich überraschte Nate mit meinem Vorhaben, denn ich wusste, er würde nicht zustimmen, wenn er den Plan kannte. Er hatte zu große Angst vor Konsequenzen. Also täuschte ich Bauchschmerzen vor, um ihn vom Ball zu lotsen, und bat ihn erst im Auto, zum Hotel zu fahren. Er ließ sich schließlich überreden, und wir verbrachten eine wunderschöne Zeit in diesem Hotelzimmer – bis ich alles vermasselte.

Wir lagen in einem großen, weichen Bett, die Laken zerwühlt, die Wangen erhitzt, und wir hielten uns aneinander fest, als könnten wir ohne den anderen nicht atmen. Nates Berührungen hallten noch in mir nach und seine leidenschaftlichen Küsse brannten auf meinen Lippen. Was wir eben miteinander geteilt hatten, war perfekt gewesen und ich war mir sicher, nie im Leben so glücklich gewesen zu sein. Ich wollte, dass dieser Moment nicht endete.

Nate strich eine Haarsträhne über meine Schulter und sah mich dabei so liebevoll an, dass mein gesamter Körper unter seinem Blick erschauerte. »Ti amo«, raunte er und brachte mich damit zum Kichern.

»Das ist italienisch, querido.«

Er grinste. »Hast du verstanden, was ich gesagt habe?« Als ich nickte, küsste er mich sanft auf die Lippen. »Dann spielt die Sprache keine Rolle.«

Ich ließ mich in seine Umarmung sinken und holte Luft, um ihm ebenfalls meine Liebe zu versichern, da hörte ich plötzlich ein Geräusch. Und erstarrte. Es war das Röhren eines Motorrads, das im Bruchteil einer Sekunde eine Kette von Gedanken in Bewegung setzte, die mir letztlich den Fehler in meinem gut durchdachten Plan aufzeigte.

Und dieser Fehler hieß Miguel.

»Mierda«, stieß ich aus und legte eine Hand auf mein wild klopfendes Herz.

Ich hatte Miguel vergessen. Den kleinen Bruder eines Members der Bribones. Wir waren im gleichen Jahrgang und er deshalb ebenfalls auf dem Ball. Sicherlich hatte er längst erfahren, dass ich mit einem Kerl verschwunden war und seinen Bruder verständigt. Oder schlimmer noch: Er hatte meinen Bruder verständigt!

Ich sah es schon vor meinem inneren Auge, wie Nando mit seinen Männern hier hereinstürmte, den armen Nate am Kragen packte und ... Welcher Kragen? Oh mein Gott, er wird ihn umbringen, ging mir durch den Kopf.

Wie von der Tarantel gestochen, sprang ich auf. Ich sammelte Nates Kleider vom Boden auf und warf sie ihm zu, ehe ich meine Unterwäsche anzog.

»Was ... was ist denn los? Was machst du da?«

Ich sah Nate nicht an, sondern wedelte nur mit einer Hand in seine Richtung. »Zieh dich an. Vamos!«

Hastig stieg ich in mein Kleid, dann eilte ich ins Bad und versuchte, meine Haare und das Make-up wiederherzurichten. Im Spiegel sah ich, dass Nate kreidebleich geworden war. Wie eingefroren stand er hinter mir und beobachtete mich. Da wurde mir erst klar, wie irrsinnig ich mich verhielt.

Ich atmete durch, zwang mich zur Ruhe und lauschte. Es war nichts mehr zu hören. Also ging ich langsam zum Fenster und schaute auf den Parkplatz hinunter, wo ich eine einzelne Rennmaschine sehen konnte. Keine Harleys, keine Outlaws, nur ein Freebiker. Ein Stein fiel mir vom Herzen.

Ich presste die Luft mit einem Schwall aus meinen Lungen, tappte rückwärts zum Bett und setzte mich. »Es tut mir leid, ich habe völlig überreagiert.« Mit einem entschuldigenden Lächeln schaute ich zu ihm auf. »Ich wollte nicht ... Sollen wir uns wieder hinlegen?«

Nate schüttelte mit großen Augen den Kopf. »Was machen wir hier nur, Isa?«

»Was meinst du?«

»Wie soll das jemals funktionieren?« Er verzog gequält das Gesicht. »Willst du für immer so leben? Wie lange können wir uns verstecken? Und sollen wir jedes Mal fast einen Herzinfarkt kriegen, wenn wir ein Motorrad hören?«

Ich machte den Mund auf, wusste allerdings nicht, was ich dazu sagen sollte. Mein Herz wurde schwer, denn ich ahnte, was gleich folgen würde.

»Ich kann das nicht.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Du weißt, ich liebe dich, aber das hier ... Wir haben keine Zukunft.«

»Wie kannst du das sagen?« Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Hast du vor, deinem Bruder jemals von mir zu erzählen?«

Ich zielte mit dem Finger auf ihn. »Du wolltest das doch nicht!«

»Und dir hat das wunderbar in den Kram gepasst oder irre ich mich?«

Nein, das tat er nicht. Ich wusste, dass er recht hatte, dios mio, ich hatte die ganze Zeit über gewusst, dass dieses Gespräch früher oder später kommen würde. Dennoch traf es mich unerwartet, tief und schmerzhaft. Die hübsche kleine Blase, in die ich unsere Liebe eingeschlossen hatte, war zerplatzt.

Er setzte sich neben mich und nahm meine Hand in seine. »Hör mal, ich gehe bald aufs College, ich werde Journalist und du ...«

»Ich bleibe hier und werde immer eine Ramirez sein.«

Er sagte nichts dazu, aber ich konnte ihm ansehen, dass er mir zustimmte. Wenn ich nicht mit meiner Familie brach, würde es jedes Mal auf diese Art und Weise für mich ablaufen.

»Ich kann nicht einfach gehen«, verteidigte ich mich, obwohl ich das nicht musste. »Ich habe eine kranke Mutter und einen kleinen Neffen, um die ich mich kümmern muss. Seine Familie lässt man nicht im Stich. Mein Bruder ist nicht frei von Sünde, aber er ist mein Bruder, und ich liebe ihn.«

Er lächelte mich verständnisvoll und zugleich traurig an. »Ich hoffe, du findest irgendwann dein Glück, Isa.«

Ich streichelte durch sein blondes Haar, prägte mir die Stellen seiner Wangen ein, in denen sich Grübchen formten, wenn er lächelte, und die Form seiner bernsteinfarbenen Augen. Eine Sekunde lang dachte ich darüber nach, wie es wäre, meine Familie zu verlassen und mit ihm zu gehen. Aber so sehr ich mich danach sehnte, nur Isabella zu sein, ich brauchte es auch, eine Tochter, eine Schwester, eine Tante zu sein. Ich konnte meine Familie niemals verlassen, das brachte ich nicht über mich.

Nate war meine erste große Liebe. Und ich fürchtete in diesem Moment, dass er meine einzige bleiben würden.

Wir hielten uns ein letztes Mal in den Armen, ganz fest. Danach fuhr er mich zur Bushaltestelle und ich nahm den 112er nach Hause. Während der gesamten Fahrt drängte ich meine Tränen zurück, wie auch bei der Befragung durch Nando. Ich lächelte, erzählte ihm, dass ich einen schönen Abend gehabt hätte, Shelly aber leider Bauchschmerzen bekommen hätte und allein nach Hause gegangen war.

Als ich endlich im Bett lag, weinte ich lautlos die ganze Nacht lang. Mir war an diesem Abend klar geworden, dass ich mich längst entschieden hatte. Dafür, kein eigenes Leben zu haben und nicht Isabella Ramirez zu sein. Ich war Carlos Ramirez’ Tochter und Fernando Ramirez’ Schwester. Und das würde ich immer bleiben.

Chapter One – Can’t Stop Thinking About You

Isa legte das Geld auf den Tresen und nahm die gereinigte Wäsche entgegen. »Danke«, ächzte sie und ließ sich von dem Angestellten dabei helfen, die Kleidersäcke über ihre Schulter zu hieven. Sie drehte sich um, ging auf die Tür zu und überlegte, wo sie als Nächstes hinmusste.

Es war Dienstag, und dienstags machte Isa Erledigungen für ältere Mitmenschen in ihrer Wohngegend, die sich nicht mehr vollständig allein versorgen konnten. Eine kleine Gruppe von Frauen hatte sich dafür zusammengetan, sah nach dem Rechten, ging einkaufen oder half bei behördlichen Formularen. Es war eine gute Sache, die Isa hier initiiert hatte.

Sie half gern, das war schon immer so, und sie sah es sogar als ihre Pflicht an, wenn sie ein guter Mensch sein wollte.

»Warten Sie, ich mache Ihnen auf.« Ein älterer Herr mit Schiebermütze eilte zur Tür und öffnete sie ihr lächelnd.

»Danke.« Isa nickte ihm zu und trat hinaus in die trockene Hitze. Sie machte gerade einen Schritt nach vorn, da fegte ein heißer Windstoß an ihr vorbei und brachte einen unwiderstehlich herben Duft mit sich. Unwillkürlich blieb sie stehen, blickte auf und sah direkt in das Gesicht eines Mannes.

Er stand einfach nur da, mitten auf dem Bürgersteig, die Hände in die Hosentaschen geschoben, die wiesengrünen Augen erwartungsvoll auf sie gerichtet und ein Lächeln auf den Lippen, das ihr für einen Augenblick den Atem raubte. Hatte er hier auf sie gewartet?

Als sich seine Mundwinkel noch weiter hoben, bemerkte Isa erst, dass sie ihn seit einer gefühlten Ewigkeit anstarrte. Sie schaute nach links und rechts, um zu prüfen, ob ihn jemand entdeckt hatte, aber sie waren vollkommen allein. Konnte das sein, zur sonst so geschäftigen Mittagszeit? Oder kam es ihr nur so vor, als wäre die Straße wie leergefegt? So wie sie glaubte, die Welt hätte plötzlich aufgehört, sich zu drehen ...

»Was machst du hier?«, fragte sie in die unnatürliche Stille.

Patrick zuckte mit den Schultern und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Wie? Du weißt nicht, was du hier machst?« Wieso kam ihr dieses Gespräch so vertraut vor?

»So ungefähr.« Er kam auf sie zu und hielt erst an, als er ihr so nah war, dass sie weit zu ihm aufsehen musste. »Schätze, ich bin deinetwegen hier.«

Isa schluckte. Sie war noch mit dem Gedanken beschäftigt, dass sie nur die Hand ausstrecken musste, um ihn zu berühren, da drangen seine Worte endlich in ihr Bewusstsein ein. Ihr Herz beschleunigte seinen Takt.

»Meinetwegen?«, hauchte sie. »Wieso?«

Er griff nach den Kleidersäcken, die über ihrer Schulter hingen, und warf sie achtlos zu Boden. Isa konnte den Blick nicht von seinen Armen abwenden, den starken Konturen und den feinen schwarzen Linien, die seine Haut zierten. Wie gerne würde sie diese mit ihren Fingern nachzeichnen.

»Ich wollte dich wiedersehen, Isabella.« Seine Stimme streichelte ihren Namen geradezu. Auf einmal schlang er einen Arm um ihre Taille und zog sie mit einem Ruck an sich.

Isa legte die Hände auf seine Schultern, ihre Fingerspitzen kribbelten, und ihr Herz schlug so heftig, dass sie dessen Nachhall im gesamten Körper spüren konnte.

»Ich kann nicht aufhören, an dich zu denken«, flüsterte er und beugte sich zu ihr hinab.

Isa spürte seinen Atem auf ihrer Haut, seine Lippen waren den ihren so nah, dass sie ihre Wärme bereits erahnen konnte. Sie fuhr mit den Händen zu seinem Nacken, verschränkte ihre Finger dahinter, streckte sich ihm entgegen, schloss die Augen ...

»Tante Isa!«

Nein, nein, nein. Isa presste die Augen zusammen und flehte gedanklich um ein paar weitere Minuten.

»Tante Isa!«, erklang die schrille Mädchenstimme nun direkt an ihrem Ohr. Das Bett fing an zu wackeln, und zwei hohe Kinderstimmchen lachten und riefen immer wieder auf Spanisch: »Aufstehen! Schlafmütze!«

Isa seufzte. Die Zeit hier in ihrem Bett, zwischen schlafen und wachen, gehörte nur ihr allein. Hier durfte sie sich alles erträumen, wonach sie sich sehnte, sei es auch noch so kitschig. In letzter Zeit handelten ihre Fantasien sehr häufig von einem gewissen Iren, wie sie zugeben musste.

Ja, er war ein Advocate, und ja, sie sollte nicht auf diese Weise für ihn empfinden, aber was sie hier machte, war nichts Verwerfliches. Es war in etwa vergleichbar mit Schulmädchenträumereien von schnuckeligen Boyband-Sängern. Völlig harmlos und unschuldig. Der Traum würde sich niemals erfüllen. Und die Gefühle irgendwann vergehen.

Zugegeben, Isa kam sich ziemlich albern vor. Sie kannte den Mann ja nicht einmal, hatte ihn gerade drei Mal gesehen und nur wenige Worte mit ihm gewechselt. Diese kurzzeitige Verknalltheit rührte sicherlich daher, dass er anders war als die Kerle, die sie kannte.

Sie fühlte ihre geistige Begegnung mit Patrick ein letztes Mal nach, genoss den wohligen Schauer, den sie ihr bescherte, dann schlug sie die Augen auf.

»Was ist mit euch, ihr Süßen?«, fragte sie auf Spanisch, rieb sich mit einer Hand übers Gesicht und schwang die Beine aus dem Bett. Morgens war es ihr manchmal zu anstrengend, Englisch mit den Kindern zu sprechen. »Hat euch Oma noch kein Frühstück gemacht?«

»Abuela schläft.« Mit einem feierlichen Nicken drückte sich Lucia ihren Plüschhasen an die Brust.

»Na, wunderbar«, murmelte Isa.

Ihre Mutter war diese Woche eigentlich mit Frühstückmachen dran, damit Isa Überstunden abbauen und demnach ausschlafen und später ins Büro gehen konnte. Aber wie es aussah, hatte Abuela mal wieder ›Bettzeit‹, wie sie es vor den Kindern nannten.

Penelope Ramirez litt seit dem Mord an ihrem Mann an Depressionen. Sie war früher bereits labil gewesen, doch nach Carlos’ Tod fehlte ihr ab und an die Motivation fürs Aufstehen. Und manchmal fürs Leben allgemein ...

Es war besser geworden, nachdem Nando die Familie unter ein Dach geholt und auch seiner Mutter und seiner Schwester Verpflichtungen im Haushalt zugeteilt hatte. Penelope schien an manchen Tagen sogar glücklich, wenn sie sich um ihre Enkel kümmerte und eine Aufgabe hatte. Dann und wann schmetterte die Trauer sie jedoch erneut nieder und fesselte sie ans Bett. Heute schien wieder eine dieser Phasen zu beginnen, was bedeutete, dass der Haushalt Isa zufiel. Denn Carmen, Nandos Ehefrau, war vor einigen Tagen zum Lake Tahoe gefahren, um ihre eigene kranke Mutter zu pflegen. Jene hatte sich eine schwere Grippe eingefangen.

Gähnend erhob sich Isa, wickelte sich in ihren Morgenmantel und schlüpfte in ihre Pantoffeln. So sehr sie ihre Familie und das turbulente Leben in diesem Haus liebte, manchmal hätte sie gern mehr Zeit für sich. Ausschlafen, ihren Gedanken nachhängen, ein gutes Buch lesen und sich nicht das Essen mit einem fünfjährigen Vielfraß teilen müssen ...

»Dann lasst uns sehen, was der Kühlschrank hergibt«, sagte sie, scheuchte die beiden viel zu wachen Kinder aus dem Raum und ging in den Flur. Im Vorbeigehen schloss sie die angelehnte Zimmertür ihrer Mutter, sie würde später nach ihr sehen.

In der Küche angekommen, toastete sie Brot, bereitete Rührei zu und schnitt etwas Rohkost auf. Als das Essen fertig war, setzte sie sich mit Lucia und Manuel an den Tisch, aß und lauschte der kindlichen Unterhaltung. Sie liebte die unschuldigen Diskussionen der beiden, aber heute konnte sie ihnen nicht recht folgen. Ihre Gedanken hingen noch an ihren Träumereien von Patrick.

Wenn sie sich diesen großen, breitschultrigen Mann vorstellte, kam ihr alles so lebhaft vor, als stünde er direkt neben ihr. Sie konnte seinen Duft förmlich auf der Zunge schmecken, seine Berührungen auf ihrer Haut spüren. Und ihr Herz reagierte beim Gedanken an ihn prompt, indem es schneller schlug.

Schnaubend schüttelte sie den Kopf, um wieder zu sich zu kommen. »Seid ihr fertig?«

Da die Kinder bejahten, spulte Isa das alltägliche Programm weiter ab: Sie räumte den Tisch ab, zog die Kinder an, brachte Lucia zur Vorschule und Manuel zur Elementary. Danach fuhr sie wieder nach Hause und kochte Tee. Mit einer Tasse dampfendem Kamillentee marschierte sie nach oben und klopfte an die Tür ihrer Mutter. Da sie nicht antwortete, ging Isa einfach ins Zimmer.

Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, dann sah sie ihre Mutter jedoch in Embryonalstellung auf dem Bett liegen. Ihr schwarzes Haar verdeckte den Großteil ihres Gesichts, und sie zitterte am ganzen Körper.

»Mamá?« Isa setzte sich auf die Bettkante und stellte die Tasse auf dem Nachttisch ab. »Ich habe dir Tee gemacht.« Sie griff nach der Bettdecke, zog sie ihrer Mutter bis zum Kinn und strich die Haare aus ihrem Gesicht. »Hast du deine Tabletten nicht genommen?«

Penelope schüttelte langsam den Kopf und Isa unterdrückte ein Seufzen. Vermutlich waren ihre Medikamente ausgegangen und sie wollte wieder mal niemandem zur Last fallen, indem sie darum bat, für sie zur Apotheke zu gehen.

»Soll ich dir den Fernseher herbringen?«

Erneut schüttelte sie den Kopf, doch dieses Mal schluchzte sie dabei.

»Soll ich Doktor Vargas anrufen?«

»Ich brauche nur ein wenig Ruhe, cariño«, flüsterte sie.

Isa streichelte ihr liebevoll über den Rücken. »Möchtest du reden?«

Wie so oft riss diese Frage eine Mauer in Penelope ein. Sie fing an zu weinen, schmiegte sich an ihre Tochter und legte den Kopf auf ihren Schoß. Isa streichelte ihr übers Haar und hörte zu, während ihre Mutter von dem Schmerz erzählte, den sie so tief in sich fühlte.

*

»Guten Morgen!« Rita saß an der Empfangstheke des Immobilienbüros und strahlte Isa an. Diese Frau war einfach ein Sonnenschein. Das lag nicht nur an ihrem breiten Lächeln, die Mittvierzigerin trug auch meist gelbe Kleidung zu ihrem strohblonden Haar und ihrer blassen Haut. In dem sterilen Empfangsraum, der mit viel Glas und weißen Möbeln ausgestattet war, leuchtete sie damit förmlich.

»Guten Morgen«, erwiderte Isa und schloss die Tür hinter sich.

»Wolltest du heute nicht später kommen?«

»Ay, no, du weißt doch, dass ich ohne meine Arbeit hier nicht sein kann.« Sie verdrehte die Augen, um ihrer Kollegin zu bedeuteten, dass ihre Antwort sarkastisch gemeint war. Dann schlenderte sie an ihr vorbei in den Flur.

»Trifft sich gut, es sind ein paar neue Lagerhallen reingekommen«, rief Rita ihr nach. »Wenn du nun schon da bist ...«

»Bueno, schaue ich mir an.« Isa betrat ihr Büro, warf seufzend die Tasche auf ihren Schreibtisch und setzte sich auf den Drehstuhl aus weißem Kunstleder. Alles in diesem Immobilienbüro musste aus Glas oder weiß sein, darauf bestand ihr Boss Michael. Wieso er das so haben wollte, war Isa allerdings schleierhaft.

Sie ließ den Blick über die Aktenberge auf ihrem Tisch wandern und wäre am liebsten wieder aufgestanden und gegangen. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie verwalteten hier ganz Nevada. Wie konnte ein kleines Büro wie ihres in einem winzigen Gebiet wie Red Sand Valley so viele Immobilien zu betreuen haben?

Eigentlich mochte Isa ihren Job, aber in letzter Zeit war sie furchtbar unmotiviert und abgelenkt. Es musste an der seltsamen inneren Unruhe liegen, die sie immer wieder überkam. Sie hatte das nun schon seit ... seit dieser Sache mit Emma.

Es schien vor zwei Wochen nichts weiter Tragisches passiert zu sein – zumindest waren alle wohlauf, Nando wirkte weder verärgert noch nervös, und Emma hatte ihr Glück mit Scar gefunden. Vergangene Woche erst hatten sich die Freundinnen im Café getroffen, um miteinander zu tratschen. Emma sah umwerfend aus und strahlte vor Zufriedenheit. Also wieso hatte Isa nach wie vor ein komisches Gefühl, wenn sie an die Sache zurückdachte?

Sie kramte ihr Handy aus der Tasche, legte es vor sich auf den Tisch und stellte die Handtasche in den Rollcontainer hinter sich. Das war eine neue Angewohnheit von ihr, die sie selbst nicht ganz nachvollziehen konnte. Sie wusste nur: Wenn sie ihr Telefon nicht im Blick hatte, wurde sie noch nervöser.

Sie redete sich gerne ein, dass sie keinen Anruf von Nando oder Emma verpassen wollte, sollte etwas geschehen. Denn die Wahrheit war so töricht wie ihre frühmorgendlichen Träumereien: Patrick besaß ihre Telefonnummer. Er war es gewesen, der sie nach dieser Sache vor zwei Wochen angerufen und ihr versichert hatte, dass alles gut ausgegangen war und sie sich keine Sorgen mehr zu machen brauchte. Wohl gemerkt, er war der Einzige, der daran gedacht hatte, sie zu verständigen. Ob er sie anrufen würde, wenn wieder etwas vorfiel? Oder vielleicht sogar ... einfach so?

Isa schüttelte den Kopf und schmunzelte über sich selbst. Sie erwartete nicht wirklich, dass er anrief. Wieso sollte er? Und es war ihr auch recht so. Es stimmte sie irrationalerweise traurig, dass er anrufen könnte, es aber nicht tat, doch es war ihr definitiv lieber so. Ehrlich! Obwohl sie sich gern an seinen frechen irischen Akzent erinnerte und wie er ihren Namen aussprach.

Herr im Himmel, dieser Mann ging ihr einfach nicht aus dem Sinn. Es war ein Glück, dass er nicht anrief! So musste sie ihr dummes Herz wenigstens nicht davon überzeugen, dass es wenig ratsam war, etwas mit einem Outlaw anzufangen – der zu allem Überfluss ein Advocate war. Allein die Gedanken an ihn fühlten sich wie ein Verrat an Nando an.

»Hallo? Erde an Isa.«

Isa zuckte zusammen und ließ ihr Handy fallen. Als es mit einem lauten Plumpsen auf dem Tisch landete, fragte sie sich, wann sie es denn bitte in die Hand genommen hatte. Erschrocken und irritiert gleichzeitig blickte sie zu Prudence auf, die im Türrahmen stand.

»Guten Morgen.« Isa spürte plötzlich eine sengende Hitze in ihren Wangen. Sie hatte das unangenehme Gefühl, bei etwas Verbotenem erwischt worden zu sein. »Was gibt es?«

Pru legte den Kopf schief und ein irritiertes Grinsen formte sich auf ihren Lippen. Sie kam zum Schreibtisch und stellte eine der beiden Tassen, die sie in den Händen hielt, vor Isa ab. »Hab dir Tee mitgebracht. Pfefferminz.«

»Oh, danke.« Isa wich dem prüfenden Blick ihres Gegenübers aus, wischte ein paar wirre, schwarze Strähnen aus ihrem Gesicht und griff nach der Teetasse. »Wieso bist du an deinem freien Tag hier?«

Pru hob eine Braue. »Ich habe freitags frei. Heute ist Donnerstag.«

»Ay, si ...« Isa starrte auf ihr Getränk und überlegte, ob sie vorher schon jemals die Wochentage verwechselt hatte.

»Was ist los mit dir?« Pru stellte ihre Tasse ab, nahm sich den Stuhl in der Ecke und setzte sich auf die andere Seite des Schreibtischs.

»Gar nichts«, log Isa und versuchte, dem Blick ihrer Kollegin und besten Freundin standzuhalten. Doch deren große, braune, wissende Augen schienen sie zu durchschauen. »Ich weiß auch nicht«, gab sie schließlich zu.