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Marie Hock-Westhoff

Die

Tai-Chi

Methode

für Haltungsgesundheit
und einen schmerzfreien Rücken

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Wichtiger Hinweis: Die in diesem Buch vorgestellten Informationen und Methoden sollen und können ärztlichen Rat und medizinische Behandlung nicht ersetzen. Die Inhalte des Buches wurden von der Autorin mit größter Sorgfalt erarbeitet und nach bestem Wissen und Gewissen vorgestellt. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden.

Die meditativen Künste können Risiken in sich bergen. Personen mit medizinischen, mentalen oder psychischen Problemen sollten gegebenenfalls Ihren Arzt, Heilpraktiker oder Psychotherapeuten zurate ziehen, bevor sie diese Übungen ausführen.

Ebenso ist eine Haftung der Verfasserin bzw. des Verlages und ihrer Beauftragten für Personen-, Sach- oder Vermögensschäden ausgeschlossen. Alle in diesem Buch vorgestellten Informationen sind für Interessierte zur Weiterbildung gedacht.

2. Auflage 2017

© 2013 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf

Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und Wiederherstellung, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Covergestaltung: Markus Kuhn, KplusH, Agentur für Kommunikation und Design, CH-Amden unter Verwendung eines Fotoausschnitts von gty.im/by Kristen Johansen und eines Autorenportraits von Foto Alfen

Grafiken: Jennifer Jünemann, bitdifferent.de

Fotos im Innenteil: Julien Westhoff, Michael Hein: S. 97 – 100 (Eva Hein)

Lektorat: Silke Kleemann

eISBN 978-3-86410-170-0

www.windpferd.de

Inhalt

Danksagung

Vorwort

Kapitel 1 · Ganzheitliche Haltungsgesundheit – Hilfe zur Selbsthilfe

Achtsamkeit für unsere Haltung

Ganzheitliche Bewusstwerdung von Bewegungsabläufen

Die Kraft unserer Gedanken

Auf die Signale des Körpers hören

Vorbeugend in sich lauschen

Kapitel 2 · Wie alles begann: Haltungskorrekturen im Tai Chi Chuan bei typischen Fehlhaltungen

Die Grundhaltung, der Reiterstand

Wahrnehmung und Achtsamkeit

Umgang mit Fehlhaltungen

Der Schlüssel:
der individuelle Bewegungsbeginn des Sinkens

Kapitel 3 · Tai Chi Chuan für ganzheitliche Haltungsgesundheit

Die ganzheitliche Wirkungsweise der Tai Chi Chuan-Praxis

Die zehn grundlegenden Prinzipien des Tai Chi Chuan nach Yang Cheng Fu

Kleiner Einblick in die chinesische Energielehre

Beispiele physisch-energetischer Aspekte von Bewegungen

Kapitel 4 · Gesunde Körperstatik und die Problematik der Fehlhaltungen

Anatomie unserer Wirbelsäule

Die Bedeutung des Schwerpunkts für die Körperstatik

Die Gewichtsverteilung der gesunden Körperstatik vom Kopf bis zu den Füßen

Die Zuordnung der Nerven zu den Organen

Behandlungsmöglichkeiten von Haltungsschäden

Vom aufrechten Sitzen, Gehen und Stehen – ein kleiner geschichtlicher Exkurs

Kapitel 5 · Typische Fehlhaltungen und ihre Korrekturmöglichkeiten

Die „Schultern zurück, Brust raus“-Haltung

Die typische Sitzhaltung am Computer

Fehlhaltung durch Übergewicht

Hallux Valgus – eine Folge von Fehlhaltung

Die Turner- oder Balletthaltung (Flügelschultern)

Skoliose

Generelle Veränderungsmöglichkeiten an der Wirbelsäule

Kapitel 6 · Äußere Haltung als Spiegel der inneren Haltung

Gefühle und Körper sind unzertrennlich

Warum haben wir eigentlich Gefühle und was passiert im Körper beim Fühlen?

Bewusstmachen von Gefühlen

Gefühle aus Sicht der TCM

Körpersprache und Gefühlsmomente

Beispiele für emotional bedingte Schutz- und Schonhaltungen

Praxisteil

Kapitel 7 · Haltungsanalyse und Haltungskorrektur – nach Marie Hock-Westhoff –

Anleitung zum Üben im Alltag

Das Stehen – verschiedene Varianten

Kapitel 8 · Die Übungen zum Ausgleich von Fehlhaltungen: Haltungsgesundheit – „Die Tai Chi-Methode nach Marie Hock-Westhoff“

Theorieteil

Kapitel 9 · Integration optimierter Bewegungsdetails in komplexen Bewegungsabläufen am Beispiel der Tai Chi Chuan-Bewegungen

Das Herausarbeiten von Fehlhaltungen während der Tai Chi Chuan-Praxis

Stilunabhängige Körperausrichtung im Tai Chi Chuan

Schlusswort

Die Autorin

Empfehlungen zum Weiterlesen

Danksagung

Von Herzen danken möchte ich meinem Mann Herbert und meinen beiden Söhnen, die immer an mich geglaubt und mich in all meinen Belangen tatkräftig und wohlwollend unterstützt haben.

Meinem Sohn Julien Westhoff für die erstklassigen Fotos im Innenteil des Buches sowie meinem Sohn Dominic Westhoff für seine Beratung, Begleitung und Korrekturen während der Entstehungsphase der Texte.

Meiner Freundin und Tai Chi Chuan-Schülerin Eva Hein, deren eindrucksvolle schauspielerische Leistung auf den von Michael Hein gemachten Fotos in Kapitel 6 zu sehen sind.

Meinen Freunden und Kollegen, insbesondere meiner Freundin Isabella Groß, sowie all meinen Schülern bei Art of Tai Chi Chuan, die mich immer wieder motiviert haben, dieses Buch zu schreiben.

Meinem Lehrer Benny Arnel Besa auf den Philippinen, der mich viele Jahre in Tai Chi Chuan und Qi Gong mit nicht enden wollender Geduld unterrichtet hat. Ohne ihn hätte ich nicht den Einstieg in tiefere Erkenntnisse der Körperarbeit erlangt.

Meiner Lehrerin Grandmaster Aiping Cheng in den USA, die mich intensiv auf die internationale Meisterschaft in Hong Kong 2012 vorbereitet hat und von der ich immer noch sehr viel lernen darf.

Meiner Verlegerin Monika Jünemann, meiner Lektorin Silke Kleemann und dem ganzen Verlagsteam für die fruchtbare und einfühlsame Zusammenarbeit und die großartige Chance, durch die Veröffentlichung dieses Buches Inhalte und Erkenntnisse meiner Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen.

Ich danke euch allen von Herzen für eure Geduld, eure Zeit und eure verlässliche Unterstützung.

Marie Hock-Westhoff

Vorwort

Mit diesem Buch möchte ich Ihnen die Essenz meiner nun fast 20-jährigen täglichen Tai Chi Chuan- und Qi Gong-Praxis vorstellen. Mein Wunsch ist, diese Essenz einem weiteren Kreis als nur denen, die diese Disziplinen bereits ausüben, zugänglich zu machen, denn sie beinhalten eine alltagstaugliche Hilfestellung auf dem Weg zu einer gesünderen Haltung – körperlich wie auch seelisch-emotional.

Das Tai Chi Chuan als Jahrhunderte alte Bewegungskunst stellt ein umfassendes Gesamtkonzept zur Gesunderhaltung des Menschen dar, das sowohl körperlich wie mental und emotional tiefgreifende positive Wirkung auf den Praktizierenden hat. Die verschiedenen Bereiche sind untrennbar miteinander verbunden, und der Körper ist ein guter und wirksamer Zugang für sanften wie nachhaltigen Wandel. Das macht Körpertherapien oder Bewegungskünste wie insbesondere Tai Chi Chuan über den physischen Effekt hinaus zu einer idealen Ergänzung auch für die Behandlung psychologischer Themen. Der Körper „macht“ sozusagen von allein, und die angeregten Selbstheilungskräfte des Systems wirken sich förderlich auf das Gesamtbefinden aus. In China wird Tai Chi Chuan und Qi Gong traditionell nicht psychologisch verstanden, die Patienten bekommen aber von ihren TCM-Ärzten ihrer Konstitution entsprechende Übungen begleitend zur Medizin verordnet: Das Wissen um die ganzheitlichen Heilweisen ist implizit.

Ein wesentlicher Aspekt des Tai Chi Chuan, der leider häufig viel zu wenig Beachtung findet, ist die Körperstatik. Dabei hat sie wesentliche Auswirkungen auf die gesamte Lebenshaltung! Ohne die richtige Haltung nützen uns die ausgeführten Bewegungen nicht viel. So wundern sich viele Tai Chi Chuan-Praktizierende nach Jahren, dass sich ihre gesundheitlichen Probleme gleich welcher Art nicht deutlich verbessern, obwohl sie sich doch gerade das von Tai Chi Chuan erhofft hatten.

Der Schlüssel dazu ist die fein justierte, individuelle Haltungskorrektur.

Die Erkenntnisse meiner jahrelangen intensiven Studien möchte ich nun gerne mit Ihnen teilen. Sie werden erfahren, wie unsere Körperhaltung unsere Emotionen beeinflusst, wie unsere Körperausrichtung unser Denken verändert, was die Haltung mit den Organen zu tun hat und auch, wie Sie dauerhaft schmerzhafte Rückenprobleme sowie Muskelverspannungen lindern und vielleicht sogar beseitigen können.

Um die positive Wirkung der hier vorgestellten Haltungskorrekturen zu erreichen, müssen Sie aber nicht erst Tai Chi Chuan erlernen. Mit einfachen Übungen, die in Bild und Wort Schritt für Schritt erklärt werden, möchte ich Ihnen ein Werkzeug an die Hand geben, mit dem Sie selbst etwas für sich tun können. Lernen Sie wieder Ihren Körper zu spüren, Ihre Haltung im Gehen, Stehen und Sitzen zu verändern, und die Wirkung wird sich sehr schnell einstellen. Gerne möchte ich Ihnen dabei mit meinem Buch behilflich sein und Ihnen Mut machen, es einfach einmal zu probieren.

Es gibt ein überliefertes Sprichwort aus der Tai Chi Chuan-Tradition: „Was du nicht im eigenen Körper findest, das findest du nirgendwo.“

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viel Freude beim Erkunden Ihrer Haltung(en) und dem Experimentieren mit gesunden Alternativen!

Marie Hock-Westhoff

Aschaffenburg, September 2013

Kapitel 1

Ganzheitliche Haltungsgesundheit – Hilfe zur Selbsthilfe

Seit 2011 biete ich in meinem Institut individuelle Haltungsanalysen und Haltungsschulungen an. Vielen Menschen konnte damit schon ursächlich geholfen werden, ohne Medikamente, ohne Operationen. Auch halte ich regelmäßig Vorträge und Seminare über Haltungsgesundheit, an unterschiedlichen Schulen und Einrichtungen.

Wesentlich ist mir dabei, die Menschen aufzuklären. Ihnen zu zeigen und es für sie fühlbar zu machen, dass es möglich ist z.B. Knieoder Wirbelsäulenoperationen zu umgehen, oder gar Bluthochdruck und Depressionen zu mildern und ihnen damit etwas an die Hand zu geben, mit dem sie sich selbst helfen können. Teilnehmer meines regelmäßigen Tai Chi Chuan- und Qi Gong-Unterrichtes berichten, dass sich mit der Praxis langjährige Fehlhaltungen wie Hohlkreuz, Rundrücken oder Spreiz-Senkfüße zurückgebildet haben. Langjähriger Schwindel und Bluthochdruck verschwanden völlig. Auch in der Reha-Phase nach Sportverletzungen ist das Üben sehr hilfreich, um entstandene Schonhaltungen aufzulösen und dem Schmerz von der Ursache her entgegenzuwirken.

Viele Jahre habe ich in Aschaffenburg auch mit von Multipler Sklerose betroffenen Menschen gearbeitet – mit Qi Gong und Haltungskorrekturen. Die Übungen und die Veränderungen im Stehen, Sitzen und Gehen konnten vielen Betroffenen helfen, sich auf ihren Beinen wieder sicher zu fühlen – ein unschätzbares Gut bei dieser Erkrankung.

Mir war aufgefallen, dass Menschen mit einer Geh- und Gleichgewichtsschwäche stets nach unten auf den Boden sehen, um sicherzustellen, dass ihre Füße einen sicheren Untergrund haben. Dadurch jedoch verändert sich die Kopf- und Oberkörperhaltung. Durch den nach unten gerichteten Blick wird der Schwerpunkt im Körper nach oben gezogen und man verliert noch mehr an Bodenhaftung und Sicherheit. Auch bezieht man auf diese Weise seine scheinbare Steh- und Gehsicherheit dann ausschließlich über das Sehen.

Unser Gehirn schafft gewöhnlich über die Augen eine Linie zum Horizont und eine Linie zu den Füßen: Daraus ergibt sich ein Dreieck, das es jedem sehenden Menschen erlaubt, sich in aufrechter Haltung stets sicher am Boden zu fühlen, denn wir nehmen diesen Horizont unbewusst immer als eine gerade Linie zu unseren Füßen wahr. Außer wir stehen am Rande eines Hochhausdachs, dann geht uns diese Sicherheit verloren, da unser Gehirn die waagrechte Linie vom Horizont zu den Füßen nicht herstellen kann – der Horizont liegt nicht auf gleicher Höhe mit unseren Füßen, so geraten wir ins Schwindeln.

Ich habe die Patienten angeleitet zu lernen, wieder geradeaus zu sehen und sich mit ihren Augen an einem Punkt, auf den sie zugehen möchten, festzuhalten. Der nächste Schritt war es, wieder zu lernen, die Füße am Boden zu spüren, statt diese Sicherheit über den Sehsinn, also das Sehen der eigenen Füße zu suchen. Dies macht einen ganz entscheidenden Unterschied. Durch das Erfühlen des Bodenkontaktes mit den Füßen kann das Vertrauen in den eigenen Körper und vor allen Dingen in die Tragfähigkeit der eigenen Beine wieder geweckt werden. Der schönste Lohn für meine Bemühungen war es, miterleben zu dürfen, wie der einen oder anderen von Multipler Sklerose betroffenen Person aufgrund der Verbesserungen Freudentränen über die Wangen liefen.

Grundsätzlich geht es also darum, die richtige Anleitung zu bekommen, nicht nur im Falle solch schwerer Erkrankungen. Jeder Mensch, der weiß wie es geht, kann auf diese Weise selbst die entsprechenden Veränderungen bei sich einleiten. Es ist nicht unbedingt notwendig, sich einen teuren Stuhl gegen Rückenbeschwerden zu kaufen oder seltsame Schuhe, welche an der Sohle gerundet sind, keilförmige Kissen oder ähnliches. Der Schlüssel liegt darin, den Körper wieder in seine Ursprünglichkeit zurückzuführen. Dann können wir auch auf einer Holzbank sitzen, ohne Rückenbeschwerden zu bekommen. Es kommt nicht auf das Material an, sondern auf die Haltung.

Generell ist es seltsam zu beobachten, dass sich unsere Technik heute in vielen Bereichen der Gegebenheit anpasst, dass die Menschen sich nicht mehr gut funktionell bewegen können. Ein Beispiel: der Schulterblick beim Autofahren. Man geht fast schon nicht mehr davon aus, dass ein Mensch dies überhaupt noch kann. Deswegen wird das Auto so gebaut, dass man es auch gar nicht mehr machen muss – wo soll uns dies noch hinführen? Zurück zu einem gesunden Körper bestimmt nicht. Man verkauft uns Bequemlichkeit, die keinen Wert hat, da sie die Beweglichkeit und Elastizität unseres Körpers noch weiter einschränkt, statt sie zu fördern.

An einem gesunden Menschen können viele Branchen nicht verdienen, das wissen wir. Wir selbst könnten uns viele Schmerzen, Einschränkungen und finanzielle Ausgaben ersparen, wenn wir für uns selbst etwas tun, um gesund zu bleiben und/oder zu werden. Es ist gar nicht so schwer.

Am Anfang steht hierfür die Erkenntnis des Problems, dann das Wissen, was und wie Sie etwas tun können, anschließend die Achtsamkeit, dieses Wissen auch wirklich umzusetzen – und danach schlicht das Üben. Fehlt uns in unserer heutigen Zeit oft der Bewegungsausgleich zu unserem sitzenden Beruf, so können wir zumindest lernen, im Alltag auf unseren Körper und auf unsere Körperhaltung zu achten.

Doch wie ich auch in meinem Unterricht immer anmerke: Glauben Sie mir nicht, fühlen Sie es selbst! Sonst bleibt alles Gesagte Theorie und wird schnell wieder vergessen.

Alles was wir gefühlt haben, gehört als Erfahrung uns. Solange wir noch nie Zahnschmerzen hatten, können wir auch nicht nachvollziehen, wie das ist. Haben wir noch nie ein Kind geboren, so wissen wir nicht, wie sich das anfühlt. Alles, was wir jedoch selbst erlebt haben, ist mit einem Gefühl verbunden, und dieses Gefühl wird in uns abgespeichert und ist als Erinnerung abrufbar. Deswegen ist es so wichtig, die Haltungskorrekturen zu erfühlen, und sie nicht nur theoretisch zu kennen. Haben Sie das einmal an sich selbst gefühlt, so werden Sie erstaunt sein, wie schön es ist. Endlich fühlt sich Ihr Körper wieder leicht an, schmerzfrei, kraftvoll und von innen geöffnet für den Fluss der Lebensenergie. Natürlich ist dies auch ein Prozess. Auf den ersten Aha-Effekt folgt das „Dranbleiben“, die regelmäßige Übung, um sich von dem zu entwöhnen, was zu unguter und verformender Gewohnheit geworden ist.

In meiner Haltungsanalyse waren schon Menschen bei mir, die aus der richtig eingenommenen Sitzposition gar nicht mehr aufstehen wollten. Sie fühlten das erste Mal seit langer Zeit, dass alles stimmt, dass es keine Blockierungen mehr gibt und sie dadurch in eine tiefe Ruhe gekommen sind. Es ist für mich immer wieder schön, dies zu beobachten. Es kann so einfach sein.

Wenn wir über unseren Körper und über Körperstatik Bescheid wissen, dann könnten wir beispielsweise den Arzt, der uns eine Knieoperation vorschlägt, fragen, warum er uns nicht alternativ eine Fehlhaltungskorrektur verschreibt, durch welche wir ursächlich an unserem Knieproblem arbeiten können. Zumindest nach einer OP sollte dies unbedingt dazugehören.

Oder wir würden bei Bluthochdruck daran denken, den Brustkorb zu senken, statt dauerhaft Medikamente zu nehmen. Wir könnten unser Keilkissen getrost wegwerfen, weil wir fühlen könnten, dass es für die Wirbelsäule ganz und gar nicht förderlich ist.

Wir könnten innerlich ein wenig Abstand nehmen gegenüber den unterschiedlichen und zum Teil widersprüchlichen Empfehlungen seitens der Medien, Ärzte, Physiotherapeuten und Rückenschullehrer zum Thema Rückengesundheit und Empfehlungen zunächst für uns selbst überprüfen, fühlen, verwerfen oder annehmen. Wir müssen nichts mehr glauben, nur weil es einer sagt oder schreibt. Was Sie fühlen können, ist Ihr Wissen.

Wir würden autark, unabhängig und stark, niemand könnte uns mehr – was unseren Körper betrifft – etwas verkaufen, das wir nicht wollen. Ein schönes Gefühl, für das sich meiner Meinung nach der Aufwand wirklich lohnt.

So könnten wir auch schnell erkennen, ob wir einen guten Yoga-, Tai Chi Chuan-, Qi Gong- oder Pilates-Lehrer vor uns haben. Einfach indem wir beobachten, ob dieser um die Zusammenhänge im Körper weiß, sie selbst fühlt und andere auch fühlen machen kann. Wir müssten uns nicht mehr blenden lassen durch selbstgegebene Meister- oder Sifu-Titel oder durch esoterisches oder asiatisches Drumherum.

Ein Lehrer jeglicher Bereiche ist immer so gut, wie er selbst das Wesentliche verstanden hat, umsetzen und weitervermitteln kann. Für alle Bereiche der Körperarbeit gilt: Wir haben alle denselben Körper, er funktioniert auf eine ganz bestimmte Art und Weise. Als Lehrer ist es wichtig, diese Funktionalität zu studieren, zu kennen und auf sich selbst und auf die Schüler individuell anzuwenden. Dann wird jede Körperarbeit Früchte tragen.

In meiner Tätigkeit als Ausbilderin für Tai Chi Chuan-Kursleiter und -Lehrer steht das Wissen um Körperhaltung und Haltungsgesundheit an erster Stelle. Schon am allerersten Ausbildungswochenende werden die Ausbildungsteilnehmer mit diesem Thema gründlich vertraut gemacht. So hoffe ich, dieses Wissen zu mehren und immer mehr unter die Menschen bringen zu können. Es ist so wichtig.

Achtsamkeit für unsere Haltung

Zur Verdeutlichung meines Ansatzes möchte ich Ihnen einige Beispiele dafür geben, wie Sie sich die individuelle Haltungsanalyse und die dazugehörigen Korrekturen vorstellen können. Dadurch, dass wir generell (und im Tai Chi Chuan insbesondere!) wieder lernen, unseren Kopf richtig zu tragen, können wir für mehr Sauerstoffzufuhr im Gehirn sorgen, Blockierungen in der Halswirbelsäule begegnen, Tinnitus vorbeugen und lernen unsere Schultern zu entspannen.

Ein Mensch, der seinen Kopf zu weit vorne trägt, belastet nicht nur Skelettsystem und Muskulatur, sondern ist auch in Gedanken immer in der Zukunft, immer beim nächsten Schritt, wie getrieben und gehetzt – der Körper folgt hinterher.

Tragen wir unseren Kopf aufrecht, mit leicht nach unten gesenktem Kinn, um die Halswirbelsäule blockierungsfrei zu machen, dann erlaubt uns dies auch, im jetzigen Moment zu sein, entspannt.

Aus dieser Entspannung heraus können wir dann ganz anders handeln, als wenn wir uns selbst ständig Druck machen und unseren eigenen Ansprüchen immer hinterherhinken. Auch verändert sich sofort unsere Ausstrahlung, wir wirken auf unser Gegenüber so, wie wir uns nun fühlen: weich und entspannt, präsent und mit einem angenehmen Selbstbewusstsein.

Tragen wir unser Kinn nur ein wenig zu hoch, wirken wir sofort arrogant und unnahbar, unser Atem wird wieder in die Brustatmung gezogen und wir können nicht mehr ausgeglichen und in unserer Mitte sein. Sie sehen – kleine Änderungen der Haltung können zu großen Veränderungen führen!

Oder haben wir beispielsweise unsere Hände immer fest zu Fäusten geballt, so rechnen wir innerlich stets mit einem Angriff, gegen den wir uns wehren müssen. Unserem Körper signalisieren wir dadurch höchste Anspannung und stete Alarmbereitschaft, was er dann auch bereitwillig für uns macht.

Das volle körperliche Programm wird hochgefahren, welches der Mensch braucht, um sich wehren zu können. Werden wir uns aber dessen bewusst, so können wir vertrauensvoll unsere Hände öffnen und somit unseren Körper – sprich unsere Atmung, unseren Herzschlag, unsere Verdauung – wieder in einen angenehmen, entspannten Zustand versetzen.

Viele Menschen können ihre Hände schon gar nicht mehr ohne große Mühe wirklich „offen tragen“. Um sie zu öffnen, müssen sie einen regelrechten Kraftakt vollführen. Doch diese Dehnung der Hand-muskulatur ist nötig, um auch wieder Vertrauen zu bekommen, offen für Neues und für einen entspannten Blick in die Zukunft zu sein.

Wir können Körperliches nicht von Emotionalem und Geistigen trennen, es ist einfach nicht möglich.

Ganzheitliche Bewusstwerdung von Bewegungsabläufen

Gleich hier zu Beginn möchte ich Ihnen einige Fragen nennen, die Sie sich immer wieder und in verschiedenen Situationen stellen können. Sie helfen Ihnen dabei, Ihren Körper immer genauer zu erspüren und somit immer achtsamer zu werden. Das ist der erste Bewusstseinsschritt, um auch modifizierend über die Körperhaltung auf Ihre Befindlichkeit einwirken zu können.

Das Bewusstwerden beginnt mit so einfachen Dingen wie:

Wie stehe ich momentan da?

Wie ist meine Sitzhaltung?

Wie meine Kopfhaltung?

Kann ich meine Schultern, meinen Brustkorb entspannt „hängen lassen“?

Bin ich irgendwo angespannt?

Könnte ich irgendwo im Körper noch muskulär loslassen?

Wie atme ich gerade?

Halte ich öfter die Luft an?

Wie halte ich meine Hände?

Liegen meine Oberarme immer am Körper an?

Allein den Fokus darauf zu richten, verändert die Dinge schon. Wenn wir auf unseren Atem achten, verändert er sich sofort. Wenn wir auf unsere Körperhaltung achten, verändern wir sie schon. Allein den Gedankenimpuls, die Aufmerksamkeit auf etwas zu richten, nimmt unser Körper als Gelegenheit wahr, für den nächsten Moment einmal wieder alles „richtig“ zu machen. Probieren Sie es aus.

Es klingt fast schon banal, doch so ein einfacher Vorgang, wie den Brustkorb zu senken bei gleichzeitigem Aufrichten der Halswirbelsäule von hinten, verändert zum Beispiel schon augenblicklich unsere Atmung. Wir müssen nicht einmal pro Woche bestimmte Atemübungen machen, um beispielsweise ein Herz-Kreislauf-Problem in den Griff zu bekommen. Den Brustkorb im Alltag immer wieder senken, das genügt schon.

Dadurch kann das Zwerchfell besser sinken und der Atem nimmt eine andere Verlaufsrichtung, als wenn wir in einer Haltung verharren, bei der wir die Schultern zurückziehen und die Brust rausdrücken, um uns scheinbar aufzurichten. Der Atem wird in einem leicht gesenkten Brustkorb automatisch von Brustatmung zu Bauchatmung umgestellt und so können wir einer Vielzahl an Erkrankungen begegnen, die an Fehlatmung gekoppelt sind, wie beispielsweise Burn-out, Asthma, innere Unruhe oder Schilddrüsenprobleme.

Bei Menschen mit Burn-out oder Bluthochdruck ist der Brustkorb in den allermeisten Fällen angehoben. Das ist die Körperhaltung, die wir einnehmen, wenn wir irgendwie durchhalten wollen oder müssen. Wir reißen uns zusammen. Doch genau dies bedingt die körperlichen Prozesse, welche uns nach einem gewissen Zeitraum krank machen.

Diesen Kreislauf können wir unterbrechen, indem wir uns unserer Körperhaltung bewusst werden. Wäre das nicht besser, kostengünstiger und gesundheitsfördernder, als langfristig Bluthochdruckmedikamente zu nehmen, welche oftmals leider gar nicht den gewünschten Erfolg bringen, da sie nicht bei der Ursache ansetzen?

Die Kraft unserer Gedanken

Sicher ist es Ihnen auch schon aufgefallen: In unserem Leben rückt immer genau das in unser Blickfeld, für das wir uns gerade am meisten interessieren oder was gerade Thema in unserem Leben ist.

Haben wir gerade ein Kind bekommen, sehen wir überall Mütter und Väter mit Kinderwägen. Oder wollen wir gerade ein Haus bauen, so achten wir vermehrt auf Materialien und Bauweisen von Häusern. Wenn wir gerade Fußgänger sind, schimpfen wir über die Autofahrer, und wenn wir gerade im Auto sitzen, über die Fußgänger. Wir solidarisieren uns meist mit dem, was uns selbst betrifft.

Leben wir nun gedanklich immer in Erwartung von Schwierigkeiten oder Enttäuschung, kann am Ende auch nicht viel Gutes dabei herauskommen. Tatsache ist: dort, wo wir unsere Aufmerksamkeit hingeben, vergrößern sich unser Fokus, unsere Wahrnehmung und unser Blickfeld.

Diese menschliche Eigenschaft können wir uns zunutze machen, indem wir unser Bewusstsein dafür schärfen, auf was wir eigentlich gerade unseren Fokus richten, und somit lernen, Beobachter unserer Gedanken zu werden.

Das Wissen alleine, dass wir nicht unsere Gedanken sind, sondern Gedanken haben, ist ein erster wichtiger Schritt zu mehr Bewusstsein auf allen Ebenen. Wenn wir uns mit unseren Gedanken identifizieren, sitzen wir meist schon in der Falle: Wir sind dann oftmals nicht mehr in der Lage, auch andere – meist erfreulichere – Aspekte unseres Daseins wahrzunehmen.

Unsere Gedanken haben eine Tendenz zu bewerten. Diese Bewertungen entstehen aus unseren individuellen Erfahrungshintergründen und koppeln sich oft augenblicklich an eine momentane Wahrnehmung. Wenn wir nicht achtsam sind, können sich daraus destruktive Gedankenketten bilden, welche unser Wohlbefinden und unsere Selbstwahrnehmung empfindlich beeinträchtigen können.

Nehmen wir als Beispiel den Vergleich: Sie sieht besser aus als ich, er hat mehr Geld, sie hat mehr Ansehen, er eine attraktivere Partnerin … und sofort fühlen wir uns minderwertig.

Es gibt einen schönen und sehr treffenden Spruch: „Wo Vergleich beginnt, endet Glück.“ So ist es.

Verharren wir in diesen Gedankenstrukturen, dann kann es nur wenig Glück für uns geben. Alles, was wir sind, was wir tun, wie wir wirken, sehen wir dann in diesem getrübten Licht des Vergleichs und das lässt uns unsere persönlichen Vorzüge, positiven Eigenschaften und individuellen Talente nur schwer erkennen.

Wenn uns nun gar nicht bewusst ist, dass diese negativen Gefühle aus einem Vergleich resultieren, dann glauben wir wirklich, die Welt sei so: ungerecht und nicht lebenswert, und wir darin nicht liebenswert.

Ist uns aber bewusst, dass dieses Gefühl erst nach einem bewertenden Gedanken entstanden ist, so können wir versuchen, anders zu denken, um uns anders zu fühlen.

Dadurch schaffen wir es nicht nur, uns selbst in einem besseren Licht zu sehen, vielleicht gelingt es uns sogar, uns mit dem Menschen mitzufreuen, den das Leben in unseren Augen so reich gesegnet hat. Durch das Mitfreuen geht es uns nicht nur selbst besser, es hebt uns auch auf eine andere emotionale Ebene in zwischenmenschlichen Beziehungen.

Ein weiteres Beispiel sind an negative Erfahrungen gekoppelten Wahrnehmungen wie: „Das war ja klar, dass mir das wieder passiert.“ oder „Ich kann das nicht.“ oder „Mich nimmt ja sowieso wieder keiner wahr.“ Gedanken solcher Art sind oft schwer von den altbekannten Gefühlen, die daraus resultieren, zu trennen – doch wir können es versuchen. Tun wir dies nicht, verselbstständigen sich die negativen Gedanken und lassen uns irgendwann zu verbitterten alten Menschen werden.

Es macht viel Arbeit und erfordert viel Bewusstsein, die in unserem Gehirn verknüpften emotionalen Erinnerungen und Gedankenmuster wieder zu lösen, doch es ist möglich. Die moderne Hirnforschung weiß um die Neuroplastizität: Unser Gehirn ist veränderbar und wir können aktiv daran mitwirken, neue Bahnen für Gefühle und Gedanken zu legen. So wie alte Erfahrungen gespeichert und Schlüsse daraus gezogen werden, so ist es auch möglich, diese alte Erfahrungen durch neue, „gesündere“ zu ersetzen und damit aus den alten Automatismen auszusteigen. Die regelmäßige Praxis von Tai Chi Chuan in einem Umfeld, in dem Achtsamkeit, gegenseitiger Respekt und Wertschätzung kultiviert werden, kann solche neuen zuträglichen Bahnen legen, sogar ohne dass man sich auf der kognitiven Ebene mit dem Ursprung der einschränkenden Anschauungen und Gefühle beschäftigen muss.

Die Arbeit an uns selbst ist immer eine Lebensaufgabe und im Gegensatz zum Anhäufen von Reichtum oder dem Versuch, die Schönheit künstlich zu erhalten, eine sinnerfüllte Aufgabe. Denn wer möchte schon im Alter zu den Verbitterten gehören, die gemieden werden, weil sie hauptsächlich Negativität ausstrahlen? In diesem Falle nützt auch der ganze Reichtum und ein schönheitsoperierter Körper nichts.

Auf die Signale des Körpers hören

Jegliche noch so kleine Veränderung in unserem Leben beginnt damit, dass uns bewusst geworden ist, dass wir etwas ändern möchten. Damit diese Bewusstwerdung möglich ist, muss es ein Erkennen geben und somit eine Bewertung der eigenen Situation oder eines äußeren Umstandes, mit dem wir nicht mehr einverstanden sind.