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Die Herausgeber

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Dr. Norbert Mönter, Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse; Initiator des Berliner Psychiatrisch-religionswissenschaftlichen Colloquiums im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit: www.psychiatrie-in-berlin.de; 1982 bis 2012 niedergelassen in Berlin Charlottenburg; aktuell Leiter eines Gesundheitszentrums für Flüchtlinge in Berlin: www.gzf-berlin.org.

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Prof. Dr. Dr. Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Charité Campus Mitte, derzeit Präsident der DGPPN.

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Prof. Dr. Michael Utsch, Psychologe und Psychotherapeut. Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, dort auch als Psychotherapeut niedergelassen, Leiter des DGPPN-Referats »Religiosität und Spiritualität«, Lehraufträge zu religionssensibler Psychotherapie an verschiedenen Universitäten und Weiterbildungsinstituten.

Norbert Mönter Andreas Heinz Michael Utsch (Hrsg.)

Religionssensible Psychotherapie und Psychiatrie

Basiswissen und Praxis-Erfahrungen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2020

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035625-2

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-035626-9

epub:    ISBN 978-3-17-035627-6

mobi:    ISBN 978-3-17-035628-3

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

 

 

 

Ackers, Susanne, Dr. phil.

Genesungsbegleiterin im FID – Freundeskreis Integrative Dienste gGmbH in Berlin-Spandau, Ausbilderin im EX-IN Qualifizierungsprogramm in Berlin; Engagement in den Vereinen »expeerienced – erfahren mit seelischen Krisen« und »EX-IN Deutschland«

Alabdullah, Jihad, Dr. med.

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie; Projekt PIRA: Psychiatrie-Information-Religion-Austausch im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e. V., Wissenschaftlicher Mitarbeiter Charité – Universitätsmedizin Berlin; Vivantes Humboldt-Klinikum, Zentrum für transkulturelle Psychiatrie (ZtP)

Alkan Haertwig, Elif, Dipl. Psych.

Projekt PIRA: Psychiatrie-Information-Religion-Austausch im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e. V.; derzeit tätig im Gesundheitszentrum für Flüchtlinge Berlin

Antes, Peter, Prof. Dr.phil Dr.theol.

Emeritus der Abteilung Religionswissenschaft des Instituts für Theologie und Religionswissenschaft der Leibniz-Universität Hannover; vormalig Präsident der International Association for the History of Religions

Assion, Hans Jörg, Prof. Dr. med.

Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sowie für Neurologie, Geriatrie, Suchtmedizin und forensische Psychiatrie; Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Allgemeinen Psychiatrie 1 in der LWL-Klinik Dortmund

Beelitz, Thomas, Dr. theol.

Klinikpfarrer/Krankenhausseelsorger Vivantes Klinikum Berlin-Kaulsdorf (bis zur Pensionierung Nov. 2018); Lehrsupervisor DGfP

Brandt, Lasse

Arzt; wissenschaftlicher Mitarbeiter, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin, Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus

Ceylan, Raul, Prof. Dr. rer.soc.

Professor für Religionswissenschaft am Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

Demling, Joachim Heinrich, Prof. Dr. med.

Psychotherapeut, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, Professor emer. der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Haynes, John, Prof. Dr. rer. nat.

Psychologe und Neurowissenschaftler; Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité und der Humboldt-Universität zu Berlin

Heiden, Angelika, Dr. ing.

Energieberatung, Tanzpädagogin, Genesungsbegleiter in Krisenpension NiG Pinel; Ausbilderin im EX-IN Qualifizierungsprogramm in Berlin; Engagement in den Vereinen »bipolaris – Manie & Depression Selbsthilfevereinigung Berlin-Brandenburg«, »expeerienced – erfahren mit seelischen Krisen« und »EX-IN Deutschland«

Heinz, Andreas, Prof. Dr. med. Dr. phil.

Direktor Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Universitätsmedizin Berlin; Präsident der DGPPN (Deutsche Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde) seit 2018

Jakob, Beate, Dr. med.

Ärztin und Diplomtheologin; Deutsches Institut für Ärztliche Mission e. V. (Difäm) Tübingen

Kellner, Mahmud Martin, Dr.phil.

Institut für Islamische Theologie, Universität Osnabrück, Vertretungsprofessor für Islamische Quellenlehre / Koranwissenschaft

Klosinski, Gunther, Prof. em. Dr. med.

bis 2010 Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an den Universitäten Bern und Tübingen

Machleidt, Wielant, Prof. em. Dr. med.

Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse, Direktor der Abteilung Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover von 1994-2007; Leiter des Referates für Transkulturelle Paychiatrie und Psychotherapie der DGPPN 1994-2010

Mahler, Lieselotte, Dr. med.

OÄ Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus

Montag, Christiane, PD Dr. med.

Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalyse Ltd. Oberärztin, Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig Krankenhaus

Mönter, Norbert, Dr. med.

Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, Psychoanalyse; Leiter des AK »Religion und Psychiatrie« im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit, Geschäftsführer des Gesundheitszentrums für Flüchtlinge (GZF gGmbH) in Berlin

Peseschkian, Hamid, Dr. med. habil.

Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie,Geschäftsführender Institutsleiter der Wiesbadener Akademie für Psychotherapie (WIAP)

Pfeifer, Konrad

Arzt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Charité – Universitätsmedizin Berlin, Psychiatrische Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus

Pfeifer, Samuel, Prof. Dr. med.

bis 2013 Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie «Sonnenhalde» in Riehen bei Basel (Schweiz); jetzt in freier Praxis; Professor für Psychotherapie und Religion an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg; Lehrauftrag an der Sigmund-Freud-Universität in Wien

Plöderl, Martin, Priv.-Doz. Dr. rer. nat.

Klinischer Psychologe, Psychotherapeut, Bereich für Krisenintervention und Suizidprävention, Universitätsinstitut für Klinische Psychologie, Christian-Doppler-Klinik, Paracelsus Medizinische Privatuniversität Salzburg

Rüschoff, Ibrahim, Dr. med.

Facharzt für Neurologie und Psychiatrie – Psychotherapie, niedergelassen als Ärztlicher Psychotherapeut in Rüsselsheim, Schwerpunkt muslimische Patienten, Mitglied der International Association of Islamic Psychology (IAIP) und der Islamischen Arbeitsgemeinschaft für Sozial- und Erziehungsberufe (IASE), Stellv. Vorsitzender des DGPPN-Referats »Religiosität und Spiritualität«

Scherzenski, Sabrina, Dipl.-Psych.

Psychologische Psychotherapeutin, Projekt PIRA: Psychiatrie-Information-Religion- Austausch im Verein für Psychiatrie und seelische Gesundheit e. V., derzeit tätig im Gesundheitszentrum für Flüchtlinge Berlin

Schouler Ocak, Meryam, Dr. med.

Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Psychotherapie, Professorin für Interkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, EMDR-Therapeutin, Ltd. OÄ der Psychiatrischen Universitätsklinik der Charité im St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin

Stern, Nicolai, Dipl.-Psych.

Psychologischer Psychotherapeut in Berlin-Charlottenburg

Utsch, Michael, Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych.

Psychotherapeut, Referent der Ev. Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin und psychotherapeutische Praxis, Leiter des DGPPN-Referats »Religiosität und Spiritualität«

Virtbauer, Gerald, Dr. phil.

Religionspsychologe Fakultät für Psychotherapie der Sigmund Freud Privatuniversität Wien, Mitarbeiter des katholischen Bistums Chur Schweiz

Wagemann, Gertrud

Autorin im interreligiösen Bereich, Berlin

Zechert, Christian, Dipl.-Soz., Dipl.-Sozialarbeiter

Angehöriger, langjährig wissenschaftlicher Mitarbeiter des Ev. Klinikum Bethel/von Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel/Bielefeld, bis 2018 Mitglied im Vorstand des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen e. V. (BApK)

Zinser, Hartmut, Prof. Dr.

Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität Berlin (bis zur Pensionierung 2012)

Geleitwort

 

 

 

In diesem Band beschäftigen sich eine Reihe von engagierten KollegInnen unter der Herausgeberschaft von N. Mönter, A. Heinz und M. Utsch mit dem eher ungewöhnlichen Thema religiöser Aspekte in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Arbeit. In welchem Verhältnis steht das Psychische, das meistens naturwissenschaftlich verstanden wird, zu dem Seelischen, das im weiteren Sinne auch religiös gesehen werden kann?

Psyche und Seele sind zwei benachbarte Begriffe. Den einen verwenden Psychologen, Psychiater, Psychotherapeuten, den andern gebrauchen Pfarrer und religiös orientierte Menschen. Freilich ist das nicht überall so, Schweizer Psychiater sprechen auch in ihrem beruflichen Kontext meistens von der Seele. Die griechischen Vorläufer unserer abendländischen Kultur zeichnen die Psyche als ein zartes, geflügeltes (weibliches) Wesen, nicht selten bezogen auf den knabenhaften Gott Amor, d. h. es repräsentiert die Welt der liebevollen Gefühle, aber auch die Lebendigkeit schlechthin. Im Unterschied dazu umfasst unsere wissenschaftliche Vorstellung von Psyche vor allem das rationale Denken und das realitätsgerechte Handeln auf der einen Seite und andererseits das Erleben von emotionaler Bewegtheit und bedürfnishaftem Verlangen. Als Aufgabe der Psyche gilt es, sich selbst und die Welt zu verstehen, das eigene Handeln verantwortlich zu steuern und eigene Vorstellungen verwirklichen zu können. Als Voraussetzung dafür gilt die Fähigkeit zur Selbstreflexion und die Bereitschaft, sich an sozial vereinbarten Regeln zu orientieren. Die Verfügbarkeit über alles dies ist gleichbedeutend mit psychischer Gesundheit; der Ausfall oder die Deformierungen eines der Bereiche kennzeichnen den Leidenszustand des psychischen Krankseins.

Wenn die Psyche dies alles abdeckt, was bleibt dann noch für die Seele? Ein Kind sagt während des Abendessens zu seiner Mutter: »Mama, warum bin ich auf der Welt?« Das könnte eine Wissensfrage sein, die sich auf Sexualität, Zeugung, Geburt etc. bezieht. Wenn das Kind aber gerade in dem philosophiefähigen Alter von 4–6 Jahren angekommen ist, kann es sich um eine Sinnfrage handeln: »Ich werde mir bewusst, dass ich existiere und frage mich warum und wozu?« Eltern würden vielleicht antworten: »Nun rede nicht, iss fertig, es wird Zeit, ins Bett zu gehen.« Das Kind spürt, die Eltern haben keine Antwort, es bleibt mit seiner Frage allein. Vielleicht bringt die Oma das Kind ins Bett, sie spürt die Verlassenheit und sagt: »Du kannst ruhig schlafen, der liebe Gott passt auf Dich auf.« Da wird ein verlässliches Gegenüber etabliert: Die Geburt der Religion aus dem Geist der Verlorenheit. Wir hätten uns auch eine Beerdigungsszene denken können, deren Unerträglichkeit durch die Vorstellung eines Weiterlebens in einer anderen Welt gemildert wird. Unter solchen Voraussetzungen gewinnt alles wieder seinen Sinn und seine Ordnung, die von religiösen Menschen geglaubt und von religiösen Gemeinschaften soziokulturell ausgestaltet wird. (Nebenbei bemerkt zeigen Menschen, die Sinnüberzeugungen haben, in soliden empirischen Untersuchungen ein deutlich besseres psychisches Befinden).

Viele Menschen stellen sich irgendwann die Frage: »Wie soll ich leben und welche Wertvorstellungen geben meinem Leben einen Sinn?« Es sind die Religionen, die darauf antworten und diese Antworten fallen ähnlich aus. Hans Küng hat in seiner Idee des Welt-Ethos herausgearbeitet, dass sich alle religiösen Überzeugungen auf eine begrenzte Anzahl von Welterklärungen und ethischen Postulaten beziehen, auf eine Selbstverpflichtung des Menschen im Blick auf verbindende Werte, die in allen Religionen gleichermaßen zum Ausdruck kommen1.

Damit wird das Psychische, mit dem wir begonnen haben, auf der Seite des Seelischen und Religiösen vor allem zum Ethischen hin erweitert. Es entsteht ein Menschen-Verständnis, das sich vom Psychologischen über das Soziale bis hin zum Philosophischen und Ethischen erstreckt. In einem Dialog mit J. Ratzinger äußert J. Habermas, die Philosophie habe aktuell gute Gründe, sich gegenüber religiösen Überzeugungen lernbereit zu verhalten. Dem modernen naturwissenschaftlich, ökonomisch und sozialwissenschaftlich begründeten Weltverständnis (und den daraus abgeleiteten pessimistischen Perspektiven) stelle die religiöse Dimension ein anderes Bild entgegen: hier ist der Mensch und dort ist Gott als sein persönliches Gegenüber, mit der Eröffnung von optimistischen Perspektiven von Hoffnung, Trost durch ein Prinzip des Guten, Barmherzigen2. Diese Sicht gibt dem Menschen eine Bestimmung, setzt ihn Prüfungen aus und verspricht ihm letztlich Geborgenheit. Von der religiösen Ebene aus gesehen ist die moderne Welt ein nihilistisches Elend. Von der Moderne her gesehen kann man (mit Freud) die religiöse Dimension für eine tröstliche Illusion halten. Gleichwohl scheint das eine ohne das andere ein unvollständiger Ansatz zu bleiben. Als Psychiater und Psychotherapeuten sollten wir unseren Blick nach beiden Seiten richten können. Dabei landen wir keineswegs in schöngeistigen Gefilden, sondern werden in der Regel konfrontiert mit der harten sozialen und kulturellen Realität, die das Leben vieler unserer Patienten und ihre Überzeugung geprägt hat, etwa durch Heimatverlust, Migration, Traumatisierung, Schwierigkeiten der Integration in eine unvertraute Gesellschaft.

An dieser Stelle wird deutlich, dass Religiosität in starkem Maße ein Thema von sozialen Gemeinschaften ist. Immer wieder diskutieren Veröffentlichungen die Bedeutung religiöser Überzeugungen im Hintergrund von Gewalttaten3. An dieser Stelle kippt das Thema der religiösen Sinngebung und Wertüberzeugung und es werden Intoleranz, Entwertung und wütende Aggressivität gegen solche sichtbar, die etwas anderes glauben und sich anders verhalten. Da genügen Symbole wie Kopfbedeckungen oder Essensgewohnheiten, um Menschen als Fremde, Ungläubige oder Feinde zu markieren. Fremdenfeindlichkeit macht sich besonders leicht an religiösen Überzeugungen der anderen fest. Möglicherweise kosten Zweifel und Ambivalenz bezüglich des eigenen Glaubens viel Kraft, sodass jene, die diesen Glauben nicht teilen, besonders heftig bekämpft werden müssen. Schon die frommen christlichen Kreuzfahrer des Mittelalters waren stolz darauf, unter der Parole »Gott will es« im Blut der Ungläubigen, ob Krieger, Frauen oder Kinder, »gewatet zu sein« und dankten Gott für diese Gnade.

Wir trösten uns im Blick auf die Gegenbewegung der Aufklärung. Sie betont auf nichtreligiöser Grundlage den humanistischen Gedanken, dass der andere so ist wie Du und daher unverbrüchlich respektiert werden muss. Zum Fremden kann er nicht nur durch eine andersartige Überzeugung, sondern auch durch das Befremdliche einer psychischen Krankheit werden. Mit beiden Themen müssen Psychiater sachkundig und wohlwollend umgehen können.

Psychotherapeuten sind sich einig, dass für die Entwicklung eines Patienten zweckmäßig ist, in einer Behandlung alles zur Sprache zu bringen was den Patienten beschäftigt. Das setzt freilich voraus, dass auch die Therapeuten in ihrer Ausbildung gelernt haben, sich mit heiklen Themen, etwa emotionaler oder sexueller Art auseinanderzusetzen. Weniger selbstverständlich ist der Umgang mit religiösen Themen. Vereinzelte Therapeuten beantworten die Gretchenfrage »wie hältst du’s mit der Religion?« mit einem Zusatz auf dem Türschild: »Christliche Psychotherapie«. Ob das als Werbung oder als Warnung verstanden werden soll, mag offenbleiben. Wünschenswert wäre es, dass Therapeuten, unabhängig von solchen Festlegungen, in der Lage sind, sich gemeinsam mit ihren Patienten auch über weltanschauliche, religiöse und ethische Themen ernsthaft Gedanken zu machen. Die Berücksichtigung von Psyche hier und Seele dort und die Verknüpfung beider erlaubt es, Themen ins Auge zu fassen, die für jeden Menschen wichtig sind: Fragen des Weltbildes, der Kultur, der eigenen Geschichte, der persönlichen Wertvorstellungen, der eigenen Identität und Lebensziele: alles Fragen an den Sinn des eigenen Daseins, die nicht nur depressive Patienten umtreiben. Wer es erst einmal wagt, sich im Gespräch mit Patienten auf dieses Feld zu wagen, wird mitunter verwundert sein, wie viel das für sein Gegenüber im Sinne der Nutzung latenter Potenziale bedeutet. Den Herausgebern und Autoren dieses Buches ist für dieses couragierte Projekt und seine Anregungen sehr zu danken.

Gerd Rudolf

Heidelberg, im Oktober 2019

1     Küng H (2009) Was ich glaube. München: Piper.

2     Habermas J, Ratzinger J (2005) Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Freiburg: Herder.

3     z. B. Girard R (2010) Gewalt und Religion. Berlin: Matthes und Seitz.

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

  1. Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
  2. Geleitwort
  3. Vorwort
  4. Entstehungshintergrund und Einführung
  5. Norbert Mönter
  6. I    Religionssensible Psychotherapie im Kontext neuerer Entwicklungen von Psychiatrie und Psychotherapie
  7. 1   Religiöse und spirituelle Bedürfnisse in einer personenzentrierten Psychiatrie und Psychotherapie – Perspektiven und Fallstricke
  8. Andreas Heinz
  9. 2   Von der christlich geprägten Kultur zum weltanschaulichen Pluralismus – Religionszugehörigkeit in Deutschland
  10. Peter Antes
  11. 3   Religiosität und Spiritualität aus neurowissenschaftlicher Sicht
  12. Lasse Brandt, Christiane Montag und John Haynes
  13. 4   Psychotherapie zwischen Spiritualisierung und weltanschaulicher Neutralität – Zur Bedeutung der religiös-spirituellen Dimension für Psychiatrie und Psychotherapie
  14. Michael Utsch
  15. 5   Trance und Ekstase in modernen religiösen Kulten als Beispiel spiritueller Orientierungssuche
  16. Hartmut Zinser
  17. 6   Haltung und Wissen als Basis religionssensibler Psychotherapie und Psychiatrie
  18. Norbert Mönter
  19. 7   Ressourcenfindung und Religion aus Sicht zweier Betroffener
  20. Susanne Ackers und Angelika Heiden
  21. 8   Hilfe und auch Belastung: Herausforderungen in der religiösen Orientierung von Angehörigen
  22. Christian Zechert
  23. II  Religionssensibilität: auch eine Frage des Wissens
  24. 9   Psychische Krankheit/Gesundheit und jüdischer Glaube
  25. Nicolai Stern
  26. 10 Christlicher Glaube und Glaubensgemeinschaft: gesundheitliche Ressourcen
  27. Beate Jakob
  28. 11 Psychische Krankheit/Gesundheit und Glaube im Islam – Koranische Konzepte seelischer Zustände und deren Kontextualisierungen
  29. Mahmud Martin Kellner
  30. 12 Die prägende Kraft der Religionen in Ost- und Südostasien, in Indien und Afrika
  31. Gertrud Wagemann
  32. 13 Psychische Krankheit und Gesundheit im Buddhismus
  33. Gerald Virtbauer
  34. 14 Psychische Krankheit und Gesundheit aus Sicht der Bahá’í
  35. Hamid Peseschkian
  36. Exkurs: Religionen – Gefahren und Chancen für Menschen mit LSB-Orientierung
  37. Konrad Pfeifer, Lieselotte Mahler und Martin Plöderl
  38. III Pathologische Entwicklungen im religiösen Kontext
  39. 15 Religiöse Sozialisation Jugendlicher und junger Erwachsener: Voraussetzungen und Mechanismen problematischer Einflussnahme
  40. Gunther Klosinski
  41. 16 Religiös gebundene psychopathologische Syndrome in christlichen Gesellschaften
  42. Joachim Heinrich Demling
  43. 17 Salafismus und psychische Störung
  44. Ibrahim Rüschoff
  45. IV Praxis religionssensibler Psychiatrie und Psychotherapie
  46. 18 Fanatismus und gewaltbereite Strömungen im Islam – Analyse und Präventionsmaßnahmen
  47. Rauf Ceylan
  48. 19 Religionssensibler therapeutischer Umgang mit Dämonenglaube und Okkultdeutung
  49. Samuel Pfeifer
  50. 20 Heilinstanzen der türkischen und arabischen Volksmedizin
  51. Hans-Jörg Assion
  52. 21 Yoga, Meditation und Gebet aus psychotherapeutischer Sicht
  53. Christiane Montag, John-Dylan Haynes und Lasse Brandt
  54. 22 Zum aktuellen Suizidverständnis
  55. Norbert Mönter und Michael Utsch
  56. 23 Suizid, Migration und Islam
  57. Meryam Schouler-Ocak
  58. 24 »Dunkel war’s, der Mond schien helle …« – Professionelle Seelsorge in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung
  59. Thomas Beelitz
  60. 25 PIRA (Psychiatrie – Information – Religion – Austausch)
  61. Norbert Mönter, Jihad Alabdullah, Elif Alkan Härtwig und Sabrina Scherzenski
  62. 26 Zur sich wandelnden Identität des Psychiaters/Psychotherapeuten im Kontext kultur- und religionssensibler Behandlungen
  63. Wielant Machleidt
  64. Epilog der Herausgeber
  65. Stichwortverzeichnis

Vorwort

 

 

 

Dieser Themenband führt religionswissenschaftliche, theologische, psychiatrische, psychotherapeutische Beiträge wie auch Perspektiven von psychisch Erkrankten und Angehörigen psychisch Erkrankter zusammen, die zu einem Verständnis von Religion und Religiosität mit Blick auf die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung dazugehören. Zum Entstehungshintergrund des Bandes im Zusammenhang mit dem seit 2009 etablierten Berliner psychiatrisch-religionswissenschaftliche Colloquium verweisen wir gerne auf die ausführliche Einleitung von Norbert Mönter (image Einführung).

Die Herausgeber wussten bei der Konzipierung dieses Buches um die Komplexität und Wichtigkeit des Themas, waren aber angesichts einer gerade in den letzten Jahren zu verzeichnenden Publikationsdichte zum Thema Psychiatrie, Religiosität und Spiritualität doch etwas überrascht von der zunehmenden öffentlichen Resonanz wie der damit zum Ausdruck kommenden Praxis-Relevanz (Baatz 2017; Cyrulnik 2018; Freund et al. 2018; Freund und Pfeifer 2019; Schlegel und Ginanimazzi 2019; Frick et al. 2018; Hofmann et al. 2017; Juckel et al. 2018; Peterson 2018; Sozialpsychiatrische Info 2018; Reiser 2018; Utsch et al. 2018; Utsch 2018a; Ertel & Münch 2019). Die klare Ausrichtung auf die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungs- und Versorgungspraxis war den Herausgebern ein zentrales Anliegen. Die Beiträge sollen vor allem wichtige und wissenschaftlich begründete Informationen vermitteln, auch relevante fachliche Positionierungen resp. Problemfelder spiegeln, mit denen Therapeuten, sei es im engeren psychiatrischen Kontext oder im weiteren Feld psychotherapeutischer oder auch psychosozialer Hilfeangebote heute zunehmend konfrontiert sind. Voraussetzung hierfür ist die Bereitschaft zu umfassender Wahrnehmung des einzelnen Patienten unter Einbeziehung auch seiner religiösen oder weltanschaulichen Bezüge und Einstellungen.

Über den konkreten Praxisbezug hinaus soll der Leser in den sehr unterschiedliche Perspektiven repräsentierenden Beiträgen auch zu weitergehender Reflexion mit den Berührungspunkten von Religion, Spiritualität und Psychiatrie/Psychotherapie angeregt werden; hierzu dienen auch die oft umfänglichen Literaturhinweise. Philosophische, religionswissenschaftliche, theologische, neurobiologische, soziologische, psychiatrische sowie psychotherapeutische Blickwinkel zusammenführen zu wollen, mag auf den ersten Blick als überanspruchsvolles, womöglich überhebliches Unterfangen erscheinen. Beim Betrachtungsversuch aus einer nicht durch die eigene Fachdisziplin geformten Brille macht aber der im Fokus stehende psychisch kranke und leidende Mensch eine mehrdimensionale Untersuchungsebene unter Beteiligung all der vorgenannten wissenschaftlichen Disziplinen geradezu zwingend. Es wäre im Gegenteil Hybris, würde die Erklärungs- und Deutungshoheit von Entstehung und Verständnis psychischen Leidens sowie das Wissen um Bewältigungsmöglichkeiten oder Auswege exklusiv von den Experten nur eines Blickwinkels beansprucht. Sieht man auf den einzelnen Menschen mit einer psychischen Störung oder in einer psychischen Krise, dann sieht man sie oder ihn als individuelle Persönlichkeit inmitten eines vielgestaltigen Lebensumfeldes, zu dessen Beschreibung all die vorgenannten Wissenschaftszweige spezifisch beitragen können. Diesem breiten wie tiefen Verständnis seelischen Leidens ordnet sich auch die Konzentrierung auf die religiöse bzw. spirituelle Seite des Menschen in diesem Band zu. Dass diese religiöse Seite in der migrationsgeprägten gesellschaftlichen Situation, vor allem West- und Mitteleuropas, eine von vielen Zeitgenossen des letzten Jahrhunderts unerwartete Aktualität gewonnen hat und weiter gewinnt (Ohls und Agorastos 2018), kann vielen Beiträgen implizit entnommen werden.

Die psychotherapeutisch-psychiatrische Grundmotivation steht in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu einem religiös-spirituellen Weltbild. Psychotherapie und Psychiatrie wollen das Erleben und Verhalten eines leidenden Menschen besser verstehen und seine Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung fördern. Widerspricht das medizinisch-psychologisch geförderte Unabhängigkeitsideal nicht dem religiösen Grundmotiv der Rück-Bindung an eine »höhere« Wirklichkeit? Hier ist eine kultursensible Perspektive weiterführend. Religiöse Rituale und Deutungen bilden eine Säule kultureller Praktiken. Während in den eher individualistischen Kulturen des Westens religiös-spirituelle Lehren und Rituale häufig als unzeitgemäß und wirklichkeitsfremd empfunden werden und die Werte der Gesellschaft sich zunehmend säkularisieren, bietet sich in eher soziozentrischen Kulturen weltweit ein anderes Bild. Bei einer kultursensiblen Behandlung ist deshalb das Einbeziehen der religiösen bzw. spirituellen Dimensionen unverzichtbar. Religionen stellen jedoch nicht nur Ressourcen zur Leidverarbeitung, Schmerzbewältigung und Sinnfindung zu Verfügung, sie sind auch die Grundlage vieler Konflikte und Störungen. Religion und Spiritualität können sowohl Teil des Problems als auch Teil der Lösung sein – je nach individuellen Vorerfahrungen.

Der konstruktive Dialog zwischen religiösen und säkularen Lebensformen ist dabei für eine pluralistische Gesellschaft zukunftsweisend. Religiöse Überzeugungen prägen besonders das Erleben von Krankheit, Gesundheit und Therapie tief religiöser Patienten (Milzner et al. 2019). Eine sensible Berücksichtigung des vorhandenen Wertesystems kann die psychotherapeutische Behandlung fördern und das Arbeitsbündnis stärken. Hier sind kultur- und religionssensible Ärzte und Psychotherapeuten gefragt, vorhandene religiöse oder spirituelle Ressourcen der Patienten zu erfragen und in der Therapieplanung zu beachten. (Ohls und Agorastos 2018; Machleidt 2019). Allerdings können gläubige Hoffnung und Vertrauen auch leicht missbraucht werden. Neben den Ressourcen der Religiosität dürfen deshalb ihre Schattenseiten nicht übersehen werden (Ciupka-Schön und Becks 2018; Zwingmann et al. 2017) und psychotherapeutische Interventionen müssen ideologisch und religiös neutral erfolgen.

Dieses Buches gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten Abschnitt »Religionssensible Psychotherapie im Kontext neuerer Entwicklungen von Psychiatrie und Psychotherapie« (mit den Beiträgen 1–8) wird die fachliche Einordnung der in dieser Form neuen religionssensiblen diagnostischen und therapeutischen Sicht thematisiert. So blickt Andreas Heinz in einem Grundsatzbeitrag (image Kap. 1) zurück auf klassische psychiatrische Theorien im Umgang mit dem vermeintlich Irrationalen. Er schildert Fallstricke, mit denen eine personenzentrierte Psychiatrie und Psychotherapie konfrontiert ist, wenn sie mit den religiösen und spirituellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten umgehen will. Dabei verweist er auf das Positionspapier der DGPPN zu »Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie« (Utsch et al. 2017), welches auch von mehreren anderen Autoren als wichtiger aktueller Referenztext angesehen wird. Heinz beschreibt Weltoffenheit und ideologische Abstinenz als wichtige Orientierung für jegliche moderne Medizin. Peter Antes (image Kap. 2) zeigt als Religionswissenschaftler die enorme Veränderung der Religionszugehörigkeit in den letzten Jahrzehnten in Deutschland auf und gibt mit der Beschreibung des Faktischen und dem Hinweis auf das für alle verbindliche Grundgesetz unseres Landes einen wichtigen Ausblick auf die gesellschaftliche demokratische Gestaltungsebene frei, religiöse und kulturelle Werte anzuerkennen und konsentierten ethischen Grundsätzen gemäß zu handeln.

Lasse Brandt, Christiane Montag und John Haynes (image Kap. 3) gehen auf die Suche nach (neuro-)biologischen Grundlagen von Religiosität und Spiritualität, müssen aber doch vorerst nur bescheidene Einsichtsmöglichkeiten in parallele und nicht kausal-verknüpfte biologische und psychisch-religiöse Prozesse konstatieren.

Michael Utsch widmet sich in seinem Beitrag (image Kap. 4) der Psychotherapie zwischen Spiritualisierung und weltanschaulicher Neutralität und stellt Spiritualität als einen verloren gegangenen Aspekt eines ganzheitlichen Gesundheitsverständnisses heraus.

Hartmut Zinser schildert in Beitrag 5 beispielhaft spirituelle Orientierungssuche, wie sie sich auch in Trance- und Ekstase-Kulten heutiger Zeit findet, und vergleicht diese aus religionswissenschaftlichem Blickwinkel mit traditionellen (früheren) Kulten, in denen Trance und Ekstase von besonderer Bedeutung waren (image Kap. 5).

Norbert Mönter (image Kap. 6) versucht die beiden zentralen Komponenten »Haltung« und »Wissen«, die für eine religionssensible Psychiatrie und Psychotherapie maßgeblich sind, näher zu definieren. Eine ernsthaft am Respekt »vor dem Anderen« orientierte therapeutische Haltung beschreibt er fußend auf der Tradition sozialpsychiatrischen Behandlungsverständnisses als heutigen Therapie-Standard; welches spezifische Wissen über Glaubensprozesse, Religiosität und ihre anthropologische Funktion ein religionssensibler Psychiater/Psychotherapeut benötigt, wird ausführlich dargelegt.

Unverzichtbar ist bei heutiger Betrachtung psychiatrisch relevanter Fragestellungen die grundsätzliche Berücksichtigung der Perspektiven eben der Menschen, die von psychischer Erkrankung betroffen sind, sowie deren Angehörigen. Susanne Ackers und Angelika Heiden (image Kap. 7) sowie Christian Zechert (image Kap. 8) sind der Darstellung ihres Erlebens und ihrer konkreten Schlussfolgerungen in je eindrucksvoller Weise nachgekommen.

Der zweite Teil des Buches (Beiträge 9–14) versucht dem Anspruch nachzukommen, relevantes religionswissenschaftliches Wissen unter dem Aspekt psychotherapeutischer Relevanz aufzubereiten. Den jeweils profunden Kennern der vorgestellten Religionen war die Bitte angetragen worden, aus den verschiedenen religiösen bzw. spirituellen Traditionen heraus das Krankheitsmodell und möglichst auch das spezifische Verständnis psychischer Erkrankung darzustellen, sodann die (postulierten) Elemente einer religionsimmanenten, auf den Glaubensinhalten beruhenden therapeutischen Wirkung und als Weiteres auch die (ggf. protektive) gelebte Sozialität der Religionsgruppe/-gemeinschaft aufzuzeigen. Zudem sollten, wenn möglich, auch die konkreten Hilfestellungen in den Religionen angesprochen werden, soweit sie für psychisch Kranke von Bedeutung sind. Diese vier Fragestellungen sind zweifelsfrei inhaltlich sehr weitgehend und können allein angesichts der Diversität der vielen religiösen Untergruppierungen nicht in einem kurzen Beitrag befriedigend beantwortet werden. Auch besteht zweifelsfrei Bedarf an empirischer, systemischer wie auch theoretischer Forschung zum aufgezeigten Fragekomplex; diese wissenschaftliche Herausforderung sollte möglichst interdisziplinär in Zusammenarbeit von Psychiatern, Psychotherapeuten, Religionswissenschaftlern, Ethnologen angegangen werden und müsste auch die Behandlungs- und Versorgungsebene psychischer Erkrankungen in den diversen, spezifisch religiös geprägten Ländern/Gesellschaften einbeziehen. Da aber für die psychische Stabilität/Instabilität hochbedeutsame Themenkomplexe wie Schuld und Scham, Reue, Sühne, Vergebung, Strafe und Erlösung in allen Religionen ihren Widerhall finden, werden auch ggf. nur skizzenhafte Abhandlungen für Psychotherapeuten bei der Suche nach dem Verstehen des jeweiligen, und eben nicht nur pathologischen, Verhaltens von Wert sein. Zu religionsspezifischen Werthaltungen gegenüber so bedeutsamen Bereichen wie z. B. dem Umgang mit Körperlichkeit und Sexualität oder auch mit Suizid und Suizidversuchen finden sich weiterführende Ausführungen explizit im Exkurs über Menschen mit besonderer sexueller Orientierung (LSB) und im 4. Kapitel in zwei Beiträgen zum Suizid.

Die Autoren der Kapitel des zweiten Teils entstammen entweder dem aktiv psychotherapeutischen oder dem religionswissenschaftlich-theologischem Feld mit Ausnahme der Autorin Gertrud Wagemann.

Der Beitrag von Frau Wagemann zeichnet sich durch die Besonderheit des biographisch geprägten Kompetenz-Hintergrundes der Autorin aus. Frau Wagemann, zuvor mehrjährig als Architektin tätig, nahm 1980 ein vietnamesisches Boatpeople-Kind als Pflegesohn in ihre Familie (mit zwei eigenen Söhnen) auf. In der Folgezeit knüpfte sie viele interreligiöse Kontakte u. a. im Kontext einer ehrenamtlichen Tätigkeit in ihrer Kirchengemeinde und der überregionalen Flüchtlingshilfe. Die von Frau Wagemann vorgenommene Zusammenstellung der für Psychiater und Psychotherapeuten bei Diagnostik und Therapie relevanten religiösen und kulturellen Gegebenheiten in den Regionen und Ländern Ost-Südostasiens, in Indien und Afrika imponiert aufgrund ihrer alltagspraktischen Bedeutung und erschien den Herausgebern aus diesem Anlass als Bereicherung dieses Bandes.

Allen Autoren des Buch-Abschnittes »Religionssensibilität: auch eine Frage des Wissens« sei besonders gedankt, da die abgefragte psychiatrisch-psychotherapeutische Sicht eine besondere Herausforderung darstellt, die sicher einer grundsätzlichen Vertiefung bedarf. Die vorgenannten Fragestellungen behandeln für das Judentum Nicolai Stern (image Kap. 9), für das Christentum Beate Jakob (image Kap. 10), für den Islam Mahmud Martin Kellner (image Kap. 11) und für den Buddhismus Gerald Virtbauer (image Kap. 13). Über die prägende Kraft der Religionen in Ost- und Südostasien, in Indien und Afrika schreibt Gertrud Wagemann (image Kap. 12) und über das Bahaitum Hamid Peseschkian (image Kap. 14). Den Autoren des Exkurses über Religion und Menschen mit LSB-Orientierung, Konrad Pfeifer, Lieselotte Mahler, Martin Plöderl, gebührt besonderer Dank, da sie dem erst in der Abschlussphase dieses Buches herausgeberseitig geäußerten Beitragswunsch sehr kurzfristig nachgekommen sind. Zum Beitrag über Menschen mit besonderer sexueller Orientierung (LSB) ist anzumerken, dass dieser ausdrücklich als Exkurs verstanden wird (image Exkurs). Handelt es sich hier doch nicht um psychisch kranke Menschen, sondern um Menschen mit erhöhter Vulnerabilität, die oftmals unter dem Eindruck religiös begründeter Stigmatisierungsmechanismen eine seelische Traumatisierung erfahren. Leider nicht mehr einbeziehen konnten wir einen eigenständigen Beitrag zu den psychischen Folgestörungen und den Kontextfaktoren, wie sie mit sexuellem Missbrauch vor allem junger Menschen durch Autoritätspersonen in religiösen Milieus verbunden ist. Dabei steht der langjährig vertuschte, erschreckende (weltweite) sexuelle Missbrauch durch Priester der katholischen Kirche zwar derzeit im Vordergrund (s. a. Deutsche Bischofskonferenz 2018). Es ist davon auszugehen, dass die Problematik in allen religiösen und spirituellen Gemeinschaften und Gruppen virulent ist, die u. a. durch ein Machtgefälle einerseits und große emotionale Nähe andererseits gekennzeichnet sind. Hierzu verweisen wir auf aktuelle Berichterstattungen sowie erste Materialsammlungen (z. B. Utsch 2018).

Wie der Machtmissbrauch zu den negativen Phänomenen religiöser Organisationen zählt, so dürfen trotz notwendiger Neubesinnung auf die in religiöser Überzeugung und Praxis liegenden Ressourcen die psychopathologischen Entwicklungen im religiösen Kontext nicht übersehen werden. Im dritten Teil des Buches (Beiträge 15–18) beschreibt Gunther Klosinski (image Kap. 15) aus jugendpsychiatrischem Blickwinkel die Gefahren persönlicher religiöser Entwicklung, insbesondere der Konversion, und schildert zugleich Mechanismen problematischer Einflussnahme. Joachim Demling (image Kap. 16) bietet einen Überblick über die (religions-)psychopathologischen Syndrome in christlichen Gesellschaften. Auf die Frage nach individuellen psychopathologischen Faktoren und sozialpathologischen Einflussebenen bei politisch-religiöser Radikalisierung auf dem Boden muslimischen Glaubens geht Ibrahim Rüschoff (image Kap. 17) ein. Raul Ceylan (image Kap. 18) setzt die »Kriminalgeschichte« des Christentums und des Islams als Hintergrund in Bezug zum Neo-Salafismus als »neue Jugendbewegung« speziell in Deutschland. Rüschoff und Ceylan gehen in ihren Beiträgen auch auf Aspekte und Maßnahmen der Prävention religiöser Radikalisierung ein.

Im vierten und letzten Teil (Beiträge 19–26) werden Beispiele und grundlegende Aspekte einer religionssensiblen Praxis in der Psychiatrie und Psychotherapie dargestellt. Samuel Pfeifer (image Kap. 19) beschreibt den religionssensiblen therapeutischen Umgang mit dem Dämonenglauben und Okkultismus, Hans-Jörg Assion (image Kap. 20) schildert traditionelle Heilvorstellungen in islamisch geprägten Kulturen, die auch in Deutschland im Umgang mit Migranten aus den beschriebenen Ländern zu beachten sind. Lasse Brandt, Christiane Montag und John Haynes (image Kap. 21) gehen den Wirkfaktoren und Effekten von Yoga, Meditation und Gebet aus psychotherapeutischer Sicht nach. Zum Problemfeld Suizid stellen Norbert Mönter und Michael Utsch (image Kap. 22) einige grundlegende Überlegungen an zu den sich über die Zeit wandelnden und in den Religionen unterschiedlichen Umgangsweisen und moralischen Bewertungen. Meryam Schouler Ocak (image Kap. 23) geht näher auf den Suizid speziell bei Migranten aus islamischen Ländern ein. Aus engagierter Krankenhaus-Seelsorge in einer psychiatrischen Klinik berichtet Thomas Beelitz (image Kap. 24). Ein sehr spezielles Beispiel religionssensibler psychotherapeutischer Praxis gibt Norbert Mönter mit seinem Projekt-Bericht über ein psychotherapeutisches Beratungsangebot und psychiatrische Informationsveranstaltungen in türkischen und arabischen Moscheen; von drei Mitarbeitern des Projektes (Elif Alkan-Härtwig, Sabrina Scherzenski und Jihad Alabdullah) werden konkrete Beratungssituationen und Verläufe vorgestellt (image Kap. 25). Die in den verschiedenen Beiträgen dieses Buches zusammengetragenen kultur- und religionsrelevanten Einfluss- und Zielfaktoren psychiatrischer und psychotherapeutischer Tätigkeit begründen auch eine sich wandelnde Identität der Psychiater und Psychotherapeuten. Hierzu schreibt Wielant Machleidt (image Kap. 22) und konstatiert abschließend »einen individuellen und zivilisatorischen Zugewinn, der allerdings nicht ohne massive innere und äußere Widerstände und Krisen zu erringen ist«.

Das Buch wendet sich an Psychiater und Psychotherapeuten sowie alle in der psychiatrischen und psychosozialen Versorgung tätigen Berufsgruppen, Akteure der Flüchtlingshilfe, religionswissenschaftlich und theologisch Interessierte. Gerade pastoral Tätige der verschiedenen Religionen haben in ihrer Seelsorge häufig mit Betroffenen psychischer Krisen zu tun. Der Band möchte mit seinen Fachbeiträgen zu einer verbesserten Zusammenarbeit zwischen Psychotherapie und Seelsorge anregen. Bei klarer Kompetenzverteilung können Psychotherapeuten und Seelsorger voneinander lernen und einander in ihrer Arbeit sinnvoll ergänzen. Für eine hilfreiche Zusammenarbeit sind Kenntnisse darüber, wie die komplementäre Berufsgruppe arbeitet, unverzichtbar. Ein neues Handbuch liefert detailliertes psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge (Sautermeister und Skuban 2018). Der hier vorliegenden Band ergänzt dieses stärker klinisch ausgerichtete Handbuch um religionswissenschaftliche und religionspsychologische Aspekte. Da wir gendersprachlich ausgewogen formulieren, aber zugleich eine leserfreundliche Darstellung sicherstellen möchten, werden neutrale und Paarformen sowie das generische Femininum und Maskulinum nebeneinander verwendet. Diese schließen, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein.

In diesem Sinne wünschen wir allen Leserinnen und Lesern viele Anregungen und Freude bei der Lektüre.

Norbert Mönter, Andreas Heinz, Michael Utsch

Berlin, im Oktober 2019

Literatur

Baatz U (2017) Spiritualität, Religion, Weltanschauung. Landkarten für systemisches Arbeiten. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Ciupka-Schön B, Becks, H. (2018) Himmel und Hölle. Religiöse Zwänge erkennen und behandeln. Ostfildern: Patmos.

Cyrulnik B (2018) Glauben. Psychologie und Hirnforschung entschlüsseln, wie Spiritualität uns stärkt. Weinheim: Beltz.

Deutsche Bischofskonferenz (2018) MHG-Studie: Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. (https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf, Zugriff am 10.06.2019).

Ertel U, Münch A (Hrsg.) (2019) Religion und Psychose. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Freund H, Böhringer S, Utsch M et al. (2018) Religiosität und Spiritualität in der Facharztweiterbildung. Eine Umfrage bei den Weiterbildungsermächtigten für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Nervenarzt 89/5: 539–545.

Freund H, Pfeifer S (Hrsg.) (2019) Spiritualisierung oder Psychologisierung? Deutung und Behandlung außergewöhnlicher religiöser Erfahrungen. Stuttgart: Kohlhammer.

Frick E, Stotz-Ingenlath G, Ohls I et al. (Hrsg.) (2018) Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Hofmann L, Heise P (Hrsg.) (2017) Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis. Stuttgart: Schattauer.

Juckel G, Hoffmann K, Walach H. (Hrsg.) (2018) Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Lengerich: Papst.

Machleidt W (2019) Religiosität und Spiritualität in der interkulturellen Psychotherapie. Psychotherapie-Wissenschaft 9/1: 51–21.

Milzner G, Utsch M, Britten U (2019) Religiöse und spirituelle Sinnsuche in der Psychotherapie. Georg Milzner und Michael Utsch im Gespräch mit Uwe Britten (Reihe Psychotherapeutische Dialoge). Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht.

Ohls I, Agorastos A (2018) Religion und Migration. In: Machleidt W, Kluge U, Sieberer M et al. (Hrsg.) Praxis der interkulturellen Psychiatrie und Psychotherapie. München: Elsevier. S. 103–111.

Peterson JB (2018) Warum wir denken, was wir denken: Wie unsere Überzeugungen und Mythen entstehen. München: MVG.

Reiser F (2018) Menschen mehr gerecht werden. Zur Religiosität bzw. Spiritualität von Patientinnen und Patienten in Psychiatrie und Psychotherapie. Würzburg: Echter.

Sautermeister J, Skuban T (Hrsg.) (2018) Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge. Freiburg: Herder.

Schlegel M, Gianimazzi N (2019) Sinnstiftung als gemeinsame Aufgabe von Religiosität/Spiritualität und Psychotherapie? (Editorial). Themenheft »Kultur, Religion und Psychotherapie«. Psychotherapie-Wissenschaft 9/1.

Sozialpsychiatrische Informationen (2018) Spiritualität: Ressource, Hemmnis. Illusion? Themenheft 48/2.

Utsch M (2018) Missbrauchsfälle in religiösen Milieus. Materialdienst der EZW 81/10: 363–364.

Utsch M (2018a) Depression und Religiosität/Spiritualität. Familiendynamik 43/2: 134–143.

Utsch M, Anderssen-Reuster U, Frick E et al. (2017) Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Positionspapier der DGPPN. Spiritual Care 6/1: 141–146.

Utsch M, Bonelli R, Pfeifer S (2018) Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen. 2. Auflage. Berlin: Springer.

Zwingmann C, Klein C, Jeserich F (Hrsg.) (2017) Religiosität – die dunkle Seite. Beiträge zur empirischen Religionsforschung. Münster: Waxmann.

Entstehungshintergrund und Einführung

Norbert Mönter

 

 

 

Glauben ist menschlich

Das hatten die 4 Berliner Psychiater und Psychotherapeuten auf der Radtour ins Baltikum nicht erwartet, als sie im Spätsommer 2015 den Königsberger/Kaliningrader Dom besichtigten. Soeben hatten sie an der Eingangsmauer die bronzene Kant-Gedenktafel (1994 wiederangebrachte Nachbildung des Originals von 1904) mit dem wohl berühmtesten Satz Immanuel Kants aus der Kritik der praktischen Vernunft von 1794 lesen können:

»Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der gestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Ich sehe sie beide vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.« (Kapitel 34 Beschluss)

Und jetzt standen sie knapp hundert Meter weiter an der Nordostecke des Domes vor Kants Grab (Ehrenmal Stoa Kantiana) und staunten ob der russischen Hochzeitspaare, die – frisch vermählt und z. T. mit gut gelaunter Hochzeitsgesellschaft – hier Blumensträuße niederlegten und sich übernatürlichen Segen für das Zukunftsglück ihrer Ehe ausgerechnet von dem großen deutschen Aufklärer erhoffend, fotografieren ließen. Zur Komplettierung des Rituals gehört nachfolgendes Anbringen eines Vorhängeschlosses am Eisengittergeländer der zur Dominsel führenden Pregelbrücke (früher Honigbrücke); damit sollte der Bund fürs Eheleben dann hoffnungsvoll besiegelt sein.

Wie es zu diesem Kaliningrader Hochzeitsbrauch en détail kam, kann offen bleiben. Aber angesichts des, von dem »Weisen aus Königsberg« 1794 so wegweisend entworfenen »Vernunftglauben«-Konzeptes und seiner Ablehnung von Wunderglauben, »himmlischen Einflüssen«, Liturgien und Wallfahrten überraschen diese modernen Rituale der pilgernden russischen Hochzeitspaare und erinnern an magische Glaubens- und Handlungsmodi. Dass gerade der als misogyn geltende, ewige Junggeselle als das feierliche Ritualobjekt ausersehen wurde, hat sicher auch seinen diesbezüglich kontrapunktisch ironischen wie psychologisch nachvollziehbaren Moment.

Kaliningrad birgt über dieses kleine Moment abergläubisch geprägten Alltagslebens hinaus ein viel weitergehendes, sich auf Glauben und Religion beziehendes Phänomen. In der geplanten sowjetischen Musterstadt (ab 1950 militärisches Sperrgebiet) kam es Ende der 1940er Jahre nach Zwangsumsiedlung der Deutschen Bevölkerung zur Neuansiedlung von Menschen aus vielen Regionen Russlands; vor allem waren es Kolchosebauern und Militärangehörige mit ihren Familien, die aus planerischer Sicht für die sowjetischen Utopie des neuen Menschen vermutlich besonders geeignet schienen. So galt Kaliningrad als erste offiziell »religionsbefreite« Stadt der Sowjetunion. Die Region Kaliningrad blieb für lange Zeit (bis 1967) das einzige sowjetische Gebiet ohne legale religiöse Gemeinden (Maslow und Steindorff 2016, S.171–210).