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Informationen zum Buch

Ein neuer Fall für Inspector Fenwick und die junge Polizistin Louise Nightingale: In einem Waldstück wird die Leiche eines Jungen gefunden, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Zur gleichen Zeit wird im nahe gelegenen Harlden nach einer Schießerei ein ehemaliger Major festgenommen. Zunächst scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Doch dann tauchen weitere Figuren auf dem Schachbrett der Schuld auf – und Fenwick steht plötzlich mitten in einem grausamen Spiel von Schande und Sühne, das gerade in eine neue Runde geht...

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Elizabeth Corley

SINE CULPA

Thriller

Aus dem Englischen
von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Inhaltsübersicht

Über Elizabeth Corley

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TEIL EINS

  1. Kapitel

  2. Kapitel

  3. Kapitel

  4. Kapitel

  5. Kapitel

  6. Kapitel

  7. Kapitel

  8. Kapitel

  9. Kapitel

TEIL ZWEI

  10. Kapitel

  11. Kapitel

  12. Kapitel

  13. Kapitel

  14. Kapitel

  15. Kapitel

  16. Kapitel

TEIL DREI

  17. Kapitel

  18. Kapitel

  19. Kapitel

  20. Kapitel

  21. Kapitel

  22. Kapitel

TEIL VIER

  23. Kapitel

  24. Kapitel

  25. Kapitel

  26. Kapitel

  27. Kapitel

  28. Kapitel

  29. Kapitel

  30. Kapitel

TEIL FÜNF

  31. Kapitel

  32. Kapitel

  33. Kapitel

  34. Kapitel

  35. Kapitel

  36. Kapitel

  37. Kapitel

  38. Kapitel

  39. Kapitel

TEIL SECHS

  40. Kapitel

Epilog

Impressum

 

 

 

TEIL EINS

 

 

 

TEIL ZWEI

 

 

 

September 1982

Als Paul erwachte, fuhren sie noch immer. Die Fahrt nahm kein Ende. Er öffnete den Mund, um Bryan zuzurufen, er solle anhalten, doch jahrelange Konditionierung sorgte dafür, dass er unter seiner Decke still blieb. Sein Groll, der schon den ganzen Tag in ihm gärte und von der gnadenlosen Stichelei in der Schule noch geschürt worden war, verhärtete sich allmählich zu dem vertrauten Hass auf Bryan und die widerlichen Dinge, die er ihn tun ließ.

Seine Aufklärung hatte sich auf eine peinliche Schulstunde im Vorjahr mit anatomisch korrekten Plastikmodellen der menschlichen Fortpflanzungsorgane, ein stotterndes Gespräch mit seinem Dad über Verhütung und eine Ohrfeige von seiner Oma beschränkt, als sie ihn dabei erwischt hatte, wie er nach der Schule vor einem Cafe in der Stadt ein Mädchen küsste. Er wusste mehr über Sex, als seine Eltern sich das überhaupt vorstellen konnten, und ihre verschämten Worte und die Selbstverständlichkeit, mit der sie seine Unschuld voraussetzten, hatten ihm früher ein Überlegenheitsgefühl gegeben. Jetzt jedoch wusste er, dass das, was er mit Bryan machte, schlimm war, und wenn seine Eltern und Freunde je dahinter kämen, wäre er ein Ausgestoßener.

Er hatte einen immer wiederkehrenden Albtraum, in dem sein Geheimnis entdeckt wurde: Er war mit Bryan im Duschraum des Schwimmbads, sie waren nackt und taten das, was Bryan am meisten gefiel, nur dass Paul auf ihn einredete, sie seien an einem öffentlichen Ort und es könne jeden Moment jemand reinkommen. Bryan achtete nicht auf ihn und machte weiter, doch Paul hörte draußen Stimmen. Sie wurden lauter, und er erkannte seinen Dad, dann seinen Freund Victor, die nach ihm riefen. Vor der Dusche hing ein blauer Plastikvorhang, der nicht bis zum Boden reichte, und Paul sah darunter Füße näher kommen, aber Bryan hörte noch immer nicht auf.

Paul wurde jedes Mal in dem Moment wach, wenn der Vorhang zur Seite gerissen wurde. Dann lag er in seinem Bett in der knarrenden Stille des Hauses und überlegte, wie er es beenden konnte. Aber Bryan hatte Fotos, dutzende Fotos. Pauls Gesicht war darauf deutlich zu erkennen, während Bryans geschwärzt war, und was sie zusammen taten war offensichtlich.

Als er die Bilder das erste Mal sah, hatte er geweint, und Bryan hatte ihn als Memme bezeichnet. Bei ihrem nächsten Treffen hatte Bryan sie ihm erneut gezeigt und davon gesprochen, wie es beim ersten Mal gewesen war, als Paul noch »ein kleiner Junge« war. Das Betrachten der Fotos hatte ihrem Ritual eine neue Wendung gegeben. Paul hasste es. Er hasste das, wozu er gezwungen wurde, den Menschen, der er geworden war, aber am allermeisten hasste er Bryan.

Manchmal stellte er sich vor, ihn zu töten. Er hatte sich angewöhnt, ein Messer bei sich zu tragen, ein ziemlich scharfes mit Holzgriff, das seine Mum vor Jahren bei Woolworth gekauft hatte. Ein Steakmesser, hatte sie gesagt. In seiner Fantasie rammte er es in Bryan hinein, der dann schrie wie am Spieß, oder er schnitt ihn schön langsam in Stücke. In Wahrheit jedoch schnitt Paul sich selbst, fügte sich kleine Verletzungen an Armen und Beinen zu, die noch als Schürfwunden durchgingen, von angeblichen Stürzen mit dem Fahrrad.

Nachts hatte er das Messer unter dem Kopfkissen, damit es da war, wenn er schweißnass aus seinem Albtraum erwachte und es erst nach vielen Stunden hell wurde. Heute Morgen hatte er das Messer ganz unten in seine Schultasche gelegt und sein Ferienprojekt, die Lektüreliste und seine Sportsachen oben drauf gepackt.

Ein Lächeln verzog seine Lippen nach oben, als er die Hand tief an der Seite in die Tasche schob und den vertrauten Holzgriff berührte. Er ließ seine Finger dort, empfand es als tröstend, trotz der holprigen Fahrt und der stinkenden Abgase, von denen ihm schlecht wurde. Er schloss die Augen und versuchte nicht daran zu denken, was als Nächstes passieren würde. Paul sank in einen Tagtraum, in dem er Bryan mithilft von eigenen Fotos, die er mit seiner heimlich gekauften Instamatik-Kamera gemacht hatte, zwang, ihn in Ruhe zu lassen. Die Kamera steckte in seiner Tasche gleich neben dem Messer, aber jetzt, da er mit der Wirklichkeit konfrontiert war, wusste er nicht, ob er den Mut haben würde, sie zu benutzen.

Der Wagen wurde langsamer, und sein Magen verkrampfte sich. Er hörte das vertraute Geräusch, als das große Tor sich öffnete, und er begriff, dass Bryan ihn angelogen hatte. Sie fuhren nicht einfach nur ein Stück tiefer in den Wald. Bryan hatte ihn zu Nathans Haus gebracht, obwohl Paul wusste, dass das nicht sein richtiger Name war. Er hätte am liebsten losgeheult. Er hasste »Nathan« noch mehr als Bryan, weil er trotz seiner schmächtigen Statur und seiner gepflegten Manieren ein sadistisches Schwein war. Das Tor fiel laut hinter ihnen zu. Während Bryan den Wagen langsam weiterrollen ließ, schob Paul vorsichtig die Hand unter der Decke heraus und zielte blind mit der Kamera, wie er hoffte durch das Heckfenster. Er drückte den Aus lös er, drehte den Film weiter und drückte noch einmal.

Der Wagen hielt, Bryan stieg aus und ging weg, ohne ihn herauszulassen. Paul hörte Stimmengemurmel und setzte sich geduckt auf. Ohne hinzusehen, richtete er die linse durchs Seitenfenster aufs Haus, wo die Männer standen, wie er vermutete. Er machte ein Foto und riskierte noch ein zweites, dann kam Bryan zurück. Als die hintere Tür aufgeschlossen wurde, war die Kamera schon wieder sicher in der Tasche verstaut.

»Lass die Tasche hier bei deinem Fahrrad.«

»Kann ich sie nicht mitnehmen? Da ist meine Hausarbeit und alles drin.«

Bryan zuckte die Achseln, als wäre es ihm egal, und Paul hängte sich die Tasche über die Schulter, die rechte Hand beiläufig an der Seite hineingesteckt. Das Haus war weitläufig, hatte einen parkähnlichen Garten und einen Swimmingpool. Als er das erste Mal hierhergebracht worden war, war er elf gewesen und ganz eingeschüchtert von dem prächtigen Anwesen. Jetzt kannte er das alles und dachte nur noch an das geschlossene Tor und die hohen Mauern.

Paul folgte Bryan über die Terrasse und einen großen, gepflegten Rasen zum Pool, der von einer Pergola umgeben war, die als Windschutz diente und gleichzeitig gegen Blicke abschirmte. Drei Männer lehnten an der Poolbar. Zwei waren sonnengebräunt und trugen schon Badehose. Der Dritte war ihr Gastgeber. Er erkannte Paul und winkte ihm zur Begrüßung

»Paul. Schön, dass du uns mal wieder besuchst. Ich möchte dir meine Freunde vorstellen – Alec und Joe. Die beiden sind nur auf ein paar Tage zu Besuch. Ich hab ihnen alles von dir erzählt, und sie wollten dich unbedingt kennenlernen. Sag guten Tag.«

Paul blickte die Fremden an. Joe war groß und sah aus wie ein Filmstar. Er hatte sehr weiße Zähne und ein freundliches, verschmitztes lächeln. Alec machte offensichtlich einen auf harter Mann. Er war klein und bullig und ignorierte ihn.

»Hier hast du was zu trinken, Cola mit Eis, das magst du doch, nicht?«

Er sah, wie die Männer Blicke wechselten, und wusste, dass ein ordentlicher Schuss Wodka drin sein würde. Er sollte das gar nicht wissen, war aber schon vor Jahren dahintergekommen. Der Alkohol benebelte ihn nicht mehr, solange er nur ein Glas trank, aber er half ihm, sich zu entspannen.

»Komm her, Paul.« Er trat zwischen die beiden Männer, und Joe legte ihm leicht einen Arm um die Schultern.

»Leg deine Tasche ruhig weg. Jetzt hast du sowieso keine Zeit für Hausaufgaben!«

Alle außer Alec lachten, und der Tragegurt wurde ihm von der Schulter geschoben.

»Du Scheiße, ist die schwer!« Alecs Stimme war heiser, und er fluchte, was Nathan niemals tat.

Paul trank einen Schluck und suchte vergeblich nach Anzeichen dafür, dass noch andere Jungs dazukommen würden. Er geriet in Panik. Es konnte doch nicht sein, dass nur er da war. Das hatte es noch nie gegeben. Er schaute sich nervös nach seiner Tasche um und sah sie auf einer Sonnenliege. Sie war umgekippt, und er hatte Angst, dass die Kamera herausfallen könnte.

»Nun trink schon. So ist gut, danach kannst du in den Pool. Ganz schön heiß heute.« Nathan klang wie ein freundlicher Onkel. Vielleicht wollte er ihn heute ja nicht. Vielleicht wollte er Paul ja nur seinen Freunden vorführen, wie eine seltene Kuriosität.

»Ich hab meine Badehose nicht mit.«

Das fanden sie ungemein lustig. Joe nahm die Hand von seiner Schulter und zerzauste Pauls Haar.

»Hier musst du nicht schüchtern sein«, sagte er, »du bist unter Freunden. Weißt du was, wir gehen alle nackt schwimmen.«

Er stellte seinen Drink auf die Bar und zog sich die Badehose aus. Paul sah weiße Gesäßbacken aufblitzen, als Joe zum Rand des Pools lief und einen perfekten Kopfsprung machte. Bryan tat es ihm nach. Sie standen im Pool, das Wasser reichte ihnen bis zur Brust, und ihre Beine sahen seltsam kurz aus, während sie erwartungsvoll zu Alec, Nathan und Paul hochblickten.

»Kommt rein!«

Alec behielt seine Badehose an und sprang hinein. Wasser spritzte bis auf die Terrasse und landete auf Pauls Schuluniform.

»Na, jetzt bist du sowieso schon nass. Zieh doch die feuchten Sachen aus und leg sie in die Sonne. Wenn du wieder nach Hause musst, sind die getrocknet.« Nathan trat näher, beide Hände erhoben, um ihn anzufassen. Paul wich zurück, bis seine Waden gegen die Liege stießen, und er setzte sich ruckartig neben seine Tasche.

»Ich will nicht.« Tränen brannten ihm in den Augen.

»Du bist doch sonst nicht so schüchtern.« Nathan klang noch immer freundlich. »Liegt es daran, dass wir zu viert sind? Mach dir deshalb keine Gedanken. Ich würde doch niemals zulassen, dass dir jemand wehtut, nicht hier in meinem Haus.«

Paul schüttelte den Kopf, während sich sein Gesicht weinerlich verzog und ihm eine Träne über die Wange lief

»Och, nun wein doch nicht.« Nathan kniete sich vor ihn, legte ihm eine Hand aufs Knie und streichelte es. »Es wird alles gut. Im Wasser ist es schön, das macht alles so einfach. Warte nur ab, du wirst richtig Spaß bekommen.«

»Komm schon, Percy, was soll der Scheiß! Du hast gesagt, der Kleine würde keine Zicken machen«, rief Alec aus dem Pool, und Nathan fuhr wütend herum.

»Ich heiße Nathan, kapiert? Immer schön sauber und diskret. Er ist nur ein bisschen verstört, aber er ist ein guter Junge, das bist du doch, nicht wahr, Paul? Ah, ich weiß, was du möchtest – hier.«

Nathan nahm zwei schöne glatte Zehn-Pfund-Scheine aus seinem Portemonnaie und legte sie ihm sorgfältig aufs Bein. Pauls rechte Hand war in seine Schultasche gewandert, und er weigerte sich, das Geld zu nehmen. Er hatte sich an dieses leicht verdiente Geld gewöhnt, aber jetzt bedeutete es ihm nichts mehr, weil er leider zu spät erkannt hatte, dass es alles andere als leicht verdient war. Was passieren würde war schrecklich und peinlich, vor allem auch deshalb, weil sein Körper inzwischen darauf reagierte und er nichts dagegen tun konnte. Er schämte sich zu Tode.

Nathan nahm das Geld und steckte es in die Tasche von Pauls Schulblazer.

»Später gibt s noch mehr.«

»Jetzt gibt s noch mehr.«

Joe schwang sich mit Leichtigkeit aus dem Pool und ging zu einem Sessel in der Nähe. Er trocknete sich die Hände und griff in eine Sporttasche.

»Hier. Hast du so einen schon mal gesehen?« Er hielt einen großen Schein hoch. »Das sind zwanzig Pfund.«

Paul wandte den Blick vom nackten Körper des Mannes ab.

»Ich weiß. Meine Oma hat mir so einen geschenkt, als ich im ersten Jahr den Hauptpreis gewonnen hab.« Paul wusste nicht, womit er eigentlich angab, mit dem Geld oder mit dem Schulpreis.

»Toll! Wie war’s dann hiermit?« Joe reichte ihm einen Schein mit einer 50 darauf.

»Ist der echt?« Paul hielt ihn hoch, suchte nach dem Metallstreifen und dachte einen Moment lang nicht mehr an seine Schultasche.

»Und ob. Wo Alec und ich herkommen, werden wir damit bezahlt, und du bekommst noch mehr… wenn du ein lieber Junge bist.«

Paul sah sich das Geld in seiner Hand noch lange an, dann blickte er zu Nathan und Joe auf, die glatten Wangen noch immer tränennass.

»Entzückend«, murmelte Joe, »genau wie du gesagt hast.«

»Und noch dazu ein ganz lieber Junge«, pflichtete Nathan bei und wischte Paul mit einem sauberen weißen Taschentuch die Tränen vom Gesicht. »Komm, mein Kleiner, lass uns schwimmen gehen, solange es noch warm ist.«

 

 

 

TEIL DREI

 

 

 

September 1982

Paul kauerte in einer Ecke der Toilette und versuchte, die Füße vom Boden zu halten, während er zugleich mit dem Rücken gegen die Tür drückte. Es war ein nutzloses Versteck, aber ein besseres hatte er nicht finden können, nachdem er den Männern draußen weggelaufen war. Er hatte gedacht, es gäbe eine Hintertür, durch die er entwischen und in den Wald fliehen könnte. Stattdessen saß er in der Falle, verängstigt und allein. Er drückte sich noch fester in die Ecke, gegen die Türangeln, und presste die Füße gegen die Rückwand, aber er rutschte immer wieder ab. Als sie ihn ausgezogen und in den Pool geworfen hatten, war er zuerst in Panik geraten, aber er war ein guter Schwimmer, vor allem unter Wasser, und er war zwischen ihren Beinen hindurch bis zur Treppe am anderen Ende getaucht, während sie noch über ihren Scherz lachten. Als er dann vom Pool wegrannte, hatte er Alec fluchen und seinen Namen rufen hören. Der Tonfall des Mannes hatte ihm panische Angst eingejagt, und er war noch schneller gerannt, bis zum Poolhaus. Erst als er drinnen war, hatte er gemerkt, dass es keinen anderen Ausweg gab als den zurück zum Pool.

Deshalb drückte er sich jetzt gegen die Tür, zitternd vor Furcht und Kälte. Er horchte angestrengt auf das kleinste Geräusch, und als er das leise Atmen eines Menschen vernahm, erstarrte er vor Angst. Wieder drohten seine nassen Füße von der Wand abzurutschen, und er spannte die Beine an, um sie oben zu halten, während seine gespreizten Zehen verzweifelt nach Halt suchten.

Das Atmen wurde lauter. Er spürte förmlich, wie sich nackte Füße über die weißen Fliesen näherten, und presste die Augen fest zusammen. Er begann, ganz leise zu weinen, sodass niemandes hören konnte.

»Paul?«

Bryans Stimme, freundlich, nicht böse, aber das tröstete ihn nicht. Er wusste, dass Bryan ihn nicht vor den Männern da draußen schützen konnte und es auch gar nicht vorhatte. Es ging nur ums Geld. Bryan hatte bloß so getan, als mochte er ihn. Wenn er doch nur sein Messer dabeihätte, dann würde er rausspringen und es in ihn hineinstechen, wieder und wieder, bis er tot war. Aber das Messer war bei seinen übrigen Sachen am Pool, weit weg und nutzlos.

»Paul, ich weiß, wo du bist, mach keinen Quatsch. Hast du vergessen, dass nasse Füße Spuren hinterlassen?«

Entsetzt sah Paul nach unten auf die Pfütze, die sich unter ihm gebildet hatte, und schluchzte laut auf

»Na, na, nun wein doch nicht. Dir passiert nichts, wenn du ein guter Junge bist. Komm, wir gehen wieder nach draußen.« Bryans Stimme wurde lauter und lauter, und sein Gesicht erschien über der niedrigen Tür.

Paul stieß einen verzweifelten Schrei aus und rutschte an der Tür nach unten, sank zusammen, hilflos schluchzend.

»Hör auf, Kleiner, weinen ruiniert dein hübsches Gesicht, und das mögen sie nicht.«

Bryan bückte sich, um ihm aufzuhelfen. Paul riss plötzlich den Kopf hoch und traf Bryans Kinn so hart, dass die Zähne hörbar aufeinanderschlugen. Bryan taumelte rückwärts, und Paul flitzte an ihm vorbei nach draußen, ohne sich umzusehen.

»Du kleiner Mistkerl«, schrie Bryan. »Schnapp ihn dir, Alec. Schnapp dir den kleinen Scheißer, er läuft in deine Richtung.« Er lief hinter Paul her, aber der Junge rannte schon auf den Wald am Rande des Grundstücks zu, als wären ihm alle Höllenhunde auf den Fersen.

Hinter ihm hörte er Rufe, Flüche und das Stampfen von laufenden Füßen, aber das war ihm egal. Wenn er es bis zum Zaun schaffte, könnte er drüberklettern und sich verstecken. Er war fast am Ziel, als eine kräftige Hand ihn an der Schulter packte und er ins Stolpern geriet. Er schlug um sich und spürte befriedigt, wie seine Fingernägel sich in Fleisch gruben, aber durch die Bewegung verlor er das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Ein Fausthieb traf ihn so fest am Kopf, dass er Sterne sah. Die Faust hob sich erneut, aber ehe sie wieder zuschlagen konnte, wurde sie von hinten festgehalten.

»Was solider Scheiß, Alec?« Das war Nathans Stimme, wütender, als Paul sie je gehört hatte. »Keine Prellungen, denk dran.«

»Wenn du meinst, dass der kleine Wichser wieder nach Hause geht, nach dem, was er gerade mit mir gemacht hat, dann liegst du falsch!« Zum Beweis schlug Alec Paul noch einmal, kassierte aber prompt von Nathan einen Hieb ins Gesicht und zwar mit irgendetwas Hartem, denn es bildete sich sofort ein langer roter Striemen.

»Das reicht. Los, runter von ihm, aber dalli.«

Irgendwas in Nathans Stimme brachte Alec zur Besinnung, und er nahm seine Knie von Pauls Brust. Der Junge sog dankbar die Luft ein. Aus den Augenwinkeln sah er etwas Silbriges ins Nathans Hand und erkannte entsetzt, dass es ein Revolver war. Er rollte sich auf die Seite. Sein Magen rebellierte und sein Kopf brannte.

»Trag ihn rüber«, befahl Nathan, und er spürte, wie er mühelos hochgehoben wurde. Sein Kopf baumelte tief über einen Rücken, und er merkte, dass es Bryans war. Er stöhnte.

»Bitte, bitte, Bryan, lass mich los«, flehte er. »Ich will nach Hause. Ich sag auch keinem was, versprochen.«

Bryan reagierte nicht.

»Bryan!«, schrie er verzweifelt, »bring mich nicht wieder dahin. Die tun mir weh, das weiß ich. Bitte!« Er schluchzte laut, und seine Tränen tropften auf Bryans nacktes Kreuz.

»Du hättest nicht weglaufen sollen, Kleiner. Jetzt kann ich dir nicht mehr helfen.«

»Aber du bist doch mein Freund. Hilf mir doch, bitte.«

Bryan hob ihn von der Schulter und stellte ihn aufrecht hin. Paul schwankte leicht, als das Blut ihm aus dem Kopf strömte, aber er behielt das Gleichgewicht und schlang die Arme um Bryans Taille, bettelte, er möge ihn vor den anderen beschützen. Sein Weinen war so mitleiderregend, dass Bryan ihn nah an sich ranzog und ihre Haut sich berührte, Bryans heiß von der Anstrengung, Pauls eiskalt.

»Hör mir zu, mein Süßer«; flüsterte er, »wenn du jetzt schön lieb bist, bring ich dich hier raus. Mach, was sie sagen – und tu so, als würde es dir Spaß machen, damit sie wieder anfangen, dich zu mögen. Wenn alles vorbei ist, sorge ich dafür, dass du wieder nach Hause kommst.«

Paul wich ein wenig zurück, die Augen voll Hoffnung und Angst.

»Versprochen?«, fragte er unsicher.

Bryan atmete tief durch und drückte Pauls Hände.

»Ja«, sagte er. »Versprochen.«

»Ganz ehrlich?«

»Hab ich dich je angelogen?«, antwortete er mit einem Lächeln. Paul schüttelte automatisch den Kopf und folgte seinem Freund zurück zum Pool.

 

 

 

TEIL VIER

 

 

 

September 1982

Es war sehr dunkel in dem Keller, so dunkel, dass Paul die Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Er wusste nicht, wie spät es war, und fragte sich, ob die normale Abendessenszeit schon vorbei war. Wenn ja, dann bedeutete das, dass Bryan gar nicht vorhatte, ihn rechtzeitig wieder nach Hause zu bringen, damit seine Eltern nichts merkten. Als wäre das überhaupt möglich, so wie er zugerichtet war. Er fror.

Trotz der abendlichen Wärme draußen war es kalt in dem Kellerraum. Er musste sich einfach warm halten, bis Bryan kam. Paul versuchte, auf der Stelle zu hüpfen und zu laufen. Eine Weile schaffte er es, aber der Schmerz in der unteren Hälfe seines Körpers zwang ihn aufzuhören, ehe seine Beine müde oder seine Füße auf dem Steinboden wund wurden.

Wo war er? Sie hatten ihn geknebelt, ihm einen Sack über den Kopf gestülpt und dann vom Pool weggetragen. Der Weg hatte höchstens fünf Minuten gedauert, also musste er noch irgendwo auf dem Grundstück sein, aber wo? Erneut versuchte er, sein Gefängnis zu erkunden, und diesmal zählte er die Schritte ab: Fünfzehn von da, wo er gestanden hatte, bis zu der groben Holztür. Er hämmerte dagegen und schrie, man solle ihn rauslassen, bis er heiser war. Nichts. Als er das Ohr dagegendrückte, hörte er nicht das Geringste von der anderen Seite, aber vielleicht war die Tür ja auch zu dick. Nein, Moment, vielleicht gab es zwei Türen. Ja.

Er versuchte, sich an die Geräusche zu erinnern, die er gehört hatte, als sie ihn herbrachten. Alec hatte ihn getragen, da war er sicher, wegen des Geruchs und wegen der Bartstoppeln. Joe und Bryan waren wohl am Pool geblieben, weil er auf dem Weg durch den Wald nur die Schritte einer weiteren Person gehört hatte. Sie hatten ihn an einem Bach entlang getragen und waren über unwegsame Steine gegangen, die unter Alecs Füßen wegrutschten. Kurz darauf hatte er die Sonne nicht mehr gespürt, also waren sie wohl unter dichtere Bäume gekommen. An der Stelle wäre Alec fast gestürzt, und er hatte über die nassen Steine unter seinen Füßen geflucht. Nathan sagte, er solle die Klappe halten; das waren die einzigen Worte, die unterwegs gesprochen wurden.

Als sie hier ankamen, hatte er das Klimpern von Schlüsseln gehört, ein Knarren und dann Stille, aber Alec hatte auch noch gewartet, nachdem Nathan die Tür aufgeschlossen hatte. Worauf? Paul erinnerte sich an ein zweites ächzendes Geräusch vor ihnen. Das könnte eine weitere Tür gewesen sein, unten an der Treppe, die sie hinabgestiegen waren. Bei dem Gedanken, dass er hinter einer doppelten Sperre gefangen war, fühlte er sich noch schlechter.

Fünfzehn Schritte. Er schob die rechte Hand an der Wand entlang. Zehn Schritte, dann stieß er gegen eine Art Holzregal. Er ließ die Finger darüber gleiten, nach ein paar Zentimetern kam ein Pfosten, dann noch einer. Er zählte insgesamt zwanzig, ehe er wieder die kühle Steinwand berührte. Mit der anderen Hand tastete er das Regal ab. Die einzelnen Bretter waren dicht übereinander, und jedes war wiederum in kleine Fächer unterteilt, zu klein für Bücher. Was sollte das bloß sein?

Er geriet nicht in Panik, sondern drehte sich um neunzig Grad und tastete nach der anderen Wand. Auch hier stand so ein Holzregal. Seine Finger glitten darüber und zuckten plötzlich zurück, als sie etwas Glitschiges berührten. Es war noch kälter als die Steine, und er dachte, es wäre irgendein angriffslustiges Reptil. Sein Atem ging keuchend, als er darauf lauschte, ob das Tier sich bewegte, aber er hörte bloß Stille. Schließlich nahm er seinen ganzen Mut zusammen und streckte wieder die Hand aus. Es war noch da, aber diesmal war die Kälte nicht so erschreckend, und es war auch nicht glitschig, sondern glatt, wie Glas. Es war Glas – eine Flasche. Er zog sie aus dem Regal und tastete sie der Länge nach ab, bis zu dem sich verjüngenden Hals und der Metallfolie am Ende. Weiner war in einem Weinkeller.

Bei dem Gedanken fühlte er sich besser. Er war also nicht in irgendeinem baufälligen Gebäude oder stillgelegten Bergwerk. Der Wein gehörte bestimmt Nathan, denn der hatte die Schlüssel. Irgendwann würde ersieh welchen holen kommen, sie würden ihn nicht einfach hierlassen. Aber vielleicht war ja auch nur noch eine Flasche da, die Nathan schlicht vergessen hatte. Auf einmal war ihm ungemein wichtig, wie viele Flaschen hier lagerten. Paul zählte sie, dann zählte er noch einmal, und als er eine andere Zahl herausbekam, zählte er ein drittes Mal.

Dreihundertsiebenundzwanzig! Er musste lachen. Also wurde der Keller noch genutzt. Jawohl! Die hatten ihn nur hier eingesperrt, um in Ruhe zu überlegen, was sie mit ihm machen würden. In diesem Moment bekam er furchtbare Magenkrämpfe. Er beugte sich vor und schnappte nach Luft. Dann musste er sich übergeben. Als es ihm wieder besser ging, dachte er als Erstes, dass Nathan bestimmt wütend werden würde, weil es so stark nach Erbrochenem roch. Sein zweiter Gedanke war, dass er jetzt noch mehr fror als vorher. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Körper, und ihm klapperten die Zähne. Sie würden bald kommen, ganz bestimmt. Bryan war sein Freund.

Wie lange noch, bis er ihn holen kam? Bryan würde nicht lange brauchen, um Alec und Joe loszuwerden, und dann könnte er wieder ungefährdet raus. Und darum kümmerte er sich jetzt bestimmt. Bryan war sein Freund. Er hatte versprochen, auf ihn aufzupassen. Aber als er daran denken musste, was er gerade über sich hatte ergehen lassen, wurde er von einem weiteren Krampf erfasst, und ihm wurde wieder schlecht. Diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, den Kopf richtig vom Boden hochzuheben, und Erbrochenes blieb ihm in den Haaren und am Hals kleben. Er rollte sich eng zusammen, schlang die Arme um die Knie, um sich zu wärmen und zu trösten, und presste den Kopf auf die Brust.

 

 

 

TEIL FÜNF

 

 

 

September 1982

Die drei Männer betrachteten den brennenden Wagen. Benzingeruch vermischte sich mit dem widerlichen Gestank von schmelzendem Gummi.

Keiner sagte etwas. Die Zeit für Vorwürfe und Schuldzuweisungen würde kommen. Jetzt waren sie durch die Notwendigkeit geeint, ein Verbrechen zu vertuschen und den Beweis zu vernichten.

»In vierundzwanzig Stunden müsste alles so abgekühlt sein, dass mans auseinandernehmen kann. Wir können die alte Silogrube auf der Farm nehmen. Die ist jetzt verlassen, und ich füll sie später auf.«

Der ältere Mann, Nathan, sprach mit einer Selbstsicherheit, die verriet, dass er es gewohnt war, Befehle zu geben, die befolgt wurden.

»Wir brauchen irgendeine Transportmöglichkeit.« Derjenige, der sich Joe nannte, wirkte am bedrücktesten von den dreien. Seine Augen blickten überallhin, nur nicht auf die Leiche.

»Kein Problem. Ich hab einen Anhänger und einen Jeep, aber ich denke, wir müssen noch da aufräumen, wo es passiert ist. Alec, du fährst da jetzt hin. Bryan hat uns die Wegbeschreibung geliefert, und es wäre besser, wenn das jemand übernimmt, den hier keiner kennt.«

Alec riss den Blick zögernd von der Leiche im Auto los. Die erhobenen geballten Fäuste, die sich schwarz vor den Flammen im Inneren abzeichneten, faszinierten ihn.

»Sieht aus, als würde er dagegen ankämpfen«, sagte er beinahe ehrfürchtig angesichts der Kraft des toten Körpers.

»Lies deine Lehrbücher«, Nathan klang herablassend. »Das nennt man Boxerhaltung. Durch die Hitze verkürzen sich die Sehnen. Habt ihr denn nie gesehen, wie einer in einer Blechbüchse gebraten wird?« Bei dieser beiläufigen Anspielung auf den Tod in einem brennenden Panzer wandte Joe sich ab.

»Jetzt komm in die Gänge.« Nathan wandte sich abrupt um und ging weg. Die beiden Alleingelassenen starrten sich an. Sie sprachen erst, als er nicht mehr zu sehen war.

»Arrogantes Arschloch! Der ändert sich auch nie, was? Manchmal juckt’s mich in den Fingern, ihm sein überlegenes Getue auszutreiben, nur einmal.«

»Vergiss es, Alec. Er ist der Boss, ob dir das gefällt oder nicht. Und überhaupt, wir können uns jetzt nicht in die Haare kriegen. Wir brauchen uns gegenseitig.«

»Kann sein.« Alec klang nicht überzeugt. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt sofort verschwinden? Soll er doch sehen, wie er klarkommt.«

Dasselbe hatte Joe auch schon gedacht, dann aber wieder verworfen. Wenn der Wagen und die Leiche niemals gefunden wurden, hatten sie die größte Chance, ungeschoren davonzukommen. Sie hatten ihn meilenweit von der Stelle entfernt verbrannt, wo … es passiert war. Selbst jetzt konnte er das Ganze noch immer nicht richtig fassen.

»Nein. Wir müssen zusammenhalten, wie in alten Zeiten. Keiner von uns wird reden, und es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Junge nie gefunden wird. Und wenn doch, ist nichts mehr da, was ihn mit uns in Verbindung bringt.«

»Seine Eltern werden ihn vermissen. Woher willst du wissen, dass sie der Polizei nicht von der Freundschaf zwischen Paul Hill und Bryan Taylor erzählen?«

»Psst!« Selbst in der Einsamkeit des Wäldchens warf Joe einen Blick über die Schulter, als Pauls und Bryans Namen fielen.

»Er hat gesagt, wir sollten ihn nie wieder erwähnen, nicht mal unter uns. Hör mal«, er sah auf die Uhr, »mach dich auf die Socken nach Bluebell Wood, wie er gesagt hat, und vergewissere dich, dass da alles in Ordnung ist.«

»Jetzt fang du nicht auch noch an, mich rumzukommandieren!« Alec trat ganz dicht vor ihn, sodass sie fast Brust an Brust standen. Joe hob beide Hände.

»Okay, okay, aber du machst das besser als ich.«

Alec zuckte die Achseln und zündete sich eine Zigarette an. Als er zu Ende geraucht und seine Unabhängigkeit lange genug demonstriert hatte, ging er wortlos davon. Sein Gefährte blieb zurück und wartete, bis die Flammen erloschen. Erst dann richtete er den Blick auf den Beifahrersitz. Zu seiner Erleichterung zerbröckelte die Silhouette. Asche zu Asche.

 

 

 

TEIL SECHS

 

 

 

September, Gegenwart

Es war sehr dunkel in dem Keller, so dunkel, dass Sam die Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Er wusste nicht, wie spät es war, und fragte sich, wie viel Zeit vergangen sein mochte, seit William ihn hier eingesperrt hatte. Wieder versuchte er, den Strick an den Handgelenken zu lockern, ohne auf den Schmerz zu achten, bis er spürte, dass die Spannung nachließ und er die Hände besser bewegen konnte. Er drehte und wendete sie, bis erden Strick über den Daumen ziehen konnte und dann, quälend langsam, über die Knöchel der rechten Hand. Danach brauchte er keine Minute mehr, um sich ganz von den Fesseln zu befreien.

Trotz der abendlichen Wärme draußen war es kalt hier unter der Erde, und er trug nur T-Shirt und Jeans. Seine Füße waren nackt, damit er auch ja nicht weglaufen konnte. Er fröstelte. Er musste sich warm halten, bis jemand ihn holen kam. Sam versuchte, auf der Stelle zu hüpfen und zu laufen. Eine Weile schaffte er es, aber dann wurde ihm schwindelig, und er musste sich hinsetzen, um nicht in Ohnmacht zufallen. Er fühlte sich eigenartig. William hatte ihm eine Flasche Cola mit Strohhalm dagelassen, aber irgendwie war ihm davon schlecht geworden, deshalb hatte er nicht weiter getrunken.

Wo war er? William hatte ihn geknebelt, ihm einen Sack über den Kopf gestülpt und dann vom Auto weggetragen. Der Weg hatte höchstens fünf Minuten gedauert, also musste er noch irgendwo in dem Wald sein, den er durch das Autofenster gesehen hatte, aber wo? Erneut versuchte er, sein Gefängnis zu erkunden, und diesmal zählte er die Schritte ab: Fünfzehn von da, wo er gestanden hatte, bis zu der groben Holztür. Er hämmerte dagegen und schrie, man solle ihn rauslassen, bis er heiser war. Nichts. Als er das Ohr dagegen drückte, hörte er nicht das Geringste von der anderen Seite, aber vielleicht war die Tür ja auch zu dick. Nein, Moment, vielleicht gab es zwei Türen. Ja.

Er versuchte, sich an die Geräusche zu erinnern, die er auf dem Weg in dieses Gefängnis gehört hatte. Als sie hier ankamen, hatte er das Klimpern von Schlüsseln gehört, ein Knarren, und dann waren sie eine Treppe hinuntergegangen. William war stehen geblieben, und irgendwie hatte sich die Luft verändert, ungefähr so, als hätte er eine weitere Tür geöffnet. Bei dem Gedanken, dass er hinter einer doppelten Sperre gefangen war, fühlte er sich noch schlechter.

Fünfzehn Schritte. Er schob die rechte Hand an der Wand entlang. Zehn Schritte, dann stieß er gegen eine Art Holzregal. Er ließ die Finger darüber gleiten, nach ein paar Zentimetern kam ein Pfosten, dann noch einer. Er zählte insgesamt zwanzig, ehe er wieder die kühle Steinwand berührte. Mit der anderen Hand tastete er das Regal ab. Die einzelnen Bretter waren dicht übereinander, und jedes war wiederum in kleine Fächer unterteilt, zu klein für Bücher. Was sollte das bloß sein?

Er geriet nicht in Panik, sondern drehte sich um neunzig Grad und tastete nach der anderen Wand. Auch hier stand so ein Holzregal. Seine Finger glitten darüber und zuckten plötzlich zurück, als er etwas Kaltes und Glattes berührte – Glas. Es war eine Flasche. Er zog sie aus dem Regal und tastete sie der Länge nach ab, bis zu dem sich verjüngenden Hals und der Metallfolie am Ende. Wein – er war in einem Weinkeller.

Bei dem Gedanken fühlte er sich besser. Er war also nicht in irgendeinem baufälligen Gebäude oder stillgelegten Bergwerk. Der Wein musste irgendwem gehören. William hatte die Schlüssel. Irgendwann würde er zurückkommen, er würde ihn nicht einfach hierlassen. Aber vielleicht war es ja ein verlassener Keller? Auf einmal war ihm ungemein wichtig, wie viele Flaschen hier lagerten. Sam tastete das Regal ab, und dann fing er noch mal von vorne an.

Nur zwei Flaschen; mehr nicht. Vielleicht wurde der Keller gar nicht mehr benutzt. Bei dem Gedanken begann er zu wimmern. Sollte er doch hier einsam und verlassen sterben? Ausgemustert wie Jack, aus Gründen, die er nicht verstand. Sam fing an zu weinen. Der Klang hallte durch die leere Finsternis, sein einziger Gefährte.

1

Juni, Gegenwart

Die Siedlung Castleview Terrace schmiegte sich an einen Überrest der alten Stadtmauer von Harlden, und sämtliche Häuser waren mit ihren dezenten Farben und dem hübschen Backsteinmauerwerk im traditionellen Cottagestil gehalten. Die dunkelblaue Eingangstür des Eckhauses glänzte im Sonnenlicht. Terrakottatöpfe mit prächtigen Lobelien, leuchtend roten Geranien und Steinkraut flankierten sie und sorgten für eine feminine Note, die nicht erahnen ließ, dass die Person, die hier wohnte, männlich und alleinstehend war. Besagter Gentleman nutzte gerade den schönen Morgen, um die Kanten eines kleinen, aber tadellos gepflegten Rasens mit gekonnter Scherenführung entlang des Holzzaunes zu schneiden, der sein Grundstück umgrenzte.

»Morgen, Major Maidment.«

Der Mann sah auf und nickte dem Postboten zu.

»Guten Morgen, George.«

»Heute bloß eine Rechnung.« Georges Hand streckte sich respektvoll über den Zaun.

»Wie geht es Ihrer lieben Frau? Wieder ganz wohlauf, hoffe ich?«

»Gesund und munter, Major. Sie bedankt sich für die Blumen.«

»Gern geschehen.«

Maidment winkte dem Postboten zum Abschied und ging ins Haus, um sich einen Kaffee zu kochen. Er füllte fettarme Milch in den Topf und dachte wehmütig an die Vollmilch aus Cornwall zurück, die er seit seinen Kindertagen am liebsten getrunken hatte, bis sein Arzt sie ihm verbot. Es kam ihm seltsam vor, so viel Mühe darauf zu verwenden, sein einsames Leben zu verlängern, doch der Arzt setzte all seinen Ehrgeiz daran, und Maidment hätte es unhöflich gefunden, sich einfach über dessen gute Absichten hinwegzusetzen. Er spülte gerade das Kaffeegeschirr, als das Telefon klingelte.

»Maidment.«

»Oh, Major. Gut, dass ich Sie erreiche.«

Resignation breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er einen Stuhl näher ans Telefon zog und sich ein Kissen in den Rücken schob. »Miss Pennysmith, wie geht es Ihnen?«

Das war keine rein formale Frage. Er wusste, dass ihm nun detailliert die neusten Entwicklungen ihrer mannigfachen Leiden geschildert werden würden. Zehn Minuten später kam Miss Pennysmith endlich zum Grund ihres Anrufs.

»Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mich morgen früh mit zur Kirche zu nehmen?«

»Aber gern«, seine Laune sank. »Ich hole Sie dann um neun ab.«

»Ach, könnten Sie vielleicht ein Ideechen früher kommen? Bei mir müssten zwei Glühbirnen ausgewechselt werden, an die ich nicht herankomme.«

Er vereinbarte, dass er um halb neun bei ihr sein würde.

Das Mittagessen zuzubereiten, zu essen und anschließend die Küche aufzuräumen beschäftigte ihn problemlos bis zwei Uhr, obwohl seine Augen kurz feucht wurden, als er den einsamen Teller abtrocknete, ein kostbares Überbleibsel von dem Essservice, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Unweigerlich dachte er an Hilary, obwohl sie nun schon fast drei Jahre tot war. Am Ende war er dankbar gewesen, als sie endlich die Augen schließen konnte. Das Leiden, das sie erduldet hatte, war gewiss eine Erfindung des Leibhaftigen. Sie fehlte ihm furchtbar. Ihre stille Gesellschaft, ihr Interesse an den kleinen Dingen, die seinen Tag ausgemacht hatten, war für immer verschwunden und hatte ein Vakuum hinterlassen, das er mitunter fast unerträglich fand.

Er gab sich einen Ruck. So ging das nicht weiter; er wurde allmählich weinerlich. Die Nachmittage an den Wochenenden waren am schlimmsten. Nach kurzer Überlegung beschloss er, einen Spaziergang zur Burg und dann hinunter zum Fluss zu machen. Da würde heute am Samstag viel Betrieb sein, aber das war nun mal nicht zu ändern. Die einzige Alternative war eine Runde Golf, doch er spielte möglichst wenig, um sich selbst zu beweisen, dass er nicht von dem Club und allem, was dazugehörte, abhängig war.

Maidment war gerade dabei, seinen Filzhut zurechtzurücken und zu überprüfen, ob sein Schnurrbart auch akkurat geschnitten war, als es an der Tür klingelte. Er nahm den Hut wieder ab und hängte ihn sorgfältig wieder an den Haken, ehe er die Haustür öffnete.

»Großer Gott!« Er hielt verlegen die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie, es ist bloß …«

»Ich weiß, ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, aber natürlich wäre er jetzt um einiges älter als ich.«

Der freundliche junge Mann reichte ihm die Hand, und Maidment ergriff sie automatisch.

»Luke Chalfont. Guten Tag.«

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Chalfont?«

»Ich bin Spezialist für Energiekosteneinsparung. Natürlich ist mir klar, dass das den Leuten im Juni nicht gerade auf der Seele brennt, aber ein umsichtiger Mann wie Sie weiß bestimmt, dass Vorsorge nottut.«

Einen kurzen Moment lang wanderten die Augen des Mannes weg vom Major und glitten wie suchend durch die Diele, doch sogleich richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gegenüber. Er plauderte glattzüngig weiter, und Maidment brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass der Mann ein Vertreter war, der einen neuen Gasanbieter anpries.

»Tut mir leid, Mr. Chalfont, aber ich wollte gerade gehen und bin nicht an einem Wechsel des Anbieters interessiert.«

»Ich verstehe. Dürfte ich Ihnen trotzdem ein wenig Infomaterial mit Vergleichszahlen dalassen? Vielleicht können Sie bei Gelegenheit mal einen Blick darauf werfen. Sollten Sie dann doch noch Interesse haben, rufen Sie mich einfach an.« Er streckte ihm die Hand hin. »Meine Karte.«

Der Vertreter verabschiedete sich mit einem fröhlichen Winken und war schon fast am Nachbarhaus, als Maidment seine Haustür verriegelte.

 

Miss Pennysmith war eine jung aussehende Siebenundsechzigjährige mit einem Lebenshunger, der in letzter Zeit durch ihre Arthritis auf eine harte Probe gestellt wurde. Sie lebte, wie Jane Austen es formuliert hätte, in beschränkten Verhältnissen, nachdem der Pensionsfonds, mit dem sie ihren Ruhestand hatte finanzieren wollen, nahezu wertlos geworden war.

Für den Kirchgang hatte sie sich ein Kleid mit rosa und grünem Blümchenmuster ausgesucht, das, wie sie fand, gut zu ihrem Teint und der rötlich-silbernen Dauerwelle passte. Frisch aufgebrühter Kaffee und selbstgemachtes Gebäck standen auf dem Tisch bereit, und daneben lagen gestärkte Leinenservietten. Kuchenduft und der Lavendelgeruch der Möbelpolitur, die sie am Vortag ausgiebig eingesetzt hatte, durchzogen ihr Wohnzimmer.

Der Major kam pünktlich und nahm vor ihrer Tür Haltung an.

»Major Maidment! Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee mit ein wenig Gebäck?«

»Ich denke, zuerst kümmere ich mich mal um die Glühbirnen, Miss Pennysmith.«

»Ach, nicht mehr nötig. Kurz nachdem ich Sie gestern angerufen habe, hat das schon jemand für mich erledigt. Wir haben reichlich Zeit.«

Maidment hielt mehr von Höflichkeit als von freier Meinungsäußerung, daher folgte er seiner Gastgeberin kommentarlos ins Wohnzimmer. Sie war eine törichte Frau, und das Jungmädchenkleid, das sie trug, passte nicht zu ihrem Alter, doch in dem frischen Backwerk und den unverkennbaren Spuren einer Putzorgie erkannte er den Widerhall seiner eigenen Einsamkeit. Also erduldete er ihr Geplapper und behielt eine liebenswürdige Miene bei, während er ihren ausgezeichneten Kaffee trank und ein Stück Kuchen aß.

Nach der Kirche lehnte er ihre Einladung zum Mittagessen ab und machte seinen üblichen Spaziergang zum städtischen Friedhof und Hilarys Grab. Unterwegs kaufte er Blumen, obwohl er eigentlich gegen sonntägliche Ladenöffnungszeiten war, und mühte sich frustrierende Minuten damit ab, die weißen Chrysanthemen und rosa Lilien zu einer Art Gesteck zu ordnen. Seine Augen wurden feucht, als er erneut darüber nachdachte, wie ungerecht das Leben doch sein konnte. Hilary war zehn Jahre jünger gewesen als er, gesund und fröhlich bis zu ihrer plötzlichen, schrecklichen Erkrankung. Sie wäre viel besser als er in der Lage gewesen, mit dieser Trauer umzugehen. Eigentlich sollte er hier liegen. Er hätte als Erster gehen sollen.

Sofort überkamen Maidment Gewissensbisse ob solcher Selbstsüchtigkeit, und er schalt sich, weil er Hilary seinen Schmerz gewünscht hatte. Gott hatte seine Gründe, warum er ihn am Leben hielt, und Gott allein wusste, dass er genug Sünden zu büßen hatte, ehe seine Seele vor den Richter trat. Vielleicht war er ja deshalb noch hier, obwohl er wusste, dass auch noch so viele gute Werke im Winter seiner Jahre nicht ausreichen würden, um die Sünden seines Lebens zu tilgen. Der Gedanke an die Hölle jagte ihm Angst ein, und auf einmal wurde der Friedhof für ihn zu einem schrecklichen Ort. Ernüchtert und verstört ging er zu seinem Auto und fuhr kurzentschlossen zum Golfclub, wo er versuchen wollte, sein Gewissen mit einem vorzüglichen Bordeaux und der Ablenkung durch heitere Gesellschaft zum Schweigen zu bringen.

2

»Das ist der zweite Einbruch in diesem Monat nach demselben Strickmuster.«

»Lassen Sie mal sehen.« Bob Cooper reichte den Bericht an Detective Inspector Nightingale weiter, die gerade von einem Ausbildungslehrgang in Bramshill zurückgekommen war und ihren neuen Rang noch mit einer gewissen Unsicherheit trug. »Ein Betrüger und ganz schön clever. Wie kriegt er die alten Leutchen dazu, ihm zu vertrauen?«

»Er lässt sich Zeit«, erklärte Cooper, »erledigt kleinere Arbeiten für sie, ohne Geld dafür zu nehmen. Ganz allmählich erschleicht er sich ihr Vertrauen und dann, zack, ist er weg samt ihren Wertsachen.«

»Was hat das NCS über ihn?«

Cooper gab ihr den Ausdruck aus dem Kriminalcomputer.

»Reichlich. In den letzten zwei Jahren hat er sich durchs halbe Land gearbeitet. Schlägt in einer Gegend nie öfter als drei- bis fünfmal zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er nach Sussex kommt.«

»Ist das ein Phantombild? Menschenskind, der sieht ja aus wie …«

»Lord Lucan, ich weiß, aber es hat ihn bisher trotzdem noch keiner fassen können.«

»Weil jeder Vorfall als Bagatelldelikt eingestuft wird und erst gar nicht bei uns landet, aber wenn er sich an sein bisheriges Muster hält, haben wir eine Chance, ihn zu schnappen, ehe er weiterzieht. Kümmern Sie sich doch diesmal drum und überlassen Sie es nicht der Londoner Polizei. Ich gebe das Phantombild an die Lokalpresse und lasse Infomaterial überall dort verteilen, wo sich gern Rentner aufhalten.«

Nightingale saß auf der Kante seines Schreibtisches und ließ ein langes Bein baumeln, was bei jeder anderen Frau kokett gewirkt hätte. Cooper fand es eigenartig, dass die attraktivste Frau im Polizeipräsidium Harlden zugleich auch die distanzierteste war.

Sie ahnte weder, wie sie wirkte, noch dass eine Mehrheit ihrer Kollegen sie für eine kaltschnäuzige Zicke hielt, die viel zu schnell befördert worden war. Cooper richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Diebstahlsbericht vor seiner Nase und auf die Vorschläge seiner neuen Vorgesetzten.

»Ziemlich viel Arbeit für zwei Bagatellsachen.«

»Einem Menschen die Erinnerungsstücke zu klauen, nur um sie zu verscherbeln, ist in meinen Augen keine Bagatelle. Wir sollten den Mistkerl schnappen, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.«

Angemessen beeindruckt griff Cooper nach dem Bericht.

 

Am folgenden Sonntag klingelte Jeremy Maidment Punkt neun Uhr morgens bei Miss Pennysmith an der Wohnungstür. Während er darauf wartete, dass sie ihm öffnete, ging er im Geist noch einmal seine Entschuldigungen durch, warum er nicht mit ihr zu Mittag essen könnte. Doch als die Tür aufging, sah er zu seiner Verblüffung ein ungeschminktes, angespanntes Gesicht, das über eine neu angebrachte Sicherheitskette hinwegspähte. Ihre Augen blickten verwirrt.

»Jeremy, was machen Sie denn hier?« Eine hektische Hand flog zu dem unordentlichen Knäuel rosa-weißer Locken empor.

»Es ist Sonntag, Miss Pennysmith. Ich wollte Sie zur Kirche abholen. Margaret, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Seine besorgte Frage löste eine Tränenflut aus. Einige Zeit später, keiner dachte mehr an die Kirche, setzte er die Bruchstücke ihrer Geschichte zu einem einigermaßen verständlichen Ganzen zusammen. Man hatte ihr alles gestohlen, was nur ansatzweise von Wert war. Empörung brodelte in Maidment auf, und er verspürte den Wunsch, irgendetwas zu tun, doch sein Gesicht verriet nichts davon.

»Besuchen Sie doch Ihre Schwester für ein paar Tage. Um diese Jahreszeit ist Schottland bestimmt sehr schön.«

»Ich glaube nicht, dass sie mich gern bei sich hätte. Ihr Mann und sie sind viel beschäftigte Menschen.«